Titel
stringlengths
0
1.98k
Untertitel
stringclasses
1 value
CELEX-Nummer
stringlengths
11
15
Ausgangsdokument
stringclasses
1 value
Verfahrensnummer
stringclasses
1 value
Ursprünglicher Verweis
stringclasses
1 value
Verabschiedete Rechtsakte
stringclasses
1 value
Letzte konsolidierte Fassung
stringclasses
1 value
Verfahrensstand
stringclasses
1 value
ECLI-Identifikator
stringlengths
0
19
Umgesetzte(r) Rechtsakt(e)
stringclasses
1 value
Datum des Dokuments
timestamp[s]date
2010-01-12 00:00:00
2025-07-23 00:00:00
Autor
stringclasses
60 values
In-Kraft-Indikator
stringclasses
1 value
Seitenzahl
stringclasses
1 value
Fundstelle im Amtsblatt
stringclasses
173 values
Unnamed: 16
stringclasses
1 value
Text
stringlengths
1.29k
986k
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 23. März 2023.#Dual Prod SRL gegen Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca - Comisia regională pentru autorizarea operatorilor de produse supuse accizelor armonizate.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Satu Mare.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbrauchsteuern – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 16 Abs. 1 – Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren – Aufeinanderfolgende Aussetzungsmaßnahmen – Strafrechtlicher Charakter – Art. 48 und 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz der Unschuldsvermutung – Grundsatz ne bis in idem – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-412/21.
62021CJ0412
ECLI:EU:C:2023:234
2023-03-23T00:00:00
Collins, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62021CJ0412 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 23. März 2023 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbrauchsteuern – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 16 Abs. 1 – Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren – Aufeinanderfolgende Aussetzungsmaßnahmen – Strafrechtlicher Charakter – Art. 48 und 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz der Unschuldsvermutung – Grundsatz ne bis in idem – Verhältnismäßigkeit“ In der Rechtssache C‑412/21 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare, Rumänien) mit Entscheidung vom 9. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Juli 2021, in dem Verfahren Dual Prod SRL gegen Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Cluj-Napoca – Comisia regională pentru autorizarea operatorilor de produse supuse accizelor armonizate erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot, S. Rodin und der Richterin O. Spineanu-Matei, Generalanwalt: A. M. Collins, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Dual Prod SRL, vertreten durch D. Pătrăuş, A. Şandru und T. D. Vidrean-Căpuşan, Avocați, – der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und A. Wellman als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo, Avvocato dello Stato, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2022 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12) sowie von Art. 48 Abs. 1 und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Dual Prod SRL und der Direcţia Generală Regională a Finanțelor Publice Cluj-Napoca – Comisia regională pentru autorizarea operatorilor de produse supuse accizelor armonizate (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Klausenburg – Regionale Kommission für die Zulassung von Wirtschaftsteilnehmern im Bereich der Herstellung und des Vertriebs von Waren, die der harmonisierten Verbrauchsteuer unterliegen, Rumänien) u. a. wegen Aufhebung der Entscheidung, mit der diese die Zulassung von Dual Prod zum Betrieb eines Steuerlagers verbrauchsteuerpflichtiger Waren ausgesetzt hat. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Die Erwägungsgründe 15 und 16 der Richtlinie 2008/118 lauteten: „(15) Da in Herstellungs- und Lagerstätten Kontrollen durchgeführt werden müssen, um die Einziehung der Steuern sicherzustellen, sollte zur Erleichterung solcher Kontrollen ein System behördlich zugelassener Lager unterhalten werden. (16) Es sollten auch die Verpflichtungen festgelegt werden, die zugelassene Lagerinhaber und Wirtschaftsbeteiligte zu erfüllen haben, denen keine Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers erteilt wurde.“ 4 Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmte: „Diese Richtlinie legt ein allgemeines System für die Verbrauchsteuern fest, die mittelbar oder unmittelbar auf den Verbrauch folgender Waren (nachstehend ‚verbrauchsteuerpflichtige Waren‘ genannt) erhoben werden: … b) Alkohol und alkoholische Getränke gemäß den Richtlinien 92/83/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 zur Harmonisierung der Struktur der Verbrauchsteuern auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. 1992, L 316, S. 21)] und 92/84/EWG [des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Annäherung der Verbrauchsteuersätze auf Alkohol und alkoholische Getränke (ABl. 1992, L 316, S. 29)]; …“ 5 In Art. 4 der Richtlinie hieß es: „Im Sinne dieser Richtlinie und ihrer Durchführungsbestimmungen gelten folgende Definitionen: 1. Ein ‚zugelassener Lagerinhaber‘ ist eine natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihres Berufs im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren in einem Steuerlager herzustellen, zu verarbeiten, zu lagern, zu empfangen oder zu versenden. … 7. Das ‚Verfahren der Steueraussetzung‘ ist eine steuerliche Regelung, die auf die Herstellung, die Verarbeitung, die Lagerung sowie die Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren, die keinem zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren unterliegen, unter Aussetzung der Verbrauchsteuer Anwendung findet. … 11. Ein ‚Steuerlager‘ ist jeder Ort, an dem unter bestimmten von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem sich das Steuerlager befindet, festgelegten Voraussetzungen verbrauchsteuerpflichtige Waren im Rahmen eines Verfahrens der Steueraussetzung vom zugelassenen Lagerinhaber in Ausübung seines Berufs hergestellt, verarbeitet, gelagert, empfangen oder versandt werden.“ 6 Art. 15 der Richtlinie lautete: „(1)   Jeder Mitgliedstaat erlässt die Vorschriften für die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren vorbehaltlich der Bestimmungen dieser Richtlinie. (2)   Die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung verbrauchsteuerpflichtiger und noch nicht versteuerter Waren erfolgen in einem Steuerlager.“ 7 In Art. 16 der Richtlinie 2008/118 hieß es: „(1)   Die Eröffnung und der Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber bedürfen der Zulassung durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaates, in dem das Steuerlager belegen ist. Die Zulassung unterliegt den Bedingungen, die die Behörden zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder ‑missbrauch festlegen können. (2)   Der zugelassene Lagerinhaber ist verpflichtet: … b) den von dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich das Steuerlager befindet, vorgeschriebenen Verpflichtungen nachzukommen; … d) alle in einem Verfahren der Steueraussetzung beförderten verbrauchsteuerpflichtigen Waren nach Beendigung der Beförderung in sein Steuerlager zu verbringen und in seinen Büchern zu erfassen, sofern Artikel 17 Absatz 2 keine Anwendung findet; e) alle Maßnahmen zur Kontrolle oder zur amtlichen Bestandsaufnahme zu dulden. …“ Rumänisches Recht 8 Art. 364 Abs. 1 Buchst. d der Legea nr. 227/2015 privind Codul fiscal (Gesetz Nr. 227/2015 über das Steuergesetzbuch) vom 8. September 2015 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 688 vom 10. September 2015, im Folgenden: Steuergesetzbuch) bestimmt: „Die zuständige Behörde erteilt die Zulassung für ein Steuerlager für eine Einrichtung nur, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: … d) im Fall einer natürlichen Person, die ihre Tätigkeit als zugelassene Lagerinhaberin ausübt, wenn sie nicht für geschäftsunfähig erklärt worden ist und nicht rechtskräftig oder bedingt wegen folgender Straftaten verurteilt worden ist: … 12. die in diesem Gesetz geregelten Straftaten.“ 9 In Art. 369 Abs. 3 des Steuergesetzbuchs heißt es: „Auf Vorschlag der Kontrollorgane kann die zuständige Behörde die Zulassung eines Steuerlagers aussetzen: … b) für einen Zeitraum von einem bis zwölf Monaten, wenn festgestellt wird, dass eine der in Art. 452 Abs. 1 Buchst. b bis e, g und i genannten Taten begangen wurde; c) bis zur rechtskräftigen Erledigung des Strafverfahrens, wenn die Strafverfolgung wegen der in Art. 364 Abs. 1 Buchst. d genannten Straftaten eingeleitet wurde; …“ 10 Art. 452 des Steuergesetzbuchs sieht vor: „ (1) Folgende Handlungen stellen Straftaten dar: … h) wenn jemand außerhalb des Steuerlagers verbrauchsteuerpflichtige Waren, die nach dem vorliegenden Titel gekennzeichnet werden müssen, aufbewahrt oder diese im Hoheitsgebiet Rumäniens in den Verkehr bringt und wenn diese Waren nicht oder nicht ordnungsgemäß oder mit falschen Steuerzeichen gekennzeichnet sind und dabei der Schwellenwert von 10000 Zigaretten, 400 Zigarren à 3 Gramm, 200 Zigarren mit mehr als 3 Gramm, ein Kilogramm Rauchtabak, 40 Liter Äthylalkohol, 200 Liter Spirituosen, 300 Liter Halbfabrikate oder 300 Liter gegorene Getränke mit Ausnahme von Bier und Wein überschritten wird; i) wenn jemand bewegliche Rohrleitungen, elastische Schläuche oder andere solche Leitungen oder ungeeichte Tanks verwendet und vor Zählern Behältnisse oder Hähne aufstellt, durch die vom Zähler nicht erfasste Alkohol- oder Destillatmengen entnommen werden können; … (3) Nach Feststellung der Handlungen im Sinne des Abs. 1 Buchst. b bis e, g und i ordnet die zuständige Kontrollbehörde die Einstellung der Tätigkeit sowie die Versiegelung der Anlage gemäß den technologischen Verfahren für die Schließung der Anlage an und übermittelt den Kontrollakt der Steuerbehörde, die die Zulassung erteilt hat, mit dem Vorschlag, die Zulassung für das Steuerlager auszusetzen.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 11 Dual Prod ist eine Gesellschaft rumänischen Rechts, die eine Zulassung im Bereich der Herstellung von Alkohol und alkoholischen Getränken besitzt, die der Verbrauchsteuer unterliegen. 12 Am 1. August 2018 wurde in den Geschäftsräumen dieser Gesellschaft eine Durchsuchung durchgeführt. 13 Nach dieser Durchsuchung wurde wegen des Verdachts von Straftaten nach Art. 452 Abs. 1 Buchst. h und i des Steuergesetzbuchs, die zum einen in der Abzweigung und Aufbewahrung einer Menge von mehr als 40 Litern Äthylalkohol mit einem Alkoholgehalt von mindestens 96 Vol.‑% außerhalb des Steuerlagers und zum anderen in der Installation eines Schlauchs in der Produktionsanlage bestehen, ein Strafverfahren gegen unbekannt eingeleitet. 14 Mit Entscheidung vom 5. September 2018 setzte die zuständige Verwaltungsbehörde gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs die Zulassung von Dual Prod zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren für einen Zeitraum von zwölf Monaten aus. Die Behörde legte diese Bestimmung dahin aus, dass sie es erlaube, eine solche Aussetzung allein aufgrund von Indizien für die Begehung von strafrechtlichen Verstößen gegen die Regelung für verbrauchsteuerpflichtige Waren zu verhängen. 15 Am 13. Dezember 2019 verkürzte die Curtea de Apel Oradea (Berufungsgericht Oradea, Rumänien), bei der Dual Prod gegen die Entscheidung vom 5. September 2018 Klage erhoben hatte, die Dauer dieser Aussetzung auf acht Monate, nachdem sie zu der Ansicht gelangt war, dass die Festsetzung der in Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs vorgesehenen maximalen Aussetzungsfrist offensichtlich unverhältnismäßig sei. Diese Aussetzung wurde vollständig vollzogen. 16 Nachdem gegen Dual Prod am 21. Oktober 2020 im Rahmen des nach der Durchsuchung vom 1. August 2018 eingeleiteten Strafverfahrens Anklage erhoben worden war, setzte die zuständige Verwaltungsbehörde die Zulassung von Dual Prod zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens erneut aus. Dual Prod focht diese Entscheidung vor dem Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare, Rumänien) an. 17 Dieses Gericht weist darauf hin, dass die Richtlinie 2008/118 allgemeine Bestimmungen über die Zulassung von Steuerlagern enthalte. Folglich könnten die in Art. 48 Abs. 1 und Art. 50 der Charta verankerten Grundsätze der Unschuldsvermutung und ne bis in idem im vorliegenden Fall relevant sein. 18 Insoweit fragt sich das vorlegende Gericht erstens, ob der Grundsatz der Unschuldsvermutung dem entgegensteht, dass eine Verwaltungsbehörde die Zulassung einer juristischen Person zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren für unbestimmte Zeit allein deshalb aussetzt, weil Indizien dafür vorliegen, dass die juristische Person eine Straftat begangen hat, und noch bevor ein Gericht rechtskräftig über die Schuld dieser Person entschieden hat. 19 Das vorlegende Gericht betont, dass die Aussetzung der Zulassung von Dual Prod darauf hinzudeuten scheine, dass diese Gesellschaft als schuldig angesehen werde, und weist darauf hin, dass das Strafverfahren seit mehr als drei Jahren anhängig sei. 20 Was zweitens den Grundsatz ne bis in idem betrifft, fragt sich das vorlegende Gericht, ob es mit Art. 50 der Charta vereinbar sei, wenn gegen eine juristische Person wegen derselben Taten im Rahmen eines Steuerverfahrens nur deshalb zwei gleichartige Sanktionen verhängt würden, weil ein parallel laufendes Strafverfahren in ein bestimmtes Stadium eingetreten sei. 21 Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 48 Abs. 1 der Charta, in dem der Grundsatz der Unschuldsvermutung verankert ist, in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen, dass er einer Rechtslage wie der im vorliegenden Fall entgegensteht/nicht entgegensteht, nach der eine Verwaltungsmaßnahme zur Aussetzung einer Zulassung der Ausübung der Tätigkeit als Alkoholhersteller auf der Grundlage bloßer Vermutungen angeordnet werden kann, die Gegenstand laufender strafrechtlicher Ermittlungen sind, ohne dass eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung vorliegt? 2. Ist Art. 50 der Charta, in dem der Grundsatz ne bis in idem verankert ist, in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen, dass er einer Rechtslage wie der im vorliegenden Fall entgegensteht/nicht entgegensteht, nach der gegen dieselbe Person wegen derselben Tat zwei gleichartige Sanktionen (die Aussetzung der Zulassung der Ausübung der Tätigkeit als Alkoholhersteller) verhängt werden können, wobei der einzige Unterschied in der Dauer der Sanktionen besteht? Zu den Vorlagefragen Vorbemerkungen 22 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). 23 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die zuständige Verwaltungsbehörde parallel zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen unbekannt nach einer Durchsuchung in den Geschäftsräumen von Dual Prod die dieser Gesellschaft erteilte Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs für einen Zeitraum von zwölf Monaten ausgesetzt hat. Diese Aussetzung wurde infolge einer von Dual Prod eingereichten Klage auf acht Monate verkürzt. Nach Ablauf dieser Aussetzung setzte die Verwaltungsbehörde diese Zulassung gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs erneut auf unbestimmte Zeit mit der Begründung aus, gegen Dual Prod sei im Rahmen der gegen sie nach einer Durchsuchung in ihren Geschäftsräumen eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen Anklage erhoben worden. 24 Die im Ausgangsverfahren fraglichen Aussetzungsmaßnahmen stehen folglich im Zusammenhang mit mutmaßlichen Verstößen gegen die Verpflichtungen, die die rumänischen Rechtsvorschriften den Inhabern einer Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung und ‑missbrauch auferlegen. 25 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/118, mit der ein harmonisiertes allgemeines System für die Verbrauchsteuern geschaffen werden soll, die Vorbeugung von Steuerhinterziehung und ‑missbrauch ein gemeinsames Ziel sowohl des Unionsrechts als auch des Rechts der Mitgliedstaaten ist. Denn zum einen haben die Mitgliedstaaten ein legitimes Interesse daran, geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer finanziellen Interessen zu ergreifen, und zum anderen ist die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein mit dieser Richtlinie verfolgtes Ziel, wie die Erwägungsgründe 15 und 16 sowie Art. 16 dieser Richtlinie bestätigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Januar 2022, MONO, C‑326/20, EU:C:2022:7, Rn. 28 und 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). 26 Folglich führt ein Mitgliedstaat, wenn er die für den Betrieb eines Steuerlagers im Sinne der Richtlinie 2008/118 erforderliche Zulassung wegen Indizien, dass Straftaten gegen die Regelung für verbrauchsteuerpflichtige Waren begangen wurden, aussetzt, diese Richtlinie und damit das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durch und muss daher die Bestimmungen der Charta beachten. 27 Zweitens ist es zwar letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen für die Zwecke der Anwendung von Art. 48 Abs. 1 und Art. 50 der Charta als „strafrechtliche Sanktionen“ eingestuft werden können, doch ist darauf hinzuweisen, dass insoweit drei Kriterien maßgebend sind. Erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 25). 28 Was das erste Kriterium betrifft, ist nicht ersichtlich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen nach rumänischem Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden. 29 Allerdings ist erstens hervorzuheben, dass sich die Anwendung der Bestimmungen der Charta, die einer Straftat beschuldigte Personen schützen, nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen beschränkt, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen erstreckt, die nach den beiden anderen in Rn. 27 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197‚ Rn. 30). 30 Das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, erfordert die Prüfung, ob mit der fraglichen Maßnahme u. a. eine repressive Zielsetzung verfolgt wird, ohne dass der bloße Umstand, dass mit ihr auch eine präventive Zielsetzung verfolgt wird, ihr ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. Es liegt nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Zuwiderhandlung entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 89). 31 Im vorliegenden Fall wurden Dual Prod die Aussetzungsmaßnahmen offenbar parallel zu einem Strafverfahren auferlegt und sollen nicht den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen. 32 Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass diese Aussetzungsmaßnahmen zu dem durch die Richtlinie 2008/118 eingeführten Verfahren der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren unter Steueraussetzung gehören, in dem die Steuerlagerinhaber eine zentrale Rolle spielen (vgl. dazu Urteil vom 2. Juni 2016, Kapnoviomichania Karelia, C‑81/15, EU:C:2016:398, Rn. 31). Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass diese Maßnahmen nur auf Wirtschaftsteilnehmer Anwendung finden sollen, die Inhaber einer Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren im Sinne der Art. 15 und 16 dieser Richtlinie sind, indem ihnen vorübergehend die sich aus einer solchen Zulassung ergebenden Vorteile genommen werden. 33 Daher richten sich Aussetzungsmaßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht generell gegen die Allgemeinheit, sondern gegen eine bestimmte Kategorie von Adressaten, die, weil sie eine speziell durch das Unionsrecht geregelte Tätigkeit ausüben, verpflichtet sind, die Voraussetzungen für die Erteilung einer von den Mitgliedstaaten erteilten Zulassung zu erfüllen, die ihnen bestimmte Vorrechte verleiht. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen darin bestehen, die Ausübung dieser Vorrechte auszusetzen, weil die zuständige Verwaltungsbehörde der Ansicht war, dass die Voraussetzungen für die Erteilung dieser Zulassung nicht mehr erfüllt werden oder nicht mehr erfüllt zu werden drohen, was dafür spräche, dass mit diesen Maßnahmen keine repressive Zielsetzung verfolgt wird. 34 Ein solcher Anhaltspunkt scheint sich auch daraus zu ergeben, dass Art. 369 Abs. 3 Buchst. b und c des Steuergesetzbuchs der zuständigen Verwaltungsbehörde offenbar nicht vorschreibt, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen zu erlassen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. 35 Was insbesondere die erste gegen Dual Prod verhängte Aussetzungsmaßnahme angeht, ist es ebenfalls Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, aus welchem Grund die zuständige Verwaltungsbehörde beschlossen hat, die Zulassung dieser Gesellschaft für einen Zeitraum von zwölf Monaten, d. h. für die nach Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs zulässige Höchstdauer, auszusetzen, und aus welchem Grund das Gericht, das über die von Dual Prod erhobene Klage entschieden hat, diesen Zeitraum auf acht Monate verkürzt hat, um festzustellen, ob die zur Rechtfertigung solcher Entscheidungen angeführten Gründe eine präventive oder eine repressive Zielsetzung erkennen lassen. 36 Was die zweite, auf der Grundlage von Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs gegen Dual Prod verhängte Aussetzungsmaßnahme betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese nicht zu einem im Voraus festgelegten Zeitpunkt, sondern erst nach Abschluss des laufenden Strafverfahrens endet, was eher für eine präventive oder sichernde Maßnahme als für eine repressive Maßnahme charakteristisch erscheint. 37 Was drittens das Kriterium des Schweregrads der drohenden Sanktion betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass zwar jede der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen negative wirtschaftliche Folgen für Dual Prod haben kann, dass diese jedoch dem präventiven oder sichernden Charakter dieser Maßnahmen inhärent sind, den diese Maßnahmen zu haben scheinen, und grundsätzlich nicht den Schweregrad erreichen, der erforderlich ist, damit sie als strafrechtlich eingestuft werden können, insbesondere weil sie diese Gesellschaft nicht daran hindern, während dieser Aussetzungszeiträume weiterhin wirtschaftliche Tätigkeiten auszuüben, die keine Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren erfordern. Zur ersten Frage 38 Wie sich aus Rn. 16 des vorliegenden Urteils ergibt, ist das vorlegende Gericht mit einer Klage befasst, mit der die Rechtmäßigkeit der zweiten, gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs gegen Dual Prod angeordneten Aussetzungsmaßnahme in Frage gestellt werden soll. 39 Daher möchte das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen, ob Art. 48 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Möglichkeit entgegensteht, die Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren bis zum Abschluss eines Strafverfahrens allein deshalb im Verwaltungsweg auszusetzen, weil gegen den Inhaber dieser Zulassung im Rahmen dieses Strafverfahrens Anklage erhoben wurde. 40 Art. 48 Abs. 1 der Charta soll jedermann gewährleisten, nicht als Straftäter bezeichnet oder behandelt zu werden, bevor nicht seine Schuld nachgewiesen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2009, Rubach, C‑344/08, EU:C:2009:482, Rn. 31). 41 Zwar steht diese Bestimmung der Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion durch eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich nicht entgegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Schindler Holding u. a./Kommission, C‑501/11 P, EU:C:2013:522, Rn. 35), gegen diese Bestimmung wird hingegen verstoßen, wenn eine Verwaltungsbehörde eine strafrechtliche Sanktion erlässt, ohne zuvor die Verletzung einer vorher aufgestellten Regel festgestellt und der betroffenen Person Gelegenheit gegeben zu haben, sich zu entlasten, wobei dieser Person ein bestehender Zweifel zugutekommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, NKT Verwaltung und NKT/Kommission, C‑607/18 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:385, Rn. 234, 235 und 237 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Außerdem verlangt Art. 47 der Charta, dass jeder Adressat einer verwaltungsrechtlichen Sanktion mit strafrechtlichem Charakter über einen Rechtsbehelf verfügt, der es ihm ermöglicht, diese Sanktion von einem Gericht mit Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung überprüfen zu lassen (Urteil vom 18. Juli 2013, Schindler Holding u. a./Kommission, C‑501/11 P, EU:C:2013:522, Rn. 32 bis 35), wobei dieser Rechtsbehelf u. a. die Prüfung ermöglicht, ob die Verwaltungsbehörde nicht gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoßen hat. 43 Sollte das vorlegende Gericht der Ansicht sein, dass eine Aussetzungsmaßnahme wie die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils genannte für die Zwecke der Anwendung von Art. 48 Abs. 1 der Charta eine strafrechtliche Sanktion darstellt, stünde folglich der in dieser Bestimmung verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung dem Erlass einer solchen Maßnahme, obwohl noch nicht über die strafrechtliche Schuld der auf diese Weise sanktionierten Person entschieden worden ist, entgegen. 44 Nach alledem ist Art. 48 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er der Möglichkeit entgegensteht, die Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren bis zum Abschluss eines Strafverfahrens allein deshalb im Verwaltungsweg auszusetzen, weil gegen den Inhaber dieser Zulassung im Rahmen dieses Strafverfahrens Anklage erhoben wurde, sofern diese Aussetzung eine strafrechtliche Sanktion darstellt. Zur zweiten Frage Zur Zulässigkeit 45 Soweit die italienische Regierung offenbar geltend macht, die zweite Frage sei unzulässig, weil das vorlegende Gericht nicht hinreichend deutlich gemacht habe, inwiefern es sich bei dem Sachverhalt, der zu den beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen geführt habe, um dieselbe Tat handle, ist dieses Vorbringen zurückzuweisen. 46 Es genügt nämlich der Hinweis, dass aus der Begründung der Vorlageentscheidung und dem Wortlaut der zweiten Frage klar hervorgeht, dass nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen beide aufgrund des bei der Durchsuchung in den Räumlichkeiten von Dual Prod festgestellten Sachverhalts erlassen wurden, der den Verdacht weckte, dass diese Gesellschaft Straftaten nach den Rechtsvorschriften über verbrauchsteuerpflichtige Waren begangen habe. 47 Die Frage, ob eine solche Beurteilung den Anforderungen von Art. 50 der Charta entspricht, gehört zur inhaltlichen Prüfung der zweiten Vorlagefrage. Zur Beantwortung der Frage 48 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Sanktion gegen eine juristische Person entgegensteht, gegen die wegen derselben Tat bereits eine Sanktion gleicher Art, aber von unterschiedlicher Dauer verhängt wurde. 49 Zunächst ist festzustellen, dass der in Art. 50 der Charta verankerte Grundsatz ne bis in idem eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat verbietet (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Daher ist die zweite Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nur sachdienlich, wenn jede der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels ist, was das vorlegende Gericht anhand der in den Rn. 27 bis 37 des vorliegenden Urteils dargelegten Kriterien zu prüfen hat. 51 Vorbehaltlich dieser Klarstellung ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zweierlei voraussetzt, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28). 52 Was erstens die Voraussetzung „idem“ betrifft, so verlangt diese, dass der materielle Sachverhalt bzw. die materielle Tat identisch und nicht nur ähnlich ist. Die Identität der materiellen Tat ist als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 36 und 37). 53 Im vorliegenden Fall zeigt sich, wie das vorlegende Gericht selbst ausgeführt hat, dass die gegen Dual Prod verhängten Aussetzungsmaßnahmen beide mit einem identischen materiellen Sachverhalt zusammenhängen, nämlich demjenigen, der anlässlich der Durchsuchung in den Geschäftsräumen dieser Gesellschaft festgestellt wurde. 54 Der Umstand, dass die zweite im Ausgangsverfahren in Rede stehende Aussetzungsmaßnahme mit der Begründung angeordnet wurde, gegen Dual Prod sei im Rahmen eines Strafverfahrens Anklage erhoben worden, kann an dieser Feststellung nichts ändern, da sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, dass mit diesem Strafverfahren gerade die gleichen Taten geahndet werden sollen, die bei dieser Durchsuchung festgestellt wurden. 55 Was zweitens die Voraussetzung „bis“ anbelangt, ist es für die Annahme, dass mit einer Entscheidung über den einem zweiten Verfahren unterliegenden Sachverhalt endgültig entschieden worden ist, nicht nur erforderlich, dass diese Entscheidung rechtskräftig geworden ist, sondern auch, dass sie nach einer Prüfung in der Sache ergangen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 29). 56 Was im vorliegenden Fall zum einen die Bestandskraft der Entscheidung betrifft, mit der die erste Aussetzungsmaßnahme gegen Dual Prod angeordnet wurde, muss sich das vorlegende Gericht insbesondere vergewissern, dass die gerichtliche Entscheidung, mit der die Dauer einer solchen Aussetzungsmaßnahme auf acht Monate verkürzt wurde, jedenfalls zum Zeitpunkt des Erlasses der zweiten Aussetzungsmaßnahme gegenüber Dual Prod rechtskräftig geworden war. 57 Was zum anderen die Voraussetzung der Prüfung in der Sache betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Beachtung des Grundsatzes ne bis in idem, dass, wenn die zuständige Behörde eine Sanktion als Folge des dem Betroffenen vorgeworfenen Verhaltens verhängt hat, vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass die zuständige Behörde zuvor die Umstände der Rechtssache und die Rechtswidrigkeit des Verhaltens des Betroffenen beurteilt hat (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 8. Juli 2019, Mihalache/Rumänien, CE:ECHR:2019:0708JUD005401210, § 98). 58 Sollte das vorlegende Gericht nach Prüfung der in den Rn. 49 bis 57 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen der Auffassung sein, dass Art. 50 der Charta auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist, würde die Kumulierung der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen eine Einschränkung des in diesem Art. 50 verbürgten Grundrechts darstellen. 59 Allerdings könnte eine solche Beschränkung noch auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40). 60 In einem solchen Fall wäre es als Zweites Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob konkret alle Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen Art. 52 Abs. 1 der Charta den Mitgliedstaaten erlaubt, das in Art. 50 der Charta garantierte Grundrecht einzuschränken. 61 Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 62 Was erstens die in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta genannten Voraussetzungen betrifft, ist zum einen festzustellen, dass die Möglichkeit einer Kumulierung der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen ganz offensichtlich gesetzlich vorgesehen ist, nämlich in Art. 369 Abs. 3 Buchst. b und c des rumänischen Steuergesetzbuchs. 63 Zum anderen wahrt diese Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta nur, sofern die nationale Regelung es nicht ermöglicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsieht (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43). Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte geht hervor, dass diese Voraussetzung im vorliegenden Fall offenbar nicht erfüllt ist. 64 Was zweitens die in Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta genannten Voraussetzungen betrifft, die vom Gerichtshof nur für den Fall geprüft werden, dass das vorlegende Gericht der Auffassung sein sollte, dass die Voraussetzungen von Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta im vorliegenden Fall erfüllt sind, geht zunächst aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung allgemein die korrekte Erhebung der Verbrauchsteuer gewährleistet werden soll und Steuerhinterziehungen und ‑missbrauch bekämpft werden sollen. 65 In Anbetracht der Bedeutung dieser dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung des betreffenden Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen (Urteil vom 22. März 2022, Nordzucker u. a., C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 52). 66 Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in der nationalen Regelung vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 48). 67 Hinsichtlich der zwingenden Erforderlichkeit einer solchen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen ist konkret zu prüfen, ob es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; weiter ist zu prüfen, ob die beiden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden und ob die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt wurde, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 68 Im vorliegenden Fall ist insbesondere festzustellen, dass aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte nicht hervorgeht, dass die zuständige Verwaltungsbehörde bei der Beurteilung der zweiten gegen Dual Prod verhängten Aussetzungsmaßnahme die Schwere der ersten gegen dieses Unternehmen bereits verhängten Aussetzungsmaßnahme berücksichtigt hätte, was die Verhältnismäßigkeit dieser zweiten Aussetzungsmaßnahme im Sinne von Art. 52 der Charta beeinträchtigen könnte. 69 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass Art. 50 der Charta, wenn die beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen als strafrechtliche Sanktionen anzusehen sind, der Verhängung der zweiten Aussetzungsmaßnahme gegen Dual Prod, deren Rechtmäßigkeit vor dem vorlegenden Gericht bestritten wird, entgegenstehen kann, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. 70 Schließlich ist hinzuzufügen, dass, selbst wenn das vorlegende Gericht der Ansicht sein sollte, dass zumindest eine der beiden im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aussetzungsmaßnahmen für die Zwecke der Anwendung von Art. 50 der Charta keine strafrechtliche Sanktion darstellt und dieser Artikel daher der Kumulierung dieser beiden Sanktionen keinesfalls entgegenstehen kann, die Anordnung der zweiten Aussetzungsmaßnahme, wie die Kommission festgestellt hat, dennoch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts beachten müsste. 71 Dieser Grundsatz verpflichtet die Mitgliedstaaten, sich solcher Mittel zu bedienen, die es zwar erlauben, das vom innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die aber nicht über das erforderliche Maß hinausgehen und die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Unionsrechts möglichst wenig beeinträchtigen. Der Gerichtshof stellt insoweit in seiner Rechtsprechung klar, dass, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen (Urteile vom 13. November 1990, Fedesa u. a., C‑331/88, EU:C:1990:391, Rn. 13, und vom 13. Januar 2022, MONO, C‑326/20, EU:C:2022:7, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 72 Insoweit kann der Umstand, dass eine Maßnahme zur Aussetzung einer Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren, die gegen eine juristische Person verhängt wird, die verdächtigt wird, gegen die Vorschriften zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Erhebung der Verbrauchsteuern verstoßen zu haben, während des gesamten gegen diese juristische Person eingeleiteten Strafverfahrens weiterhin ihre Wirkungen entfaltet, auch wenn dieses Verfahren bereits eine angemessene Dauer überschritten hat, auf eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des legitimen Rechts dieser juristischen Person auf Ausübung ihrer unternehmerischen Tätigkeit hinweisen. 73 Nach alledem ist Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion aufgrund von Verstößen gegen die Regelung für verbrauchsteuerpflichtige Waren gegen eine juristische Person, gegen die wegen derselben Tat bereits eine rechtskräftige strafrechtliche Sanktion verhängt wurde, nicht entgegensteht, sofern folgende Voraussetzungen vorliegen: – die Möglichkeit einer Kumulierung dieser beiden Sanktionen ist gesetzlich vorgesehen; – die nationale Regelung ermöglicht es nicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern sieht nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vor; – mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen werden komplementäre Ziele verfolgt, die gegebenenfalls unterschiedliche Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen; – es gibt klare und präzise Regeln, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; die beiden Verfahren wurden in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt; die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion wurde bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht Kosten 74 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Möglichkeit entgegensteht, die Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers für verbrauchsteuerpflichtige Waren bis zum Abschluss eines Strafverfahrens allein deshalb im Verwaltungsweg auszusetzen, weil gegen den Inhaber dieser Zulassung im Rahmen dieses Strafverfahrens Anklage erhoben wurde, sofern diese Aussetzung eine strafrechtliche Sanktion darstellt. 2. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion aufgrund von Verstößen gegen die Regelung für verbrauchsteuerpflichtige Waren gegen eine juristische Person, gegen die wegen derselben Tat bereits eine rechtskräftige strafrechtliche Sanktion verhängt wurde, nicht entgegensteht, sofern folgende Voraussetzungen vorliegen: – die Möglichkeit einer Kumulierung dieser beiden Sanktionen ist gesetzlich vorgesehen; – die nationale Regelung ermöglicht es nicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern sieht nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vor; – mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen werden komplementäre Ziele verfolgt, die gegebenenfalls unterschiedliche Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen; – es gibt klare und präzise Regeln, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, und die eine Koordinierung zwischen den verschiedenen Behörden ermöglichen; die beiden Verfahren wurden in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt; die gegebenenfalls im Rahmen des chronologisch zuerst geführten Verfahrens verhängte Sanktion wurde bei der Bestimmung der zweiten Sanktion berücksichtigt, so dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zwingend Erforderliche beschränkt bleiben und die Gesamtheit der verhängten Sanktionen der Schwere der begangenen Straftaten entspricht. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 23. März 2023.#LU und PH.#Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Vollstreckungsvoraussetzungen – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Art. 4a Abs. 1 – Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe – Wendung ‚Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat‘ – Bedeutung – Erste Verurteilung auf Bewährung – Zweite Verurteilung – Abwesenheit des Betroffenen in der Verhandlung – Widerruf der Bewährung – Verteidigungsrechte – Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – Art. 6 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Verstoß – Folgen.#Verbundene Rechtssachen C-514/21 und C-515/21.
62021CJ0514
ECLI:EU:C:2023:235
2023-03-23T00:00:00
Gerichtshof, Ćapeta
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62021CJ0514 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 23. März 2023 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Vollstreckungsvoraussetzungen – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Art. 4a Abs. 1 – Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe – Wendung ‚Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat‘ – Bedeutung – Erste Verurteilung auf Bewährung – Zweite Verurteilung – Abwesenheit des Betroffenen in der Verhandlung – Widerruf der Bewährung – Verteidigungsrechte – Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten – Art. 6 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Verstoß – Folgen“ In den verbundenen Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21 betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) mit Entscheidungen vom 30. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 20. August 2021, in Verfahren betreffend die Vollstreckung von zwei Europäischen Haftbefehlen gegen LU (C‑514/21), PH (C‑515/21), Beteiligter: Minister for Justice and Equality, erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei, Generalanwältin: T. Ćapeta, Kanzler: M.‑A. Gaudissart, Beigeordneter Kanzler, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Juli 2022, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von LU, vertreten durch P. Carroll, SC, T. Hughes, Solicitor, und K. Kelly, BL, – von PH, vertreten durch E. Lawlor, BL, R. Munro, SC, und D. Rudden, Solicitor, – des Minister for Justice and Equality und der irischen Regierung, vertreten durch M. Browne, A. Joyce und C. McMahon als Bevollmächtigte im Beistand von R. Kennedy, SC, und J. Williams, BL, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und J. Tomkin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 27. Oktober 2022 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584). 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen der Vollstreckung von zwei Europäischen Haftbefehlen in Irland, die von den ungarischen Justizbehörden gegen LU und von den polnischen Justizbehörden gegen PH zur Vollstreckung von Freiheitsstrafen in den Ausstellungsmitgliedstaaten erlassen wurden. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Rahmenbeschluss 2002/584 3 Der sechste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet: „Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.“ 4 Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt: „(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt. (2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses. (3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“ 5 Art. 2 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet: „Ein Europäischer Haftbefehl kann bei Handlungen erlassen werden, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt.“ 6 Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt: „Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend ‚vollstreckende Justizbehörde‘ genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab, 1. wenn die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt und dieser Staat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig war; 2. wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann; 3. wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.“ 7 Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor: „Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern, 1. wenn in einem der in Artikel 2 Absatz 4 genannten Fälle die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt; in Steuer‑, Zoll- und Währungsangelegenheiten kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls jedoch nicht aus dem Grund abgelehnt werden, dass das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine gleichartigen Steuern vorschreibt oder keine gleichartigen Steuer‑, Zoll- und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats; 2. wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt wird; 3. wenn die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats beschlossen haben, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, oder wenn gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht; 4. wenn die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand; 5. wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann; 6. wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken; 7. wenn der Europäische Haftbefehl sich auf Straftaten erstreckt, die a) nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind; oder b) außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zulassen.“ 8 Der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 eingefügte Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt in Abs. 1: „Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats a) rechtzeitig i) entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte, und ii) davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint; oder b) in Kenntnis der anberaumten Verhandlung ein Mandat an einen Rechtsbeistand, der entweder von der betroffenen Person oder vom Staat bestellt wurde, erteilt hat, sie bei der Verhandlung zu verteidigen, und bei der Verhandlung von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt worden ist; oder c) nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann: i) ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht; oder ii) innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat; oder d) die Entscheidung nicht persönlich zugestellt erhalten hat, aber i) sie unverzüglich nach der Übergabe persönlich zugestellt erhalten wird und ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt werden wird, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann; und ii) von der Frist in Kenntnis gesetzt werden wird, über die sie gemäß dem einschlägigen Europäischen Haftbefehl verfügt, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. ein Berufungsverfahren zu beantragen.“ 9 Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt: „Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht dieses Staates an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden: [1.] Ist die Straftat, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht, so kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls an die Bedingung geknüpft werden, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats eine Überprüfung der verhängten Strafe – auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren – oder Gnadenakte zulässt, die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel führen können und auf die die betreffende Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaats Anspruch hat. [2.] Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.“ 10 Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet: „(1)   Der Europäische Haftbefehl enthält entsprechend dem im Anhang beigefügten Formblatt folgende Informationen: a) die Identität und die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person; b) Name, Adresse, Telefon- und Telefaxnummer sowie [E‑Mail]-Adresse der ausstellenden Justizbehörde; c) die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Artikeln 1 und 2 vorliegt; d) die Art und rechtliche Würdigung der Straftat, insbesondere in Bezug auf Artikel 2; e) die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person; f) im Fall eines rechtskräftigen Urteils die verhängte Strafe oder der für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebene Strafrahmen; g) soweit möglich, die anderen Folgen der Straftat. (2)   Der Europäische Haftbefehl ist in die Amtssprache oder eine der Amtssprachen des Vollstreckungsstaats zu übersetzen. Jeder Mitgliedstaat kann zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses oder später in einer beim Generalsekretariat des Rates hinterlegten Erklärung angeben, dass er eine Übersetzung in eine oder mehrere weitere Amtssprachen der Organe der Europäischen Gemeinschaften akzeptiert.“ 11 Art. 15 des Rahmenbeschlusses lautet: „(1)   Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen. (2)   Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist. (3)   Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“ Rahmenbeschluss 2009/299 12 Die Erwägungsgründe 1 und 15 des Rahmenbeschlusses 2009/299 lauten: „(1) Das Recht eines Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, ist Teil des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Artikel 6 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der Gerichtshof hat aber auch darauf hingewiesen, dass das Recht des Angeklagten, persönlich zu der Verhandlung zu erscheinen, nicht absolut ist und dass der Angeklagte unter bestimmten Bedingungen aus freiem Willen ausdrücklich oder stillschweigend aber eindeutig auf das besagte Recht verzichten kann. … (15) Bei den Gründen für eine Nichtanerkennung von Entscheidungen handelt es sich um fakultative Gründe. Im Rahmen ihres Ermessensspielraums bei der Umsetzung dieser Gründe in einzelstaatliches Recht lassen sich die Mitgliedstaaten jedoch insbesondere von dem Recht auf ein faires Verfahren leiten und berücksichtigen dabei das Gesamtziel dieses Rahmenbeschlusses, d. h. die Stärkung der Verfahrensrechte von Personen und die Erleichterung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen …“ 13 Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/299 sieht vor: „Die Ziele dieses Rahmenbeschlusses bestehen darin, die Verfahrensrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist, zu stärken, zugleich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zu erleichtern und insbesondere die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern.“ Irisches Recht 14 Section 37(1) des European Arrest Warrant Act 2003 (Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl) in der für die Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung (im Folgenden: Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl) sieht vor: „Eine Person darf nach diesem Gesetz nicht übergeben werden, wenn a) ihre Übergabe unvereinbar ist mit den Verpflichtungen des Staates nach i) der [EMRK] oder ii) den Protokollen zur [EMRK], …“ 15 Section 45 dieses Gesetzes bestimmt: „Eine Person darf nach diesem Gesetz nicht übergeben werden, wenn sie zu der Verhandlung, die zur Verhängung der Strafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung geführt hat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, nicht persönlich erschienen ist, es sei denn, der Haftbefehl enthält die nach den Nrn. 2, 3 und 4 von Buchst. d des Formulars im Anhang des [Rahmenbeschlusses 2002/584] erforderlichen Angaben.“ Polnisches Recht 16 Art. 75 § 1 des Kodeks karny (Strafgesetzbuch) vom 6. Juni 1997 (Dz. U. Nr. 88, Pos. 553) sieht in der für die Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung vor: „Das Gericht ordnet die Vollstreckung einer Strafe an, wenn die verurteilte Person während der Bewährungszeit eine ähnliche vorsätzliche Straftat begangen hat wie die, wegen der sie rechtsgültig und rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen Rechtssache C‑514/21 17 Am 10. Oktober 2006 verurteilte das Encsi városi bíróság (Bezirksgericht Encs, Ungarn) LU nach einer Verhandlung, zu der er persönlich erschienen war, wegen vier im Jahr 2005 begangener Straftaten. 18 Am 19. April 2007 bestätigte die Borsod Abaúj Zemplén Megyei Bíróság (Landgericht Borsod-Abaúj-Zemplén, Ungarn), vor der LU, der ordnungsgemäß geladen worden war, durch einen Rechtsanwalt vertreten wurde, dieses Urteil und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Die Vollstreckung dieser Strafe wurde jedoch für die Dauer von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Unter Anrechnung der Untersuchungshaft von einem Monat hatte er noch maximal elf Monate zu verbüßen. 19 Am 16. Dezember 2010 verurteilte das Encsi városi bíróság (Bezirksgericht Encs) LU wegen Nichtzahlung von Unterhalt im Jahr 2008, d. h. während der Bewährungszeit für die zuvor gegen ihn verhängte Strafe, deren Vollstreckung ausgesetzt worden war. Er war bei den mündlichen Verhandlungen am 15. November 2010 und am 13. Dezember 2010 anwesend, nicht aber bei der Urteilsverkündung. 20 Im Juni 2012 änderte die Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc, Ungarn) dieses Urteil ab, verurteilte LU zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten und schloss ihn für ein Jahr von der Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten aus. Ferner ordnete es die Vollstreckung der Strafe an, die wegen der im Jahr 2005 begangenen Straftaten gegen ihn verhängt worden war. Es ist ungeklärt, ob dieses Gericht verpflichtet war, die Vollstreckung der Strafe anzuordnen, oder ob es insoweit über ein Ermessen verfügte. 21 LU war von der Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc) vorgeladen worden. Obwohl er die Vorladung nicht erhalten hatte, war die Zustellung nach ungarischem Recht ordnungsgemäß erfolgt. Er war in der mündlichen Verhandlung vor diesem Gericht nicht anwesend, aber es bestellte einen Anwalt zu seiner Vertretung. Dieser Anwalt erschien zu der Verhandlung und stellte dort einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, der abgelehnt wurde, sowie ein Gnadengesuch im Namen von LU. 22 Im September 2012 erließen die ungarischen Behörden einen Europäischen Haftbefehl zwecks Übergabe von LU, der sich in Irland befindet, zur Vollstreckung der Strafen wegen der im Jahr 2005 begangenen Taten und wegen der Nichtzahlung von Unterhalt. Der High Court (Obergericht, Irland) lehnte die Vollstreckung dieses Haftbefehls ab. 23 Am 28. Oktober 2015 gab die Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc) auf Antrag von LU dem Encsi Járásbíróság (Kreisgericht Encs) auf, eine Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich der im Jahr 2005 begangenen Taten zu prüfen. Am 24. Oktober 2016 wies dieses Gericht den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zurück. LU war nicht vor dem Encsi Járásbíróság (Kreisgericht Encs) erschienen, wurde aber durch einen von ihm bestellten Anwalt vertreten. 24 Die Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc), bei der LU ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung eingelegt hatte, führte am 20. März 2017 eine mündliche Verhandlung durch, zu der LU nicht erschien, in der er aber durch einen von ihm bestellten Anwalt vertreten wurde. Am 29. März 2017 wies dieses Gericht den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zurück. 25 Im Anschluss an diese Entscheidung war die Freiheitsstrafe, zu der LU wegen der im Jahr 2005 begangenen Straftaten verurteilt worden war und deren Vollstreckung die Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc) im Juni 2012 angeordnet hatte, nach ungarischem Recht erneut vollstreckbar. 26 Am 27. Juli 2017 erließen die ungarischen Behörden einen zweiten, auf die Verbüßung der verbleibenden elf Monate der Freiheitsstrafe, zu der LU wegen der vier im Jahr 2005 begangenen Straftaten verurteilt worden war, abzielenden Europäischen Haftbefehl; er ist Gegenstand des Ausgangsverfahrens. 27 Mit Entscheidung vom 15. Dezember 2020 ordnete der High Court (Obergericht) auf der Grundlage dieses Haftbefehls die Übergabe von LU an. Der mit der Berufung von LU befasste Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland), das vorlegende Gericht, führt erstens aus, LU sei zu der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung durch die Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc) wegen Nichtzahlung von Unterhalt sowie zur Anordnung der Vollstreckung der ersten Freiheitsstrafe, die Gegenstand des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls sei, geführt habe, nicht erschienen. Da LU offenbar nicht auf sein Recht auf Anwesenheit bei dieser Verhandlung verzichtet habe, sei das Verfahren nicht im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt worden. 28 Das vorlegende Gericht neigt ferner zu der Auffassung, wenn das Verfahren vor der Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc) als Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 anzusehen sein sollte, wären weder die Voraussetzungen dieser Vorschrift noch die von Section 45 des Gesetzes von 2003 über den Europäischen Haftbefehl erfüllt. 29 Zweitens macht das vorlegende Gericht jedoch geltend, zum einen könne die Anordnung der Vollstreckung der ersten gegen LU verhängten Freiheitsstrafe als bloße Entscheidung über die Vollstreckung oder Anwendung dieser Strafe im Sinne des Urteils vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026), angesehen werden und zum anderen sei weder mit dieser Entscheidung noch mit der Verurteilung von LU wegen der Nichtzahlung von Unterhalt eine Änderung der Art oder des Maßes der Freiheitsstrafe, die gegen ihn wegen der im Jahr 2005 begangenen Taten verhängt worden sei, bezweckt oder bewirkt worden, so dass beide nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 fielen. 30 Die Rechtssache, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sei, unterscheide sich allerdings in mehrfacher Hinsicht von der Rechtssache, zu der das Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026), ergangen sei. 31 Zunächst habe sich im vorliegenden Fall die zweite Verurteilung von LU offenbar entscheidend ausgewirkt, weil sie dazu geführt habe, dass die Aussetzung der zuvor gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung widerrufen worden sei. Überdies hätte LU im Fall seiner Übergabe keinen Anspruch, nachträglich gehört zu werden. Und schließlich wiesen die Umstände des Ausgangsverfahrens einen viel engeren Zusammenhang mit Art. 6 EMRK sowie mit Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta auf als die Rechtssache, zu der das Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic (C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026), ergangen sei. Denn die Freiheitsstrafe, zu der LU wegen der von ihm im Jahr 2005 begangenen Straftaten verurteilt worden sei, sei nur deshalb vollstreckbar, weil er in seiner Abwesenheit der Nichtzahlung von Unterhalt für schuldig befunden und deshalb verurteilt worden sei, und es stehe außer Zweifel, dass Art. 6 EMRK auf ein Verfahren, das zu einer solchen Verurteilung in Abwesenheit geführt habe, Anwendung finde. 32 Außerdem erscheine es, da Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Section 45 des Gesetzes von 2003 über den Europäischen Haftbefehl einer Übergabe von LU zur Verbüßung der Strafe, zu der er in seiner Abwesenheit wegen Nichtzahlung von Unterhalt verurteilt worden sei, entgegenstünden, als Anomalie, dass er den ungarischen Behörden übergeben werden könne, um die Strafe, zu der er wegen der im Jahr 2005 begangenen Taten verurteilt worden sei, zu verbüßen, obwohl diese Strafe nur wegen der Verurteilung in Abwesenheit vollstreckbar sei. 33 Der Beschluss der Miskolci Törvényszék (Gerichtshof Miskolc), mit dem die Aussetzung der Vollstreckung der ersten Freiheitsstrafe widerrufen worden sei, könne als so eng mit der Verurteilung wegen Nichtzahlung von Unterhalt verbunden angesehen werden, dass ein Verstoß dieser Verurteilung gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK auch den Beschluss erfasse. 34 Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (Berufungsgericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. a) Wenn um die Übergabe der gesuchten Person zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe ersucht wird, die zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war, deren Vollstreckung aber später aufgrund der Verurteilung der gesuchten Person wegen einer weiteren Straftat angeordnet wurde, und wenn dieser Vollstreckungsbeschluss von dem Gericht erlassen wurde, das die gesuchte Person wegen dieser weiteren Straftat verurteilt hat, ist dann das Verfahren, das zu dieser späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“? b) Ist es für die Antwort auf Frage 1 Buchst. a von Bedeutung, ob das Gericht, das den Vollstreckungsbeschluss erlassen hat, dazu rechtlich verpflichtet war oder ob der Vollstreckungsbeschluss in seinem Ermessen stand? 2. Ist die vollstreckende Justizbehörde unter den in Frage 1 dargelegten Umständen berechtigt, zu prüfen, ob die Verhandlungen, die zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt haben und die in Abwesenheit der gesuchten Person stattfanden, im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurden, und insbesondere, ob die Abwesenheit der gesuchten Person zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren geführt hat? 3. a) Ist die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie sich unter den in Frage 1 genannten Umständen davon überzeugt hat, dass das Verfahren, das zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, nicht im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurde, und insbesondere davon, dass die Abwesenheit der gesuchten Person eine Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren darstellt, berechtigt und/oder verpflichtet, a) die Übergabe der gesuchten Person mit der Begründung abzulehnen, dass eine solche Übergabe gegen Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verstoßen würde, und/oder b) von der ausstellenden Justizbehörde als Bedingung für die Übergabe die Garantie zu verlangen, dass die gesuchte Person nach der Übergabe Anspruch auf ein Wiederaufnahmeverfahren oder ein Berufungsverfahren hat, an dem sie teilnehmen kann und das eine erneute Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht, die zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung in Bezug auf die Verurteilung, die zum Vollstreckungsbeschluss geführt hat, führen kann? b) Ist für die Zwecke der vorstehenden Frage 3 Buchst. a zu prüfen, ob die Übergabe der gesuchten Person den Wesensgehalt ihrer Grundrechte nach Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verletzen würde, und wenn ja, reicht der Umstand, dass die Verhandlung, die zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, in Abwesenheit durchgeführt wurde und dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe kein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf einen Rechtsbehelf haben wird, aus, um der vollstreckenden Justizbehörde die Feststellung zu ermöglichen, dass die Übergabe den Wesensgehalt dieser Rechte verletzen würde? Rechtssache C‑515/21 35 Am 29. Mai 2015 wurde PH vom Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Śródmieścia (Rayongericht Wrocław-Śródmieście, Polen) in seiner Anwesenheit wegen einer im Jahr 2015 begangenen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe wurde für fünf Jahre zur Bewährung ausgesetzt. PH legte gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel ein. 36 Am 21. Februar 2017 wurde PH vom Sąd Rejonowy w Bydgoszczy (Rayongericht Bydgoszcz, Polen) einer zweiten Straftat für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten verurteilt. PH hatte von der Verhandlung vor diesem Gericht keine Kenntnis und erschien zu ihr weder persönlich, noch war er dort anwaltlich vertreten. 37 Am 16. Mai 2017 ordnete der Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Śródmieścia (Rayongericht Wrocław-Śródmieście) gemäß Art. 75 § 1 des polnischen Strafgesetzbuchs die Vollstreckung der von ihm gegen PH verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr mit der Begründung an, dass PH während seiner Bewährungszeit eine zweite Straftat begangen habe. Das Gericht verfügte insoweit über kein Ermessen. 38 PH hatte von dem Verfahren vor dem Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Śródmieścia (Rayongericht Wrocław-Śródmieście), das zu der Entscheidung führte, die Aussetzung der Vollstreckung seiner ersten Freiheitsstrafe zu widerrufen, keine Kenntnis und erschien weder persönlich zu der mündlichen Verhandlung vom 16. Mai 2017, noch war er dort anwaltlich vertreten. 39 Die Frist, innerhalb deren PH gegen seine Verurteilung wegen der zweiten Straftat Berufung einlegen konnte, ist inzwischen abgelaufen, und im Fall einer Übergabe hat PH keinen Anspruch auf rechtliches Gehör, außer im Rahmen eines etwaigen außerordentlichen Rechtsbehelfs. 40 Am 26. Februar 2019 erließ der Sąd Rejonowy dla Wrocławia-Śródmieścia (Rayongericht Wrocław-Śródmieście) einen Europäischen Haftbefehl gegen PH, der sich in Irland befindet, zur Vollstreckung der am 29. Mai 2015 gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr. 41 Mit Entscheidung vom 16. November 2020 ordnete der High Court (Obergericht) auf der Grundlage dieses Haftbefehls die Übergabe von PH an. PH legte gegen diese Entscheidung Rechtsmittel beim Court of Appeal (Berufungsgericht) ein. 42 Der Court of Appeal (Berufungsgericht) hebt hervor, dass die in Abwesenheit durchgeführte Verhandlung, die zur zweiten Verurteilung von PH geführt habe, weder mit Art. 6 EMRK noch mit den Art. 47 und 48 der Charta vereinbar zu sein scheine, da PH offenbar nicht auf sein Recht verzichtet habe, bei dieser Verhandlung anwesend zu sein. 43 Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (Berufungsgericht) aus ähnlichen wie den oben in den Rn. 27 bis 33 dargelegten Gründen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Wenn um die Übergabe der gesuchten Person zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe ersucht wird, die zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden war, deren Vollstreckung aber später aufgrund der späteren Verurteilung der gesuchten Person wegen einer weiteren Straftat angeordnet wurde, und wenn dieser Vollstreckungsbeschluss aufgrund dieser Verurteilung zwingend vorgeschrieben war, ist dann das Verfahren, das zu dieser späteren Verurteilung, und/oder das Verfahren, das zu dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“? 2. Ist die vollstreckende Justizbehörde unter den in Frage 1 genannten Umständen berechtigt und/oder verpflichtet, zu prüfen, ob die Verhandlungen, die zu der späteren Verurteilung und/oder dem Vollstreckungsbeschluss geführt haben und die in Abwesenheit der gesuchten Person stattfanden, im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurden, und insbesondere, ob die Abwesenheit der gesuchten Person in dieser Verhandlung zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren geführt hat? 3. a) Ist die vollstreckende Justizbehörde, die sich unter den in Frage 1 genannten Umständen davon überzeugt hat, dass das Verfahren, das zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, nicht im Einklang mit Art. 6 EMRK durchgeführt wurde, und insbesondere, dass die Abwesenheit der gesuchten Person eine Verletzung der Verteidigungsrechte und/oder des Rechts der gesuchten Person auf ein faires Verfahren darstellt, berechtigt und/oder verpflichtet, a) die Übergabe der gesuchten Person mit der Begründung abzulehnen, dass eine solche Übergabe gegen Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verstoßen würde, und/oder b) von der ausstellenden Justizbehörde als Bedingung für die Übergabe die Garantie zu verlangen, dass die gesuchte Person nach ihrer Übergabe Anspruch auf ein Wiederaufnahmeverfahren oder ein Berufungsverfahren hat, an dem sie teilnehmen kann und das eine erneute Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht, die zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung in Bezug auf die Verurteilung, die zum Vollstreckungsbeschluss geführt hat, führen kann? b) Ist für die Zwecke der vorstehenden Frage 3 Buchst. a zu prüfen, ob die Übergabe der gesuchten Person den Wesensgehalt ihrer Grundrechte aus Art. 6 EMRK und/oder Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta verletzen würde, und wenn ja, reicht der Umstand, dass die Verhandlung, die zu der späteren Verurteilung und dem Vollstreckungsbeschluss geführt hat, in Abwesenheit durchgeführt wurde und dass die gesuchte Person im Fall ihrer Übergabe kein Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf einen Rechtsbehelf haben wird, aus, um der vollstreckenden Justizbehörde die Feststellung zu ermöglichen, dass die Übergabe den Wesensgehalt dieser Rechte verletzen würde? 44 Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. September 2021 sind die Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 45 Mit seiner ersten Frage in den verbundenen Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, in dem die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen einer erneuten strafrechtlichen Verurteilung widerrufen und zur Vollstreckung dieser Strafe ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, die in Abwesenheit ergangene Widerrufsentscheidung oder die ebenfalls in Abwesenheit ergangene zweite strafrechtliche Verurteilung eine „Entscheidung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. 46 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 darauf abzielt, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksamen Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Europäischen Union gesteckten Ziels beizutragen, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, beruhend auf dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Hierzu ergibt sich aus diesem Rahmenbeschluss und insbesondere aus seinem Art. 1 Abs. 2, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz darstellt, während die Ablehnung der Vollstreckung als eng auszulegende Ausnahme ausgestaltet ist (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung). 48 Zweitens geht schon aus dem Wortlaut von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hervor, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d genannten Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Art. 4a schränkt damit die Möglichkeit, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern, ein, indem er in genauer und einheitlicher Weise aufzählt, unter welchen Voraussetzungen die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen war, nicht verweigert werden dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 zielt darauf ab, ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten und es der vollstreckenden Behörde zu ermöglichen, den Betroffenen trotz seiner Abwesenheit bei der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, unter uneingeschränkter Achtung seiner Verteidigungsrechte zu übergeben (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insbesondere geht aus Art. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/299 im Licht seiner Erwägungsgründe 1 und 15 ausdrücklich hervor, dass Art. 4a in den Rahmenbeschluss 2002/584 eingefügt wurde, um das Recht des Angeklagten zu schützen, persönlich zu dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren zu erscheinen, und zugleich die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verbessern. 51 Art. 4a ist zudem im Einklang mit Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 der Charta auszulegen und anzuwenden, die nach den Erläuterungen zur Charta Art. 6 EMRK entsprechen. Der Gerichtshof hat daher darauf zu achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie von Art. 48 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem durch Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Niveau zurückbleibt (Urteil vom 15. September 2022, HN [Verfahren eines aus dem Hoheitsgebiet abgeschobenen Angeklagten], C‑420/20, EU:C:2022:679, Rn. 55). 52 Drittens ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter der Wendung „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 das Verfahren zu verstehen, das zu der justiziellen Entscheidung geführt hat, mit der die Person, um deren Übergabe im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ersucht wird, rechtskräftig verurteilt wurde (Urteile vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 74, und vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 64). 53 Dagegen stellt eine Entscheidung über die Vollstreckung oder die Anwendung einer zuvor verhängten Freiheitsstrafe keine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 dar, es sei denn, sie berührt die Feststellung der Schuld oder sie bezweckt oder bewirkt eine Änderung von Art oder Maß der Strafe und die sie erlassende Behörde verfügte insoweit über ein Ermessen. Folglich fällt eine Entscheidung, mit der die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe widerrufen wird, weil der Betroffene gegen eine objektive Voraussetzung für die Aussetzung verstoßen hat, etwa durch die Begehung einer weiteren Straftat während der Bewährungszeit, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1, da sowohl die Art als auch das Maß der Strafe unverändert bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 77, 81, 82 und 88). 54 Da die mit der Entscheidung über einen solchen Widerruf betraute Behörde keine inhaltliche Prüfung des Sachverhalts, der zu der strafrechtlichen Verurteilung geführt hat, vorzunehmen hat, ist es im Übrigen irrelevant, dass sie über ein Ermessen verfügt, es sei denn, sie ist befugt, das Maß oder die Art der in der Entscheidung, mit der die gesuchte Person rechtskräftig verurteilt wurde, verhängten Freiheitsstrafe zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 80). 55 Diese enge Auslegung der Wendung „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 steht überdies im Einklang mit der Systematik der durch den Rahmenbeschluss geschaffenen Regelung. Wie oben in Rn. 47 hervorgehoben, stellt diese Bestimmung nämlich eine Ausnahme von der Regel dar, wonach die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die gesuchte Person an den Ausstellungsmitgliedstaat zu übergeben, und ist daher eng auszulegen. 56 Eine solche Auslegung vermag zudem das mit dem Rahmenbeschluss verfolgte Ziel, das darin besteht, die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, beruhend auf den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, zu erleichtern und zu beschleunigen (siehe oben, Rn. 46), am besten zu gewährleisten, indem verhindert wird, dass die vollstreckende Justizbehörde eine allgemeine Funktion der Kontrolle aller im Ausstellungsmitgliedstaat erlassenen verfahrensrechtlichen Entscheidungen übernimmt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. August 2017, Tupikas, C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 87 und 88, sowie vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 88). 57 Insoweit darf nach ständiger Rechtsprechung zum einen der Rahmenbeschluss 2002/584 im Licht der Bestimmungen der Charta nicht so ausgelegt werden, dass die Wirksamkeit des Systems der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, zu dessen wesentlichen Bausteinen der Europäische Haftbefehl in seiner Ausgestaltung durch den Unionsgesetzgeber gehört, in Frage gestellt wird (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung), und zum anderen ist in erster Linie der Ausstellungsmitgliedstaat dafür verantwortlich, zu gewährleisten, dass die Rechte der Person, um deren Übergabe ersucht wird, gewahrt werden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 23. Januar 2018, Piotrowski, C‑367/16, EU:C:2018:27, Rn. 49 und 50). 58 Eine solche Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Nach seiner Rechtsprechung fallen zum einen Verfahren betreffend die Modalitäten der Strafvollstreckung nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK, und zum anderen können Maßnahmen, die ein Gericht nach der rechtskräftigen Verhängung einer Strafe oder während ihrer Vollstreckung trifft, nur dann als „Strafen“ im Sinne der EMRK angesehen werden, wenn sie zu einer Neufestlegung oder einer Änderung des Umfangs der ursprünglich verhängten Strafe führen können (vgl. u. a. EGMR, 3. April 2012, Boulois/Luxemburg, CE:ECHR:2012:0403JUD003757504, § 87, EGMR, 10. November 2015, Çetin/Türkei, CE:ECHR:2015:1110DEC003285709, §§ 42 bis 47, EGMR, 12. November 2019, Abedin/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2019:1112DEC005402616, §§ 29 bis 37, EGMR, 22. Juni 2021, Ballıktaş Bingöllü, CE:ECHR:2021:0622JUD007673012, § 48, und EGMR, 10. November 2022, Kupinskyy/Ukraine, CE:ECHR:2022:1110JUD000508418, §§ 47 bis 52). 59 Viertens ist als erster Aspekt festzustellen, dass eine justizielle Entscheidung, mit der der Betroffene verurteilt wird, im Gegensatz zu Fragen betreffend die Modalitäten der Vollstreckung oder Anwendung einer Strafe unter den strafrechtlichen Teil von Art. 6 EMRK fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 85, und vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Als zweiter Aspekt stellt das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung ein wesentliches Element des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar und ist allgemeiner betrachtet von entscheidender Bedeutung für die Beachtung des in Art. 47 Abs. 2 und 3 und in Art. 48 der Charta verankerten Rechts auf ein faires Strafverfahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2022, HN [Verfahren eines aus dem Hoheitsgebiet abgeschobenen Angeklagten], C‑420/20, EU:C:2022:679, Rn. 54 bis 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). 61 Hierzu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass es eine eklatante Rechtsverweigerung darstellt, wenn eine Person, von der nicht erwiesen ist, dass sie auf ihr Recht verzichtet hatte, persönlich zu erscheinen und sich zu verteidigen, oder dass sie die Absicht hatte, sich dem Zugriff der Justiz zu entziehen, in Abwesenheit verurteilt wird, ohne dass sie die Möglichkeit hat, im Anschluss an die Gewährung rechtlichen Gehörs zur tatsächlichen und rechtlichen Begründetheit der gegen sie erhobenen Anschuldigung ein neues Urteil zu erwirken (EGMR, 1. März 2006, Sejdovic/Italien, CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 82, und EGMR, 9. Juli 2019, Kislov/Russland, CE:ECHR:2019:0709JUD000359810, §§ 106, 107 und 115). 62 Im vorliegenden Fall ist ferner darauf hinzuweisen, dass die zweiten strafrechtlichen Verurteilungen von PH und LU die zuständige nationale Behörde zwangen oder ihr gestatteten, die Aussetzung der Vollstreckung der ersten Freiheitsstrafen, zu denen diese Personen bereits verurteilt worden waren, zu widerrufen, und dass dieser Widerruf seinerseits die Ausstellung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehle ermöglichte, da die ersten gegen PH und LU verhängten Freiheitsstrafen durch den Widerruf vollstreckbar geworden waren. 63 Ergeht gegen eine Person, die in Abwesenheit strafrechtlich verurteilt wurde, ein Europäischer Haftbefehl, und hätte dieser Haftbefehl, wie im vorliegenden Fall, ohne die Verurteilung nicht erlassen werden können, stellt diese somit einen notwendigen Umstand für die Ausstellung des Haftbefehls dar, der mit einem fundamentalen Mangel behaftet sein kann, durch den das in Art. 47 Abs. 2 und 3 und in Art. 48 der Charta gewährleistete Recht des Beschuldigten, persönlich zu seiner Verhandlung zu erscheinen, in schwerwiegender Weise beeinträchtigt wird. 64 Als dritter Aspekt hat der Unionsgesetzgeber, wie oben in Rn. 50 ausgeführt, entschieden, dem Recht des Beschuldigten, persönlich zu seiner Verhandlung zu erscheinen, im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls besondere Bedeutung beizumessen, indem er in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einen speziell dem Schutz dieses Rechts gewidmeten fakultativen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines solchen Haftbefehls geschaffen hat. Außerdem ist, wie oben in Rn. 51 hervorgehoben, ein solcher Ablehnungsgrund im Einklang mit den oben in den Rn. 60 und 61 dargelegten Anforderungen auszulegen, die sich aus Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie aus Art. 48 der Charta ergeben. 65 Soll Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht ein großer Teil seiner Wirksamkeit genommen werden, muss die vollstreckende Justizbehörde daher, wenn sie darüber befindet, ob nach dieser Bestimmung die Übergabe der gesuchten Person abzulehnen ist, nicht nur berücksichtigen können, ob das Verfahren, das zu dem rechtskräftigen Urteil geführt hat, zu dessen Vollstreckung der Europäische Haftbefehl erlassen wurde, in Abwesenheit durchgeführt wurde, sondern auch, ob ein anderes Verfahren, das zu einer strafrechtlichen Verurteilung geführt hat und ohne das ein solcher Haftbefehl nicht hätte erlassen werden können, in Abwesenheit durchgeführt wurde. 66 Überdies kann sich, wie die Europäische Kommission hervorgehoben hat, die Wendung „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ auf mehr als eine gerichtliche Entscheidung beziehen, wenn dies zur Verwirklichung des mit Art. 4a Abs. 1, der u. a. die Verteidigungsrechte der Betroffenen dadurch stärken soll, dass ihr Grundrecht auf ein faires Strafverfahren gewährleistet wird, verfolgten Ziels erforderlich ist (vgl. entsprechend Urteil vom 10. August 2017, Zdziaszek, C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 94). 67 Folglich ist eine justizielle Entscheidung, mit der die gesuchte Person in Abwesenheit verurteilt wurde, im Licht der Art. 47 und 48 der Charta als „Entscheidung“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 anzusehen, wenn ihr Erlass die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls bedingt hat. 68 Nach alledem ist Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen einer erneuten strafrechtlichen Verurteilung widerrufen und zur Vollstreckung dieser Strafe ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, die in Abwesenheit erfolgte erneute strafrechtliche Verurteilung eine „Entscheidung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Bei der Entscheidung, die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zu widerrufen, ist dies nicht der Fall. Zur zweiten und zur dritten Frage 69 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage in den verbundenen Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Rahmenbeschluss 2002/584 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet oder sie zwingt, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat abzulehnen oder ihre Übergabe von der Garantie abhängig zu machen, dass diese Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in den Genuss eines Wiederaufnahmeverfahrens oder eines Berufungsverfahrens kommen kann, wenn das in Abwesenheit durchgeführte Verfahren, das zum Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Europäische Haftbefehl ergangen ist, oder zu einer zweiten, die Ausstellung dieses Haftbefehls bedingenden strafrechtlichen Verurteilung der betreffenden Person geführt hat, gegen Art. 47 oder Art. 48 Abs. 2 der Charta verstieß. Es möchte ferner wissen, ob ein solcher Verstoß den Wesensgehalt der in diesen Artikeln garantierten Rechte berühren muss. 70 Erstens ergibt sich aus der Antwort auf die erste Frage in den verbundenen Rechtssachen C‑514/21 und C‑515/21, dass die in Abwesenheit erfolgte strafrechtliche Verurteilung, ohne die die Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nicht widerrufen worden wäre, Teil der „Verhandlung …, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist. 71 In Anbetracht dessen ist erstens darauf hinzuweisen, dass in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d in genauer und einheitlicher Weise aufgezählt wird, unter welchen Voraussetzungen die Anerkennung und Vollstreckung einer im Anschluss an eine Verhandlung, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen ist, ergangenen Entscheidung nicht verweigert werden darf (Urteil vom 22. Dezember 2017, Ardic, C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). 72 Daraus folgt, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 der vollstreckenden Justizbehörde nicht gestattet, die Übergabe der betreffenden Person zu verweigern, wenn der Europäische Haftbefehl in Bezug auf die justizielle Entscheidung, mit der die Freiheitsstrafe verhängt wurde, zu deren Vollstreckung er ergangen ist, eine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d vorgesehenen Angaben enthält. 73 In allen in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Fällen beeinträchtigt nämlich die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls weder die Verteidigungsrechte der betreffenden Person noch ihre in Art. 47 und in Art. 48 Abs. 2 der Charta verankerten Rechte auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren (Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 44 und 53). 74 Aus denselben Gründen kann die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat nicht nach Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verweigern, wenn der Europäische Haftbefehl in Bezug auf die oben in Rn. 70 erwähnte strafrechtliche Verurteilung in Abwesenheit eine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d genannten Angaben enthält. 75 Umgekehrt muss die vollstreckende Justizbehörde, wenn der Europäische Haftbefehl keine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Angaben enthält, in der Lage sein, die Übergabe der gesuchten Person unabhängig davon zu verweigern, ob der Wesensgehalt ihrer Verteidigungsrechte verletzt wurde, da sich ein derartiges Erfordernis weder aus dem Wortlaut von Art. 4a noch aus seinem oben in Rn. 50 dargelegten Zweck ergibt. 76 Ferner geht schon aus dem Wortlaut von Art. 4a, insbesondere daraus, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Haftbefehls verweigern „kann“, hervor, dass sie über ein Ermessen hinsichtlich der Frage verfügen muss, ob seine Vollstreckung in einem solchen Fall zu verweigern ist oder nicht. Aus Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann mithin nicht geschlossen werden, dass die vollstreckende Justizbehörde in einem Fall wie dem in der vorstehenden Randnummer beschriebenen verpflichtet ist, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern, ohne die Möglichkeit zu haben, die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 29. April 2021, X [Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem], C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 43 und 44). 77 Diese Auslegung wird durch die Systematik des Rahmenbeschlusses bestätigt. Wie oben in Rn. 47 ausgeführt, stellt die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nämlich den im Rahmenbeschluss aufgestellten Grundsatz dar, während die Gründe für die Ablehnung der Anerkennung und Vollstreckung Ausnahmen sind. Würde der vollstreckenden Justizbehörde die Möglichkeit genommen, besondere Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen, die sie zu der Annahme veranlassen könnten, dass die Voraussetzungen für die Ablehnung der Übergabe nicht erfüllt sind, würde dies dazu führen, dass die in Art. 4a des Rahmenbeschlusses vorgesehene bloße Befugnis durch eine echte Verpflichtung ersetzt würde, so dass die Ausnahme in Form einer Ablehnung der Übergabe zur Grundregel gemacht würde (vgl. entsprechend Urteil vom 29. April 2021, X [Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem], C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 47). 78 Wie die Generalanwältin in Nr. 115 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen hervorgehoben hat, kann die vollstreckende Justizbehörde aus diesem Blickwinkel andere Umstände berücksichtigen, die es ihr ermöglichen, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass die Übergabe des Betroffenen nicht zu einer Verletzung seiner Verteidigungsrechte führt, und ihn daraufhin an den Ausstellungsmitgliedstaat zu übergeben. Dabei kann u. a. das Verhalten des Betroffenen eine Rolle spielen, insbesondere der Umstand, dass er versucht hat, sich der Zustellung der an ihn gerichteten Informationen zu entziehen oder jeden Kontakt mit seinen Anwälten zu vermeiden (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 51 und 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 79 Zweitens hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nur an eine der in Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 abschließend aufgeführten Bedingungen geknüpft werden kann (Urteil vom 14. Juli 2022, Procureur général près la cour d’appel d’Angers, C‑168/21, EU:C:2022:558, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung). 80 Die Verpflichtung des Ausstellungsmitgliedstaats, der Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, das Recht auf eine neue Verhandlung zuzuerkennen, wenn sie unter Verletzung ihrer Verteidigungsrechte in Abwesenheit verurteilt wurde, gehört aber nicht zu den in Art. 5 genannten Bedingungen. Folglich hindert das Unionsrecht die vollstreckende Justizbehörde daran, die Übergabe der Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, an eine solche Bedingung zu knüpfen. 81 Gleichwohl muss die vollstreckende Justizbehörde, um eine wirksame Zusammenarbeit in Strafsachen zu gewährleisten, von den in Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Instrumenten umfassend Gebrauch machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 132 und die dort angeführte Rechtsprechung). 82 Daher kann sich diese Behörde veranlasst sehen, gegebenenfalls mittels eines Ersuchens um zusätzliche Informationen im Sinne von Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats einzuholen, dass die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, darüber unterrichtet wird, dass sie nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats Anspruch auf ein neues Verfahren hat, an dem sie teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann; gibt der Ausstellungsmitgliedstaat eine solche Zusicherung, ist die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 4a Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses verpflichtet, die betreffende Person zu übergeben. 83 Zweitens ergibt sich aus der Antwort auf die erste Frage (siehe oben, Rn. 68), dass die Entscheidung, die Aussetzung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Europäische Haftbefehl ausgestellt wurde, zu widerrufen, nicht in den Anwendungsbereich von Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt, so dass der Umstand, dass diese Entscheidung in Abwesenheit ergangen ist, die Weigerung einer vollstreckenden Justizbehörde, die gesuchte Person zu übergeben, nicht rechtfertigen kann. 84 Da ein solcher Umstand zudem nicht zu den zwingenden oder fakultativen Ablehnungsgründen gehört, die in den Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses aufgeführt sind, können auch diese Bestimmungen keine solche Weigerung rechtfertigen. 85 Wie die Generalanwältin in Nr. 126 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen hervorgehoben hat, kann die Übergabe der gesuchten Person jedoch ausnahmsweise auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses abgelehnt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 72). 86 Insoweit ist allerdings insbesondere darauf hinzuweisen, dass eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur dann auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 der Charta ablehnen kann, wenn sie zum einen über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel eine echte Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, und zum anderen konkret und genau geprüft hat, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation der gesuchten Person, der Art der ihr zur Last gelegten Straftat und des der Ausstellung des Haftbefehls zugrunde liegenden Sachverhalts ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die besagte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 97). 87 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die in der vorstehenden Randnummer aufgezählten Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. 88 Schließlich darf die vollstreckende Justizbehörde einem Europäischen Haftbefehl, der die Mindesterfordernisse, von denen seine Gültigkeit abhängt – dazu zählen die in Art. 1 Abs. 1 und in Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Erfordernisse –, nicht erfüllt, keine Folge leisten (vgl. hierzu Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 69 und 70). Im vorliegenden Fall gibt es – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – keine Anhaltspunkte dafür, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehle diese Mindesterfordernisse nicht erfüllten. 89 Da die Gründe, aus denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, im Rahmenbeschluss 2002/584 abschließend aufgezählt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 73), verwehrt der Rahmenbeschluss es einer vollstreckenden Justizbehörde, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangen ist, mit der Begründung abzulehnen, dass die Aussetzung der Vollstreckung dieser Strafe durch eine in Abwesenheit ergangene Entscheidung widerrufen worden sei. 90 Wie oben in Rn. 80 ausgeführt, gestattet dieser Rahmenbeschluss es auch nicht, die Übergabe der gesuchten Person davon abhängig zu machen, dass sie im Ausstellungsmitgliedstaat eine gerichtliche Überprüfung der in ihrer Abwesenheit ergangenen Entscheidung erwirken kann, aufgrund deren die Aussetzung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Haftbefehl ergangen ist, widerrufen wurde. 91 Dieser Umstand gehört nämlich nicht zu den in Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 abschließend aufgezählten Voraussetzungen, an die die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls geknüpft werden kann (siehe oben, Rn. 79). 92 Aus alledem folgt, dass – Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat abzulehnen, wenn das Verfahren, das zu einer die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls bedingenden zweiten strafrechtlichen Verurteilung dieser Person geführt hat, in ihrer Abwesenheit durchgeführt wurde, es sei denn, der Europäische Haftbefehl enthält in Bezug auf dieses Verfahren eine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d vorgesehenen Angaben; – der Rahmenbeschluss 2002/584 im Licht von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde verwehrt, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat mit der Begründung abzulehnen, dass das Verfahren, das zum Widerruf der Aussetzung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Europäische Haftbefehl ergangen ist, geführt hat, in Abwesenheit dieser Person durchgeführt wurde, oder ihre Übergabe von der Garantie abhängig zu machen, dass sie in dem betreffenden Mitgliedstaat in den Genuss eines Wiederaufnahmeverfahrens oder eines Berufungsverfahrens kommen kann, das es ermöglicht, einen solchen Widerruf oder ihre zweite, in ihrer Abwesenheit erfolgte strafrechtliche Verurteilung, die die Ausstellung des Haftbefehls bedingt hat, zu überprüfen. Kosten 93 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 47 und Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen einer erneuten strafrechtlichen Verurteilung widerrufen und zur Vollstreckung dieser Strafe ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, die in Abwesenheit erfolgte erneute strafrechtliche Verurteilung eine „Entscheidung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Bei der Entscheidung, die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zu widerrufen, ist dies nicht der Fall. 2. Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat abzulehnen, wenn das Verfahren, das zu einer die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls bedingenden zweiten strafrechtlichen Verurteilung dieser Person geführt hat, in ihrer Abwesenheit durchgeführt wurde, es sei denn, der Europäische Haftbefehl enthält in Bezug auf dieses Verfahren eine der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d vorgesehenen Angaben. 3. Der Rahmenbeschluss 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er es der vollstreckenden Justizbehörde verwehrt, die Übergabe der gesuchten Person an den Ausstellungsmitgliedstaat mit der Begründung abzulehnen, dass das Verfahren, das zum Widerruf der Aussetzung der Freiheitsstrafe, zu deren Vollstreckung der Europäische Haftbefehl ergangen ist, geführt hat, in Abwesenheit dieser Person durchgeführt wurde, oder ihre Übergabe von der Garantie abhängig zu machen, dass sie in dem betreffenden Mitgliedstaat in den Genuss eines Wiederaufnahmeverfahrens oder eines Berufungsverfahrens kommen kann, das es ermöglicht, einen solchen Widerruf oder ihre zweite, in ihrer Abwesenheit erfolgte strafrechtliche Verurteilung, die die Ausstellung des Haftbefehls bedingt hat, zu überprüfen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Englisch.
Beschluss des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 15. Februar 2023.#Bundesrepublik Deutschland gegen GS.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 5 Buchst. a und b – Gegen einen Drittstaatsangehörigen ergangene Rückkehrentscheidung – Minderjähriger Drittstaatsangehöriger, der im Fall einer Rückkehr von seinen Eltern getrennt würde – Kindeswohl – Recht auf Achtung des Familienlebens.#Rechtssache C-484/22.
62022CO0484
ECLI:EU:C:2023:122
2023-02-15T00:00:00
Gerichtshof, Rantos
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62022CO0484 BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer) 15. Februar 2023 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 5 Buchst. a und b – Gegen einen Drittstaatsangehörigen ergangene Rückkehrentscheidung – Minderjähriger Drittstaatsangehöriger, der im Fall einer Rückkehr von seinen Eltern getrennt würde – Kindeswohl – Recht auf Achtung des Familienlebens“ In der Rechtssache C‑484/22 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juli 2022, in dem Verfahren Bundesrepublik Deutschland gegen GS, vertreten durch seine Eltern, Beteiligte: Vertreterin des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht, erlässt DER GERICHTSHOF (Achte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec, Generalanwalt: A. Rantos, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, folgenden Beschluss 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundesrepublik Deutschland und GS, einem durch seine Eltern vertretenen minderjährigen Kind, u. a. wegen der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland, im Folgenden: Bundesamt) gegen dieses Kind erlassenen Abschiebungsandrohung. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt in Art. 7 („Achtung des Privat- und Familienlebens“): „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“ 4 In Art. 24 („Rechte des Kindes“) der Charta heißt es: „… (2)   Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. (3)   Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“ Richtlinie 2008/115 5 Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 findet diese „Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige“. 6 Nach Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke „1.   ‚Drittstaatsangehörige‘: alle Personen, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel [9 EUV] sind und die nicht das Gemeinschaftsrecht auf freien Personenverkehr nach Artikel 2 Absatz 5 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] genießen; 2.   ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats; 3.   ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in – deren Herkunftsland oder – ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder – ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird; 4.   ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird; 5.   ‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedsstaat; … 8.   ‚freiwillige Ausreise‘: die Erfüllung der Rückkehrverpflichtung innerhalb der dafür in der Rückkehrentscheidung festgesetzten Frist; …“ 7 Art. 5 („Grundsatz der Nichtzurückweisung, Wohl des Kindes, familiäre Bindungen und Gesundheitszustand“) der Richtlinie lautet: „Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise: a) das Wohl des Kindes, b) die familiären Bindungen, c) den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen, und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“ Deutsches Recht Aufenthaltsgesetz 8 Das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I, S. 1950) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (BGBl. 2017 I, S. 2780) (im Folgenden: Aufenthaltsgesetz oder AufenthG) bestimmt in § 59 („Androhung der Abschiebung“): „(1)   Die Abschiebung ist unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. … (2)   In der Androhung soll der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist. (3)   Dem Erlass der Androhung steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegen. … (4)   Nach dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung bleiben für weitere Entscheidungen der Ausländerbehörde über die Abschiebung oder die Aussetzung der Abschiebung Umstände unberücksichtigt, die einer Abschiebung in den in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Staat entgegenstehen und die vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit der Abschiebungsandrohung eingetreten sind; sonstige von dem Ausländer geltend gemachte Umstände, die der Abschiebung oder der Abschiebung in diesen Staat entgegenstehen, können unberücksichtigt bleiben. Die Vorschriften, nach denen der Ausländer die im Satz 1 bezeichneten Umstände gerichtlich im Wege der Klage oder im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach der Verwaltungsgerichtsordnung geltend machen kann, bleiben unberührt.“ 9 § 60a („Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung [Duldung]“) AufenthG sieht in seinen Abs. 2 bis 5 vor: „(2)   Die Abschiebung eines Ausländers ist auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. … … (3)   Die Ausreisepflicht eines Ausländers, dessen Abschiebung ausgesetzt ist, bleibt unberührt. (4)   Über die Aussetzung der Abschiebung ist dem Ausländer eine Bescheinigung auszustellen. (5)   Die Aussetzung der Abschiebung erlischt mit der Ausreise des Ausländers. …“ Asylgesetz 10 § 34 Asylgesetz (BGBl. 2008 I, S. 1798) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (BGBl. 2013 I, S. 3474) bestimmt: „(1)   Das Bundesamt erlässt nach den §§ 59 und 60 Absatz 10 des Aufenthaltsgesetzes eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn 1. der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt wird, 2. dem Ausländer nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, 2a. dem Ausländer kein subsidiärer Schutz gewährt wird, 3.   die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen oder die Abschiebung ungeachtet des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Absatz 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes ausnahmsweise zulässig ist und 4.   der Ausländer keinen Aufenthaltstitel besitzt. Eine Anhörung des Ausländers vor Erlass der Abschiebungsandrohung ist nicht erforderlich. Im Übrigen bleibt die Ausländerbehörde für Entscheidungen nach § 59 Absatz 1 Satz 4 und Absatz 6 des Aufenthaltsgesetzes zuständig. (2) Die Abschiebungsandrohung soll mit der Entscheidung über den Asylantrag verbunden werden. …“ Verwaltungsgerichtsordnung 11 § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung regelt allgemein, dass die Gerichte auf Antrag und unabhängig von einer Klageerhebung eine einstweilige Anordnung treffen können. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 12 Der im Dezember 2018 in Deutschland geborene Kläger des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Kläger) ist wie seine Eltern und Geschwister Staatsangehöriger der Bundesrepublik Nigeria. 13 Mit Entscheidungen von März 2017 und März 2018 stellte das Bundesamt zugunsten des Vaters und einer 2014 geborenen Schwester des Klägers ein Verbot der Abschiebung nach Nigeria fest. Insoweit seien die nach dem nationalen Recht für ein Abschiebungsverbot in Bezug auf Nigeria geltenden Voraussetzungen erfüllt, weil es dem Vater des Klägers im Falle einer Abschiebung in dieses Land nicht möglich sein werde, seine gegenüber seinen eigenen Eltern, seiner Frau und seinen Kindern bestehenden Unterhaltspflichten zu erfüllen. Mit Bescheiden von Februar und April 2018 wurden dem Vater und der Schwester des Klägers von der zuständigen Behörde gemäß den für Abschiebungsverbote geltenden nationalen Regelungen eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilt. 14 Die Asylanträge der Mutter und einer 2016 geborenen weiteren Schwester des Klägers wurden dagegen als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Ihr Aufenthalt in Deutschland wird seither geduldet. 15 Mit Bescheid vom 13. Juni 2019 lehnte das Bundesamt zum einen den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Anerkennung als Asylberechtigter bzw. auf Zuerkennung subsidiären Schutzes ab und drohte ihm zum anderen die Abschiebung nach Nigeria an, wobei ihm für die freiwillige Ausreise eine Frist von 30 Tagen gesetzt wurde (im Folgenden: Abschiebungsandrohung). 16 Das mit einer Klage gegen diesen Bescheid befasste Verwaltungsgericht wies mit einem Urteil vom 7. Juni 2021 die meisten Klageanträge zurück. Die Abschiebungsandrohung gegen den Kläger hob es dagegen mit der Begründung auf, dass seine Ausweisung wegen des zugunsten des Vaters und eine der Schwestern des Klägers bestehenden Abschiebungsverbots nicht mit dem sowohl im Grundgesetz als auch in Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankerten Recht auf Familienleben vereinbar sei, da dem Kläger eine Trennung von seinem Vater nicht zuzumuten sei. 17 Die Bundesrepublik Deutschland legte gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts, soweit damit die Abschiebungsandrohung aufgehoben wird, beim Bundesverwaltungsgericht, dem vorlegenden Gericht, eine auf Rechtsfragen beschränkte Sprungrevision ein. 18 Zur Begründung ihrer Sprungrevision führt die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen aus, dass die der Abschiebung einer Person entgegenstehenden Gründe in Bezug auf das Wohl des Kindes und die Achtung der familiären Bindungen im Sinne von Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 grundsätzlich nicht in dem Verfahren betreffend die Abschiebungsandrohung, für das das Bundesamt zuständig sei, zu berücksichtigen seien. Solche Gründe dürften nur im Rahmen eines gesonderten, nachfolgenden, den Vollzug der Abschiebung betreffenden Verfahrens berücksichtigt werden, für das andere Stellen, nämlich die regionalen Ausländerbehörden, zuständig seien. 19 Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass er der Rechtmäßigkeit einer gegen einen minderjährigen Drittstaatsangehörigen erlassenen Rückkehrentscheidung, die zusammen mit der Ablehnung von dessen Antrag auf internationalen Schutz ergeht und diesem eine Ausreisefrist von 30 Tagen ab Bestandskraft setzt, ausnahmslos entgegensteht, wenn aus rechtlichen Gründen auf unabsehbare Zeit kein Elternteil in ein in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2008/115 bezeichnetes Land rückgeführt werden kann und damit auch dem Minderjährigen das Verlassen des Mitgliedstaats wegen seiner schutzwürdigen familiären Bindungen (Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta sowie Art. 8 EMRK) nicht zugemutet werden kann, oder genügt es, dass das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen im Sinne des Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 auf der Grundlage einer nationalen gesetzlichen Regelung nach Erlass der Rückkehrentscheidung durch eine Aussetzung der Abschiebung zu berücksichtigen sind? Zur Vorlagefrage 20 Wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, kann der Gerichtshof gemäß Art. 99 seiner Verfahrensordnung auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden. 21 Diese Bestimmung ist im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens anzuwenden. 22 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, oder dahin, dass es genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken. 23 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115 im Hinblick auf seinen Zweck, im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Wahrung mehrerer Grundrechte – u. a. die in Art. 24 der Charta verankerten Grundrechte des Kindes – zu gewährleisten, nicht eng ausgelegt werden darf (Urteil vom 11. März 2021, Belgischer Staat [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 35). 24 Nach Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ist das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen], C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 54), während gemäß Art. 5 Buchst. b der Richtlinie die Mitgliedstaaten auch die familiären Bindungen angemessen berücksichtigen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2021, Belgischer Staat [Rückkehr des Elternteils eines Minderjährigen], C‑112/20, EU:C:2021:197, Rn. 41). 25 Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verwehrt es somit einem Mitgliedstaat, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ohne die relevanten Aspekte des Familienlebens des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu berücksichtigen, die er geltend macht, um den Erlass einer solchen Entscheidung zu verhindern (Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 104). 26 Konkret muss der betreffende Mitgliedstaat vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen], C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 60). 27 Folglich steht Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 einer nationalen Rechtsprechung entgegen, nach der die Verpflichtung, beim Erlass einer Abschiebungsandrohung das Wohl des Kindes und dessen familiären Bindungen zu berücksichtigen, als erfüllt gilt, solange die Abschiebung nicht vollzogen wird. 28 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken. Kosten 29 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt: Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 8. Dezember 2022.#Strafverfahren gegen HYA u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 8 Abs. 1 – Recht einer beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung – Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte – Vernehmung von Belastungszeugen in Abwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsanwalts in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens – Unmöglichkeit, Fragen an die Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens zu stellen – Nationale Regelung, die es einem Strafgericht erlaubt, seine Entscheidung auf die frühere Aussage dieser Zeugen zu stützen.#Rechtssache C-348/21.
62021CJ0348
ECLI:EU:C:2022:965
2022-12-08T00:00:00
Collins, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62021CJ0348 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 8. Dezember 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 8 Abs. 1 – Recht einer beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung – Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte – Vernehmung von Belastungszeugen in Abwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsanwalts in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens – Unmöglichkeit, Fragen an die Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens zu stellen – Nationale Regelung, die es einem Strafgericht erlaubt, seine Entscheidung auf die frühere Aussage dieser Zeugen zu stützen“ In der Rechtssache C‑348/21 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 3. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juni 2021, in dem Strafverfahren gegen HYA, IP, DD, ZI, SS, Beteiligte: Spetsializirana prokuratura, erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter), N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec, Generalanwalt: A. M. Collins, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von IP, vertreten durch H. Georgiev, Advokat, – von DD, vertreten durch V. Vasilev, Advokat, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. Juli 2022 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) sowie von Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen HYA, IP, DD, ZI und SS (im Folgenden zusammen: die fraglichen Angeklagten) wegen Straftaten im Bereich der illegalen Einwanderung. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 Art. 6 („Recht auf ein faires Verfahren“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht vor: „(1)   Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. … … (3)   Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte: … d) Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken, wie sie für Belastungszeugen gelten; …“ Unionsrecht 4 In den Erwägungsgründen 22, 33, 34, 36, 41 und 47 der Richtlinie 2016/343 heißt es: „(22) Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet einer möglichen Befugnis des Gerichts zur Tatsachenfeststellung von Amts wegen, der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person und der Anwendung von Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person, läge ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. … … (33) Das Recht auf ein faires Verfahren ist eines der Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft. Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, beruht auf diesem Recht und sollte in der gesamten Union sichergestellt werden. (34) Können Verdächtige oder beschuldigte Personen aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, in der Verhandlung nicht anwesend sein, so sollten sie innerhalb der im nationalen Recht vorgesehenen Frist einen neuen Verhandlungstermin beantragen können. … (36) Unter bestimmten Umständen sollte es möglich sein, dass eine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person selbst dann ergeht, wenn die betreffende Person bei der Verhandlung nicht anwesend ist. … … (41) Das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung kann nur dann wahrgenommen werden, wenn eine oder mehrere Verhandlungen durchgeführt werden. Dies bedeutet, dass das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung nicht wahrgenommen werden kann, wenn die maßgeblichen nationalen Verfahrensvorschriften keine Verhandlung vorsehen. … … (47) Diese Richtlinie wahrt die in der Charta und der EMRK anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, das Recht auf Freiheit und Sicherheit sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Recht auf Unversehrtheit, die Rechte des Kindes, das Recht auf Integration von Menschen mit Behinderung, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte. Berücksichtigt werden sollte insbesondere Artikel 6 [EUV], dem zufolge die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennt, die in der Charta niedergelegt sind, und dem zufolge die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind.“ 5 Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie bestimmt: „Diese Richtlinie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.“ 6 Art. 6 („Beweislast“) Abs. 1 dieser Richtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.“ 7 Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) dieser Richtlinie sieht in seinen Abs. 1 und 2 vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein. (2)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern a) der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder b) der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde.“ Bulgarisches Recht Gesetz über das Ministerium für innere Angelegenheiten 8 Aus Art. 72 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 73 des Zakon za Ministerstvoto na vatreshnite raboti (Gesetz über das Ministerium für innere Angelegenheiten) vom 28. Mai 2014 (DV Nr. 53 vom 27. Juni 2014, S. 2) in seiner auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung leitet sich ab, dass eine Person, die verdächtigt wird, eine Straftat begangen zu haben, für einen Zeitraum von 24 Stunden festgehalten werden darf, bevor sie förmlich beschuldigt wird. NPK 9 Gemäß Art. 12 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) ist das Gerichtsverfahren ein kontradiktorisches Verfahren, und die Verteidigung hat dieselben Rechte wie die Strafverfolgungsbehörde. 10 Gemäß Art. 46 Abs. 2 Nr. 1 und Art. 52 NPK wird das Ermittlungsverfahren von den Ermittlungsbehörden unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft durchgeführt. 11 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, wird nach Art. 107 Abs. 1, Art. 139 und Art. 224 NPK ein Zeuge in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens zur Beweiserhebung gewöhnlich vernommen, ohne dass die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand anwesend sind. Nach Art. 280 Abs. 2 NPK in Verbindung mit Art. 253 NPK wird der Zeuge in der Folge in der gerichtlichen Phase des Verfahrens, in der mündlichen Verhandlung, in Anwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsbeistands, die dem Zeugen somit ihre eigenen Fragen stellen können, erneut vernommen. 12 Art. 223 NPK („Vernehmung von Zeugen vor einem Richter“) Abs. 1 und 2 lautet: „(1)   Besteht die Gefahr, dass der Zeuge wegen einer schweren Krankheit, einer längeren Abwesenheit im Ausland oder aus anderen Gründen, die sein Erscheinen in der Verhandlung unmöglich machen, nicht vor Gericht erscheinen kann, und ist es außerdem erforderlich, einer Zeugenaussage, die für die objektive Wahrheitsfindung von besonderer Bedeutung ist, mehr Gewicht zu verleihen, so wird die Vernehmung vor einem Richter des zuständigen Gerichts erster Instanz oder des Gerichts erster Instanz, in dessen Bezirk die Handlung erfolgt, durchgeführt. Unter diesen Umständen wird die Akte nicht dem Richter vorgelegt. (2)   Die für das Ermittlungsverfahren zuständige Behörde sorgt dafür, dass der Zeuge anwesend ist und dass der Beschuldigte und sein Verteidiger, sofern vorhanden, an der Vernehmung teilnehmen können.“ 13 Art. 281 NPK („Verlesung von Zeugenaussagen“) Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 bestimmt: „(1)   Zeugenaussagen, die in derselben Sache entweder vor einem Richter in der vorgerichtlichen Phase oder vor einem anderen Spruchkörper des Gerichts gemacht wurden, werden [in der mündlichen Verhandlung] verlesen, wenn: … 4. der Zeuge nicht auffindbar ist, um vorgeladen zu werden, oder verstorben ist; … (3)   Unter den Voraussetzungen des Abs. 1 Nrn. 1 bis 6 werden Zeugenaussagen, die vor einer für das Ermittlungsverfahren zuständigen Behörde gemacht wurden, [in der mündlichen Verhandlung] verlesen, wenn der Angeklagte und sein Verteidiger (sofern ein solcher bevollmächtigt oder bestellt war) an der Vernehmung teilgenommen haben. Bei mehreren Angeklagten bedarf die Verlesung der Zeugenaussagen der Einwilligung derjenigen Angeklagten, die zu der Vernehmung nicht geladen waren oder die triftige Gründe für ihr Nichterscheinen angeführt haben und um deren Belastung es in den zu verlesenden Zeugenaussagen geht.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 14 Die fraglichen Angeklagten, darunter Grenzpolizeikräfte des Flughafens Sofia (Bulgarien), werden wegen illegaler Einwanderungsdelikte strafrechtlich verfolgt. 15 IP, DD, SS und HYA wurden am Abend des 25. Mai 2017 festgenommen und am folgenden Tag förmlich beschuldigt. ZI wurde am 31. Mai 2017 festgenommen und am selben Tag förmlich beschuldigt. Danach wurden die fraglichen Angeklagten in Untersuchungshaft genommen und erhielten Zugang zu einem Rechtsbeistand. 16 In der Ermittlungsphase des Strafverfahrens wurden mehrere Drittstaatsangehörige, nämlich MM, RB, KH, HN und PR (im Folgenden für alle zusammen: die betroffenen Zeugen), deren illegale Einreise in das bulgarische Hoheitsgebiet durch die fraglichen Angeklagten erleichtert worden sein soll, von den Ermittlungsdiensten der Staatsanwaltschaft vernommen. 17 Ein Teil der Vernehmungen wurde vor einem Richter geführt. So wurden MM und RB am 30. März 2017 bzw. am 12. April 2017, KH am 26. Mai 2017, HN am 30. März 2017 und PR am 30. März 2017 sowie am 12. April 2017 vor einem Richter vernommen. 18 Wegen ihres illegalen Aufenthalts im bulgarischen Hoheitsgebiet wurden gegen die betroffenen Zeugen Verwaltungsverfahren zum Zweck ihrer Abschiebung geführt. 19 In der Ermittlungsphase des Strafverfahrens beantragten SS und DD ausdrücklich, MM Fragen stellen zu dürfen. Die Staatsanwaltschaft gab diesen Anträgen nicht statt. 20 Am 19. Juni 2020 befasste die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien), die davon ausging, dass die Tatvorwürfe gegen die fraglichen Angeklagten stichhaltig waren, den Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) zwecks deren strafrechtlicher Verurteilung. 21 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, erwiesen sich die Versuche dieses Gerichts, die betroffenen Zeugen zum Zweck ihrer Vernehmung in Anwesenheit der fraglichen Angeklagten und ihrer Verteidigung zu laden, als erfolglos, sei es, weil es nicht möglich war, ihren Wohnsitz zu bestimmen, sei es, weil sie aus dem bulgarischen Hoheitsgebiet abgeschoben worden waren oder dieses freiwillig verlassen hatten. Daher besteht nach Ansicht des vorlegenden Gerichts keine Möglichkeit, die betroffenen Zeugen in der gerichtlichen Phase des Verfahrens persönlich zu vernehmen. 22 In der mündlichen Verhandlung vor dem vorlegenden Gericht am 9. April 2021 beantragte die Staatsanwaltschaft, dass gemäß Art. 281 Abs. 1 NPK die in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens getätigten Aussagen der betroffenen Zeugen verlesen würden, damit diese Aussagen Teil der Beweise seien, auf deren Grundlage dieses Gericht in der Sache entscheiden werde. 23 Das vorlegende Gericht hegt Zweifel, ob die Anwendung dieser nationalen Bestimmung unter den Umständen des vorliegenden Falles mit dem Unionsrecht vereinbar ist, und fragt sich, ob es nicht verpflichtet ist, sie im Ausgangsverfahren unangewendet zu lassen. 24 Die Aussagen der betroffenen Zeugen seien ein entscheidender Faktor für die Beurteilung der Schuld der fraglichen Angeklagten, und sein Urteil hänge weitgehend davon ab, ob und gegebenenfalls inwieweit es sich auf die in diesen Aussagen enthaltenen Informationen stützen könne. 25 Diese nationale Bestimmung solle der Gefahr vorbeugen, dass ein Zeuge in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens nicht vernommen werden könne, indem sie vorsehe, dass er in der Ermittlungsphase dieses Verfahrens vor einem Richter vernommen werden könne. Die Rolle dieses Richters, dem die Akte nicht vorliege, bestehe u. a. darin, die formelle Rechtmäßigkeit der Vernehmung zu gewährleisten. In diesem Fall werde ein Verdächtiger, wenn er bereits förmlich beschuldigt worden sei, über die Vernehmung des Zeugen informiert und erhalte die Möglichkeit, daran teilzunehmen. 26 Wie es hier der Fall gewesen sei, werde diese nationale Regelung jedoch in der Praxis umgangen. Es genüge nämlich, dass in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens die Vernehmung des Zeugen vor einem Richter innerhalb der 24‑Stunden-Frist zwischen der Festnahme des Verdächtigen und seiner förmlichen Beschuldigung durchgeführt werde, damit weder der Verdächtige, da er noch nicht förmlich beschuldigt worden sei, noch sein Rechtsbeistand berechtigt sei, daran teilzunehmen. 27 Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist mit Art. 8 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 33 und 34 sowie mit Art. 47 Abs. 2 der Charta ein nationales Gesetz vereinbar, wonach das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung gewahrt ist und die Staatsanwaltschaft ihrer Pflicht, die Schuld des Angeklagten nachzuweisen, ordnungsgemäß nachkommt, wenn in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens die Aussagen von Zeugen, die aus objektiven Gründen nicht vernommen werden können, aus der vorgerichtlichen Phase des Verfahrens eingeführt werden, wobei diese Zeugen nur von der Strafverfolgungsbehörde und ohne die Mitwirkung der Verteidigung, jedoch vor einem Richter vernommen wurden und die Strafverfolgungsbehörde bereits in der vorgerichtlichen Phase die Mitwirkung der Verteidigung bei dieser Vernehmung hätte ermöglichen können, dies aber unterlassen hat? 28 Mit Schreiben vom 5. August 2022 teilte der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) dem Gerichtshof mit, dass infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) aufgelöst worden ist und dass bestimmte Strafsachen, die bei diesem Gericht anhängig waren, einschließlich der im Ausgangsverfahren, ab diesem Zeitpunkt an den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) verwiesen worden sind. Zur Vorlagefrage 29 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Charta, soweit sie Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Wie aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) hervorgeht, entspricht Art. 48 Abs. 2 der Charta, wonach jeder angeklagten Person die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird, dem Art. 6 Abs. 3 EMRK. Folglich ist die Vorlagefrage auch anhand von Art. 48 Abs. 2 der Charta zu prüfen. 30 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Anwendung einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es einem nationalen Gericht erlaubt, seine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person im Fall der Unmöglichkeit der Vernehmung eines Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase eines Strafverfahrens auf die Aussage dieses Zeugen zu stützen, die er bei einer Vernehmung vor einem Richter in der Ermittlungsphase dieses Verfahrens, aber ohne Beteiligung der beschuldigten Person oder ihres Rechtsbeistands getätigt hat. 31 Was erstens Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 anbelangt, so stellen die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. 32 Es stimmt zwar, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343, der die Verteilung der Beweislast regelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. November 2019, Spetsializirana prokuratura, C‑653/19 PPU, EU:C:2019:1024, Rn. 31), der Verlagerung der Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung entgegensteht, wie sich aus dem 22. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt. Wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, schreibt dieser Art. 6 Abs. 1 jedoch weder vor, auf welche Weise die Schuld einer beschuldigten Person durch die Strafverfolgungsbehörde nachzuweisen ist, noch, auf welche Weise diese Person in Ausübung ihrer Verteidigungsrechte in der Lage sein muss, die von der Strafverfolgungsbehörde in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens vorgelegten Beweise zu widerlegen. 33 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 auf eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine Anwendung findet. 34 Was zweitens Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 anbelangt, so stellen die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein. 35 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2016/343 nach ihrem Art. 2 für natürliche Personen gilt, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie bezieht sich auf alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat. 36 Zum anderen ergibt sich aus Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren Erwägungsgründen 36 und 41, dass eine beschuldigte Person aufgrund ihres Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in der Lage sein muss, persönlich zu den Terminen zu erscheinen, die im Rahmen der sie betreffenden Verhandlung stattfinden. 37 Wie der Generalanwalt in Nr. 38 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, fragt sich das vorlegende Gericht nach dem Inhalt und den Modalitäten der Ausübung des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung während der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens. Denn es trifft zwar zu, dass die Berücksichtigung der Aussage eines Belastungszeugen, der in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens in Abwesenheit einer beschuldigten Person und ihres Rechtsbeistands vernommen wurde, ohne dass Letztere die Möglichkeit hatten, diesem Zeugen in der gerichtlichen Phase dieses Verfahrens Fragen zu stellen oder stellen zu lassen, bei der Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person dieser nicht die Möglichkeit nimmt, in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens persönlich zu den mündlichen Verhandlungsterminen im Rahmen der sie betreffenden Verhandlung zu erscheinen. In einem solchen Fall beschränkt sich die Rolle der beschuldigten Person jedoch darauf, bei der Verlesung des Inhalts der Aussagen dieses Zeugen, wie sie im Protokoll einer Vernehmung festgehalten sind, an der sie in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens nicht teilnehmen konnte, passiv anwesend zu sein. 38 Unter diesen Umständen ist in einem ersten Schritt festzustellen, ob das in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerte Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung neben dem Recht, persönlich zu den Terminen zu erscheinen, die im Rahmen der eine beschuldigte Person betreffenden Verhandlung stattfinden, dieser Person auch das Recht verleiht, in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens Belastungszeugen Fragen zu stellen oder stellen zu lassen. 39 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2016/343 nach ihrem 47. Erwägungsgrund die in der Charta und in der EMRK anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter das Recht auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte, wahrt. 40 Wie aus dem 33. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgeht, beruht das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, auf dem Recht auf ein faires Verfahren, das in Art. 6 EMRK verankert ist, dem, wie es in den Erläuterungen zur Charta heißt, Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 der Charta entsprechen. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung dieser Bestimmungen ein Schutzniveau gewährleistet, welches das in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (Urteil vom 15. September 2022, DD [Wiederholte Vernehmung eines Zeugen], C‑347/21, EU:C:2022:692, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass das Erscheinen einer beschuldigten Person von entscheidender Bedeutung im Interesse eines fairen Strafverfahrens ist, wobei die Verpflichtung, dieser Person das Recht zu garantieren, im Gerichtssaal anwesend zu sein, insoweit eines der wesentlichen Merkmale von Art. 6 EMRK ist (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 18. Oktober 2006, Hermi/Italien, CE:ECHR:2006:1018JUD001811402, § 58). 42 Insbesondere hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass in Anbetracht der Verteidigungsrechte, die u. a. durch Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK garantiert werden, die Möglichkeit der beschuldigten Person, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, das Recht dieser Person impliziert, sich tatsächlich an der sie betreffenden Verhandlung zu beteiligen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 5. Oktober 2006, Marcello Viola/Italien, CE:ECHR:2006:1005JUD004510604, §§ 52 und 53, sowie EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2011, Al-Khawaja und Tahery/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2011:1215JUD002676605, § 142), wobei das Recht einer solchen Person, Belastungszeugen im Sinne dieser Bestimmung zu vernehmen oder vernehmen zu lassen, einen spezifischen Aspekt des in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten Rechts auf ein faires Verfahren darstellt (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 19. Februar 2013, Gani/Spanien, CE:ECHR:2013:0219JUD006180008, § 36). 43 Außerdem hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit einer beschuldigten Person, den Zeugen im Beisein des Richters gegenüberzutreten, der letztendlich über Schuld oder Unschuld dieser Person entscheidet, einen der wichtigen Aspekte eines fairen Strafverfahrens darstellt, wobei die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen eine komplexe Aufgabe darstellt, die normalerweise nicht über die bloße Verlesung des Inhalts seiner Aussagen, wie sie in den Protokollen der Vernehmungen enthalten sind, erfüllt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C‑38/18, EU:C:2019:628, Rn. 42 und 43). 44 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass das in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerte Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in der Weise gewährleistet werden muss, dass es in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens in einer Art und Weise ausgeübt werden kann, die den Erfordernissen eines fairen Verfahrens entspricht. Dieses Recht beschränkt sich somit nicht darauf, die bloße Anwesenheit der beschuldigten Person bei den mündlichen Verhandlungen zu gewährleisten, die im Rahmen des sie betreffenden Verfahrens stattfinden, sondern verlangt, dass diese Person in die Lage versetzt werden muss, sich tatsächlich daran zu beteiligen und zu diesem Zweck die Verteidigungsrechte auszuüben, zu denen das Recht gehört, in dieser gerichtlichen Phase den Belastungszeugen Fragen zu stellen oder stellen zu lassen. 45 Wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, hätte nämlich eine engere Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in dem Sinne, dass sich das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung darauf beschränke, sicherzustellen, dass die beschuldigte Person bei den mündlichen Verhandlungsterminen, die im Rahmen des sie betreffenden Verfahrens stattfinden, anwesend sein könne, zur Folge, dass dem Grundrecht auf ein faires Verfahren sein Wesensgehalt genommen würde. 46 Unter diesen Umständen ist in einem zweiten Schritt zu klären, ob Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta einen Strafrichter daran hindert, eine nationale Regelung anzuwenden, nach der dieser Richter, wenn ein Zeuge aus objektiven Gründen nicht an der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens teilnehmen kann, die Aussage, die dieser Zeuge vor einem Richter im Ermittlungsverfahren getätigt hat, verlesen lassen kann, um sie bei der Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person heranzuziehen, auch wenn Letztere im Zeitpunkt der Vernehmung dieses Zeugen nicht förmlich beschuldigt war und weder sie noch ihr Rechtsbeistand sich daran beteiligen durften. 47 Die Anwendung einer solchen nationalen Regelung vermag das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung, wie es in Rn. 44 des vorliegenden Urteils definiert ist, zu beeinträchtigen. 48 Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der vom Gerichtshof gegebenen Auslegungshinweise zu beurteilen, ob die Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit den genannten Bestimmungen des Unionsrechts vereinbar ist. 49 Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Vorschriften des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Handlungen der Unionsorgane zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof aber im Rahmen der durch diesen Artikel begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten das Unionsrecht unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem nationalen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen der Ausübung der darin anerkannten Rechte und Freiheiten vorgenommen werden dürfen, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten, und dass unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Einschränkungen nur vorgenommen werden dürfen, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 51 Was als Erstes das Erfordernis betrifft, dass jede Einschränkung der Ausübung der Grundrechte gesetzlich vorgesehen sein muss, so impliziert dieses, dass die Möglichkeit, die Aussagen abwesender Zeugen zu berücksichtigen, in dem einschlägigen nationalen rechtlichen Rahmen vorgesehen sein muss. Vorbehaltlich der insoweit dem vorlegenden Gericht obliegenden Würdigung scheint dies im Ausgangsrechtsstreit der Fall zu sein. 52 Was als Zweites die Achtung des Wesensgehalts der Grundrechte der beschuldigten Person betrifft, ist davon auszugehen, dass dieser Wesensgehalt geachtet wird, sofern Aussagen abwesender Zeugen nur unter begrenzten Umständen aus berechtigten Gründen und unter Wahrung der Fairness des Strafverfahrens als Ganzes betrachtet berücksichtigt werden können. 53 Eine solche Beurteilung steht im Einklang mit der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus der hervorgeht, dass die Verwendung von Zeugenaussagen, die in der strafrechtlichen Ermittlungsphase des Strafverfahrens eingeholt wurden, als Beweis für sich genommen nicht mit Art. 6 Abs. 1 und 3 Buchst. d EMRK unvereinbar ist, vorbehaltlich der Wahrung der Verteidigungsrechte, die im Allgemeinen verlangen, dem Angeklagten eine angemessene und ausreichende Möglichkeit zu geben, die Belastungszeugenaussagen zu bestreiten und den Zeugen entweder zum Zeitpunkt der Aussagen oder in einem späteren Stadium dazu Fragen zu stellen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Schatschaschwili/Deutschland, CE:ECHR:2015:1215JUD000915410, § 105 und die dort angeführte Rechtsprechung). 54 Als Drittes verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass Einschränkungen, die insbesondere durch Unionsrechtsakte an in der Charta verankerten Rechten und Freiheiten vorgenommen werden können, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele oder des Erfordernisses des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Um die Wahrung dieses Grundsatzes zu überprüfen, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob ein wichtiger Grund vorliegt, der das Nichterscheinen des Zeugen rechtfertigt, und ob es, soweit dessen Aussage die einzige oder entscheidende Grundlage für eine etwaige Verurteilung der beschuldigten Person bilden könnte, Kompensationen, insbesondere solide Verfahrensgarantien, gibt, die hinreichen, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die dieser Person und ihrem Rechtsbeistand durch die Berücksichtigung dieser Aussage entstanden sind, und um die Fairness des Strafverfahrens als Ganzes zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2011, Al-Khawaja und Tahery/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2011:1215JUD002676605, § 152, EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Schatschaschwili/Deutschland, CE:ECHR:2015:1215JUD000915410, § 107, und EGMR, Urteil vom 7. Juni 2018, Dimitrov und Momin/Bulgarien, CE:ECHR:2018:0607JUD003513208, § 52). 56 Insoweit ist es zunächst Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Abwesenheit eines Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens durch einen wichtigen Grund wie Tod, Gesundheitszustand, Furcht vor einer Aussage oder Unauffindbarkeit gerechtfertigt ist, wobei es im letztgenannten Fall verpflichtet ist, alle Anstrengungen zu unternehmen, die man vernünftigerweise erwarten kann, um das Erscheinen dieses Zeugen sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Schatschaschwili/Deutschland, CE:ECHR:2015:1215JUD000915410, §§ 119 bis 121 und die dort angeführte Rechtsprechung). 57 Sodann ist davon auszugehen, dass die Aussage eines in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens abwesenden Zeugen, wenn sie in dieser Phase als Beweis zugelassen, aber vor dieser Phase eingeholt wurde, die einzige Grundlage für die Verurteilung der beschuldigten Person wäre, wenn dieser Zeugenbeweis das einzige Belastungsmaterial gegen sie wäre. Diese Grundlage wäre als entscheidend anzusehen, wenn dieser Zeugenbeweis so wichtig wäre, dass er den Ausschlag für die Entscheidung über die Sache zu geben vermag, wobei die Beurteilung der Maßgeblichkeit dieser Aussage, wenn die Aussage des abwesenden Zeugen durch andere Beweise untermauert werden kann, von der Beweiskraft dieser anderen Beweise abhängt; je größer diese Beweiskraft ist, umso weniger kann die Aussage des abwesenden Zeugen als entscheidend angesehen werden (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Schatschaschwili/Deutschland, CE:ECHR:2015:1215JUD000915410, § 123 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Was schließlich das Bestehen von Kompensationen angeht, so müssen diese eine zutreffende und faire Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer nicht geprüften Zeugenaussage ermöglichen und betreffen insbesondere die Art und Weise, in der das urteilende Gericht die nicht überprüfte Aussage des abwesenden Zeugen würdigt, die Vorlage übereinstimmender Beweise in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens und deren Beweiskraft sowie die Verfahrensmaßnahmen zum Ausgleich der Tatsache, dass der Zeuge in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens nicht unmittelbar ins Kreuzverhör genommen werden konnte (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Schatschaschwili/Deutschland, CE:ECHR:2015:1215JUD000915410, §§ 125 bis 131 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie EGMR, Urteil vom 7. Juni 2018, Dimitrov und Momin/Bulgarien, CE:ECHR:2018:0607JUD003513208, § 53). Was den letztgenannten Aspekt betrifft, kann eine Verfahrensgarantie, die geeignet ist, die Schwierigkeiten auszugleichen, die der Verteidigung durch die Abwesenheit des Zeugen in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens entstehen, darin bestehen, dass dieser Person oder ihrem Rechtsbeistand Gelegenheit gegeben wurde, einen Zeugen in der Ermittlungsphase dieses Verfahrens zu befragen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 10. Februar 2022, Al Alo/Slowakei, CE:ECHR:2022:0210JUD003208419, § 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). 59 Im vorliegenden Fall ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Unmöglichkeit, einen Zeugen im Hinblick auf seine Ladung in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens ausfindig zu machen, grundsätzlich einen wichtigen Grund im Sinne der in Rn. 56 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darstellt, insbesondere wenn dieser Zeuge nicht mehr im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats wohnt und die Versuche, ihn insbesondere über Interpol ausfindig zu machen, erfolglos geblieben sind. 60 Zweitens hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob seine Entscheidung im Fall der Verurteilung der fraglichen Angeklagten ausschließlich oder entscheidend im Sinne der in Rn. 57 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung auf die von den betroffenen Zeugen in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens getätigten Aussagen gestützt werden könnte. 61 Drittens ist es Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob im vorliegenden Fall im Sinne der in Rn. 58 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hinreichende Kompensationen vorliegen, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die den fraglichen Angeklagten und ihrer Verteidigung dadurch entstanden sind, dass möglicherweise die von den betroffenen Zeugen in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens getätigten Aussagen als Beweise berücksichtigt werden, insbesondere die Möglichkeit der fraglichen Angeklagten und ihrer Verteidigung, den betroffenen Zeugen in der Ermittlungsphase des Strafverfahrens Fragen zu stellen, und das Bestehen eines Rechtsbehelfs gegen eine etwaige antragsablehnende Entscheidung. 62 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, die es einem nationalen Gericht erlaubt, im Fall der Unmöglichkeit der Vernehmung eines Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase eines Strafverfahrens seine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person auf die Aussage dieses Zeugen zu stützen, die bei einer Vernehmung vor einem Richter in der Ermittlungsphase dieses Verfahrens, aber ohne Beteiligung der beschuldigten Person oder ihres Rechtsbeistands eingeholt wurde, es sei denn, es liegt ein wichtiger Grund vor, der das Nichterscheinen des Zeugen in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens rechtfertigt, die Aussage dieses Zeugen bildet nicht die einzige und entscheidende Grundlage für die Verurteilung der beschuldigten Person und es bestehen hinreichende Kompensationen, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die dieser Person und ihrem Rechtsbeistand aufgrund der Berücksichtigung dieser Aussage entstehen. Kosten 63 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Anwendung einer nationalen Regelung entgegensteht, die es einem nationalen Gericht erlaubt, im Fall der Unmöglichkeit der Vernehmung eines Belastungszeugen in der gerichtlichen Phase eines Strafverfahrens seine Entscheidung über die Schuld oder Unschuld der beschuldigten Person auf die Aussage dieses Zeugen zu stützen, die bei einer Vernehmung vor einem Richter im Lauf der Ermittlungsphase dieses Verfahrens, aber ohne Beteiligung der beschuldigten Person oder ihres Rechtsbeistands eingeholt wurde, es sei denn, es liegt ein wichtiger Grund vor, der das Nichterscheinen des Zeugen in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens rechtfertigt, die Aussage dieses Zeugen bildet nicht die einzige und entscheidende Grundlage für die Verurteilung der beschuldigten Person und es bestehen hinreichende Kompensationen, um die Schwierigkeiten auszugleichen, die dieser Person und ihrem Rechtsbeistand aufgrund der Berücksichtigung dieser Aussage entstehen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 9. November 2022.#Citizens' Committee of the European Citizens' Initiative "Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe" gegen Europäische Kommission.#Institutionelles Recht – Europäische Bürgerinitiative – ‚Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe‘ – Mitteilung der Kommission, in der die Gründe für die Ablehnung der in der Europäischen Bürgerinitiative enthaltenen Vorschläge für den Erlass von Rechtsakten dargelegt werden – Begründungspflicht – Gleichbehandlung – Grundsatz der guten Verwaltung – Offensichtlicher Beurteilungsfehler.#Rechtssache T-158/21.
62021TJ0158
ECLI:EU:T:2022:696
2022-11-09T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62021TJ0158 URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer) 9. November 2022 (*1) „Institutionelles Recht – Europäische Bürgerinitiative – ‚Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe‘ – Mitteilung der Kommission, in der die Gründe für die Ablehnung der in der Europäischen Bürgerinitiative enthaltenen Vorschläge für den Erlass von Rechtsakten dargelegt werden – Begründungspflicht – Gleichbehandlung – Grundsatz der guten Verwaltung – Offensichtlicher Beurteilungsfehler“ In der Rechtssache T‑158/21, Citizens’ Committee of the European Citizens’ Initiative „Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe“, vertreten durch Rechtsanwalt T. Hieber, Kläger, unterstützt durch Ungarn, vertreten durch M. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte, Streithelfer, gegen Europäische Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral, I. Rubene, E. Stamate und D. Drambozova als Bevollmächtigte, Beklagte, unterstützt durch Hellenische Republik, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte, und durch Slowakische Republik, vertreten durch E. Drugda als Bevollmächtigte, Streithelferinnen, erlässt DAS GERICHT (Achte Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten J. Svenningsen sowie der Richter C. Mac Eochaidh (Berichterstatter) und J. Laitenberger, Kanzler: E. Coulon, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach der Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und des darauf gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts ergangenen Beschlusses, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Mit seiner auf Art. 263 AEUV gestützten Klage beantragt der Kläger, das Citizens’ Committee of the European Citizens’ Initiative „Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe“, die Mitteilung C(2021) 171 final der Kommission vom 14. Januar 2021 über die Europäische Bürgerinitiative „Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe“ (im Folgenden: angefochtene Mitteilung) für nichtig zu erklären. Vorgeschichte des Rechtsstreits 2 Der Kläger stellte bei der Europäischen Kommission einen Antrag auf Registrierung der geplanten Europäischen Bürgerinitiative „Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe“ (im Folgenden: geplante EBI) nach Art. 11 Abs. 4 EUV und der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative (ABl. 2011, L 65, S. 1). 3 Mit der geplanten EBI sollte die Europäische Union dazu aufgefordert werden, eine Reihe von Rechtsakten zu erlassen, um den Schutz der Angehörigen nationaler und sprachlicher Minderheiten zu verbessern sowie die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Union zu stärken. 4 Am 29. März 2017 erließ die Kommission den Beschluss (EU) 2017/652 über die geplante Bürgerinitiative (ABl. 2017, L 92, S. 100). In Art. 1 Abs. 1 dieses Beschlusses erklärte sie, dass die geplante EBI hiermit registriert sei, und in Abs. 2 listete sie die neun Vorschläge auf, für die Unterstützungsbekundungen gesammelt werden konnten, nämlich: – Vorschlag für eine Empfehlung des Rates der Europäischen Union „zum Schutz und zur Förderung kultureller und sprachlicher Vielfalt in der Union“ (Vorschlag 1); – Vorschlag für einen Beschluss oder eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Anpassung „von Förderprogrammen, um den Zugang kleiner Regional- und Minderheitensprachen zu ihnen zu erleichtern“ (Vorschlag 2); – Vorschlag für einen Beschluss oder eine Verordnung des Parlaments und des Rates zur Schaffung eines Zentrums für Sprachenvielfalt, das dazu dienen soll, das Bewusstsein für die Bedeutung von Regional- und Minderheitensprachen zu stärken und die Vielfalt auf allen Ebenen zu fördern, und das im Wesentlichen durch die Union finanziert werden soll (Vorschlag 3); – Vorschlag für eine Verordnung zur Anpassung der gemeinsamen Regeln für die Aufgaben, die prioritären Ziele und die Organisation der Strukturfonds dahin gehend, dass Minderheitenschutz sowie die Förderung kultureller und sprachlicher Vielfalt als thematische Ziele einbezogen werden, sofern die zu finanzierenden Maßnahmen den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt der Union stärken (Vorschlag 4); – Vorschlag für eine Verordnung des Parlaments und des Rates mit dem Ziel einer Änderung der Verordnung über das Programm „Horizont 2020“ zur Verbesserung der Forschung über den Mehrwert, den nationale Minderheiten sowie die kulturelle und sprachliche Vielfalt für die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den Regionen der Union bieten können (Vorschlag 5); – Vorschläge für eine Änderung der Unionsrechtsvorschriften mit dem Ziel, eine annähernde Gleichstellung von Staatenlosen und EU-Bürgern zu gewährleisten (Vorschlag 6); – Vorschlag für eine Verordnung des Parlaments und des Rates zur Einführung eines einheitlichen Urheberrechts, das es erlauben würde, die gesamte Union als einen Binnenmarkt für Urheberrechte zu betrachten (Vorschlag 7); – Vorschlag für eine Änderung der Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) (ABl. 2010, L 95, S. 1), um den freien Dienstleistungsverkehr und den Empfang audiovisueller Inhalte in Regionen, in denen Angehörige nationaler Minderheiten wohnen, zu gewährleisten (Vorschlag 8); – Vorschlag für eine Verordnung oder einen Beschluss des Rates zur Gruppenfreistellung für Vorhaben, mit denen nationale Minderheiten und ihre Kultur gefördert werden, von dem in Art. 108 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Verfahren (Vorschlag 9). 5 Am 1. Januar 2020 wurde die Verordnung Nr. 211/2011 aufgehoben und durch die Verordnung (EU) 2019/788 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 über die Europäische Bürgerinitiative (ABl. 2019, L 130, S. 55, berichtigt in ABl. 2019, L 334, S. 168, und ABl. 2020, L 424, S. 60) in der durch die Delegierte Verordnung (EU) 2019/1673 der Kommission vom 23. Juli 2019 zur Ersetzung des Anhangs I der Verordnung 2019/788 (ABl. 2019, L 257, S. 1) geänderten Fassung ersetzt. 6 Nachdem innerhalb der gesetzten Frist mehr als 1300000 Unterstützungsbekundungen gesammelt worden waren, von denen laut der angefochtenen Mitteilung 1128422 von den zuständigen Behörden in elf Mitgliedstaaten validiert worden waren, wurde die Europäische Bürgerinitiative „Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe“ (im Folgenden: EBI) am 10. Januar 2020 vom Kläger an die Kommission übermittelt. 7 Am 5. Februar 2020 stellte der Kläger die Vorschläge der EBI bei einem Treffen mit der Kommission nach Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2019/788 mündlich vor und übermittelte ein Dokument mit Erläuterungen zu den diesbezüglichen Legislativvorschlägen. 8 Am 15. Oktober 2020 fand vor dem Parlament die öffentliche Anhörung nach Art. 14 Abs. 2 der Verordnung 2019/788 statt. Diese war ursprünglich für den 23. März 2020 vorgesehen gewesen, jedoch aufgrund der Covid-19-Pandemie verschoben worden. Der Kläger nahm an dieser Anhörung per Videokonferenz teil. 9 Nach einer am 14. Dezember 2020 im Plenum abgehaltenen Aussprache nahm das Parlament am 17. Dezember 2020 die Entschließung (2020)2846(RSP), P9_TA-PROV(2020)0370 über die EBI an. In Nr. 20 der Entschließung forderte das Parlament die Kommission auf, auf die EBI einzugehen und Rechtsakte vorzuschlagen, die auf den Verträgen und der Verordnung 2019/788 beruhen und mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen. Es stellte fest, dass in der EBI Legislativvorschläge in neun verschiedenen Bereichen gefordert würden, und wies darauf hin, dass in der EBI gefordert werde, dass jeder einzelne Vorschlag für sich genommen überprüft und bewertet werde. 10 Am 14. Januar 2021 nahm die Kommission die angefochtene Mitteilung an, in der sie zur Entschließung des Parlaments Stellung nahm und auf die neun Vorschläge der EBI einging. Nach einer Bewertung dieser Vorschläge teilte sie dem Kläger die Gründe für ihre Weigerung, die in der EBI geforderten Maßnahmen zu ergreifen, mit. Anträge der Parteien 11 Der Kläger, unterstützt durch Ungarn, beantragt, – die angefochtene Mitteilung insgesamt für nichtig zu erklären; – hilfsweise, die angefochtene Mitteilung für nichtig zu erklären, sofern die Voraussetzungen für eine teilweise Nichtigerklärung erfüllt sein sollten; – der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 12 Die Kommission, unterstützt durch die Hellenische Republik und die Slowakische Republik, beantragt, – die Klage abzuweisen; – dem Kläger die Kosten aufzuerlegen. 13 Die Slowakische Republik hat ebenfalls beantragt, dem Kläger die Kosten aufzuerlegen. Rechtliche Würdigung 14 Der Kläger stützt seine Klage auf drei Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Begründungspflicht geltend gemacht, mit dem zweiten Klagegrund werden ein Rechtsfehler und mehrere offensichtliche Beurteilungsfehler gerügt und mit dem dritten, im Stadium der Erwiderung vorgetragenen Klagegrund wird ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung geltend gemacht. Erster Klagegrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht 15 Zur Stützung des ersten Klagegrundes macht der Kläger mit Unterstützung Ungarns im Wesentlichen geltend, die Kommission habe in der angefochtenen Mitteilung gegen die Begründungspflicht verstoßen. Zum einen habe die Kommission seine mündlichen und schriftlichen Erläuterungen nicht berücksichtigt, die er sowohl in den der Kommission schriftlich übermittelten Unterlagen als auch beim Treffen mit der Kommission sowie in der Anhörung vor dem Parlament gegeben habe. Zum anderen beschränkten sich bestimmte Gründe in der angefochtenen Mitteilung auf bloße Verweise auf andere Rechtsakte der Union. Daher sei die in der angefochtenen Mitteilung enthaltene Begründung mit Ausnahme derjenigen zu Vorschlag 5 unzureichend. 16 Die Kommission, unterstützt von der Hellenischen Republik und der Slowakischen Republik, tritt diesem Vorbringen entgegen. 17 Insoweit liegt nach ständiger Rechtsprechung der Zweck der in Art. 296 AEUV festgelegten Pflicht zur Begründung eines in einem Einzelfall ergangenen Beschlusses darin, dem Betroffenen ausreichende Angaben an die Hand zu geben, um festzustellen, ob der Beschluss stichhaltig begründet ist oder ob er möglicherweise an einem Mangel leidet, der ihn anfechtbar macht, und den Unionsgerichten zu ermöglichen, ihre Kontrolle über die Rechtmäßigkeit des geprüften Beschlusses auszuüben (vgl. Urteil vom 23. April 2018, One of Us u. a./Kommission, T‑561/14, EU:T:2018:210, Rn. 142 und die dort angeführte Rechtsprechung). 18 Die Verpflichtung der Kommission, in der gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung 2019/788 angenommenen Mitteilung sowohl ihre rechtlichen als auch ihre politischen Schlussfolgerungen zu der in Rede stehenden EBI, ihr weiteres Vorgehen bzw. den Verzicht auf ein weiteres Vorgehen auf diese EBI hin sowie die jeweiligen Gründe hierfür darzulegen, ist spezifischer Ausdruck der im Rahmen der genannten Vorschrift auferlegten Begründungspflicht (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteile vom 19. Dezember 2019, Puppinck u. a./Kommission, C‑418/18 P, EU:C:2019:1113, Rn. 91, und vom 23. April 2018, One of Us u. a./Kommission, T‑561/14, EU:T:2018:210, Rn. 143). 19 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung muss die nach Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar, verständlich und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, nach der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse, das die Adressaten oder andere von dem Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2019, Puppinck u. a./Kommission, C‑418/18 P, EU:C:2019:1113, Rn. 92 und 94 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 23. April 2018, One of Us u. a./Kommission, T‑561/14, EU:T:2018:210, Rn. 144 und die dort angeführte Rechtsprechung). 20 Die Einhaltung der Begründungspflicht und der sonstigen formalen und verfahrensrechtlichen Anforderungen, die für den Erlass des betreffenden Rechtsakts gelten, ist umso bedeutsamer, wenn die Unionsorgane über ein weites Ermessen verfügen. Nur so können die Unionsgerichte überprüfen, ob die für die Ausübung des Ermessens maßgeblichen sachlichen und rechtlichen Umstände vorgelegen haben (vgl. Urteil vom 23. April 2018, One of Us u. a./Kommission, T‑561/14, EU:T:2018:210, Rn. 145 und die dort angeführte Rechtsprechung). 21 Zum letztgenannten Gesichtspunkt ist bereits entschieden worden, dass die Kommission im Rahmen der Ausübung ihres legislativen Initiativrechts ein weites Ermessen genießen muss, da sie gemäß Art. 17 Abs. 1 EUV die Aufgabe hat, bei der Ausübung dieses Rechts die allgemeinen Interessen der Union zu fördern, wobei sie gegebenenfalls schwierige Abwägungen zwischen widerstreitenden Interessen vorzunehmen hat. Folglich muss die Kommission bei der Entscheidung, ob sie auf eine EBI hin tätig wird oder nicht, über ein weites Ermessen verfügen, so dass die betreffende Mitteilung nur einer eingeschränkten Kontrolle seitens der Unionsgerichte unterliegt, bei der u. a. geprüft wird, ob sie hinreichend begründet ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2019, Puppinck u. a./Kommission, C‑418/18 P, EU:C:2019:1113, Rn. 88, 89 und 96, sowie vom 23. April 2018, One of Us u. a./Kommission, T‑561/14, EU:T:2018:210, Rn. 169 und 170). 22 Im vorliegenden Fall erging die angefochtene Mitteilung als Reaktion auf die EBI, die nach den Angaben des Klägers bezweckte, die Union dazu aufzurufen, den Schutz der Angehörigen nationaler und sprachlicher Minderheiten zu verbessern sowie die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Union zu stärken. Zu diesem Zweck enthielt die EBI neun Vorschläge für den Erlass neuer Rechtsakte oder zur Änderung bestehender Rechtsakte der Union. Mit der angefochtenen Mitteilung lehnte es die Kommission im Wesentlichen ab, die in der EBI geforderten Maßnahmen zu ergreifen. 23 Insoweit geht aus der angefochtenen Mitteilung hervor, dass die Kommission gemäß Art. 15 Abs. 2 der Verordnung 2019/788 ihre rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen dargelegt hat, die sie zu der Annahme veranlasst haben, dass auf die EBI hin kein weiteres Vorgehen erforderlich sei. Konkret kam die Kommission nach einer Prüfung insbesondere des Rechtsrahmens, der ihre Handlungsbefugnisse sowie die der Union im maßgeblichen Bereich eingrenzt, zu dem Ergebnis, dass „in mehreren Bereichen Folgemaßnahmen getroffen werden können“. In Anbetracht der Maßnahmen, die die Unionsorgane in den von der EBI erfassten Bereichen bereits ergriffen hatten, und angesichts ihrer Überwachung der Umsetzung dieser Maßnahmen hielt die Kommission in diesem Stadium allerdings „keinen zusätzlichen Rechtsakt für erforderlich“, um die mit der EBI verfolgten Ziele zu erreichen. Damit hat die Kommission in verständlicher und hinreichender Weise dargelegt, aus welchen rechtlichen und politischen Gründen sie es abgelehnt hat, die durch die EBI angestrebten Maßnahmen zu ergreifen. 24 Im Übrigen ergänzen die in der angefochtenen Mitteilung enthaltenen Gründe die insbesondere im Beschluss 2017/652 wiedergegebenen Gesichtspunkte und knüpfen auch an die Erörterungen zwischen dem Kläger und der Kommission vom 5. Februar 2020 an. Die Begründung der angefochtenen Mitteilung wird also durch ihren Kontext verstärkt, der dem Kläger wohlbekannt war. 25 Die Kommission hat demnach die wichtigsten Gründe dargelegt, die sie in Anbetracht ihres weiten Ermessens veranlasst haben, keine der im Rahmen der EBI vorgeschlagenen Maßnahmen zu ergreifen. 26 Dem steht nicht entgegen, dass die Kommission in der angefochtenen Mitteilung nicht zu jeder schriftlichen und mündlichen Erläuterung des Klägers zu allen Vorschlägen ausdrücklich Stellung genommen hat. Wie oben in Rn. 19 ausgeführt, brauchen nach der Rechtsprechung in der Begründung nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden; es kann daher nicht verlangt werden, dass die Kommission zu jeder schriftlichen und mündlichen Erläuterung zu allen in einer EBI enthaltenen Vorschlägen Stellung nimmt. Im Übrigen hat die Kommission, wie oben in Rn. 25 ausgeführt, die wichtigsten politischen und rechtlichen Gründe dargelegt, die sie veranlasst haben, keine der im Rahmen der EBI vorgeschlagenen Maßnahmen zu ergreifen. 27 Ebenso ist das Vorbringen des Klägers zurückzuweisen, dass die Kommission mehrfach gegen die Begründungspflicht verstoßen habe, indem sie lediglich auf andere Rechtsakte der Union verwiesen habe, ohne deren Relevanz für die EBI zu erklären. Entgegen dem Vorbringen des Klägers beschränkt sich die Kommission nämlich nicht darauf, ohne Erklärung auf andere Rechtsakte der Union zu verweisen, sondern führt vielmehr aus, dass diese Rechtsakte bestimmte in der EBI genannte Aspekte behandelten. 28 Nach alledem ist das Gericht der Ansicht, dass der Kläger anhand der Begründung der angefochtenen Mitteilung feststellen kann, ob die Weigerung der Kommission, die in der EBI enthaltenen Vorschläge zu unterbreiten, begründet oder fehlerhaft ist. Im Übrigen ermöglicht es diese Begründung auch den Unionsgerichten, ihre Kontrolle über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Mitteilung auszuüben. Folglich ist die angefochtene Mitteilung als rechtlich hinreichend begründet anzusehen. 29 Diese Schlussfolgerung gilt unbeschadet etwaiger Rechts- oder Beurteilungsfehler der Kommission. Es ist nämlich zu unterscheiden zwischen einerseits der Begründungspflicht als wesentlicher Formvorschrift, die im Rahmen eines Klagegrundes geltend gemacht werden kann, mit dem die unzureichende oder sogar fehlende Begründung einer Entscheidung gerügt wird, und andererseits der Kontrolle der Stichhaltigkeit der Gründe, die zur Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit des Rechtsakts gehört und eine richterliche Überprüfung voraussetzt, ob die Gründe, auf die der Rechtsakt gestützt wird, mit Fehlern behaftet sind oder nicht. Hierbei handelt es sich um zwei unterschiedliche Kontrollen, bei denen das Gericht unterschiedliche Feststellungen trifft (vgl. Urteil vom 23. April 2018, One of Us u. a./Kommission, T‑561/14, EU:T:2018:210, Rn. 146 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Stichhaltigkeit der angeführten Begründung in Bezug auf die Vorschläge 1, 3, 6 und 8, die die einzigen Vorschläge sind, auf die sich der Kläger im Rahmen des zweiten Klagegrundes bezieht, wird daher unten in den Rn. 42 bis 146 geprüft. 30 Der erste Klagegrund ist folglich als unbegründet zurückzuweisen. 31 Aus denselben Gründen ist auch die von Ungarn vorgebrachte Rüge zurückzuweisen, mit der geltend gemacht wird, die Kommission habe gegen den Grundsatz der guten Verwaltung verstoßen, da sie nicht ausdrücklich auf jeden vom Kläger vorgetragenen Gesichtspunkt eingegangen sei. Dritter Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung 32 Im Rahmen des dritten Klagegrundes, der erstmals in der Erwiderung vorgebracht worden ist, wirft der Kläger der Kommission im Wesentlichen vor, sie habe gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen, da sie ihm nicht die gleichen Möglichkeiten geboten habe, die EBI zu erörtern und sie von seinen Anliegen zu überzeugen, wie den Organisatoren der EBI „End the Cage Age“, bei der die Kommission ihre Absicht verkündet habe, einen Legislativvorschlag vorzulegen. Dadurch sei der Kläger gegenüber den Organisatoren der EBI „End the Cage Age“ benachteiligt worden. 33 Abgesehen von dem Treffen vom 5. Februar 2020 nach Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2019/788 habe die Kommission keine weiteren Treffen mit dem Kläger veranstaltet oder vorgeschlagen, um die mit der EBI verfolgten Ziele zu besprechen. Der Kläger habe gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43) Zugang zu den Protokollen aller Treffen beantragt, die zwischen der Kommission und den Organisatoren dreier EBI, insbesondere der EBI „End the Cage Age“, stattgefunden hätten. Aus den Dokumenten, die dem Kläger daraufhin – nach Einreichung der Klageschrift im vorliegenden Verfahren – zugänglich gemacht worden seien, gehe hervor, dass die Kommission im Rahmen der EBI „End the Cage Age“ die Organisatoren dieser Initiative zusätzlich zu dem Treffen nach Art. 15 Abs. 1 der Verordnung 2019/788 mindestens vier Mal getroffen oder sich mit ihnen telefonisch ausgetauscht habe. Drei dieser zusätzlichen Kontakte hätten vor der Einreichung der EBI „End the Cage Age“ stattgefunden. 34 Überdies hat der Kläger nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens bei der Kanzlei des Gerichts einen „zusätzlichen Schriftsatz“ mit vier Anlagen eingereicht. In diesem „zusätzlichen Schriftsatz“ legt er u. a. dar, dass sich aus der Antwort der Kommission auf einen weiteren, am 4. Oktober 2021 gestellten Antrag auf Zugang zu Dokumenten ergebe, dass Vertreter der Kabinette von Kommissionsmitgliedern vor der öffentlichen Anhörung zusätzlich zu den oben in Rn. 33 genannten Treffen zwei Videokonferenzen mit den Vertretern der Organisatoren der EBI „End the Cage Age“ abgehalten hätten. Alle EBI müssten jedoch die gleichen Chancen haben, der Kommission zur Kenntnis gebracht zu werden, da Art. 9 EUV darauf abziele, gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle von ihnen zu gewährleisten. In seiner Stellungnahme zu diesem „zusätzlichen Schriftsatz“ unterstützt Ungarn die Argumentation des Klägers und fügt hinzu, der Ansatz der Kommission habe nicht nur gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, sondern auch gegen den Grundsatz der sorgfältigen und unparteiischen Verwaltung verstoßen. 35 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. Sie macht geltend, der vorliegende Klagegrund sei unbegründet und der „zusätzliche Schriftsatz“ und seine Anlagen seien unzulässig. 36 Ohne dass im vorliegenden Fall geprüft zu werden braucht, ob der dritte Klagegrund – nach Maßgabe von Art. 84 der Verfahrensordnung des Gerichts – und die nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens vorgelegten Beweise – nach Maßgabe von Art. 85 Abs. 3 der Verfahrensordnung – zulässig sind, ist festzustellen, dass die vom Kläger geltend gemachten Umstände nicht geeignet sind, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zu belegen. 37 Zum einen behauptet der Kläger nicht, dass die Kommission in dem Verfahren, das dem Erlass der angefochtenen Mitteilung vorausging, ihre Verpflichtungen aus den Art. 14 und 15 der Verordnung 2019/788 nicht vollständig erfüllt habe. 38 Zum anderen hat der Kläger über die Tatsache hinaus, dass es sich um zwei registrierte EBI handelt, die die erforderliche Unterstützungsschwelle erreicht haben, in keiner Weise dargelegt, inwiefern die vorliegende EBI insbesondere in Bezug auf ihre jeweiligen Ziele und die damit verbundenen politischen oder rechtlichen Schwierigkeiten mit der EBI „End the Cage Age“ vergleichbar sein soll. 39 Vorbehaltlich der Beachtung der Anforderungen, die sich aus den Art. 14 und 15 der Verordnung 2019/788 ergeben, kann die Zahl der Treffen, die die Kommission mit den Organisatoren einer EBI veranstaltet, insbesondere je nach Art und Komplexität der EBI variieren, so dass die Kommission nicht verpflichtet ist, mit den Organisatoren jeder EBI exakt gleich viele Treffen abzuhalten. Wie im 28. Erwägungsgrund der Verordnung 2019/788 ausgeführt wird, ist die Kommission im Übrigen verpflichtet, EBI gemäß dem in Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundsatz der guten Verwaltung zu prüfen. 40 Nach alledem ist festzustellen, dass die Kommission, ohne gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zu verstoßen, im Rahmen ihrer Prüfung der EBI, die zur angefochtenen Mitteilung geführt hat, davon ausgehen konnte, dass sie durch die ihr zur Verfügung stehenden schriftlichen und mündlichen Informationen ausreichend informiert war, und entscheiden konnte, dass keine zusätzlichen Treffen erforderlich waren. 41 Aus denselben Gründen ist auch die von Ungarn vorgebrachte Rüge zurückzuweisen, mit der geltend gemacht wird, die Kommission habe gegen den Grundsatz der guten Verwaltung verstoßen, da sie der EBI „End the Cage Age“ mehr Aufmerksamkeit als der vorliegenden EBI gewidmet habe. Zweiter Klagegrund: Rechtsfehler und mehrere offensichtliche Beurteilungsfehler Erster Teil des zweiten Klagegrundes: Rechtsfehler und mehrere offensichtliche Beurteilungsfehler der Kommission in Bezug auf Vorschlag 1 42 Vorab weist das Gericht darauf hin, dass Vorschlag 1 die Annahme einer Empfehlung des Rates zum Ziel hat, in der die Möglichkeiten zum Schutz und zur Förderung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt aufgezeigt werden, insbesondere zum Schutz der Verwendung von Regional- und Minderheitensprachen in den Bereichen öffentliche Verwaltung, öffentliche Dienstleistungen, Bildung, Kultur, Justiz, Medien, Gesundheitswesen, Handel und Verbraucherschutz (einschließlich Kennzeichnung). 43 In der geplanten EBI nimmt der Kläger allerdings nur auf Art. 165 Abs. 4 zweiter Gedankenstrich und auf Art. 167 Abs. 5 zweiter Gedankenstrich AEUV als Rechtsgrundlagen der in Vorschlag 1 vorgesehenen Empfehlung Bezug (Buchst. a des vierten Erwägungsgrundes des Beschlusses 2017/652). Es ist jedoch offensichtlich, dass nur die Bereiche Bildung und Kultur von diesen Rechtsgrundlagen erfasst werden. 44 Im Übrigen ergibt sich aus einer Zusammenschau von Art. 2 Abs. 5, Art. 6 Buchst. c und e, Art. 165 Abs. 1 und Art. 167 Abs. 2 AEUV, dass die Mitgliedstaaten über eine weitreichende Zuständigkeit im Bereich der Kultur und der Bildung verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Kommission/Ungarn [Hochschulausbildung], C‑66/18, EU:C:2020:792, Rn. 74), da die Union in diesem Bereich nur dafür zuständig ist, „Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten“ durchzuführen, ohne dass diese Zuständigkeit der Union an die Stelle der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten treten würde. 45 Folglich ist anhand des mit Vorschlag 1 verfolgten Ziels und der vom Kläger in Bezug auf diesen Vorschlag angeführten Rechtsgrundlagen zu beurteilen, ob die angefochtene Mitteilung im vorliegenden Fall mit einem Rechtsfehler und mit offensichtlichen Beurteilungsfehlern behaftet ist. – Zur ersten Rüge: Rechtsfehler 46 Mit der ersten Rüge wirft der Kläger, unterstützt von Ungarn, der Kommission im Wesentlichen vor, einen Rechtsfehler begangen zu haben, als sie festgestellt habe, dass die Union für die Annahme von Empfehlungen zur Förderung und zum Schutz von Regional- und Minderheitensprachen nicht zuständig sei. 47 Die Kommission, unterstützt von der Hellenischen Republik und der Slowakischen Republik, tritt diesem Vorbringen entgegen. 48 Insoweit ist festzustellen, dass die Kommission im Rahmen der Bewertung von Vorschlag 1 darauf hingewiesen hat, dass die Union insoweit keine „gesetzgeberische Kompetenz“ habe, und nicht, dass sie in diesem Bereich über gar keine Zuständigkeit verfüge. Zwar kann dieser Grund die Nichtannahme eines Vorschlags für eine Empfehlung des Rates, die kein Gesetzgebungsakt ist, nicht rechtfertigen; dies ist jedoch für die Begründetheit der angefochtenen Mitteilung, soweit sie Vorschlag 1 betrifft, irrelevant, da die Weigerung der Kommission, die Annahme einer Empfehlung des Rates vorzuschlagen, wie sich aus Nr. 3.1 der angefochtenen Mitteilung ergibt, auf der Feststellung beruht, dass das mit diesem Vorschlag verfolgte Ziel durch andere bestehende Instrumente und laufende Initiativen erreicht werden könne. Diese Feststellung, die nach Ansicht des Klägers mit mehreren offensichtlichen Beurteilungsfehlern behaftet ist, wird unten in den Rn. 50 bis 89 im Rahmen der zweiten Rüge geprüft. 49 Folglich ist die erste Rüge als ins Leere gehend zurückzuweisen. – Zur zweiten Rüge: mehrere offensichtliche Beurteilungsfehler 50 Mit einer zweiten Rüge wirft der Kläger, unterstützt von Ungarn, der Kommission im Wesentlichen vor, mehrere offensichtliche Beurteilungsfehler begangen zu haben, als sie es abgelehnt habe, Vorschlag 1 aufzugreifen. 51 Die Kommission, unterstützt von der Hellenischen Republik und der Slowakischen Republik, tritt diesem Vorbringen entgegen. 52 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass dann, wenn die Unionsorgane, wie im vorliegenden Fall die Kommission, ein weites Ermessen haben, und insbesondere dann, wenn sie politische Entscheidungen treffen und komplexe Bewertungen vornehmen müssen, die – bereits ihrem Wesen nach eingeschränkte – gerichtliche Überprüfung der der Ausübung dieses Ermessens zugrunde liegenden Wertungen darin bestehen muss, zu überprüfen, dass keine offensichtlichen Fehler vorliegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2019, Puppinck u. a./Kommission, C‑418/18 P, EU:C:2019:1113, Rn. 95 und 96 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 23. April 2018, One of Us u. a./Kommission, T‑561/14, EU:T:2018:210, Rn. 169 und 170 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 53 Im Übrigen kann ein Fehler nur dann als offensichtlich eingestuft werden, wenn er eindeutig zu erkennen ist. Für die Feststellung, dass die Kommission bei der Sachverhaltsbeurteilung einen offensichtlichen Fehler begangen hat, der die Nichtigerklärung der angefochtenen Mitteilung rechtfertigen kann, müssen daher die vom Kläger beizubringenden Beweise ausreichen, um die Sachverhaltsbeurteilung der Kommission als nicht plausibel erscheinen zu lassen. Mit anderen Worten ist der Klagegrund eines offensichtlichen Beurteilungsfehlers zurückzuweisen, wenn die angegriffene Beurteilung trotz der vom Kläger beigebrachten Beweise als nach wie vor gerechtfertigt und kohärent angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2019, Fleig/EAD, T‑492/17, EU:T:2019:211, Rn. 55 [nicht veröffentlicht] und die dort angeführte Rechtsprechung). 54 Erstens macht der Kläger im Wesentlichen geltend, die Weigerung der Kommission, Vorschlag 1 aufzugreifen, könne nicht unter Berufung auf das Vorliegen der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats vom 5. November 1992 (Sammlung Europäischer Verträge – Nr. 148, im Folgenden: Charta des Europarats) gerechtfertigt werden, wie dies die Kommission in der angefochtenen Mitteilung getan habe. Zum einen sei die Union nicht Vertragspartei der Charta des Europarats. Zum anderen hätten mehrere Mitgliedstaaten der Union sie nicht unterzeichnet oder ratifiziert. 55 Insoweit weist die Kommission in der angefochtenen Mitteilung darauf hin, dass die Union ihren Mitgliedstaaten nahelege, die Charta des Europarats zu unterzeichnen, und dass sie regelmäßig auf die Charta als Rechtsinstrument zur Festlegung der Leitlinien für die Förderung und den Schutz von Regional- und Minderheitensprachen verweise. 56 Die Tatsache, dass die Union nicht Vertragspartei der Charta des Europarats ist, belegt keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler der Kommission, da der Kläger nicht bestreitet, dass die Union auf diesen Rechtsakt regelmäßig als Rechtsinstrument zur Festlegung der Leitlinien für die Förderung und den Schutz von Regional- und Minderheitensprachen verweist. Im Übrigen ist der Umstand, dass manche Mitgliedstaaten diese Charta noch nicht unterzeichnet oder ratifiziert haben, für die Beurteilung der Maßnahmen der Union in diesem Bereich irrelevant. 57 Darüber hinaus ist die von Ungarn vorgetragene Behauptung unerheblich, dass einige Mitgliedstaaten, die diese Charta ratifiziert hätten, den durch diesen Rechtsakt gewährten Schutz einer begrenzten Anzahl von Sprachen vorbehielten, während Vorschlag 1 darauf abziele, alle Minderheitensprachen in allen Mitgliedstaaten zu unterstützen. 58 Von der Kommission kann nämlich nicht verlangt werden, dass sie im vorliegenden Fall ausschließlich Rechtsakte berücksichtigt, die alle Mitgliedstaaten und alle von Vorschlag 1 erfassten Regional- oder Minderheitensprachen betreffen; dies sieht auch keine Vorschrift der Verordnung 2019/788 vor. Ein Rechtsakt kann von der Kommission auch dann berechtigterweise berücksichtigt werden, wenn damit die mit dem betreffenden Vorschlag verfolgten Ziele nur teilweise erreicht werden können. Mit anderen Worten ist es unerheblich, dass mit einem Rechtsakt für sich genommen das mit Vorschlag 1 verfolgte Ziel nicht ganz erreicht werden kann, wenn alle in der angefochtenen Mitteilung genannten Rechtsakte zusammen geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen. 59 Schließlich behauptet der Kläger zu Unrecht, dass die Kommission sich nicht unter Bezugnahme auf andere internationale Rechtsinstrumente weigern könne, tätig zu werden, und dass die Union verpflichtet sei, die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Befugnisse auszuüben. 60 Insoweit genügt der Hinweis, dass sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 4 EUV ergibt, dass die Kommission mit der EBI „aufgefordert“ werden soll, einen angemessenen Vorschlag zu unterbreiten, um die Verträge umzusetzen, und nicht, wie vom Kläger vorgetragen, verpflichtet werden soll, auf die in Rede stehende EBI hin tätig zu werden (Urteil vom 19. Dezember 2019, Puppinck u. a./Kommission, C‑418/18 P, EU:C:2019:1113, Rn. 57). Zudem belegen die Erläuterungen der Kommission in der angefochtenen Mitteilung, dass die Union die begrenzten Befugnisse, die ihr von den Verträgen zuerkannt werden, tatsächlich ausgeübt hat. Dadurch, dass die Union den Mitgliedstaaten nahelegt, die Charta des Europarats zu unterzeichnen, und indem sie auf diese Charta verweist, unterstützt und ergänzt sie nämlich die Maßnahmen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich. 61 Zweitens macht der Kläger im Wesentlichen geltend, die Weigerung, Vorschlag 1 aufzugreifen, könne nicht, wie es die Kommission in der angefochtenen Mitteilung getan habe, unter Berufung auf die Maßnahmen gerechtfertigt werden, die die Kommission nach Art. 7 des von der UNESCO-Generalkonferenz am 20. Oktober 2005 in Paris angenommenen und im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2006/515/EG des Rates vom 18. Mai 2006 angenommenen Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (ABl. 2006, L 201, S. 15, im Folgenden: UNESCO-Übereinkommen) ergriffen habe. Es bestehe kein Zusammenhang zwischen den in der angefochtenen Mitteilung genannten Durchführungsmaßnahmen mit Schwerpunkt soziale Inklusion und dem mit Vorschlag 1 verfolgten Ziel, nämlich dem Schutz und der Förderung von Regional- und Minderheitensprachen. 62 Dieser Auffassung ist nicht zu folgen. Wie in der angefochtenen Mitteilung ausgeführt, sollen mit Art. 7 des UNESCO-Übereinkommens Einzelpersonen, „einschließlich der Personen, die Minderheiten … angehören,“ und gesellschaftliche Gruppen darin bestärkt werden, ihre eigenen kulturellen Ausdrucksformen zu schaffen, herzustellen, zu verbreiten, zu vertreiben und Zugang zu ihnen zu haben. Wie ebenfalls in der angefochtenen Mitteilung ausgeführt, wird im UNESCO-Übereinkommen ferner darauf hingewiesen, dass die Sprachenvielfalt ein grundlegender Bestandteil der kulturellen Vielfalt ist, und die wesentliche Rolle bekräftigt, die Bildung beim Schutz und bei der Förderung kultureller Ausdrucksformen spielt. 63 Entgegen dem Vorbringen des Klägers ist daher nicht offensichtlich, dass das UNESCO-Übereinkommen in keinem Zusammenhang mit dem mit Vorschlag 1 verfolgten Ziel steht. 64 Auch fehlt es nicht offensichtlich an einem Zusammenhang zwischen den von der Kommission auf der Grundlage von Art. 7 des UNESCO-Übereinkommens ergriffenen Durchführungsmaßnahmen, nämlich der Abhaltung von Dialogen zwischen den Mitgliedstaaten und der Kulturwirtschaft zu den Themen Kultur für soziale Inklusion und interkultureller Dialog, und den mit Vorschlag 1 verfolgten Zielen. 65 Zwar liegt der Schwerpunkt von Vorschlag 1 nicht auf sozialer Inklusion. Dennoch ist die Abhaltung dieser Dialoge, wie die Kommission geltend macht, geeignet, angesichts der mit dem UNESCO-Übereinkommen verfolgten Ziele die Regional- oder Minderheitensprachen zu fördern und zu schützen, und sei es nur im Bereich der Kultur. Der Umstand, dass die in Rede stehenden Durchführungsmaßnahmen die soziale Inklusion fördern, schließt daher nicht aus, dass dieselben Maßnahmen gleichzeitig zur Förderung und zum Schutz von Regional- und Minderheitensprachen beitragen können. 66 Zudem zeugt der Erlass dieser Durchführungsmaßnahmen entgegen dem Vorbringen des Klägers in der Erwiderung davon, dass die Union die ihr in den Verträgen eingeräumten begrenzten Befugnisse tatsächlich ausgeübt hat. Durch die Abhaltung von Dialogen zwischen den Mitgliedstaaten und der Kulturwirtschaft nach Art. 7 des UNESCO-Übereinkommens unterstützt und ergänzt die Union die Maßnahmen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich. 67 Drittens macht der Kläger im Wesentlichen geltend, der Arbeitsplan für Kultur 2019-2022 des Rates und die konkreten Maßnahmen, die die im Rahmen dieses Arbeitsplans eingesetzte Expertengruppe „Mehrsprachigkeit und Übersetzung“ empfehlen sollte, stünden in keinem Zusammenhang mit dem mit Vorschlag 1 verfolgten Ziel, da darin nicht auf Regional- und Minderheitensprachen Bezug genommen werde. Folglich könne die Weigerung der Kommission, diesen Vorschlag aufzugreifen, nicht unter Berufung auf diesen Arbeitsplan und diese konkreten Maßnahmen gerechtfertigt werden, wie dies die Kommission in der angefochtenen Mitteilung getan habe. 68 Diese Auffassung ist zurückzuweisen. Anhang I der Schlussfolgerungen des Rates zum Arbeitsplan für Kultur 2019-2022 (ABl. 2018, C 460, S. 12) sieht vor, dass sich der Arbeitsplan für Kultur auf acht Leitprinzipien stützt. Das dritte dieser Leitprinzipien besagt ausdrücklich, dass die kulturelle und sprachliche Vielfalt ein sehr wertvolles Gut der Europäischen Union ist und dass ihr Schutz und ihre Förderung von entscheidender Bedeutung für die Kulturpolitik auf europäischer Ebene sind (Anhang I, Titel I, dritter Gedankenstrich). Ebenso stellt der Rat in diesem Anhang in der Beschreibung der dritten Priorität betreffend „[e]in Umfeld zur Unterstützung von Künstlerinnen und Künstlern, Kultur- und Kreativschaffenden und europäischen Inhalten“ fest, dass die Kulturwirtschaft in Europa u. a. durch kulturelle und sprachliche Vielfalt geprägt ist (Anhang I, Titel II, Punkt C). 69 Im Übrigen sieht dieser Anhang I vor, dass sich die Mitglieder der Expertengruppe „Mehrsprachigkeit und Übersetzung“ über bewährte Verfahren zur Unterstützung von Übersetzungen im Buch- und Verlagswesen sowie in anderen Bereichen der Kultur- und Kreativwirtschaft austauschen und konkrete Maßnahmen im Rahmen des Programms „Kreatives Europa“ empfehlen werden, um die sprachliche Vielfalt und die Verbreitung von Werken zu fördern (Anhang I, Titel IV, Punkt C). 70 Somit kann nicht gesagt werden, dass der in Rede stehende Arbeitsplan und die Maßnahmen, die von der Expertengruppe „Mehrsprachigkeit und Übersetzung“ ergriffen werden müssen, mit dem mit Vorschlag 1 verfolgten Ziel, nämlich der Förderung und dem Schutz von Regional- und Minderheitensprachen, und sei es auch nur im Bereich der Kultur, offensichtlich nichts zu tun hätten. 71 Diese Schlussfolgerung wird durch den Umstand, dass weder der in Rede stehende Arbeitsplan noch die Beschreibung der Maßnahmen der Expertengruppe „Mehrsprachigkeit und Übersetzung“ ausdrücklich auf Regional- oder Minderheitensprachen Bezug nehmen, nicht entkräftet. Insoweit genügt der Hinweis, dass die Schlussfolgerungen des Rates zum Arbeitsplan für Kultur 2019-2022 keinen ausdrücklichen Ausschluss der Regional- oder Minderheitensprachen enthalten. Diese Schlussfolgerungen des Rates enthalten auch keinerlei Hinweis darauf, dass der in Rede stehende Arbeitsplan und die Maßnahmen der Expertengruppe „Mehrsprachigkeit und Übersetzung“ auf die Amtssprachen der Union beschränkt sind. 72 Viertens macht der Kläger im Wesentlichen geltend, die Empfehlung des Rates vom 22. Mai 2018 zur Förderung gemeinsamer Werte, inklusiver Bildung und der europäischen Dimension im Unterricht (ABl. 2018, C 195, S. 1) stehe in keinem Zusammenhang mit dem mit Vorschlag 1 verfolgten Ziel, weil sie keine konkreten Lösungen für den Schutz und die Förderung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt vorschlage. Folglich könne die Weigerung der Kommission, diesen Vorschlag aufzugreifen, nicht unter Berufung auf diese Empfehlung gerechtfertigt werden, wie dies die Kommission in der angefochtenen Mitteilung getan habe. 73 Diese Auffassung ist zurückzuweisen. Aus dieser Empfehlung, deren konkrete Umsetzung im Wesentlichen in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, geht ausdrücklich hervor, dass sie u. a. bezweckt, die gemeinsamen Werte, auf die sich die Union gründet, zu fördern, und zwar ab dem frühen Kindesalter und auf allen Bildungsebenen. Die Wahrung der Minderheitenrechte im Sinne von Art. 2 EUV in Verbindung mit dem in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV und in Art. 165 Abs. 1 AEUV genannten Ziel der Wahrung des Reichtums der kulturellen und sprachlichen Vielfalt gehört zu diesen Werten der Union (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Januar 2022, Rumänien/Kommission, C‑899/19 P, EU:C:2022:41, Rn. 54, und vom 24. September 2019, Rumänien/Kommission, T‑391/17, EU:T:2019:672, Rn. 56). 74 Daher hat die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als sie die Auffassung vertrat, dass die in Rede stehende Empfehlung, soweit sie bezwecke, die Werte der Union im Bereich der Bildung zu fördern, geeignet sei, zur Verwirklichung des mit Vorschlag 1 verfolgten Ziels zumindest teilweise beizutragen. 75 Fünftens macht der Kläger im Wesentlichen geltend, die Empfehlung des Rates vom 22. Mai 2019 zu einem umfassenden Ansatz für das Lehren und Lernen von Sprachen (ABl. 2019, C 189, S. 15) stehe in keinem Zusammenhang mit dem mit Vorschlag 1 verfolgten Ziel, da sie das Augenmerk nur auf die Erlernung der Amtssprachen der Union lege, um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und die berufliche Mobilität zu stärken. Folglich könne die Weigerung der Kommission, diesen Vorschlag aufzugreifen, nicht unter Berufung auf diese Empfehlung gerechtfertigt werden, wie dies die Kommission in der angefochtenen Mitteilung getan habe. 76 Diese Auffassung ist zurückzuweisen. Diese Empfehlung, die die Verbesserung des Lehrens und Lernens von Sprachen zum Gegenstand hat, enthält nämlich keine ausdrückliche Beschränkung allein auf die Amtssprachen der Union. 77 Auch der Anhang der in Rede stehenden Empfehlung betreffend das Sprachenbewusstsein in Schulen beschränkt sich entgegen dem Vorbringen des Klägers nicht nur auf das Erlernen von Amtssprachen der Union. 78 Diese Gesichtspunkte reichen aus, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass sich weder die in Rede stehende Empfehlung noch ihr Anhang nur auf das Lernen und Lehren von Amtssprachen der Union beschränken. 79 Schließlich behauptet der Kläger zu Unrecht, dass Vorschlag 1 ohnehin nicht auf das Lehren und Lernen von Sprachen abziele, sondern auf die Möglichkeit der Sprecher, ihre Muttersprache „in allen Lebensbereichen“ zu verwenden, wenn diese eine Regional- oder Minderheitensprache sei. 80 Wie oben in Rn. 43 ausgeführt, betrifft Vorschlag 1 nur die Bereiche Kultur und Bildung. Die Verwendung von Regional- oder Minderheitensprachen in anderen „Lebensbereichen“ war somit der Prüfung durch die Kommission entzogen. Im Übrigen hat der Kläger jedenfalls angegeben, dass die in Vorschlag 1 vorgesehene Empfehlung u. a. die besten Lösungen hätte aufzeigen und vorschlagen müssen, um „das Aussterben“ von Regional- oder Minderheitensprachen in der Union „zu stoppen“. Der Kläger hat in der geplanten EBI auch ausgeführt, dass diese Empfehlung den Rückgang der sprachlichen Diversität und des „Lernens von Sprachen“ in der Union hätte berücksichtigen müssen. Der Kläger hat also selbst einen klaren und unmittelbaren Zusammenhang zwischen Vorschlag 1 und dem „Lernen von Sprachen“ hergestellt. 81 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat der Kläger nicht nachgewiesen, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie feststellte, dass die in Rede stehende Empfehlung insofern, als sie die Förderung des Lehrens und Lernens von Sprachen bezwecke, geeignet sei, zur Verwirklichung des mit Vorschlag 1 verfolgten Ziels beizutragen. 82 Sechstens macht der Kläger im Wesentlichen geltend, die Maßnahmen in der Mitteilung der Kommission an das Parlament und den Rat mit dem Titel „Eine Union der Gleichheit: Strategischer Rahmen der EU zur Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe der Roma“ (COM[2020] 620 final) und im Vorschlag für eine Empfehlung des Rates zur Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe der Roma (COM[2020] 621 final) gingen nicht auf das mit Vorschlag 1 verfolgte Ziel ein und hätten einen begrenzten Anwendungsbereich, da sie auf eine bestimmte Personengruppe, nämlich die Roma, abzielten. Folglich könne die Weigerung der Kommission, diesen Vorschlag aufzugreifen, weder unter Berufung auf diese Mitteilung noch unter Berufung auf diesen Vorschlag für eine Empfehlung gerechtfertigt werden, wie dies die Kommission in der angefochtenen Mitteilung getan habe. 83 Diese Auffassung ist zurückzuweisen. Auch wenn sich die in Rede stehende Mitteilung und der Vorschlag für eine Empfehlung auf die Roma konzentrieren, ändert dies nichts an ihrer Relevanz für den vorliegenden Fall. Der Kläger selbst nimmt nämlich in der geplanten EBI auf diese Personengemeinschaft Bezug, indem er u. a. ausführt, dass es sich um die „größte und am stärksten ausgegrenzte Minderheitengruppe in Europa“ handle. Der persönliche Anwendungsbereich dieser Mitteilung und dieses Vorschlags für eine Empfehlung stimmt daher teilweise mit dem von Vorschlag 1 überein. Jedenfalls kann von der Kommission nicht verlangt werden, dass sie bei der Prüfung einer EBI ausschließlich Rechtsakte der Union berücksichtigt, die sämtliche von dieser EBI erfassten Personen betreffen; dies sieht auch keine Vorschrift der Verordnung 2019/788 vor. Wie oben in Rn. 58 ausgeführt, ist es unerheblich, dass mit einem Rechtsakt für sich genommen das mit Vorschlag 1 verfolgte Ziel nicht ganz erreicht werden kann, wenn alle in der angefochtenen Mitteilung genannten Rechtsakte zusammen geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen. 84 Zudem behauptet der Kläger zu Unrecht, dass die in Rede stehende Mitteilung und der fragliche Vorschlag für eine Empfehlung in keinem Zusammenhang mit dem mit Vorschlag 1 verfolgten Ziel stünden. Insoweit genügt der Hinweis, dass der Kläger weder in der Klageschrift noch in der Erwiderung die Aussage der Kommission in der angefochtenen Mitteilung beanstandet hat, wonach in dem in Rede stehenden Vorschlag für eine Empfehlung insbesondere „die Mitgliedstaaten …aufgefordert [werden], die Romani-Sprache … in die Lehrpläne und Schulbücher sowohl für Roma- als auch für Nicht-Roma-Schüler aufzunehmen“. Diese Aussage wird im Übrigen durch Nr. 2 Buchst. g dieses Vorschlags für eine Empfehlung untermauert, der die Mitgliedstaaten auffordert, das Bewusstsein für die Sprache der Roma zu stärken, „indem unter anderem Maßnahmen zur einschlägigen Schulung von Lehrkräften und zur Gestaltung geeigneter Schullehrpläne ergriffen werden“. 85 Siebtens macht der Kläger im Wesentlichen geltend, die Aufnahme von Minderheitenfragen in die jährlichen Berichte der Kommission über die Anwendung der Charta bringe keinen Mehrwert in Bezug auf Vorschlag 1 mit sich. Die Anwendbarkeit der Charta sei nämlich eingeschränkt, da die Verwendung von Sprachen grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. Folglich könne die Weigerung der Kommission, diesen Vorschlag aufzugreifen, nicht unter Berufung auf die Aufnahme von Minderheitenfragen in die jährlichen Berichte über die Anwendung der Charta gerechtfertigt werden, wie dies die Kommission in der angefochtenen Mitteilung getan habe. 86 In dieser Hinsicht trifft es zwar zu, dass die Verwendung der Sprachen größtenteils in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt; gleichwohl ist die Union insoweit in den Bereichen Bildung und Kultur nicht ganz ohne Zuständigkeit (siehe oben, Rn. 44). Im Übrigen geht aus den Rn. 54 bis 84 oben hervor, dass die Union gerade von ihrer Zuständigkeit in den von Vorschlag 1 erfassten Bereichen Gebrauch gemacht hat, insbesondere, wie oben in den Rn. 64 bis 66 ausgeführt, durch die Annahme des UNESCO-Übereinkommens und seine Umsetzung. Damit kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Charta auf Situationen anwendbar ist, die von Vorschlag 1 erfasst sind, und dass die Kommission erforderlichenfalls in ihren thematischen Jahresberichten auf diese Situationen Bezug nimmt. 87 Im Übrigen ist das Vorbringen des Klägers zurückzuweisen, dass durch die Aufnahme der Frage der Förderung von Regional- und Minderheitensprachen in die thematischen Jahresberichte kein wesentlicher Beitrag zum Ziel von Vorschlag 1 geleistet werden könne. Die in der angefochtenen Mitteilung aufgeführten Gründe für das Nichtaufgreifen von Vorschlag 1 stützen sich nämlich nicht ausschließlich auf die Aufnahme dieser Frage in die thematischen Jahresberichte. Wie in der angefochtenen Mitteilung, aber auch vom Kläger in Rn. 52 der Erwiderung ausgeführt, hat die Kommission ihre Weigerung unter Verweis auf ein Maßnahmenpaket gerechtfertigt. Wie bereits in den Rn. 58 und 83 oben festgestellt, ist es daher unerheblich, dass die thematischen Jahresberichte für sich genommen gegebenenfalls einen geringeren Mehrwert als die in Vorschlag 1 vorgesehene Empfehlung aufweisen. 88 In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen hat der Kläger nicht nachgewiesen, dass die Kommission offensichtliche Beurteilungsfehler begangen hat, als sie auf der Grundlage der zum Zeitpunkt der Annahme der angefochtenen Mitteilung bestehenden rechtlichen und tatsächlichen Umstände und aus den in den Nrn. 2.1 und 3.1 dieser Mitteilung dargelegten Gründen keinen zusätzlichen Rechtsakt für erforderlich hielt, um das mit Vorschlag 1 verfolgte Ziel zu erreichen, da dieses Ziel ihrer Meinung nach durch alle in der angefochtenen Mitteilung genannten Rechtsakte zusammen erreicht werden kann. Daher hat die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als sie sich weigerte, Vorschlag 1 aufzugreifen. 89 Folglich ist die zweite Rüge und damit der erste Teil des zweiten Klagegrundes insgesamt zurückzuweisen. Zweiter Teil des zweiten Klagegrundes: Offensichtliche Beurteilungsfehler der Kommission in Bezug auf Vorschlag 3 90 Im Rahmen des zweiten Teils des zweiten Klagegrundes wirft der Kläger, unterstützt von Ungarn, der Kommission im Wesentlichen vor, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen zu haben, als sie sich geweigert habe, Vorschlag 3 aufzugreifen, der die Schaffung eines durch die Union finanzierten Zentrums für Sprachenvielfalt im Bereich der Regional- und Minderheitensprachen vorsehe, das mit der Bildung eines Bewusstseins für die Bedeutung von Regional- und Minderheitensprachen und der Förderung der Vielfalt auf allen Ebenen beauftragt sei und dessen Aufgabe darin bestehe, Wissen und Fähigkeiten allen relevanten Akteuren im Bereich dieser Sprachen zugänglich zu machen und insbesondere den kleinsten und schwächsten Gemeinschaften in Europa Vorrang einzuräumen. Nach Ansicht des Klägers sind die anderen von der Kommission im vorliegenden Fall bevorzugten Maßnahmen, insbesondere die Aufrechterhaltung und Entwicklung ihrer Zusammenarbeit mit dem Europäischen Fremdsprachenzentrum des Europarats (im Folgenden: EFSZ), nicht geeignet, die mit diesem Vorschlag verfolgten Ziele zu erreichen. 91 Die Kommission, unterstützt von der Hellenischen Republik und der Slowakischen Republik, tritt diesem Vorbringen entgegen und macht geltend, dass der vorliegende Teil des zweiten Klagegrundes unbegründet sei. 92 Vorab weist das Gericht darauf hin, dass Vorschlag 3 in seiner registrierten Fassung die Kommission zur Annahme eines Vorschlags für einen Beschluss oder eine Verordnung des Parlaments und des Rates zur Schaffung eines hauptsächlich durch die Union finanzierten Zentrums für Sprachenvielfalt aufforderte, das dazu dienen sollte, das Bewusstsein für die Bedeutung von Regional- und Minderheitensprachen zu stärken und die Vielfalt auf allen Ebenen zu fördern. 93 In den Nrn. 2.3 und 3.3 der angefochtenen Mitteilung führt die Kommission zum einen aus, dass im Zentrum der Bemühungen der Union um eine stärkere Sensibilisierung für die Bedeutung der Sprachenvielfalt, einschließlich des Sprachenlernens, die enge Zusammenarbeit mit dem Europarat stehe, dessen Maßnahmen in diesem Bereich auf die oben in Rn. 54 genannte Charta des Europarats und auf das EFSZ gestützt seien, das als Kompetenzzentrum für Sprachunterricht und Sprachenlernen fungiere und den Unterricht in der Muttersprache der Lernenden, insbesondere auch in Minderheitensprachen, fördere. Sie erklärt, dass sie das EFSZ unterstütze und sich bei ihrer Zusammenarbeit mit ihm auf spezifische gemeinsame Vereinbarungen stütze, die zum Ziel hätten, die Qualität, Effizienz und Attraktivität des Sprachunterrichts zu steigern und die Erprobung und Bewertung von Lernergebnissen weiterzuentwickeln und so schrittweise eine gemeinsame Grundlage für Evaluierungssysteme auf der Basis des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (im Folgenden: GER) zu schaffen. Zum anderen weist die Kommission darauf hin, dass sie die Mitgliedstaaten der Union bei der Umsetzung der oben in Rn. 75 angeführten Empfehlung zu einem umfassenden Ansatz für das Lehren und Lernen von Sprachen unterstütze. Sie sieht es im Wesentlichen als wirksam und effizient an, die Zusammenarbeit über das EFSZ sowie ihre Unterstützung für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Empfehlung aufrechtzuerhalten und auszubauen, um eine angemessene Schwerpunktsetzung der Union sicherzustellen und zudem das Risiko von Doppelarbeit und unnötigem Ressourceneinsatz zu vermeiden. Ein zusätzlicher Rechtsakt sei nicht erforderlich. 94 Als Erstes macht der Kläger mit Unterstützung Ungarns geltend, das EFSZ sei nicht in der Lage, die Aufgaben und Ziele eines Zentrums für Sprachenvielfalt im Bereich der Regional- und Minderheitensprachen zu erfüllen. Zum einen erstreckten sich die Befugnisse des EFSZ nicht auf diese Aufgaben und Ziele, was dadurch belegt werde, dass seine Satzung in keiner Weise auf diese Sprachen oder andere von Vorschlag 3 erfasste Aufgaben Bezug nehme. Zum anderen erstreckten sich die Tätigkeiten des EFSZ nicht auf die Förderung von Regional- oder Minderheitensprachen und auch nicht auf die Ziele, die mit Vorschlag 3 verfolgt würden, was dadurch belegt werde, dass diese Sprachen in keinem der Projekte des Programms 2020-2023 des EFSZ ausdrücklich erwähnt würden und dass die Ausbildungs- und Beratungstätigkeiten dieses Programms keine nennenswerte Tätigkeit in Bezug auf die Förderung solcher Sprachen enthielten. Im Übrigen sei nach dem institutionellen Gefüge des Europarats dessen Sekretariat für die Förderung von Regional- und Minderheitensprachen auf der Grundlage der oben in Rn. 54 angeführten Charta des Europarats zuständig. Jedoch seien mehrere Länder, die sich geweigert hätten, die Charta des Europarats zu unterzeichnen oder zu ratifizieren, dem EFSZ-Abkommen beigetreten. Ungarn führt seinerseits aus, das EFSZ und die für Minderheitensprachen zuständige Abteilung des Europarats seien getrennte organisatorische Einheiten, zwischen denen weder eine Verbindung noch eine Zusammenarbeit bestehe. 95 Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. 96 Erstens bedeutet der Umstand, dass die Satzung des EFSZ keinen spezifischen Verweis auf Regional- und Minderheitensprachen enthält, keineswegs, dass diese Sprachen von den Aufgaben und Zielen des EFSZ ausgenommen wären. 97 Zweitens gehören, wie in Nr. 2.3 der angefochtenen Mitteilung und in den Schriftsätzen der Kommission beschrieben, zu den Aufgaben, die das EFSZ wahrnimmt, und zu dessen strategischen und operativen Zielen, die in Art. 1 der Satzung des EFSZ genannt sind, die Umsetzung der Sprachenpolitik, die Förderung innovativer Ansätze für das Lernen und Lehren „lebender“ Sprachen, die Praxis des Lernens und Lehrens dieser Sprachen, die Förderung von Dialog und Austausch, die Unterstützung von Forschungsprojekten sowie die Sammlung und Verbreitung bewährter Verfahren im Bereich des Lernens und Lehrens dieser Sprachen. Nichts deutet darauf hin, dass diese Aufgaben und Ziele nicht geeignet sind, zumindest in gewissem Maße zur Stärkung des Bewusstseins für die Bedeutung aller „lebenden“ Sprachen der betreffenden Länder, einschließlich der Regional- oder Minderheitensprachen, beizutragen und die Vielfalt, und sei es nur die sprachliche und kulturelle Vielfalt, zu fördern, wobei dies die Ziele sind, die mit Vorschlag 3 in seiner registrierten Fassung verfolgt werden. 98 Was drittens die Tätigkeiten des EFSZ anbelangt, so ergibt sich zum einen aus der Akte, dass im Programm 2020-2023 des EFSZ u. a. ein Projekt mit dem Titel „Förderung der Sprachenerziehung in der grenzüberschreitenden Berufsausbildung“ genannt wird, dessen Ziel auf die besonders wichtige Rolle hinweist, die die Förderung des Sprachenlernens in grenzüberschreitenden Regionen spielt. Dieses Projekt steht nicht offensichtlich außer Zusammenhang zu den Zielen, die mit Vorschlag 3 verfolgt werden und darin bestehen, das Bewusstsein für die Bedeutung der Mehrsprachigkeit, insbesondere was die Regional- und Minderheitensprachen betrifft, zu stärken und die Vielfalt insbesondere im Bildungs- und Berufsbereich zu fördern. 99 Zum anderen geht in Bezug auf die Ausbildungs- und Beratungstätigkeiten des EFSZ aus der Akte hervor, dass dieses Zentrum eine Ausbildung mit dem Titel „Mehrsprachige und interkulturelle Ansätze“ anbietet, die den „Bezugsrahmen für pluralistische Ansätze für Sprachen und Kulturen“ betrifft und häufig gelehrte Sprachen sowie Minderheitensprachen umfasst. Ebenso bietet das EFSZ eine Ausbildung mit dem Titel „Qualitativ hochwertige Bildung in Romani für Europa“ (QualiRom)“ an. Diese nimmt auf das Ziel einer Initiative mit der Bezeichnung „QualiRom“ Bezug, die insbesondere darin besteht, die Aufnahme der Sprache Romani in die Bildungssysteme zu fördern und die Integration von Roma-Kindern zu erleichtern. Die fragliche Ausbildung nimmt auch auf das Lehrmaterial „QualiRom“ Bezug, das in sechs Romani-Varietäten für Primär‑, Sekundär- und Tertiärunterricht erarbeitet wurde und die größte Ressource dieser Art im Bereich der Lehre und des Lernens dieser Sprache darstellt. Diese Gesichtspunkte reichen aus, um zu belegen, dass die Regional- und Minderheitensprachen, wie in Nr. 2.3 der angefochtenen Mitteilung ausgeführt, in das Programm 2020-2023 des EFSZ umfassend einbezogen werden. 100 Daraus folgt, dass die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie im Wesentlichen feststellte, dass die Tätigkeiten des EFSZ geeignet seien, zur Verwirklichung der mit Vorschlag 3 in seiner registrierten Fassung verfolgten Ziele beizutragen, das Bewusstsein für die Bedeutung von Regional- und Minderheitensprachen zu stärken und die Vielfalt auf allen Ebenen zu fördern. 101 Viertens haben der Kläger und Ungarn nichts Konkretes vorgetragen, was die in der angefochtenen Mitteilung und in den Schriftsätzen der Kommission angeführten engen Verbindungen zwischen dem Europarat und dem EFSZ in Frage stellen könnte. 102 Als Zweites macht der Kläger mit Unterstützung Ungarns geltend, die Kommission habe weder die Möglichkeit, Einfluss auf die Tätigkeiten des EFSZ zu nehmen, noch die Möglichkeit, Kooperationsvereinbarungen mit ihm in den relevanten Bereichen von Vorschlag 3 zu schließen, da die Union nicht Partei des Abkommens zur Errichtung dieses Zentrums sei und die Förderung von Regional- und Minderheitensprachen nicht in dessen Zuständigkeit falle. Ferner führt der Kläger im Wesentlichen aus, die in der angefochtenen Mitteilung genannte Kooperationsvereinbarung 2020-2021 zeige, dass die Förderung von Regional- oder Minderheitensprachen für die Kommission im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit dem EFSZ irrelevant sei, da der Workshop über „ganzheitliche Lernansätze, Alphabetisierung und Sprachunterricht, einschließlich Unterrichtssprachen, Fremdsprachen, Regional- und Minderheitensprachen und zu Hause gesprochener Sprachen“ und das Webinar über „die Situation der Regional- und Minderheitensprachen während der Covid-19-Pandemie“, die in dieser Vereinbarung genannt würden, offensichtlich keine geeignete Alternative zu dem im Rahmen von Vorschlag 3 angeregten Zentrum für Sprachenvielfalt darstellten. Zudem ziele die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und dem EFSZ im Wesentlichen darauf ab, eine gemeinsame Grundlage für nationale Bewertungssysteme auf der Grundlage des GER zu schaffen. Im Übrigen sei die in der angefochtenen Mitteilung enthaltene Bezugnahme auf die nächste Kooperationsvereinbarung unerheblich, da keine Verhandlungen im Gange seien und hypothetische Entwicklungen bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Mitteilung nicht berücksichtigt werden könnten. 103 Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. 104 Zunächst enthält die Satzung des EFSZ, wie oben in den Rn. 96 und 97 ausgeführt, keine ausdrückliche Beschränkung der „lebenden“ Sprachen, auf die sich die vom EFSZ wahrgenommenen Aufgaben und die von ihm verfolgten Ziele beziehen, und erstrecken sich einige seiner Tätigkeiten ausdrücklich auf Regional- und Minderheitensprachen. Die Kommission hat daher keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als sie die Auffassung vertrat, dass die Aufgaben, Ziele und Tätigkeiten des EFSZ geeignet seien, zur Verwirklichung der mit Vorschlag 3 in seiner registrierten Fassung verfolgten Ziele beizutragen, nämlich das Bewusstsein für die Bedeutung insbesondere von Regional- und Minderheitensprachen zu stärken und die Vielfalt auf verschiedenen Ebenen zu fördern. 105 Sodann ist die Union zwar nicht Partei des „erweiterten Teilabkommens“ des Europarats, mit dem das EFSZ errichtet wurde, allerdings ist die in der angefochtenen Mitteilung genannte Kooperationsvereinbarung 2020-2021 entgegen dem Vorbringen des Klägers ein Beleg für die Möglichkeit der Kommission, die Tätigkeiten des EFSZ zu beeinflussen und Kooperationsvereinbarungen in Bereichen zu schließen, die Vorschlag 3 betreffen. Diese Kooperationsvereinbarung bestätigt auch, wie in der angefochtenen Mitteilung ausgeführt wird, dass die Regional- und Minderheitensprachen zu dem Spektrum der Tätigkeiten gehören, an denen das EFSZ beteiligt ist. 106 Aus der Akte ergibt sich nämlich, dass die Kooperationsvereinbarung 2020-2021, die sich auf die Aktion „Innovative Methoden und Beurteilung beim Sprachenlernen“ bezieht, Teil einer langfristigen, nämlich siebenjährigen Zusammenarbeit zwischen der Kommission und dem EFSZ ist und sich in gemeinsam beschlossene Aktionsbereiche einfügt. Wie die Kommission ausführt, schlägt die Initiative „Unterstützung mehrsprachiger Klassen“ der oben genannten Aktion eine Reihe von Modulen vor, die sich u. a. mit dem Sprachenbewusstsein in der gesamten schulischen Ausbildung und mit der Unterstützung von Unterrichtssprachen befassen, wobei auf Ansätze zurückgegriffen wird, die auf die Herkunftssprachen der Lernenden Rücksicht nehmen, insbesondere was Regional- und Minderheitensprachen betrifft. Zudem soll diese Aktion nicht nur den Workshop und das Webinar umfassen, auf die sich der Kläger bezieht, sondern auch eine „Sommerakademie“, eine Reihe von Denkfabriken – u. a. zum Thema „Wertschätzung der sprachlichen Repertoires der Lernenden“ sowie zu den Herausforderungen, vor denen insbesondere Regional- und Minderheitensprachen stehen –, die Erstellung wissenschaftlicher Studien und ein Kolloquium. 107 Schließlich stützen die oben in Rn. 106 angeführten Gesichtspunkte die Schlussfolgerung, dass sich die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und dem EFSZ – entgegen dem Vorbringen des Klägers und im Einklang mit den Ausführungen in der angefochtenen Mitteilung – nicht darauf beschränkt, eine gemeinsame Grundlage für nationale Bewertungssysteme auf der Grundlage des GER zu schaffen, und dass die Bedürfnisse, die im Zusammenhang mit der sprachlichen Vielfalt bestehen, im Rahmen dieser Zusammenarbeit berücksichtigt werden. 108 Als Drittes macht der Kläger mit Unterstützung Ungarns geltend, es sei offensichtlich unangemessen gewesen, dass die Kommission das Tätigwerden gemäß Vorschlag 3 unter Verweis auf ein internationales Abkommen abgelehnt habe, dem die Union nicht beigetreten sei und das kein fester Bestandteil der Rechtsordnung der Union sei. 109 Diese Auffassung ist zurückzuweisen. Zum einen besteht, wie oben in Rn. 60 ausgeführt, keine Verpflichtung der Kommission, die Maßnahmen zu ergreifen, die von einer eingetragenen EBI vorgeschlagen werden, die die erforderliche Unterstützung erhalten hat. Zum anderen wird die Union, wie im Wesentlichen von der Kommission ausgeführt worden ist, sowohl in Art. 165 Abs. 3 AEUV als auch in Art. 167 Abs. 3 AEUV, die die Rechtsgrundlagen für Vorschlag 3 bilden, aufgefordert, die Zusammenarbeit in den Bereichen Bildung und Kultur u. a. mit den zuständigen internationalen Organisationen, insbesondere mit dem Europarat, zu fördern. Daher hat die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als sie in der angefochtenen Mitteilung im Wesentlichen feststellte, dass die Aufrechterhaltung und der Ausbau der Zusammenarbeit mit einer anderen internationalen Organisation – nämlich mit dem EFSZ, dem die meisten Mitgliedstaaten der Union beigetreten seien und das eng mit dem Europarat verbunden sei – in Bereichen, die denen entsprächen, die der Kläger dem Zentrum für Sprachenvielfalt habe zuweisen wollen, geeignet sei, zur Verwirklichung der mit Vorschlag 3 in seiner registrierten Fassung verfolgten Ziele beizutragen und Doppelarbeit und unnötigen Ressourceneinsatz zu vermeiden. 110 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat der Kläger nicht nachgewiesen, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, der den in den Nrn. 2.3 und 3.3 der angefochtenen Mitteilung aufgeführten Gründen anhaftet. 111 Der zweite Teil des zweiten Klagegrundes ist folglich zurückzuweisen. Dritter Teil des zweiten Klagegrundes: Mehrere offensichtliche Beurteilungsfehler der Kommission in Bezug auf Vorschlag 6 112 Im Rahmen des dritten Teils des zweiten Klagegrundes macht der Kläger, unterstützt von Ungarn, im Wesentlichen geltend, die Kommission habe zu Unrecht Vorschlag 6 nicht aufgegriffen, der darauf abziele, eine annähernde Gleichstellung von Staatenlosen, die nationalen Minderheiten angehörten, und Unionsbürgern durch Angleichung der Situation dieser Staatenlosen an die Situation von Migranten und Unionsbürgern mit Migrationshintergrund zu gewährleisten. 113 Die Kommission, unterstützt von der Hellenischen Republik und der Slowakischen Republik, tritt diesem Vorbringen entgegen. 114 Vorab weist das Gericht darauf hin, dass das Ziel von Vorschlag 6 darin besteht, die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12), die Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44), die Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst (ABl. 2004, L 375, S. 12), die Richtlinie 2005/71/EG des Rates vom 12. Oktober 2005 über ein besonderes Zulassungsverfahren für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung (ABl. 2005, L 289, S. 15) und die Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung (ABl. 2009, L 155, S. 17) zu ändern, um die Rechtsstellung von Staatenlosen an die von Unionsbürgern dadurch anzugleichen, dass ihnen der Zugang zur Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten erleichtert und sichergestellt wird, dass sie mehr Rechte als Drittstaatsangehörige besitzen. 115 Der Kläger hat jedoch eingeräumt, dass Vorschlag 6 „den Schwerpunkt vor allem auf die Richtlinie 2003/109/EG“ legt. Zudem hat der Kläger weder in der Klageschrift noch in der Erwiderung auf die anderen oben in Rn. 114 genannten Richtlinien Bezug genommen. 116 In den Nrn. 2.6 und 3.6 der angefochtenen Mitteilung vertrat die Kommission die Auffassung, dass es nicht erforderlich sei, die Richtlinie 2003/109 zu ändern, um die Rechte von Drittstaatsangehörigen weiter an die Unionsbürgern zustehenden Rechte anzugleichen. Vielmehr könnten im Rahmen der Unionspolitik zur Integration von Migranten weitere Maßnahmen getroffen werden, um auf die besondere Situation Staatenloser einzugehen. In diesem Zusammenhang verweist die Kommission insbesondere auf ihre Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen mit dem Titel „Aktionsplan für Integration und Inklusion 2021-2027“ (COM[2020] 758 final, im Folgenden: Aktionsplan). 117 Der Kläger bestreitet jedoch, dass der Aktionsplan für Staatenlose gilt, die nationalen Minderheiten angehören. Der Aktionsplan richte sich an Migranten und Unionsbürger mit Migrationshintergrund, erwähne jedoch diese Staatenlosen nicht. Zudem sei sein Inhalt ungeeignet, um den Bedürfnissen von Staatenlosen gerecht zu werden, die nationalen Minderheiten angehörten. Im Zentrum des Aktionsplans stehe nämlich die Integration und Inklusion von Migranten und Unionsbürgern mit Migrationshintergrund, aber er berücksichtige die spezielle Situation dieser Staatenlosen nicht. Im Gegensatz zu Personen, die vor kurzem aus Drittländern in die Union eingereist seien, gehörten Staatenlose im Sinne von Vorschlag 6 nationalen Minderheiten an, die seit langer Zeit im europäischen Hoheitsgebiet lebten und Teil der einheimischen Bevölkerung seien. Zudem seien diese Staatenlosen mit Problemen im Zusammenhang mit dem Fehlen amtlicher Dokumente und einem willkürlichen Entzug der Staatsangehörigkeit konfrontiert, was sie daran hindere, am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben im Mitgliedstaat ihrer Geburt oder im Aufnahmemitgliedstaat teilzuhaben. Somit habe die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als sie die Situation von Staatenlosen, die nationalen Minderheiten angehörten, mit der Situation von Migranten und Unionsbürgern mit Migrationshintergrund gleichgestellt habe, obwohl ihre jeweiligen Situationen unterschiedlich seien. 118 Diese Auffassung ist zurückzuweisen. Zwar wird der Begriff „Staatenlose“ im Aktionsplan nicht ausdrücklich erwähnt und erstreckt sich sein Anwendungsbereich „sowohl auf Migranten als auch auf EU-Bürger mit Migrationshintergrund“. Diese Gesichtspunkte reichen jedoch nicht für die Annahme aus, dass diese Staatenlosen vom Geltungsbereich des Aktionsplans ausgenommen sind. 119 Nach dem Wortlaut von Art. 67 Abs. 2 AEUV werden Staatenlose nämlich für die Zwecke von Titel V, der den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts betrifft, „den Drittstaatsangehörigen gleichgestellt“. 120 Folglich fallen Staatenlose, die nationalen Minderheiten angehören, in den Anwendungsbereich des Aktionsplans, da erstens dieser Aktionsplan auf alle Drittstaatsangehörigen anwendbar ist, die sich rechtmäßig in der Union aufhalten, und zweitens Staatenlose den Drittstaatsangehörigen gleichgestellt werden müssen. 121 Wie die Kommission ausführt, kommt der Aktionsplan im Übrigen nicht nur Migranten zugute, die neu in der Union angekommen sind. Er enthält auch mehrere Aktionen, die auf die langfristige Integration und den sozialen Zusammenhalt ausgerichtet sind. Insbesondere soll der Aktionsplan u. a. den Zugang von Drittstaatsangehörigen und somit auch von Staatenlosen zu Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsdiensten und Wohnraum verbessern. Ebenso sollen mit ihm Isolation, Segregation und Diskriminierung bekämpft werden. Schließlich ist es auch sein Ziel, die Beteiligung von Drittstaatsangehörigen und damit auch Staatenlosen an Konsultations- und Entscheidungsverfahren auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene zu fördern. 122 Daraus folgt, dass die Kommission keinen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie die Ansicht vertrat, dass der Aktionsplan geeignet sei, auf Situationen der sozialen Ausgrenzung und auf Schwierigkeiten beim Zugang zu Gesundheitsdiensten, Bildung und Sozialhilfe zu reagieren, mit denen sich sowohl Drittstaatsangehörige als auch Staatenlose, die nationalen Minderheiten angehörten, konfrontiert sähen, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass diese beiden Kategorien von Personen einen unterschiedlichen geografischen, historischen, persönlichen, kulturellen und religiösen Hintergrund haben könnten. 123 Soweit das Ziel des Klägers, wie es in der geplanten EBI formuliert ist, darin besteht, eine „Ausweitung der staatsbürgerlichen Rechte auf staatenlose Personen und ihre Familien, die schon immer in ihrem Herkunftsland gelebt haben,“ zu erreichen, ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass die Verfasser der Verträge einen untrennbaren und ausschließlichen Zusammenhang zwischen dem Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und dem Erwerb, aber auch der Erhaltung des Unionsbürgerstatus geschaffen haben. Damit ist der Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass eine Person den Unionsbürgerstatus erlangen und behalten und sämtliche damit verbundenen Rechte in Anspruch nehmen kann. Unter diesen Umständen können die mit dem Unionsbürgerstatus verbundenen Rechte nicht auf Personen ausgedehnt werden, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juni 2022, Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques, C‑673/20, EU:C:2022:449, Rn. 48 und 57). 124 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat der Kläger nicht nachgewiesen, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie davon ausging, dass der Aktionsplan geeignet sei, dem Bedürfnis der Staatenlosen nach besserer Integration in die Gesellschaft durch bessere Beschäftigungs- und Bildungsperspektiven sowie bessere soziale Chancen Rechnung zu tragen. 125 Ebenso wenig hat der Kläger nachgewiesen, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie die Auffassung vertrat, dass es nicht erforderlich sei, die Richtlinie 2003/109 zu ändern, um Staatenlosen, die nationalen Minderheiten angehörten, mehr Rechte zuzuerkennen. 126 Folglich ist der dritte Teil des zweiten Klagegrundes zurückzuweisen. Vierter Teil des zweiten Klagegrundes: mehrere offensichtliche Beurteilungsfehler der Kommission in Bezug auf Vorschlag 8 127 Im Rahmen des vierten Teils des zweiten Klagegrundes wirft der Kläger, unterstützt von Ungarn, der Kommission im Wesentlichen vor, einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen zu haben, als sie sich geweigert habe, Vorschlag 8 zur Verbesserung des grenzüberschreitenden Zugangs nationaler Minderheiten zu audiovisuellen Inhalten anderer Mitgliedstaaten, in denen dieselbe Sprache gesprochen werde, aufzugreifen. Der Zugang zu diesen Inhalten sei wichtig, weil die Anzahl der Personen, die nationalen Minderheiten in einem bestimmten Mitgliedstaat angehörten, zu gering sei, um in diesem Mitgliedstaat eigene Medien einzurichten. Im Übrigen trage dieser Zugang dazu bei, die verschiedenen Regional- und Minderheitensprachen sowie die sprachliche und kulturelle Vielfalt zu erhalten und zu fördern. Die von der Kommission im vorliegenden Fall bevorzugte Maßnahme, nämlich ohne weitere Überarbeitung die Richtlinie 2010/13 in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1808 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 (ABl. 2018, L 303, S. 69) geänderten Fassung anzuwenden, sei nicht geeignet, um die mit diesem Vorschlag verfolgten Ziele zu erreichen. 128 Die Kommission, unterstützt von der Hellenischen Republik und der Slowakischen Republik, tritt diesem Vorbringen entgegen und macht geltend, dass der vorliegende Teil des zweiten Klagegrundes unbegründet sei. 129 Vorab weist das Gericht darauf hin, dass Vorschlag 8 in seiner registrierten Fassung eine Änderung der Richtlinie 2010/13 zum Ziel hatte, um den freien Dienstleistungsverkehr und den Empfang audiovisueller Inhalte in Regionen von Mitgliedstaaten, in denen Angehörige nationaler Minderheiten wohnen, zu gewährleisten. 130 In den Nrn. 2.8 und 3.8 der angefochtenen Mitteilung kommt die Kommission zu dem Schluss, dass der bestehende Rechtsrahmen eine wesentliche Unterstützung für die Verwirklichung der vom Kläger in Bezug auf Vorschlag 8 verfolgten Ziele darstelle und dass keine zusätzliche Änderung der Richtlinie 2010/13 notwendig sei, weil dieser Rechtsrahmen ausreichend sei. Insoweit führt die Kommission zum einen aus, die Richtlinie 2010/13 erleichtere die grenzüberschreitende Verbreitung audiovisueller Mediendienste und stelle gleichzeitig sicher, dass harmonisierte Mindestvorschriften vorhanden seien, die im allgemeinen öffentlichen Interesse lägen, und zwar insbesondere im Bereich des Jugendschutzes, der Werbung und der Förderung europäischer Werke. Diese Richtlinie beruhe auf dem Herkunftslandprinzip, so dass die Mitgliedstaaten audiovisuelle Mediendienste, die aus einem anderen Mitgliedstaat stammten, nicht einschränken dürften, wenn diese Dienste den Vorschriften der Richtlinie 2010/13 im Herkunftsmitgliedstaat genügten. Die Richtlinie 2010/13 behandle jedoch keine urheberrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Weiterverbreitung. Die grenzüberschreitende Verfügbarkeit audiovisueller Inhalte könne durch Gründe außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie 2010/13 beeinträchtigt werden, wie etwa Rechte des geistigen Eigentums, Verfügbarkeit technischer Ressourcen oder auch geschäftliche oder finanzielle Erwägungen. Zum anderen führt die Kommission aus, dass mit den Änderungen dieser Richtlinie durch die Richtlinie 2018/1808 die Förderung europäischer Werke und der kulturellen Vielfalt in der Union verstärkt worden sei. Nunmehr müssten nämlich nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13 die Anbieter audiovisueller Mediendienste auf Abruf (im Folgenden: Videoabrufdienste) einen Mindestanteil europäischer Werke von 30 % in ihre Kataloge aufnehmen und solche Werke herausstellen. Im Übrigen sei darauf hinzuweisen, dass das Ziel der Förderung der kulturellen Vielfalt nur dann wirksam erreicht werden könne, wenn der 30 %-Anteil europäischer Werke in jedem der nationalen Kataloge sichergestellt werde, die von in mehreren Ländern tätigen Videoabrufdiensten angeboten würden. Dadurch werde gewährleistet, dass den Zuschauern in jedem Mitgliedstaat, in dem der Anbieter nationale Kataloge anbiete, ein ausreichendes Angebot an europäischen Werken zur Verfügung stehe. Dieser Ansatz könne wahrscheinlich auch Anreize für die Verbreitung und Verfügbarkeit europäischer Werke in der gesamten Union schaffen. Die Kommission führt schließlich aus, sie werde die Anwendung dieser Vorschriften auf der Grundlage von Berichten der Mitgliedstaaten und einer unabhängigen Studie regelmäßig prüfen. 131 Erstens bestreitet der Kläger, dass der in Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13 vorgesehene Anteil von 30 % europäischer Werke, den die Anbieter von Videoabrufdiensten in ihren Katalogen anbieten und herausstellen müssen, zur Erreichung des mit Vorschlag 8 verfolgten Ziels beitragen kann. Da damit kein Erfordernis hinsichtlich der Herkunft oder der Sprache europäischer Werke einhergehe und die Definition der „europäischen Werke“ in Art. 1 Abs. 1 Buchst. n dieser Richtlinie auf diesen Aspekt nicht eingehe, könne der Anteil von 30 % erfüllt sein, wenn der Anbieter von Videoabrufdiensten Inhalte anderer Mitgliedstaaten unter Ausschluss angrenzender Mitgliedstaaten anbiete oder wenn der Anbieter nur Inhalte in der Mehrheitssprache des betreffenden Mitgliedstaats anbiete, ohne dort lebende nationale Minderheiten zu berücksichtigen. Im Übrigen hätten die Anbieter von Videoabrufdiensten kein wirtschaftliches Interesse daran, die Rechte an Inhalten zu erwerben, die für Angehörige nationaler Minderheiten interessant sein könnten. 132 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Vorschlag 8 zum Zeitpunkt des Antrags auf Registrierung der geplanten EBI eine Änderung der Richtlinie 2010/13 in der damals geltenden Fassung vorsah, um den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Empfang audiovisueller Inhalte (und zwar analoge und digitale Rundfunkdienste sowie terrestrische und satellitengestützte Abrufdienste) in Regionen, in denen Angehörige nationaler Minderheiten wohnen, zu gewährleisten. Dieser Vorschlag wurde mit ähnlichem Wortlaut registriert (siehe oben, Rn. 129). 133 Wie in der angefochtenen Mitteilung ausgeführt und vom Kläger nicht bestritten wird, erleichtern aber bereits Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13 den Empfang und die Weiterverbreitung audiovisueller Mediendienste in der gesamten Union, insbesondere von audiovisuellen Inhalten aus Nachbarmitgliedstaaten eines bestimmten Mitgliedstaats, und zwar in Sprachen, die für Personen, die nationalen Minderheiten angehören und in letzterem Mitgliedstaat leben, interessant sein können. 134 Wie die Kommission in der angefochtenen Mitteilung und in ihren Schriftsätzen im Wesentlichen ausführt, konkretisiert die Richtlinie 2010/13 im Bereich der audiovisuellen Mediendienste die in Art. 56 AEUV gewährleistete Dienstleistungsfreiheit, indem sie, wie aus ihrem 104. Erwägungsgrund hervorgeht, „einen Raum ohne innere Grenzen“ für diese Dienste schafft (Urteil vom 4. Juli 2019, Baltic Media Alliance, C‑622/17, EU:C:2019:566, Rn. 65). 135 Nach dem in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13 verankerten Herkunftslandprinzip sind die Anbieter audiovisueller Mediendienste grundsätzlich nur den Vorschriften und der Zuständigkeit des Mitgliedstaats unterworfen, in dem sie niedergelassen sind. 136 Unter Einhaltung dieser Vorschriften können die Anbieter audiovisueller Mediendienste sodann ihre Dienste frei in der gesamten Union verbreiten, da die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13 den freien Empfang gewährleisten müssen und die Weiterverbreitung von Diensten aus anderen Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet nicht aus Gründen behindern dürfen, die Bereiche betreffen, die durch die Richtlinie koordiniert sind. 137 Daraus folgt, dass die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie in der angefochtenen Mitteilung im Wesentlichen zu dem Ergebnis kam, dass das Ziel von Vorschlag 8 in seiner registrierten Fassung, nämlich die Gewährleistung des freien Dienstleistungsverkehrs und des Empfangs audiovisueller Inhalte, bereits in der gesamten Union und somit auch in den Gebieten der Union, in denen nationale Minderheiten lebten, erreicht sei. 138 Zwar kann die grenzüberschreitende Verfügbarkeit audiovisueller Inhalte aus bestimmten Gründen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Richtlinie 2010/13 zu finden sind, eingeschränkt sein, insbesondere aufgrund dessen, dass diese Richtlinie die Anbieter von Mediendiensten nicht zur grenzüberschreitenden Weiterverbreitung verpflichtet und dass sich ihr Anwendungsbereich nicht auf die Rechte des geistigen Eigentums, insbesondere Urheberrechte, erstreckt, aber auch aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen. Der Kläger hat jedoch nichts Konkretes vorgetragen, was die Beurteilung der Kommission in Frage stellen könnte, dass die in Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehene und in der angefochtenen Mitteilung genannte Verpflichtung der Anbieter von Videoabrufdiensten, einen Anteil von mindestens 30 % europäischer Werke in ihren Katalogen anzubieten und diese Werke herauszustellen, geeignet sei, zur Verbesserung der kulturellen Vielfalt beizutragen und Zugang zu einem breiteren grenzüberschreitenden Spektrum audiovisueller Inhalte zu verschaffen, auch wenn es kein spezifischeres Erfordernis in Bezug auf die Herkunft oder die Sprache der fraglichen europäischen Werke gebe. 139 Zweitens bestreitet der Kläger die Relevanz der in der angefochtenen Mitteilung genannten Überwachung der Anwendung der Richtlinie 2010/13 durch die Kommission mit der Begründung, dass die Angemessenheit der vorgeschlagenen Maßnahmen nur anhand der zum Zeitpunkt der Annahme der angefochtenen Mitteilung verfügbaren Informationen geprüft werden könne. 140 Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. 141 Die in der angefochtenen Mitteilung beschriebene Überwachung der Anwendung der Richtlinie 2010/13 spiegelt die den Mitgliedstaaten und der Kommission nach Art. 13 Abs. 4 und 5 und Art. 33 dieser Richtlinie auferlegten Verpflichtungen wider. Angesichts der imperativen Formulierung der genannten Vorschriften konnte die Kommission zum Zeitpunkt der Annahme der angefochtenen Mitteilung zu Recht auf künftige Verpflichtungen Bezug nehmen. Diese Schlussfolgerung ist umso mehr geboten, als die genannten Verpflichtungen die Bewertung von Vorschriften betreffen, die zum Zeitpunkt der Annahme der angefochtenen Mitteilung bereits bestanden und auf die sich die Kommission bei ihrer Schlussfolgerung gestützt hat, dass keine Änderung der Richtlinie 2010/13 notwendig sei, um das mit Vorschlag 8 verfolgte Ziel zu erreichen. 142 Im Übrigen muss der Bericht, den die Kommission dem Parlament und dem Rat auf der Grundlage der von den Mitgliedstaaten übermittelten Informationen und einer unabhängigen Studie nach Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie 2010/13 u. a. über die Anwendung von Art. 13 Abs. 1 dieser Richtlinie vorlegen muss, u. a. dem Ziel der kulturellen Vielfalt Rechnung tragen. Somit hat die Kommission keinen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, als sie die Ansicht vertrat, dass die Überwachung der Anwendung dieser Richtlinie geeignet sei, zur Verwirklichung eines der mit Vorschlag 8 verfolgten Ziele beizutragen, das in der Erwiderung dargelegt worden sei, nämlich die Verbesserung des Zugangs zu audiovisuellen Inhalten unterschiedlicher Herkunft und Sprachen. 143 Schließlich bestreitet Ungarn, dass der bestehende Rechtsrahmen zur Verwirklichung der mit Vorschlag 8 verfolgten Ziele geeignet ist. Zum einen liege das Problem, das mit Vorschlag 8 gelöst werden solle, in den territorialen Beschränkungen für Inhalte von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung – insbesondere internationale Sportereignisse –, die in den Lizenzvereinbarungen zwischen den Rechteinhabern und den Anbietern audiovisueller Mediendienste enthalten seien. Diese Beschränkungen, die die Online-Übertragung von Sport- oder anderen Ereignissen von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung behinderten, benachteiligten auch nationale oder sprachliche Minderheiten. Nach Ansicht dieses Mitgliedstaats wäre eine Änderung von Art. 14 der Richtlinie 2010/13 erforderlich. Was zum anderen Videoabrufdienste betreffe, so bestehe das Problem nicht darin, dass es nicht genügend Inhalte in jeder Sprache gebe, sondern vielmehr darin, dass der Zugang zu bestimmten Inhalten von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung behindert werde. 144 Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Zum einen enthält Vorschlag 8 in seiner registrierten Fassung, wie oben in Rn. 129 ausgeführt, keinen Hinweis auf territoriale Beschränkungen in Bezug auf Ereignisse von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung. Zum anderen erstreckt sich der Anwendungsbereich der Richtlinie 2010/13, wie oben in Rn. 138 ausgeführt, nicht auf die Rechte des geistigen Eigentums. 145 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat der Kläger nicht nachgewiesen, dass die Kommission einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hat, als sie aus den in den Nrn. 2.8 und 3.8 der angefochtenen Mitteilung dargelegten Gründen die Meinung vertrat, dass die bestehenden Vorschriften der Richtlinie 2010/13 geeignet seien, einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung der vom Kläger verfolgten Ziele zu leisten und Anreize für die Verbreitung und Verfügbarkeit europäischer Werke in der gesamten Union zu schaffen, so dass keine zusätzliche Änderung dieser Richtlinie in Bezug auf Vorschlag 8 notwendig sei. 146 Folglich ist der vierte Teil des zweiten Klagegrundes und damit der zweite Klagegrund insgesamt zurückzuweisen. 147 Da alle Klagegründe zurückgewiesen worden sind, ist die Klage abzuweisen. Kosten 148 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Kläger unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Kommission deren Kosten aufzuerlegen. 149 Die Slowakische Republik hat ebenfalls beantragt, dem Kläger die Kosten aufzuerlegen. Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen jedoch die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Daraus folgt, dass die Hellenische Republik, Ungarn und die Slowakische Republik jeweils ihre eigenen Kosten tragen. Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Achte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Das Citizens’ Committee of the European Citizens’ Initiative „Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe“ trägt seine eigenen Kosten sowie die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten. 3. Die Hellenische Republik, Ungarn und die Slowakische Republik tragen jeweils ihre eigenen Kosten. Svenningsen Mac Eochaidh Laitenberger Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. November 2022. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Englisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 20. September 2022.#Bundesrepublik Deutschland gegen SpaceNet AG und Telekom Deutschland GmbH.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der elektronischen Kommunikation – Vertraulichkeit der Kommunikation – Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste – Allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten – Richtlinie 2002/58/EG – Art. 15 Abs. 1 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 6, 7, 8 und 11 sowie Art. 52 Abs. 1 – Art. 4 Abs. 2 EUV.#Verbundene Rechtssachen C-793/19 und C-794/19.
62019CJ0793
ECLI:EU:C:2022:702
2022-10-27T00:00:00
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0793 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 20. September 2022 (*1) [Berichtigt durch Beschluss vom 27. Oktober 2022] „Vorlage zur Vorabentscheidung – Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der elektronischen Kommunikation – Vertraulichkeit der Kommunikation – Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste – Allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten – Richtlinie 2002/58/EG – Art. 15 Abs. 1 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 6, 7, 8 und 11 sowie Art. 52 Abs. 1 – Art. 4 Abs. 2 EUV“ In den verbundenen Rechtssachen C‑793/19 und C‑794/19 betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 25. September 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Oktober 2019, in den Verfahren Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, gegen SpaceNet AG (C‑793/19), Telekom Deutschland GmbH (C‑794/19) erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten S. Rodin und I. Jarukaitis, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, der Richter T. von Danwitz, M. Safjan, F. Biltgen, P. G. Xuereb (Berichterstatter) und N. Piçarra sowie der Richterin L. S. Rossi und des Richters A. Kumin, Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona, Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. September 2021, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, diese wiederum vertreten durch C. Mögelin als Bevollmächtigten, – [berichtigt durch Beschluss vom 27. Oktober 2022] der SpaceNet AG, vertreten durch M. Bäcker, Universitätsprofessor, – der Telekom Deutschland GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt T. Mayen, – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, F. Halibi, M. Hellmann, D. Klebs und E. Lankenau als Bevollmächtigte, – der dänischen Regierung, vertreten durch M. Jespersen, J. Nymann‑Lindegren, V. Pasternak Jørgensen und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte, – der estnischen Regierung, vertreten durch A. Kalbus und M. Kriisa als Bevollmächtigte, – Irlands, vertreten durch A. Joyce und J. Quaney als Bevollmächtigte im Beistand von D. Fennelly, BL, und P. Gallagher, SC, – der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten, – der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel, D. Dubois, J. Illouz, E. de Moustier und T. Stéhelin als Bevollmächtigte, – der zyprischen Regierung, vertreten durch I. Neophytou als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. Hanje und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, D. Lutostańska und J. Sawicka als Bevollmächtigte, – der finnischen Regierung, vertreten durch A. Laine und M. Pere als Bevollmächtigte, – der schwedischen Regierung, vertreten durch H. Eklinder, A. Falk, J. Lundberg, C. Meyer-Seitz, R. Shahsavan Eriksson und H. Shev als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, S. L. Kalėda, H. Kranenborg, M. Wasmeier und F. Wilman als Bevollmächtigte, – des Europäischen Datenschutzbeauftragten, vertreten durch A. Buchta, D. Nardi, N. Stolič und K. Ujazdowski als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. November 2021 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl. 2009, L 337, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2002/58) im Licht der Art. 6 bis 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 4 Abs. 2 EUV. 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen (Deutschland), auf der einen Seite und der SpaceNet AG (Rechtssache C‑793/19) sowie der Telekom Deutschland GmbH (Rechtssache C‑794/19) auf der anderen Seite wegen der den Letztgenannten auferlegten Verpflichtung, Verkehrs- und Standortdaten betreffend die Telekommunikation ihrer Kunden auf Vorrat zu speichern. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 95/46/EG 3 Die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31) wurde durch die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46 (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1) mit Wirkung vom 25. Mai 2018 aufgehoben. 4 Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 95/46 bestimmte: „Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten, – die für die Ausübung von Tätigkeiten erfolgt, die nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, beispielsweise Tätigkeiten gemäß den Titeln V und VI des Vertrags über die Europäische Union, und auf keinen Fall auf Verarbeitungen betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates (einschließlich seines wirtschaftlichen Wohls, wenn die Verarbeitung die Sicherheit des Staates berührt) und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich; – die von einer natürlichen Person zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten vorgenommen wird.“ Richtlinie 2002/58 5 In den Erwägungsgründen 2, 6, 7 und 11 der Richtlinie 2002/58 heißt es: „(2) Ziel dieser Richtlinie ist die Achtung der Grundrechte; sie steht insbesondere im Einklang mit den durch die [Charta] anerkannten Grundsätzen. Insbesondere soll mit dieser Richtlinie gewährleistet werden, dass die in den Artikeln 7 und 8 [der] Charta niedergelegten Rechte uneingeschränkt geachtet werden. …. (6) Das Internet revolutioniert die herkömmlichen Marktstrukturen, indem es eine gemeinsame, weltweite Infrastruktur für die Bereitstellung eines breiten Spektrums elektronischer Kommunikationsdienste bietet. Öffentlich zugängliche elektronische Kommunikationsdienste über das Internet eröffnen neue Möglichkeiten für die Nutzer, bilden aber auch neue Risiken in Bezug auf ihre personenbezogenen Daten und ihre Privatsphäre. (7) Für öffentliche Kommunikationsnetze sollten besondere rechtliche, ordnungspolitische und technische Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und der berechtigten Interessen juristischer Personen erlassen werden, insbesondere im Hinblick auf die zunehmenden Fähigkeiten zur automatischen Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten über Teilnehmer und Nutzer. …. (11) Wie die Richtlinie [95/46] gilt auch die vorliegende Richtlinie nicht für Fragen des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten in Bereichen, die nicht unter das Gemeinschaftsrecht fallen. Deshalb hat sie keine Auswirkungen auf das bestehende Gleichgewicht zwischen dem Recht des Einzelnen auf Privatsphäre und der Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Maßnahmen nach Artikel 15 Absatz 1 dieser Richtlinie zu ergreifen, die für den Schutz der öffentlichen Sicherheit, für die Landesverteidigung, für die Sicherheit des Staates (einschließlich des wirtschaftlichen Wohls des Staates, soweit die Tätigkeiten die Sicherheit des Staates berühren) und für die Durchsetzung strafrechtlicher Bestimmungen erforderlich sind. Folglich betrifft diese Richtlinie nicht die Möglichkeit der Mitgliedstaaten zum rechtmäßigen Abfangen elektronischer Nachrichten oder zum Ergreifen anderer Maßnahmen, sofern dies erforderlich ist, um einen dieser Zwecke zu erreichen, und sofern dies im Einklang mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in ihrer Auslegung durch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfolgt. Diese Maßnahmen müssen sowohl geeignet sein als auch in einem strikt angemessenen Verhältnis zum intendierten Zweck stehen und ferner innerhalb einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein sowie angemessenen Garantien gemäß der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten entsprechen.“ 6 Art. 1 („Geltungsbereich und Zielsetzung“) der Richtlinie bestimmt: „(1)   Diese Richtlinie sieht die Harmonisierung der Vorschriften der Mitgliedstaaten vor, die erforderlich sind, um einen gleichwertigen Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten, insbesondere des Rechts auf Privatsphäre und Vertraulichkeit, in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der elektronischen Kommunikation sowie den freien Verkehr dieser Daten und von elektronischen Kommunikationsgeräten und ‑diensten in der Gemeinschaft zu gewährleisten. (2)   Die Bestimmungen dieser Richtlinie stellen eine Detaillierung und Ergänzung der Richtlinie [95/46] im Hinblick auf die in Absatz 1 genannten Zwecke dar. Darüber hinaus regeln sie den Schutz der berechtigten Interessen von Teilnehmern, bei denen es sich um juristische Personen handelt. (3)   Diese Richtlinie gilt nicht für Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich des [AEU‑]Vertrags … fallen, beispielsweise Tätigkeiten gemäß den Titeln V und VI des [EU‑]Vertrags …, und auf keinen Fall für Tätigkeiten betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates (einschließlich seines wirtschaftlichen Wohls, wenn die Tätigkeit die Sicherheit des Staates berührt) und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich.“ 7 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie heißt es: „Sofern nicht anders angegeben, gelten die Begriffsbestimmungen der Richtlinie [95/46] und der Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und ‑dienste (‚Rahmenrichtlinie‘) [ABl. 2002, L 108, S. 33] auch für diese Richtlinie. Weiterhin bezeichnet im Sinne dieser Richtlinie der Ausdruck a) ‚Nutzer‘ eine natürliche Person, die einen öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsdienst für private oder geschäftliche Zwecke nutzt, ohne diesen Dienst notwendigerweise abonniert zu haben; b) ‚Verkehrsdaten‘ Daten, die zum Zwecke der Weiterleitung einer Nachricht an ein elektronisches Kommunikationsnetz oder zum Zwecke der Fakturierung dieses Vorgangs verarbeitet werden; c) ‚Standortdaten‘ Daten, die in einem elektronischen Kommunikationsnetz oder von einem elektronischen Kommunikationsdienst verarbeitet werden und die den geografischen Standort des Endgeräts eines Nutzers eines öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsdienstes angeben; d) ‚Nachricht‘ jede Information, die zwischen einer endlichen Zahl von Beteiligten über einen öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsdienst ausgetauscht oder weitergeleitet wird. Dies schließt nicht Informationen ein, die als Teil eines Rundfunkdienstes über ein elektronisches Kommunikationsnetz an die Öffentlichkeit weitergeleitet werden, soweit die Informationen nicht mit dem identifizierbaren Teilnehmer oder Nutzer, der sie erhält, in Verbindung gebracht werden können; …“ 8 Art. 3 („Betroffene Dienste“) der Richtlinie 2002/58 sieht vor: „Diese Richtlinie gilt für die Verarbeitung personenbezogener Daten in Verbindung mit der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste in öffentlichen Kommunikationsnetzen in der Gemeinschaft, einschließlich öffentlicher Kommunikationsnetze, die Datenerfassungs- und Identifizierungsgeräte unterstützen.“ 9 In Art. 5 („Vertraulichkeit der Kommunikation“) der Richtlinie heißt es: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicher. Insbesondere untersagen sie das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch andere Personen als die Nutzer, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, es sei denn, dass diese Personen gemäß Artikel 15 Absatz 1 gesetzlich dazu ermächtigt sind. Diese Bestimmung steht – unbeschadet des Grundsatzes der Vertraulichkeit – der für die Weiterleitung einer Nachricht erforderlichen technischen Speicherung nicht entgegen. …. (3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Speicherung von Informationen oder der Zugriff auf Informationen, die bereits im Endgerät eines Teilnehmers oder Nutzers gespeichert sind, nur gestattet ist, wenn der betreffende Teilnehmer oder Nutzer auf der Grundlage von klaren und umfassenden Informationen, die er gemäß der Richtlinie [95/46] u. a. über die Zwecke der Verarbeitung erhält, seine Einwilligung gegeben hat. Dies steht einer technischen Speicherung oder dem Zugang nicht entgegen, wenn der alleinige Zweck die Durchführung der Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz ist oder wenn dies unbedingt erforderlich ist, damit der Anbieter eines Dienstes der Informationsgesellschaft, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wurde, diesen Dienst zur Verfügung stellen kann.“ 10 Art. 6 („Verkehrsdaten“) der Richtlinie 2002/58 bestimmt: „(1)   Verkehrsdaten, die sich auf Teilnehmer und Nutzer beziehen und vom Betreiber eines öffentlichen Kommunikationsnetzes oder eines öffentlich zugänglichen Kommunikationsdienstes verarbeitet und gespeichert werden, sind unbeschadet der Absätze 2, 3 und 5 des vorliegenden Artikels und des Artikels 15 Absatz 1 zu löschen oder zu anonymisieren, sobald sie für die Übertragung einer Nachricht nicht mehr benötigt werden. (2)   Verkehrsdaten, die zum Zwecke der Gebührenabrechnung und der Bezahlung von Zusammenschaltungen erforderlich sind, dürfen verarbeitet werden. Diese Verarbeitung ist nur bis zum Ablauf der Frist zulässig, innerhalb deren die Rechnung rechtlich angefochten oder der Anspruch auf Zahlung geltend gemacht werden kann. (3)   Der Betreiber eines öffentlich zugänglichen elektronischen Kommunikationsdienstes kann die in Absatz 1 genannten Daten zum Zwecke der Vermarktung elektronischer Kommunikationsdienste oder zur Bereitstellung von Diensten mit Zusatznutzen im dazu erforderlichen Maß und innerhalb des dazu oder zur Vermarktung erforderlichen Zeitraums verarbeiten, sofern der Teilnehmer oder der Nutzer, auf den sich die Daten beziehen, zuvor seine Einwilligung gegeben hat. Der Nutzer oder der Teilnehmer hat die Möglichkeit, seine Einwilligung zur Verarbeitung der Verkehrsdaten jederzeit zu widerrufen. …. (5)   Die Verarbeitung von Verkehrsdaten gemäß den Absätzen 1, 2, 3 und 4 darf nur durch Personen erfolgen, die auf Weisung der Betreiber öffentlicher Kommunikationsnetze und öffentlich zugänglicher Kommunikationsdienste handeln und die für Gebührenabrechnungen oder Verkehrsabwicklung, Kundenanfragen, Betrugsermittlung, die Vermarktung der elektronischen Kommunikationsdienste oder für die Bereitstellung eines Dienstes mit Zusatznutzen zuständig sind; ferner ist sie auf das für diese Tätigkeiten erforderliche Maß zu beschränken. …“ 11 Art. 9 („Andere Standortdaten als Verkehrsdaten“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor: „Können andere Standortdaten als Verkehrsdaten in Bezug auf die Nutzer oder Teilnehmer von öffentlichen Kommunikationsnetzen oder öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten verarbeitet werden, so dürfen diese Daten nur im zur Bereitstellung von Diensten mit Zusatznutzen erforderlichen Maß und innerhalb des dafür erforderlichen Zeitraums verarbeitet werden, wenn sie anonymisiert wurden oder wenn die Nutzer oder Teilnehmer ihre Einwilligung gegeben haben. Der Diensteanbieter muss den Nutzern oder Teilnehmern vor Einholung ihrer Einwilligung mitteilen, welche Arten anderer Standortdaten als Verkehrsdaten verarbeitet werden, für welche Zwecke und wie lange das geschieht, und ob die Daten zum Zwecke der Bereitstellung des Dienstes mit Zusatznutzen an einen Dritten weitergegeben werden. …“ 12 Art. 15 („Anwendung einzelner Bestimmungen der Richtlinie [95/46]“) Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 sieht vor: „Die Mitgliedstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie [95/46] für die nationale Sicherheit (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten unter anderem durch Rechtsvorschriften vorsehen, dass Daten aus den in diesem Absatz aufgeführten Gründen während einer begrenzten Zeit aufbewahrt werden. Alle in diesem Absatz genannten Maßnahmen müssen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einschließlich den in Artikel 6 Absätze 1 und 2 [EUV] niedergelegten Grundsätzen entsprechen.“ Deutsches Recht TKG 13 § 113a Abs. 1 Satz 1 des Telekommunikationsgesetzes (TKG) vom 22. Juni 2004 (BGBl. 2004 I S. 1190) in seiner auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung lautet: „Die Verpflichtungen zur Speicherung von Verkehrsdaten, zur Verwendung der Daten und zur Datensicherheit nach den §§ 113b bis 113g beziehen sich auf Erbringer öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste für Endnutzer.“ 14 § 113b TKG sieht vor: „(1)   Die in § 113a Absatz 1 Genannten sind verpflichtet, Daten wie folgt im Inland zu speichern: 1. Daten nach den Absätzen 2 und 3 für zehn Wochen, 2. Standortdaten nach Absatz 4 für vier Wochen. (2)   Die Erbringer öffentlich zugänglicher Telefondienste speichern 1. die Rufnummer oder eine andere Kennung des anrufenden und des angerufenen Anschlusses sowie bei Um- oder Weiterschaltungen jedes weiteren beteiligten Anschlusses, 2. Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Verbindung unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone, 3. Angaben zu dem genutzten Dienst, wenn im Rahmen des Telefondienstes unterschiedliche Dienste genutzt werden können, 4. im Fall mobiler Telefondienste ferner a) die internationale Kennung mobiler Teilnehmer für den anrufenden und den angerufenen Anschluss, b) die internationale Kennung des anrufenden und des angerufenen Endgerätes, c) Datum und Uhrzeit der ersten Aktivierung des Dienstes unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone, wenn Dienste im Voraus bezahlt wurden, 5. im Fall von Internet-Telefondiensten auch die Internetprotokoll-Adressen des anrufenden und des angerufenen Anschlusses und zugewiesene Benutzerkennungen. Satz 1 gilt entsprechend 1. bei der Übermittlung einer Kurz‑, Multimedia- oder ähnlichen Nachricht; hierbei treten an die Stelle der Angaben nach Satz 1 Nummer 2 die Zeitpunkte der Versendung und des Empfangs der Nachricht; 2. für unbeantwortete oder wegen eines Eingriffs des Netzwerkmanagements erfolglose Anrufe … (3)   Die Erbringer öffentlich zugänglicher Internetzugangsdienste speichern 1. die dem Teilnehmer für eine Internetznutzung zugewiesene Internetprotokoll-Adresse, 2. eine eindeutige Kennung des Anschlusses, über den die Internetnutzung erfolgt, sowie eine zugewiesene Benutzerkennung, 3. Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Internetnutzung unter der zugewiesenen Internetprotokoll-Adresse unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone. (4)   Im Fall der Nutzung mobiler Telefondienste sind die Bezeichnungen der Funkzellen zu speichern, die durch den anrufenden und den angerufenen Anschluss bei Beginn der Verbindung genutzt wurden. Bei öffentlich zugänglichen Internetzugangsdiensten ist im Fall der mobilen Nutzung die Bezeichnung der bei Beginn der Internetverbindung genutzten Funkzelle zu speichern. Zusätzlich sind die Daten vorzuhalten, aus denen sich die geografische Lage und die Hauptstrahlrichtungen der die jeweilige Funkzelle versorgenden Funkantennen ergeben. (5)   Der Inhalt der Kommunikation, Daten über aufgerufene Internetseiten und Daten von Diensten der elektronischen Post dürfen auf Grund dieser Vorschrift nicht gespeichert werden. (6)   Daten, die den in § 99 Absatz 2 genannten Verbindungen zugrunde liegen, dürfen auf Grund dieser Vorschrift nicht gespeichert werden. Dies gilt entsprechend für Telefonverbindungen, die von den in § 99 Absatz 2 genannten Stellen ausgehen. § 99 Absatz 2 Satz 2 bis 7 gilt entsprechend. …“ 15 Bei den in § 99 Abs. 2 TKG genannten Verbindungen, auf die § 113b Abs. 6 TKG Bezug nimmt, handelt es sich um Verbindungen zu Anschlüssen von Personen, Behörden und Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen, die grundsätzlich anonym bleibenden Anrufern ganz oder überwiegend telefonische Beratung in seelischen oder sozialen Notlagen anbieten und die selbst oder deren Mitarbeiter insoweit besonderen Verschwiegenheitsverpflichtungen unterliegen. Voraussetzung für die Ausnahme ist nach § 99 Abs. 2 Satz 2 und 4 TKG, dass die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen die angerufenen Anschlüsse auf Antrag in eine von ihr erstellte Liste aufgenommen hat, nachdem die Inhaber der Anschlüsse ihre Aufgabenbestimmung durch Bescheinigung einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts nachgewiesen haben. 16 In § 113c Abs. 1 und 2 TKG heißt es: „(1)   Die auf Grund des § 113b gespeicherten Daten dürfen 1. an eine Strafverfolgungsbehörde übermittelt werden, soweit diese die Übermittlung unter Berufung auf eine gesetzliche Bestimmung, die ihr eine Erhebung der in § 113b genannten Daten zur Verfolgung besonders schwerer Straftaten erlaubt, verlangt; 2. an eine Gefahrenabwehrbehörde der Länder übermittelt werden, soweit diese die Übermittlung unter Berufung auf eine gesetzliche Bestimmung, die ihr eine Erhebung der in § 113b genannten Daten zur Abwehr einer konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für den Bestand des Bundes oder eines Landes erlaubt, verlangt; …. (2)   Für andere Zwecke als die in Absatz 1 genannten dürfen die auf Grund des § 113b gespeicherten Daten von den nach § 113a Absatz 1 Verpflichteten nicht verwendet werden.“ 17 § 113d TKG sieht vor: „Der nach § 113a Absatz 1 Verpflichtete hat sicherzustellen, dass die auf Grund der Speicherpflicht nach § 113b Absatz 1 gespeicherten Daten durch technische und organisatorische Maßnahmen nach dem Stand der Technik gegen unbefugte Kenntnisnahme und Verwendung geschützt werden. Die Maßnahmen umfassen insbesondere 1. den Einsatz eines besonders sicheren Verschlüsselungsverfahrens, 2. die Speicherung in gesonderten, von den für die üblichen betrieblichen Aufgaben getrennten Speichereinrichtungen, 3. die Speicherung mit einem hohen Schutz vor dem Zugriff aus dem Internet auf vom Internet entkoppelten Datenverarbeitungssystemen, 4. die Beschränkung des Zutritts zu den Datenverarbeitungsanlagen auf Personen, die durch den Verpflichteten besonders ermächtigt sind, und 5. die notwendige Mitwirkung von mindestens zwei Personen beim Zugriff auf die Daten, die dazu durch den Verpflichteten besonders ermächtigt worden sind.“ 18 Art. 113e TKG lautet: „(1)   Der nach § 113a Absatz 1 Verpflichtete hat sicherzustellen, dass für Zwecke der Datenschutzkontrolle jeder Zugriff, insbesondere das Lesen, Kopieren, Ändern, Löschen und Sperren der auf Grund der Speicherpflicht nach § 113b Absatz 1 gespeicherten Daten protokolliert wird. Zu protokollieren sind 1. der Zeitpunkt des Zugriffs, 2. die auf die Daten zugreifenden Personen, 3. Zweck und Art des Zugriffs. 2.   Für andere Zwecke als die der Datenschutzkontrolle dürfen die Protokolldaten nicht verwendet werden. 3.   Der nach § 113a Absatz 1 Verpflichtete hat sicherzustellen, dass die Protokolldaten nach einem Jahr gelöscht werden.“ 19 Zur Gewährleistung eines besonders hohen Standards der Datensicherheit und Datenqualität erstellt die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen nach § 113f Abs. 1 TKG einen Anforderungskatalog, der gemäß § 113f Abs. 2 TKG fortlaufend zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen ist. § 113g TKG verlangt die Aufnahme spezifischer Schutzmaßnahmen in das vom Verpflichteten vorzulegende Sicherheitskonzept. StPO 20 § 100g Abs. 2 Satz 1 der Strafprozessordnung (StPO) lautet: „Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, dass jemand als Täter oder Teilnehmer eine der in Satz 2 bezeichneten besonders schweren Straftaten begangen hat oder in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, eine solche Straftat zu begehen versucht hat, und wiegt die Tat auch im Einzelfall besonders schwer, dürfen die nach § 113b [TKG] gespeicherten Verkehrsdaten erhoben werden, soweit die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre und die Erhebung der Daten in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Sache steht.“ 21 § 101a Abs. 1 StPO regelt für die Erhebung von Verkehrsdaten nach § 100g StPO einen Richtervorbehalt. Die Begründung des Beschlusses muss nach § 101a Abs. 2 StPO einzelfallbezogen die wesentlichen Erwägungen zur Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme darlegen. § 101a Abs. 6 StPO sieht eine Pflicht zur Benachrichtigung der Beteiligten der betroffenen Telekommunikation vor. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 22 SpaceNet und Telekom Deutschland erbringen in Deutschland öffentlich zugängliche Internetzugangsdienste. Telekom Deutschland erbringt darüber hinaus, ebenfalls in Deutschland, öffentlich zugängliche Telefondienste. 23 Diese Diensteanbieter fochten vor dem Verwaltungsgericht Köln (Deutschland) die ihnen durch § 113a Abs. 1 in Verbindung mit § 113b TKG auferlegte Pflicht an, ab dem 1. Juli 2017 Verkehrs- und Standortdaten betreffend die Telekommunikation ihrer Kunden auf Vorrat zu speichern. 24 Mit Urteilen vom 20. April 2018 entschied das Verwaltungsgericht Köln, dass SpaceNet und Telekom Deutschland nicht verpflichtet seien, die in § 113b Abs. 3 TKG genannten Verkehrsdaten in Bezug auf die Telekommunikation der Kunden, denen sie einen Internetzugang zur Verfügung stellten, auf Vorrat zu speichern, und dass Telekom Deutschland ferner nicht verpflichtet sei, die in § 113b Abs. 2 Satz 1 und 2 TKG genannten Verkehrsdaten in Bezug auf die Telekommunikation der Kunden, denen sie einen Zugang zu öffentlichen Telefondiensten zur Verfügung stelle, auf Vorrat zu speichern. Dieses Gericht war nämlich im Licht des Urteils vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a. (C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970), der Auffassung, dass diese Pflicht zur Vorratsspeicherung gegen das Unionsrecht verstoße. 25 Die Bundesrepublik Deutschland legte beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Revision gegen diese Urteile ein. 26 Das Bundesverwaltungsgericht ist der Ansicht, dass die Frage, ob die durch § 113a Abs. 1 in Verbindung mit § 113b TKG auferlegte Pflicht zur Vorratsspeicherung gegen das Unionsrecht verstoße, von der Auslegung der Richtlinie 2002/58 abhänge. 27 Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Gerichtshof bereits im Urteil vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a. (C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970), abschließend geklärt habe, dass Regelungen über die Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten sowie über den Zugang der nationalen Behörden zu diesen Daten grundsätzlich in den Geltungsbereich der Richtlinie 2002/58 fielen. 28 Außerdem könne die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Pflicht zur Vorratsspeicherung, soweit sie die Rechte aus Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 beschränke, nur auf der Grundlage von Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie gerechtfertigt werden. 29 Insoweit gehe aus dem Urteil vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a. (C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970), hervor, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie des Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sei, dass er einer nationalen Regelung entgegenstehe, die für Zwecke der Bekämpfung von Straftaten eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung sämtlicher Verkehrs- und Standortdaten aller Teilnehmer und registrierten Nutzer in Bezug auf alle elektronischen Kommunikationsmittel vorsehe. 30 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts verlangt die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung jedoch wie die nationalen Regelungen, um die es in den Rechtssachen ging, in denen das genannte Urteil ergangen ist, weder einen Anlass für die Speicherung der Daten noch irgendeinen Zusammenhang zwischen den gespeicherten Daten und einer Straftat oder einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Diese nationale Regelung schreibe nämlich eine anlasslose, flächendeckende und personell, zeitlich und geografisch undifferenzierte Speicherung eines Großteils der relevanten Telekommunikations-Verkehrsdaten vor. 31 Das vorlegende Gericht ist allerdings der Auffassung, dass nicht ausgeschlossen sei, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Pflicht zur Vorratsspeicherung nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 gerechtfertigt sein könne. 32 Erstens verlange die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung im Gegensatz zu den nationalen Regelungen, um die es in den Rechtssachen gegangen sei, in denen das Urteil vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a. (C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970), ergangen sei, nicht die Vorratsspeicherung sämtlicher Verkehrsdaten bezüglich der Telekommunikation aller Teilnehmer und registrierten Nutzer in Bezug auf alle elektronischen Kommunikationsmittel. Von der Speicherpflicht ausgenommen sei nicht nur der Inhalt der Kommunikation, sondern es dürften auch Daten über aufgerufene Internetseiten, Daten von E‑Mail-Diensten sowie Daten, die den Verbindungen zu oder von bestimmten Anschlüssen in sozialen oder kirchlichen Bereichen zugrunde lägen, nicht gespeichert werden, wie aus § 113b Abs. 5 und 6 TKG hervorgehe. 33 Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass § 113b Abs. 1 TKG eine Speicherungsfrist von vier Wochen für Standortdaten und von zehn Wochen für Verkehrsdaten vorsehe, während die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG (ABl. 2006, L 105, S. 54), die den nationalen Regelungen zugrunde gelegen habe, um die es in den Rechtssachen gegangen sei, in denen das Urteil vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a. (C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970), ergangen sei, eine Speicherungsfrist zwischen sechs Monaten und zwei Jahren vorgesehen habe. 34 Zwar genügten die Ausnahme bestimmter Kommunikationsmittel oder Datenkategorien und die Begrenzung der Speicherungsfrist nicht, um jede Gefahr der Erstellung eines umfassenden Profils der betroffenen Personen zu beseitigen, jedoch sei diese Gefahr im Rahmen der Anwendung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung zumindest erheblich verringert. 35 Drittens enthalte diese Regelung strenge Beschränkungen in Bezug auf den Schutz der gespeicherten Daten und den Zugang hierzu. Somit gewährleiste sie zum einen einen wirksamen Schutz der auf Vorrat gespeicherten Daten vor Missbrauchsrisiken sowie vor jedem unberechtigten Zugang. Zum anderen dürften die auf Vorrat gespeicherten Daten nur zur Bekämpfung schwerer Straftaten oder zur Abwehr einer konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für den Bestand des Bundes oder eines Landes verwendet werden. 36 Viertens könnte nach Ansicht des vorlegenden Gerichts der Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 dahin, dass jede anlasslose Vorratsdatenspeicherung mit dem Unionsrecht allgemein unvereinbar wäre, die Handlungspflicht der Mitgliedstaaten entgegenstehen, die sich aus dem in Art. 6 der Charta verankerten Recht auf Sicherheit ergebe. 37 Fünftens würde nach Auffassung des vorlegenden Gerichts eine Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2002/58 dahin, dass er einer allgemeinen Vorratsspeicherung der Daten entgegensteht, den Handlungsspielraum des nationalen Gesetzgebers in einem Bereich der Strafverfolgung und der öffentlichen Sicherheit, der nach Art. 4 Abs. 2 EUV weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten fällt, erheblich einschränken. 38 Sechstens ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen sei und weist darauf hin, dass dieser entschieden habe, dass Art. 8 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nationalen Bestimmungen, die eine Massenüberwachung des grenzüberschreitenden Datenverkehrs vorsähen, angesichts der Bedrohungen, denen zahlreiche Staaten derzeit ausgesetzt seien, und den technologischen Instrumenten, auf die sich Terroristen und Kriminelle nunmehr zur Begehung strafbarer Handlungen stützen könnten, nicht entgegenstehe. 39 Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Art. 15 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie des Art. 52 Abs. 1 der Charta einerseits und des Art. 6 der Charta sowie des Art. 4 EUV andererseits dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, welche die Betreiber öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste verpflichtet, Verkehrs- und Standortdaten der Endnutzer dieser Dienste auf Vorrat zu speichern, wenn 1. diese Verpflichtung keinen spezifischen Anlass in örtlicher, zeitlicher oder räumlicher Hinsicht voraussetzt, 2. Gegenstand der Pflicht zur Speicherung bei der Erbringung öffentlich zugänglicher Telefondienste – einschließlich der Übermittlung von Kurz‑, Multimedia- oder ähnlichen Nachrichten sowie unbeantworteter oder erfolgloser Anrufe – folgende Daten sind: a) die Rufnummer oder eine andere Kennung des anrufenden und des angerufenen Anschlusses sowie bei Um- oder Weiterschaltungen jedes weiteren beteiligten Anschlusses, b) Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Verbindung bzw. – bei der Übermittlung einer Kurz‑, Multimedia- oder ähnlichen Nachricht – die Zeitpunkte der Versendung und des Empfangs der Nachricht unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone, c) Angaben zu dem genutzten Dienst, wenn im Rahmen des Telefondienstes unterschiedliche Dienste genutzt werden können, d) im Fall mobiler Telefondienste ferner i) die internationale Kennung mobiler Teilnehmer für den anrufenden und den angerufenen Anschluss, ii) die internationale Kennung des anrufenden und des angerufenen Endgerätes, iii) Datum und Uhrzeit der ersten Aktivierung des Dienstes unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone, wenn Dienste im Voraus bezahlt wurden, iv) die Bezeichnungen der Funkzellen, die durch den anrufenden und den angerufenen Anschluss bei Beginn der Verbindung genutzt wurden, e) im Fall von Internet-Telefondiensten auch die Internetprotokoll-Adressen des anrufenden und des angerufenen Anschlusses und zugewiesene Benutzerkennungen, 3. Gegenstand der Pflicht zur Speicherung bei der Erbringung öffentlich zugänglicher Internetzugangsdienste folgende Daten sind: a) die dem Teilnehmer für eine Internetnutzung zugewiesene Internetprotokoll-Adresse, b) eine eindeutige Kennung des Anschlusses, über den die Internetnutzung erfolgt, sowie eine zugewiesene Benutzerkennung, c) Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Internetnutzung unter der zugewiesenen Internetprotokoll-Adresse unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone, d) im Fall der mobilen Nutzung die Bezeichnung der bei Beginn der Internetverbindung genutzten Funkzelle, 4. folgende Daten nicht gespeichert werden dürfen: a) der Inhalt der Kommunikation, b) Daten über aufgerufene Internetseiten, c) Daten von Diensten der elektronischen Post, d) Daten, die den Verbindungen zu oder von bestimmten Anschlüssen von Personen, Behörden und Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen zugrunde liegen, 5. die Dauer der Speicherung auf Vorrat für Standortdaten, d. h. die Bezeichnung der genutzten Funkzelle, vier Wochen und für die übrigen Daten zehn Wochen beträgt, 6. ein wirksamer Schutz der auf Vorrat gespeicherten Daten vor Missbrauchsrisiken sowie vor jedem unberechtigten Zugang gewährleistet ist, und 7. die auf Vorrat gespeicherten Daten nur zur Verfolgung besonders schwerer Straftaten und zur Abwehr einer konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für den Bestand des Bundes oder eines Landes verwendet werden dürfen, mit Ausnahme der dem Teilnehmer für eine Internetnutzung zugewiesenen Internetprotokoll-Adresse, deren Verwendung im Rahmen einer Bestandsdatenauskunft zur Verfolgung jeglicher Straftaten, zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sowie zur Erfüllung der Aufgaben der Nachrichtendienste zulässig ist? Verfahren vor dem Gerichtshof 40 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 3. Dezember 2019 sind die Rechtssachen C‑793/19 und C‑794/19 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. 41 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. Juli 2020 ist das Verfahren in den verbundenen Rechtssachen C‑793/19 und C‑794/19 gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs bis zur Verkündung des Urteils in der Rechtssache La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18) ausgesetzt worden. 42 Nachdem der Gerichtshof am 6. Oktober 2020 sein Urteil in der Rechtssache La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791) erlassen hatte, hat der Präsident des Gerichtshofs am 8. Oktober 2020 die Fortsetzung des Verfahrens in den verbundenen Rechtssachen C‑793/19 und C‑794/19 angeordnet. 43 Das vorlegende Gericht, dem die Kanzlei dieses Urteil übermittelt hatte, hat mitgeteilt, dass es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalte. 44 Insoweit hat das vorlegende Gericht zunächst darauf hingewiesen, dass die in der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung vorgesehene Speicherpflicht weniger Daten und eine kürzere Speicherungsfrist betreffe, als sie die nationalen Regelungen vorgesehen hätten, um die es in den Rechtssachen gegangen sei, in denen das Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791), ergangen sei. Diese Besonderheiten verringerten die Möglichkeit, dass aus den gespeicherten Daten sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen, deren Daten auf Vorrat gespeichert worden seien, gezogen würden. 45 Sodann hat das vorlegende Gericht erneut darauf hingewiesen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung gewährleiste, dass die auf Vorrat gespeicherten Daten wirksam vor den Risiken eines Missbrauchs und eines unberechtigten Zugangs geschützt seien. 46 Schließlich hat es hervorgehoben, dass weiterhin Unsicherheiten hinsichtlich der Frage bestünden, ob die in der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Speicherung der IP-Adressen mit dem Unionsrecht vereinbar sei, weil zwischen den Rn. 155 und 168 des Urteils vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791), eine Inkohärenz bestehe. So ergebe sich aus diesem Urteil eine Unsicherheit hinsichtlich der Frage, ob der Gerichtshof für die Vorratsspeicherung der IP-Adressen einen mit dem Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit, der Bekämpfung schwerer Kriminalität oder der Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit zusammenhängenden Anlass verlange, wie sich aus Rn. 168 des genannten Urteils ergebe, oder ob die Vorratsspeicherung der IP-Adressen auch bei Fehlen eines konkreten Anlasses zulässig sei und lediglich die Verwendung der gespeicherten Daten durch diese Ziele begrenzt werde, wie sich aus Rn. 155 des genannten Urteils ergebe. Zur Vorlagefrage 47 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 6 bis 8 und 11 sowie des Art. 52 Abs. 1 der Charta und des Art. 4 Abs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die – von bestimmten Ausnahmen abgesehen – die Betreiber öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste für die in Art. 15 Abs. 1 der genannten Richtlinie aufgeführten Zwecke, insbesondere zur Verfolgung schwerer Straftaten oder zur Abwehr einer konkreten Gefahr für die nationale Sicherheit, zu einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung eines Großteils der Verkehrs- und Standortdaten der Endnutzer dieser Dienste verpflichtet und eine Speicherungsfrist von mehreren Wochen sowie Regeln vorsieht, die einen wirksamen Schutz der auf Vorrat gespeicherten Daten vor Missbrauchsrisiken sowie vor jedem unberechtigten Zugang gewährleisten sollen. Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2002/58 48 Was das Vorbringen Irlands sowie der französischen, der niederländischen, der polnischen und der schwedischen Regierung anbelangt, die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung falle nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2002/58, da sie insbesondere zum Schutz der nationalen Sicherheit erlassen worden sei, genügt der Hinweis, dass eine nationale Regelung, die wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende die Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste insbesondere zum Schutz der nationalen Sicherheit und zur Bekämpfung der Kriminalität zur Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten verpflichtet, in den Geltungsbereich der Richtlinie 2002/58 fällt (Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 104). Zur Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 Hinweis auf die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Grundsätze 49 Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, und insbesondere deren Entstehungsgeschichte (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Bereits aus dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 geht hervor, dass die Rechtsvorschriften, zu deren Erlass die Richtlinie die Mitgliedstaaten unter den in der Richtlinie festgelegten Voraussetzungen ermächtigt, lediglich darauf abzielen können, die u. a. in den Art. 5, 6 und 9 der Richtlinie 2002/58 vorgesehenen Rechte und Pflichten zu „beschränken“ (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 33). 51 Was das durch diese Richtlinie eingeführte System betrifft, in das sich ihr Art. 15 Abs. 1 einfügt, ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 1 Sätze 1 und 2 der Richtlinie verpflichtet sind, die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicherzustellen. Sie sind insbesondere verpflichtet, das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch andere Personen als die Nutzer zu untersagen, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, es sei denn, dass diese Personen gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie gesetzlich dazu ermächtigt sind (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 34). 52 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 der Grundsatz der Vertraulichkeit sowohl elektronischer Nachrichten als auch der damit verbundenen Verkehrsdaten aufgestellt wird, der u. a. das grundsätzliche Verbot für jede andere Person als die Nutzer, ohne deren Einwilligung solche Nachrichten und Daten auf Vorrat zu speichern, impliziert (Urteile vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 107, sowie vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 35). 53 Diese Bestimmung spiegelt das vom Unionsgesetzgeber beim Erlass der Richtlinie 2002/58 verfolgte Ziel wider. Aus der Begründung des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (KOM[2000] 385 endg.), aus dem die Richtlinie 2002/58 hervorgegangen ist, ergibt sich nämlich, dass der Unionsgesetzgeber sicherstellen wollte, „dass für alle elektronischen Kommunikationsdienste unabhängig von der zugrunde liegenden Technologie weiterhin ein hochgradiger Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre gewährleistet bleibt“. Die genannte Richtlinie soll somit, wie sich u. a. aus ihren Erwägungsgründen 6 und 7 ergibt, die Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste vor den Risiken für ihre personenbezogenen Daten und ihre Privatsphäre schützen, die sich aus den neuen Technologien und vor allem den zunehmenden Fähigkeiten zur automatisierten Speicherung und Verarbeitung von Daten ergeben. Insbesondere ist es, wie im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie zum Ausdruck kommt, der Wille des Unionsgesetzgebers, die uneingeschränkte Achtung der in den die Achtung des Privatlebens bzw. den Schutz personenbezogener Daten garantierenden Art. 7 und 8 der Charta niedergelegten Rechte zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 54 Durch den Erlass der Richtlinie 2002/58 hat der Unionsgesetzgeber somit diese Rechte konkretisiert, so dass die Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel grundsätzlich erwarten dürfen, dass ihre Nachrichten und die damit verbundenen Verkehrsdaten anonym bleiben und nicht gespeichert werden dürfen, es sei denn, sie haben darin eingewilligt (Urteile vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 109, sowie vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 37). 55 Was die Verarbeitung und Speicherung von sich auf Teilnehmer und Nutzer beziehenden Verkehrsdaten durch die Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste anbelangt, sieht Art. 6 der Richtlinie 2002/58 in Abs. 1 vor, dass diese Daten zu löschen oder zu anonymisieren sind, sobald sie für die Übertragung einer Nachricht nicht mehr benötigt werden, und stellt in Abs. 2 klar, dass Verkehrsdaten, die zum Zweck der Gebührenabrechnung und der Bezahlung von Zusammenschaltungen erforderlich sind, nur bis zum Ablauf der Frist verarbeitet werden dürfen, innerhalb deren die Rechnung rechtlich angefochten oder der Anspruch auf Zahlung geltend gemacht werden kann. Andere Standortdaten als Verkehrsdaten dürfen nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie nur unter bestimmten Voraussetzungen und nur dann verarbeitet werden, wenn sie anonymisiert wurden oder wenn die Nutzer oder Teilnehmer ihre Einwilligung gegeben haben. 56 Folglich beschränkt sich die Richtlinie 2002/58 nicht darauf, den Zugang zu solchen Daten durch Garantien zu regeln, die Missbrauch verhindern sollen, sondern sie regelt insbesondere auch den Grundsatz des Verbots der Speicherung dieser Daten durch Dritte (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 39). 57 Indem Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 den Mitgliedstaaten gestattet, Rechtsvorschriften zu erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß u. a. den Art. 5, 6 und 9 dieser Richtlinie – wie sie sich aus den in Rn. 52 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsätzen der Vertraulichkeit der Kommunikation und dem Verbot der Speicherung der damit verbundenen Daten ergeben – „beschränken“, sieht diese Bestimmung eine Ausnahme von der allgemeinen Regel vor, die u. a. in den Art. 5, 6 und 9 vorgesehen ist, und ist daher nach ständiger Rechtsprechung eng auszulegen. Eine solche Bestimmung vermag es daher nicht zu rechtfertigen, dass die Ausnahme von der grundsätzlichen Verpflichtung, die Vertraulichkeit der elektronischen Kommunikation und der damit verbundenen Daten sicherzustellen, und insbesondere von dem in Art. 5 der Richtlinie 2002/58 vorgesehenen Verbot, diese Daten zu speichern, zur Regel wird, soll die letztgenannte Vorschrift nicht weitgehend ausgehöhlt werden (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Hinsichtlich der Zwecke, die eine Beschränkung der insbesondere in den Art. 5, 6 und 9 der Richtlinie 2002/58 vorgesehenen Rechte und Pflichten rechtfertigen können, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Aufzählung der in Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie genannten Zwecke abschließend ist, so dass eine aufgrund dieser Bestimmung erlassene Rechtsvorschrift tatsächlich strikt einem von ihnen dienen muss (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 59 Außerdem geht aus Art. 15 Abs. 1 Satz 3 der Richtlinie 2002/58 hervor, dass die nach dieser Vorschrift von den Mitgliedstaaten erlassenen Vorschriften die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts beachten müssen, zu denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört, und die Achtung der durch die Charta garantierten Grundrechte gewährleisten müssen. Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste durch nationale Rechtsvorschriften auferlegte Pflicht, Verkehrsdaten auf Vorrat zu speichern, um sie gegebenenfalls den zuständigen nationalen Behörden zugänglich zu machen, Fragen aufwirft, die nicht nur die Einhaltung der Art. 7 und 8 der Charta betreffen, sondern auch die in Art. 11 der Charta gewährleistete Freiheit der Meinungsäußerung, und dass diese Freiheit eine der wesentlichen Grundlagen einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft darstellt, die zu den Werten gehört, auf die sich die Europäische Union nach Art. 2 EUV gründet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 42 und 43 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Speicherung der Verkehrs- und Standortdaten als solche zum einen eine Abweichung von dem nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 für alle anderen Personen als die Nutzer geltenden Verbot der Speicherung dieser Daten darstellt und zum anderen einen Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten, die in den Art. 7 und 8 der Charta verankert sind; dabei spielt es keine Rolle, ob die betreffenden Informationen über das Privatleben sensiblen Charakter haben und ob die Betroffenen durch diesen Eingriff Nachteile erlitten haben oder ob die gespeicherten Daten in der Folge verwendet werden oder nicht (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). 61 Dieser Schluss erscheint umso gerechtfertigter, als die Verkehrs- und Standortdaten Informationen über eine Vielzahl von Aspekten des Privatlebens der Betroffenen enthalten können, einschließlich sensibler Informationen wie sexuelle Orientierung, politische Meinungen, religiöse, philosophische, gesellschaftliche oder andere Überzeugungen sowie den Gesundheitszustand, wobei solche Daten im Übrigen im Unionsrecht besonderen Schutz genießen. Aus der Gesamtheit dieser Daten können sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen, deren Daten gespeichert wurden, gezogen werden, etwa auf Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ausgeübte Tätigkeiten, soziale Beziehungen dieser Personen und das soziale Umfeld, in dem sie verkehren. Diese Daten ermöglichen insbesondere die Erstellung eines Profils der Betroffenen, das im Hinblick auf das Recht auf Achtung des Privatlebens eine ebenso sensible Information darstellt wie der Inhalt der Kommunikationen selbst (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Daher kann die Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten zu polizeilichen Zwecken zum einen das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung der Kommunikation beeinträchtigen und die Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel von der Ausübung ihrer durch Art. 11 der Charta gewährleisteten Freiheit der Meinungsäußerung abhalten; diese Wirkungen sind umso stärker, je größer die Menge und die Vielfalt der auf Vorrat gespeicherten Daten sind. Zum anderen birgt die bloße Vorratsspeicherung durch die Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste angesichts der großen Menge von Verkehrs- und Standortdaten, die durch eine Maßnahme allgemeiner und unterschiedsloser Vorratsspeicherung kontinuierlich gespeichert werden können, sowie des sensiblen Charakters der Informationen, die diese Daten liefern können, Gefahren des Missbrauchs und des rechtswidrigen Zugangs (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). 63 In Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58, der es den Mitgliedstaaten gestattet, die in den Rn. 51 bis 54 des vorliegenden Urteils angesprochenen Rechte und Pflichten zu beschränken, kommt allerdings zum Ausdruck, dass die in den Art. 7, 8 und 11 der Charta verankerten Rechte keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen können, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden müssen. Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta sind nämlich Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen sie erforderlich sein und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Bei der Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Charta muss somit auch berücksichtigt werden, welche Bedeutung den in den Art. 3, 4, 6 und 7 der Charta verankerten Rechten und den Zielen des Schutzes der nationalen Sicherheit und der Bekämpfung schwerer Kriminalität als Beitrag zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer zukommt (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 64 Somit ist in Bezug insbesondere auf die wirksame Bekämpfung von Straftaten, deren Opfer u. a. Minderjährige und andere schutzbedürftige Personen sind, zu berücksichtigen, dass sich aus Art. 7 der Charta positive Verpflichtungen der Behörden im Hinblick auf den Erlass rechtlicher Maßnahmen zum Schutz des Privat- und Familienlebens ergeben können. Solche Verpflichtungen können sich aus Art. 7 auch in Bezug auf den Schutz der Wohnung und der Kommunikation sowie aus den Art. 3 und 4 hinsichtlich des Schutzes der körperlichen und geistigen Unversehrtheit der Menschen sowie des Verbots der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ergeben (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). 65 Angesichts dieser verschiedenen positiven Verpflichtungen müssen die verschiedenen betroffenen berechtigten Interessen und Rechte somit miteinander in Einklang gebracht werden, und es ist ein rechtlicher Rahmen zu schaffen, der diesen Einklang ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). 66 In diesem Rahmen ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2002/58, dass die Mitgliedstaaten eine Vorschrift erlassen können, die von dem in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannten Grundsatz der Vertraulichkeit abweicht, wenn eine solche Vorschrift „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig“ ist, wobei es im elften Erwägungsgrund der Richtlinie heißt, dass eine derartige Maßnahme in einem „strikt“ angemessenen Verhältnis zum intendierten Zweck stehen muss. 67 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Schutz des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt, dass sich die Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten und dessen Einschränkungen auf das absolut Notwendige beschränken. Außerdem kann eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung nicht verfolgt werden, ohne den Umstand zu berücksichtigen, dass sie mit den von der Maßnahme betroffenen Grundrechten in Einklang gebracht werden muss, indem eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der fraglichen Rechte vorgenommen wird (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). 68 Insbesondere geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, eine Beschränkung der u. a. in den Art. 5, 6 und 9 der Richtlinie 2002/58 vorgesehenen Rechte und Pflichten zu rechtfertigen, zu beurteilen ist, indem die Schwere des mit einer solchen Beschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die verfolgte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). 69 Um dem Erfordernis der Verhältnismäßigkeit zu genügen, müssen nationale Rechtsvorschriften klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der betreffenden Maßnahme vorsehen und Mindesterfordernisse aufstellen, so dass die Personen, deren personenbezogene Daten betroffen sind, über ausreichende Garantien verfügen, die einen wirksamen Schutz dieser Daten vor Missbrauchsrisiken ermöglichen. Diese Rechtsvorschriften müssen nach nationalem Recht bindend sein und insbesondere Angaben dazu enthalten, unter welchen Umständen und unter welchen Voraussetzungen eine Maßnahme, die die Verarbeitung solcher Daten vorsieht, getroffen werden darf, damit gewährleistet ist, dass sich der Eingriff auf das absolut Notwendige beschränkt. Das Erfordernis, über solche Garantien zu verfügen, ist umso bedeutsamer, wenn die personenbezogenen Daten automatisiert verarbeitet werden, vor allem wenn eine erhebliche Gefahr des unberechtigten Zugangs zu ihnen besteht. Diese Erwägungen gelten in besonderem Maß, wenn es um den Schutz der besonderen Kategorie sensibler personenbezogener Daten geht (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 70 Nationale Rechtsvorschriften, die eine Vorratsspeicherung personenbezogener Daten vorsehen, müssen daher stets objektiven Kriterien genügen, die einen Zusammenhang zwischen den zu speichernden Daten und dem verfolgten Ziel herstellen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 71 Was die dem Gemeinwohl dienenden Ziele anbelangt, die eine nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlassene Vorschrift rechtfertigen können, geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere aus dem Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791), hervor, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Hierarchie zwischen diesen Zielen entsprechend ihrer jeweiligen Bedeutung besteht und dass die Bedeutung des mit einer solchen Vorschrift verfolgten Ziels im Verhältnis zur Schwere des daraus resultierenden Eingriffs stehen muss (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 56). 72 Daher hat der Gerichtshof, was den Schutz der nationalen Sicherheit anbelangt, dessen Bedeutung die der übrigen von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erfassten Ziele übersteigt, festgestellt, dass diese Bestimmung im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die es zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, sofern diese Anordnung Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist, und sofern die Anordnung nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum ergeht (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). 73 Was das Ziel der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten anbelangt, hat der Gerichtshof festgestellt, dass im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur die Bekämpfung schwerer Kriminalität und die Verhütung ernster Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit geeignet sind, die mit der Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten verbundenen schweren Eingriffe in die Grundrechte, die in den Art. 7 und 8 der Charta verankert sind, zu rechtfertigen. Daher können nur Eingriffe in die genannten Grundrechte, die nicht schwer sind, durch das Ziel der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten im Allgemeinen gerechtfertigt sein (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). 74 Was das Ziel der Bekämpfung schwerer Kriminalität anbelangt, hat der Gerichtshof entschieden, dass nationale Rechtsvorschriften, die zu diesem Zweck die allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen, die Grenzen des absolut Notwendigen überschreiten und nicht als in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt angesehen werden können. Angesichts des sensiblen Charakters der Informationen, die sich aus den Verkehrs- und Standortdaten ergeben können, ist deren Vertraulichkeit nämlich von entscheidender Bedeutung für das Recht auf Achtung des Privatlebens. In Anbetracht zum einen der in Rn. 62 des vorliegenden Urteils angesprochenen abschreckenden Wirkungen, die die Speicherung dieser Daten auf die Ausübung der in den Art. 7 und 11 der Charta verankerten Grundrechte haben kann, und zum anderen der Schwere des mit ihr verbundenen Eingriffs muss eine solche Speicherung in einer demokratischen Gesellschaft, wie es das durch die Richtlinie 2002/58 geschaffene System vorsieht, die Ausnahme und nicht die Regel sein, und solche Daten dürfen nicht Gegenstand einer systematischen und kontinuierlichen Speicherung sein. Dies gilt auch in Anbetracht der Ziele der Bekämpfung schwerer Kriminalität und der Verhütung ernster Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit sowie der Bedeutung, die ihnen beizumessen ist (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). 75 Dagegen hat der Gerichtshof klargestellt, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit – auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen; – für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen; – eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen; – vorsehen, dass den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufgegeben werden kann, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern (quick freeze). Diese Rechtsvorschriften müssen durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen (Urteile vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 168, sowie vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 67). Zu einer Maßnahme, die für eine Dauer von mehreren Wochen eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung eines Großteils der Verkehrs- und Standortdaten vorsieht 76 Anhand dieser grundsätzlichen Erwägungen sind die vom vorlegenden Gericht hervorgehobenen Merkmale der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung zu prüfen. 77 Was erstens den Umfang der auf Vorrat gespeicherten Daten anbelangt, geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass im Rahmen der Erbringung von Telefondiensten die durch diese Regelung auferlegte Pflicht zur Vorratsspeicherung insbesondere die Daten betrifft, die erforderlich sind, um die Quelle und den Adressaten einer Nachricht, Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Verbindung oder – im Fall der Übermittlung von Kurz‑, Multimedia‑ oder ähnlichen Nachrichten – die Zeitpunkte der Versendung und des Empfangs der Nachricht sowie, im Fall der mobilen Nutzung, die Bezeichnung der Funkzellen, die vom Anrufer und vom Angerufenen bei Beginn der Verbindung genutzt wurden, zu identifizieren. Im Rahmen der Bereitstellung von Internetzugangsdiensten bezieht sich die Pflicht zur Vorratsspeicherung u. a. auf die dem Teilnehmer zugewiesene IP-Adresse, Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Internetnutzung unter der zugewiesenen IP-Adresse und, im Fall der mobilen Nutzung, die Bezeichnung der bei Beginn der Internetverbindung genutzten Funkzelle. Die Daten, aus denen sich die geografische Lage und die Hauptstrahlrichtungen der die jeweilige Funkzelle versorgenden Funkantennen ergeben, werden ebenfalls gespeichert. 78 Zwar nimmt die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung den Inhalt der Kommunikation sowie die Daten über aufgerufene Internetseiten von der Speicherpflicht aus und schreibt die Speicherung der Funkzellenkennung lediglich zu Beginn der Kommunikation vor, jedoch ist darauf hinzuweisen, dass dies im Wesentlichen auch für die nationalen Regelungen zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24 galt, um die es in den Rechtssachen ging, in denen das Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791), ergangen ist. Trotz dieser Beschränkungen hat der Gerichtshof in diesem Urteil aber entschieden, dass die Kategorien der nach der genannten Richtlinie und diesen nationalen Regelungen auf Vorrat gespeicherten Daten sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Personen – etwa auf Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ausgeübte Tätigkeiten, soziale Beziehungen dieser Personen und das soziale Umfeld, in dem sie verkehren – und insbesondere die Erstellung eines Profils dieser Personen ermöglichen konnten. 79 Darüber hinaus ist festzustellen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung zwar nicht die Daten über die aufgerufenen Internetseiten erfasst, wohl aber die Speicherung der IP-Adressen vorsieht. Diese Adressen können jedoch insbesondere zur umfassenden Nachverfolgung der von einem Internetnutzer besuchten Internetseiten und infolgedessen seiner Online-Aktivität genutzt werden, so dass diese Daten die Erstellung eines detaillierten Profils dieses Nutzers ermöglichen. Die für eine solche Nachverfolgung erforderliche Vorratsspeicherung und Analyse der IP‑Adressen stellen daher schwere Eingriffe in die Grundrechte des Internetnutzers aus den Art. 7 und 8 der Charta dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 153). 80 Außerdem stellen, wie SpaceNet in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, die Daten betreffend E‑Mail-Dienste, auch wenn sie nicht von der in der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung vorgesehenen Pflicht zur Vorratsspeicherung erfasst werden, nur einen Bruchteil der in Rede stehenden Daten dar. 81 Wie der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, erstreckt sich die in der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Pflicht zur Vorratsspeicherung somit auf einen umfangreichen Satz von Verkehrs- und Standortdaten, der im Wesentlichen denjenigen entspricht, die zu der ständigen Rechtsprechung geführt haben, auf die in Rn. 78 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist. 82 Des Weiteren hat die deutsche Regierung in Beantwortung einer in der mündlichen Verhandlung gestellten Frage ausgeführt, dass in der Liste der Personen, Behörden und Organisationen in sozialen oder kirchlichen Bereichen lediglich 1300 Stellen aufgeführt seien, deren Daten betreffend die elektronische Kommunikation nicht nach § 99 Abs. 2 und § 113b Abs. 6 TKG auf Vorrat gespeichert würden, was offensichtlich einen geringen Teil aller Nutzer von Telekommunikationsdiensten in Deutschland darstellt, deren Daten unter die in der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Pflicht zur Vorratsspeicherung fallen. So werden u. a. Daten von Nutzern gespeichert, die dem Berufsgeheimnis unterliegen, wie beispielsweise Rechtsanwälte, Ärzte und Journalisten. 83 Aus der Vorlageentscheidung geht somit hervor, dass die in dieser nationalen Regelung vorgesehene Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten nahezu alle die Bevölkerung bildenden Personen betrifft, ohne dass diese sich auch nur mittelbar in einer Lage befänden, die Anlass zur Strafverfolgung geben könnte. Ebenso schreibt sie die anlasslose, flächendeckende und personell, zeitlich und geografisch undifferenzierte Vorratsspeicherung eines Großteils der Verkehrs- und Standortdaten vor, deren Umfang im Wesentlichen dem der Daten entspricht, die in den Rechtssachen gespeichert wurden, die zu der in Rn. 78 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung geführt haben. 84 In Anbetracht der in Rn. 75 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung kann daher eine Verpflichtung zur Vorratsdatenspeicherung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende entgegen dem Vorbringen der deutschen Regierung nicht als gezielte Vorratsdatenspeicherung angesehen werden. 85 Zweitens ergibt sich, was die Vorratsspeicherungsfrist anbelangt, aus Art. 15 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2002/58, dass die Vorratsspeicherungsfrist, die eine nationale Maßnahme vorsieht, die eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung vorschreibt, zwar ein relevanter Faktor unter anderen ist, um zu bestimmen, ob das Unionsrecht einer solchen Maßnahme entgegensteht, wobei der genannte Satz 2 verlangt, dass diese Frist „begrenzt“ sein muss. 86 Im vorliegenden Fall sind diese Fristen, die gemäß § 113b Abs. 1 TKG vier Wochen für Standortdaten und zehn Wochen für sonstige Daten betragen, zwar deutlich kürzer als die Fristen, die in den nationalen Regelungen, die eine Pflicht zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung vorschreiben, vorgesehen sind, die der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a. (C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970), vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791), sowie vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a. (C‑140/20, EU:C:2022:258), geprüft hat. 87 Wie aus der in Rn. 61 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervorgeht, ergibt sich die Schwere des Eingriffs jedoch aus der Gefahr, dass die auf Vorrat gespeicherten Daten insbesondere in Anbetracht ihrer Menge und Vielfalt es in ihrer Gesamtheit ermöglichen, sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Person bzw. der Personen zu ziehen, deren Daten gespeichert wurden, und insbesondere die Erstellung eines Profils der betroffenen Person bzw. der betroffenen Personen ermöglichen, das im Hinblick auf das Recht auf Achtung des Privatlebens eine ebenso sensible Information darstellt wie der Inhalt der Kommunikationen selbst. 88 Folglich ist die Speicherung von Verkehrs- oder Standortdaten, die Informationen über die Kommunikationen des Nutzers eines elektronischen Kommunikationsmittels oder über den Standort der von ihm verwendeten Endgeräte liefern können, in jedem Fall schwerwiegend, unabhängig von der Länge des Speicherzeitraums und von der Menge oder Art der gespeicherten Daten, sofern der Datensatz geeignet ist, sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Person bzw. der betroffenen Personen zuzulassen (vgl. zum Zugang zu solchen Daten Urteil vom 2. März 2021, Prokuratuur [Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation], C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 39). 89 Insoweit können selbst die Speicherung einer begrenzten Menge von Verkehrs- oder Standortdaten oder die Speicherung dieser Daten über einen kurzen Zeitraum geeignet sein, sehr genaue Informationen über das Privatleben des Nutzers eines elektronischen Kommunikationsmittels zu liefern. Außerdem können die Menge der verfügbaren Daten und die daraus resultierenden sehr genauen Informationen über das Privatleben des Betroffenen erst nach Konsultation der fraglichen Daten beurteilt werden. Der sich aus der Speicherung der genannten Daten ergebende Eingriff erfolgt aber notwendigerweise, bevor die Daten und die daraus resultierenden Informationen konsultiert werden können. Somit erfolgt die Beurteilung der Schwere des in der Speicherung bestehenden Eingriffs notwendigerweise anhand der mit der Kategorie gespeicherter Daten allgemein verbundenen Gefahr für das Privatleben der Betroffenen, ohne dass es überdies darauf ankommt, ob die daraus resultierenden Informationen über das Privatleben im konkreten Fall sensiblen Charakter haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, Prokuratuur [Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation], C‑746/18, EU:C:2021:152, Rn. 40). 90 Im vorliegenden Fall kann, wie aus Rn. 77 des vorliegenden Urteils hervorgeht und in der mündlichen Verhandlung bestätigt worden ist, ein Satz von Verkehrs- und Standortdaten, die zehn Wochen bzw. vier Wochen lang gespeichert werden, sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen, deren Daten gespeichert wurden – etwa auf Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ausgeübte Tätigkeiten, soziale Beziehungen dieser Personen und das soziale Umfeld, in dem sie verkehren –, und insbesondere die Erstellung eines Profils dieser Personen ermöglichen. 91 Drittens ist in Bezug auf die in der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehenen Garantien, die die gespeicherten Daten gegen Missbrauchsrisiken und vor jedem unberechtigten Zugang schützen sollen, festzustellen, dass die Vorratsspeicherung dieser Daten und der Zugang zu ihnen, wie sich aus der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, unterschiedliche Eingriffe in die in den Art. 7 und 11 der Charta garantierten Grundrechte darstellen, die eine gesonderte Rechtfertigung nach Art. 52 Abs. 1 der Charta erfordern. Daraus folgt, dass nationale Rechtsvorschriften, die die vollständige Einhaltung der Voraussetzungen gewährleisten, die sich im Bereich des Zugangs zu auf Vorrat gespeicherten Daten aus der Rechtsprechung zur Auslegung der Richtlinie 2002/58 ergeben, naturgemäß den schwerwiegenden Eingriff weder beschränken noch beseitigen können, der sich aus der nach diesen nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen allgemeinen Vorratsspeicherung dieser Daten in die Rechte ergeben würde, die in den Art. 5 und 6 dieser Richtlinie und in den durch diese Vorschriften konkretisierten Grundrechten garantiert werden (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 47). 92 Viertens und letztens hat der Gerichtshof, was das Vorbringen der Europäischen Kommission anbelangt, wonach besonders schwere Kriminalität einer Bedrohung der nationalen Sicherheit gleichgestellt werden könne, bereits entschieden, dass das Ziel der Wahrung der nationalen Sicherheit dem zentralen Anliegen entspricht, die wesentlichen Funktionen des Staates und die grundlegenden Interessen der Gesellschaft durch die Verhütung und Repression von Tätigkeiten zu schützen, die geeignet sind, die tragenden Strukturen eines Landes im Bereich der Verfassung, Politik oder Wirtschaft oder im sozialen Bereich in schwerwiegender Weise zu destabilisieren und insbesondere die Gesellschaft, die Bevölkerung oder den Staat als solchen unmittelbar zu bedrohen, wie etwa terroristische Aktivitäten (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 93 Im Unterschied zur Kriminalität – auch besonders schwerer Kriminalität – muss eine Bedrohung für die nationale Sicherheit real und aktuell, zumindest aber vorhersehbar sein, was das Eintreten hinreichend konkreter Umstände voraussetzt, um eine Maßnahme allgemeiner und unterschiedsloser Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten für einen begrenzten Zeitraum rechtfertigen zu können. Eine solche Bedrohung unterscheidet sich somit ihrer Art, ihrer Schwere und der Besonderheit der sie begründenden Umstände nach von der allgemeinen und ständigen Gefahr, dass – auch schwere – Spannungen oder Störungen der öffentlichen Sicherheit auftreten, oder schwerer Straftaten (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung). 94 Somit kann Kriminalität – auch besonders schwere Kriminalität – nicht mit einer Bedrohung der nationalen Sicherheit gleichgesetzt werden. Eine solche Gleichstellung könnte nämlich eine Zwischenkategorie zwischen der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Sicherheit einführen, um auf die zweite Kategorie die Voraussetzungen der ersten Kategorie anzuwenden (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 63). Zu den Maßnahmen, die eine gezielte Vorratsspeicherung, eine umgehende Sicherung oder eine Speicherung der IP-Adressen vorsehen 95 Mehrere Regierungen, darunter die französische Regierung, betonen, dass nur eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung die wirksame Verwirklichung der mit den Speicherungsmaßnahmen verfolgten Ziele ermögliche; die deutsche Regierung führt im Wesentlichen aus, dass diese Schlussfolgerung nicht dadurch entkräftet werde, dass die Mitgliedstaaten auf die in Rn. 75 des vorliegenden Urteils genannten Maßnahmen der gezielten Vorratsspeicherung und umgehenden Sicherung zurückgreifen könnten. 96 Hierzu ist erstens festzustellen, dass die Wirksamkeit der Strafverfolgung im Allgemeinen nicht von einem einzigen Ermittlungsinstrument abhängt, sondern von allen Ermittlungsinstrumenten, über die die zuständigen nationalen Behörden zu diesem Zweck verfügen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 69). 97 Zweitens gestattet Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta in seiner Auslegung durch die in Rn. 75 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung es den Mitgliedstaaten, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit nicht nur Rechtsvorschriften zur Einführung einer gezielten Vorratsspeicherung und einer umgehenden Sicherung zu erlassen, sondern auch Rechtsvorschriften, die eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von zum einen der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten und zum anderen der IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 70). 98 Insoweit steht fest, dass die Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten zur Bekämpfung schwerer Kriminalität beitragen kann, sofern diese Daten es ermöglichen, die Personen zu identifizieren, die solche Kommunikationsmittel im Zusammenhang mit der Vorbereitung oder Begehung einer zur schweren Kriminalität zählenden Tat verwendet haben (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 71). 99 Die Richtlinie 2002/58 steht aber einer allgemeinen Vorratsspeicherung der die Identität betreffenden Daten für die Zwecke der Bekämpfung der Kriminalität im Allgemeinen nicht entgegen. Unter diesen Umständen ist klarzustellen, dass weder diese Richtlinie noch irgendein anderer Unionsrechtsakt nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die die Bekämpfung schwerer Kriminalität zum Gegenstand haben und nach denen der Erwerb eines elektronischen Kommunikationsmittels wie einer vorausbezahlten SIM-Karte von der Überprüfung amtlicher Dokumente, die die Identität des Käufers belegen, und der Erfassung der sich daraus ergebenden Informationen durch den Verkäufer abhängig ist, wobei der Verkäufer gegebenenfalls verpflichtet ist, den zuständigen nationalen Behörden Zugang zu diesen Informationen zu gewähren (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 72). 100 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die allgemeine Speicherung der IP-Adressen der Quelle der Verbindung einen schweren Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte darstellt, da diese IP-Adressen es ermöglichen können, genaue Schlüsse auf das Privatleben des Nutzers des betreffenden elektronischen Kommunikationsmittels zu ziehen, und abschreckende Wirkung in Bezug auf die Ausübung der in Art. 11 der Charta garantierten Freiheit der Meinungsäußerung haben kann. Allerdings hat der Gerichtshof in Bezug auf eine solche Speicherung festgestellt, dass, um die widerstreitenden Rechte und berechtigten Interessen miteinander in Einklang zu bringen, wie es die in den Rn. 65 bis 68 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung verlangt, zu berücksichtigen ist, dass im Fall einer im Internet begangenen Straftat und insbesondere im Fall des Erwerbs, der Verbreitung, der Weitergabe oder der Bereitstellung im Internet von Kinderpornografie im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. 2011, L 335, S. 1, berichtigt in ABl. 2012, L 18, S. 7) die IP-Adresse der einzige Anhaltspunkt sein kann, der es ermöglicht, die Identität der Person zu ermitteln, der diese Adresse zugewiesen war, als die Tat begangen wurde (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 73). 101 Unter diesen Umständen trifft es zwar zu, dass eine Rechtsvorschrift, die eine Vorratsspeicherung der IP‑Adressen aller natürlichen Personen vorsieht, denen ein Endgerät gehört, von dem aus ein Internetzugang möglich ist, Personen erfassen würde, die prima facie keinen Zusammenhang mit den verfolgten Zielen im Sinne der in Rn. 70 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung aufweisen, und dass die Internetnutzer nach der Feststellung in Rn. 54 des vorliegenden Urteils aufgrund der Art. 7 und 8 der Charta erwarten dürfen, dass ihre Identität grundsätzlich nicht preisgegeben wird. Gleichwohl verstößt eine Rechtsvorschrift, die eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung allein der IP‑Adressen der Quelle einer Verbindung vorsieht, grundsätzlich nicht gegen Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta, sofern diese Möglichkeit von der strikten Einhaltung der materiellen und prozeduralen Voraussetzungen abhängig gemacht wird, die die Nutzung dieser Daten regeln müssen (Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 155). 102 Angesichts der Schwere des mit dieser Vorratsdatenspeicherung verbundenen Eingriffs in die Grundrechte, die in den Art. 7 und 8 der Charta verankert sind, sind neben dem Schutz der nationalen Sicherheit nur die Bekämpfung schwerer Kriminalität und die Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit geeignet, diesen Eingriff zu rechtfertigen. Außerdem darf die Dauer der Speicherung das im Hinblick auf das verfolgte Ziel absolut Notwendige nicht überschreiten. Schließlich muss eine derartige Maßnahme strenge Voraussetzungen und Garantien hinsichtlich der Auswertung dieser Daten, insbesondere in Form einer Nachverfolgung, in Bezug auf die Online-Kommunikationen und ‑Aktivitäten der Betroffenen vorsehen (Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 156). 103 Entgegen den Ausführungen des vorlegenden Gerichts besteht somit kein Spannungsverhältnis zwischen den Rn. 155 und 168 des Urteils vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791). Wie der Generalanwalt in den Nrn. 81 und 82 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, geht nämlich aus dieser Rn. 155 in Verbindung mit Rn. 156 und Rn. 168 dieses Urteils klar hervor, dass neben dem Schutz der nationalen Sicherheit nur die Bekämpfung schwerer Kriminalität und die Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit geeignet sind, die allgemeine Vorratsspeicherung der der Quelle einer Verbindung zugewiesenen IP-Adressen zu rechtfertigen, unabhängig davon, ob die betroffenen Personen einen zumindest mittelbaren Zusammenhang mit den verfolgten Zielen aufweisen. 104 Was drittens die Rechtsvorschriften betrifft, die eine gezielte Vorratsspeicherung und eine umgehende Sicherung der Verkehrs- und Standortdaten vorsehen, lassen bestimmte, von den Mitgliedstaaten in Bezug auf solche Maßnahmen dargelegte Erwägungen ein engeres Verständnis der Tragweite dieser Vorschriften erkennen als das, das der in Rn. 75 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zugrunde liegt. Denn auch wenn diese Maßnahmen der Speicherung, wie in Rn. 57 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, in dem durch die Richtlinie 2002/58 geschaffenen System Ausnahmecharakter haben müssen, so macht diese Richtlinie im Licht der in den Art. 7, 8 und 11 sowie in Art. 52 Abs. 1 der Charta verankerten Grundrechte die Möglichkeit, eine Anordnung zur gezielten Vorratsspeicherung zu erlassen, gleichwohl nicht von den Voraussetzungen abhängig, dass im Voraus bekannt ist, an welchen Orten eine schwere Straftat begangen werden könnte oder welche Personen verdächtigt werden, an einer solchen Tat beteiligt zu sein. Ebenso wenig verlangt die Richtlinie, dass die Anordnung, mit der eine umgehende Sicherung angeordnet wird, auf Verdächtige beschränkt wird, die vor einer solchen Anordnung identifiziert wurden (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 75). 105 Was erstens die gezielte Vorratsspeicherung anbelangt, so hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 auf objektiven Kriterien beruhenden nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, mit denen zum einen Personen erfasst werden können, deren Verkehrs- und Standortdaten geeignet sind, einen zumindest mittelbaren Zusammenhang mit schweren Straftaten zu offenbaren, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität beizutragen oder eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder eine Gefahr für die nationale Sicherheit zu verhüten (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung). 106 Der Gerichtshof hat insoweit klargestellt, dass diese objektiven Kriterien zwar je nach den zur Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung schwerer Straftaten getroffenen Maßnahmen unterschiedlich sein können, zu den erfassten Personen aber insbesondere diejenigen gehören können, die zuvor im Rahmen der einschlägigen nationalen Verfahren und auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit oder der nationalen Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats eingestuft wurden (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 77). 107 Die Mitgliedstaaten haben somit u. a. die Möglichkeit, Maßnahmen zur Speicherung zu ergreifen, die Personen betreffen, die aufgrund einer solchen Einstufung Gegenstand aktueller Ermittlungen oder anderer Überwachungsmaßnahmen sind oder zu denen im nationalen Strafregister eine frühere Verurteilung wegen schwerer Straftaten vermerkt ist, die ein hohes Rückfallrisiko bedeuten können. Beruht eine solche Einstufung aber auf objektiven und nicht diskriminierenden Kriterien, die im nationalen Recht festgelegt sind, so ist die gezielte Vorratsspeicherung in Bezug auf so eingestufte Personen gerechtfertigt (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 78). 108 Zum anderen kann eine Maßnahme gezielter Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten nach Wahl des nationalen Gesetzgebers und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch auf ein geografisches Kriterium gestützt werden, wenn die zuständigen nationalen Behörden aufgrund objektiver und nicht diskriminierender Anhaltspunkte davon ausgehen, dass in einem oder mehreren geografischen Gebieten eine durch ein erhöhtes Risiko der Vorbereitung oder Begehung schwerer Straftaten gekennzeichnete Situation besteht. Dabei kann es sich insbesondere um Orte handeln, die durch eine erhöhte Zahl schwerer Straftaten gekennzeichnet sind, um Orte, an denen die Gefahr, dass schwere Straftaten begangen werden, besonders hoch ist, wie Orte oder Infrastrukturen, die regelmäßig von einer sehr hohen Zahl von Personen aufgesucht werden, oder um strategische Orte wie Flughäfen, Seehäfen, Bahnhöfe oder Mautstellen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung). 109 Es ist hervorzuheben, dass nach dieser Rechtsprechung die zuständigen nationalen Behörden für die in der vorstehenden Randnummer genannten Gebiete eine Maßnahme der gezielten Vorratsspeicherung auf der Grundlage eines geografischen Kriteriums wie u. a. der durchschnittlichen Kriminalitätsrate in einem geografischen Gebiet treffen können, ohne dass sie zwingend über konkrete Anhaltspunkte für die Vorbereitung oder die Begehung schwerer Straftaten in den betreffenden Gebieten verfügen müssten. Da eine gezielte Vorratsspeicherung, die auf einem solchen Kriterium beruht, je nach den betreffenden schweren Straftaten und der den jeweiligen Mitgliedstaaten eigenen Situation sowohl Orte betreffen kann, die durch eine erhöhte Zahl schwerer Straftaten gekennzeichnet sind, als auch Orte, die für die Begehung solcher Straftaten besonders anfällig sind, kann sie grundsätzlich auch nicht zu Diskriminierungen führen, da das Kriterium der durchschnittlichen Rate schwerer Straftaten als solches keine Verbindung zu potenziell diskriminierenden Elementen aufweist (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 80). 110 Außerdem und vor allem ermöglicht eine gezielte Vorratsspeicherung in Bezug auf Orte oder Infrastrukturen, die regelmäßig von einer sehr großen Zahl von Personen frequentiert werden, oder auf strategische Orte wie Flughäfen, Bahnhöfe, Seehäfen oder Mautstellen den zuständigen Behörden, Verkehrsdaten und insbesondere Standortdaten aller Personen zu sammeln, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem dieser Orte ein elektronisches Kommunikationsmittel benutzen. Eine solche Maßnahme der gezielten Vorratsspeicherung kann es diesen Behörden somit ermöglichen, durch den Zugang zu den so gespeicherten Daten Informationen über die Anwesenheit dieser Personen an den Orten oder in den geografischen Gebieten, auf die sich diese Maßnahme bezieht, sowie über ihre Bewegungen zwischen oder innerhalb dieser Orte oder geografischen Gebiete zu erhalten und daraus zum Zweck der Bekämpfung schwerer Kriminalität Schlüsse über ihre Anwesenheit und ihre Tätigkeit an diesen Orten oder in diesen geografischen Gebieten zu einem bestimmten Zeitpunkt während des Speicherungszeitraums zu ziehen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 81). 111 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die geografischen Gebiete, auf die sich eine solche gezielte Vorratsspeicherung bezieht, geändert werden können und gegebenenfalls müssen, wenn sich die Bedingungen, die ihre Auswahl gerechtfertigt haben, ändern, so dass insbesondere auf die Entwicklungen bei der Bekämpfung schwerer Kriminalität reagiert werden kann. Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass die Dauer der in den Rn. 105 bis 110 des vorliegenden Urteils beschriebenen Maßnahmen gezielter Speicherung das im Hinblick auf das verfolgte Ziel sowie die sie rechtfertigenden Umstände absolut Notwendige nicht überschreiten darf, unbeschadet einer etwaigen Verlängerung wegen des fortbestehenden Erfordernisses einer solchen Speicherung (Urteile vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 151, sowie vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 82). 112 Was die Möglichkeit betrifft, andere Unterscheidungskriterien als ein persönliches oder geografisches Kriterium für die Durchführung einer gezielten Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorzusehen, so kann nicht ausgeschlossen werden, dass andere objektive und nicht diskriminierende Kriterien in Betracht kommen, um sicherzustellen, dass der Umfang einer gezielten Vorratsspeicherung auf das absolut Notwendige beschränkt wird, und um eine zumindest indirekte Verbindung zwischen den schweren Straftaten und den Personen, deren Daten auf Vorrat gespeichert werden, herzustellen. Da sich Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 auf Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezieht, obliegt es allerdings diesen und nicht dem Gerichtshof, solche Kriterien zu bestimmen, wobei es nicht darum gehen kann, auf diesem Weg wieder eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der Verkehrs- und Standortdaten einzuführen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 83). 113 Wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann jedenfalls das etwaige Bestehen von Schwierigkeiten bei der genauen Bestimmung der Fälle und Bedingungen, in bzw. unter denen eine gezielte Vorratsspeicherung durchgeführt werden kann, nicht rechtfertigen, dass Mitgliedstaaten, indem sie die Ausnahme zur Regel machen, eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 84). 114 Was zweitens die umgehende Sicherung der von den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste auf der Grundlage der Art. 5, 6 und 9 der Richtlinie 2002/58 oder auf der Grundlage von Rechtsvorschriften, die gemäß Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie erlassen wurden, verarbeiteten und gespeicherten Verkehrs- und Standortdaten anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass solche Daten grundsätzlich nach Ablauf der gesetzlichen Fristen, innerhalb deren sie gemäß den nationalen Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinie verarbeitet und gespeichert werden müssen, je nach Fall, entweder gelöscht oder anonymisiert werden müssen. Allerdings hat der Gerichtshof entschieden, dass während dieser Verarbeitung und Speicherung Situationen auftreten können, die es erforderlich machen, die betreffenden Daten zur Aufklärung schwerer Straftaten oder von Beeinträchtigungen der nationalen Sicherheit über diese Fristen hinaus zu speichern, und zwar sowohl dann, wenn die Taten oder Beeinträchtigungen bereits festgestellt werden konnten, als auch dann, wenn nach einer objektiven Prüfung aller relevanten Umstände der begründete Verdacht besteht, dass sie vorliegen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 85). 115 In einer solchen Situation steht es den Mitgliedstaaten angesichts dessen, dass nach den Ausführungen in den Rn. 65 bis 68 des vorliegenden Urteils die widerstreitenden Rechte und berechtigten Interessen miteinander in Einklang gebracht werden müssen, frei, in Rechtsvorschriften, die sie gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlassen, vorzusehen, dass den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufgegeben wird, für einen festgelegten Zeitraum die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern (Urteile vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 163, sowie vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 86). 116 Da die Zielsetzung einer solchen umgehenden Sicherung nicht mehr den Zielsetzungen entspricht, aufgrund deren die Daten ursprünglich gesammelt und gespeichert wurden, und da nach Art. 8 Abs. 2 der Charta jede Datenverarbeitung für festgelegte Zwecke zu erfolgen hat, müssen die Mitgliedstaaten in ihren Rechtsvorschriften angeben, mit welcher Zielsetzung die umgehende Sicherung der Daten vorgenommen werden kann. Angesichts der Schwere des Eingriffs in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte, der mit einer solchen Speicherung verbunden sein kann, sind nur die Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori, der Schutz der nationalen Sicherheit geeignet, diesen Eingriff zu rechtfertigen, sofern diese Maßnahme sowie der Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten die Grenzen des absolut Notwendigen, wie sie in den Rn. 164 bis 167 des Urteils vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791), dargelegt sind, einhalten (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 87). 117 Der Gerichtshof hat klargestellt, dass sich eine derartige Maßnahme der Vorratsspeicherung nicht auf die Daten der Personen beschränken muss, die zuvor als Bedrohung für die öffentliche oder nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats identifiziert wurden, oder von Personen, die konkret im Verdacht stehen, eine schwere Straftat begangen oder die nationale Sicherheit beeinträchtigt zu haben. Nach Auffassung des Gerichtshofs kann nämlich unter Beachtung des durch Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgegebenen Rahmens und angesichts der Erwägungen in Rn. 70 des vorliegenden Urteils eine solche Maßnahme nach Wahl des nationalen Gesetzgebers, unter Einhaltung der Grenzen des absolut Notwendigen, auf die Verkehrs- und Standortdaten anderer als der Personen erstreckt werden, die im Verdacht stehen, eine schwere Straftat oder eine Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit geplant oder begangen zu haben, sofern diese Daten auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien zur Aufdeckung einer solchen Straftat oder einer solchen Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit beitragen können. Dazu gehören die Daten des Opfers sowie seines sozialen oder beruflichen Umfelds (Urteile vom6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 165, sowie vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 88). 118 Somit kann eine Rechtsvorschrift es gestatten, gegenüber den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste anzuordnen, die Verkehrs- und Standortdaten u. a. von Personen, mit denen ein Opfer vor dem Auftreten einer schweren Bedrohung der öffentlichen Sicherheit oder der Begehung einer schweren Straftat unter Verwendung seiner elektronischen Kommunikationsmittel in Kontakt gestanden hat, umgehend zu sichern (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 89). 119 Eine solche umgehende Sicherung kann nach der in Rn. 117 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs unter den in dieser Randnummer genannten Voraussetzungen auch auf bestimmte geografische Gebiete wie die Orte der Begehung und Vorbereitung der Straftat oder der betreffenden Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit ausgedehnt werden. Es ist klarzustellen, dass Gegenstand einer solchen Maßnahme auch die Verkehrs- und Standortdaten sein können, die sich auf den Ort beziehen, an dem eine Person, die möglicherweise Opfer einer schweren Straftat ist, verschwunden ist, sofern diese Maßnahme sowie der Zugang zu den auf diese Weise auf Vorrat gespeicherten Daten die Grenzen des für die Bekämpfung schwerer Straftaten oder den Schutz der nationalen Sicherheit absolut Notwendigen, wie sie in den Rn. 164 bis 167 des Urteils vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791), dargelegt sind, einhalten (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 90). 120 Außerdem ist klarzustellen, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 die zuständigen nationalen Behörden nicht daran hindert, bereits im ersten Stadium der Ermittlungen bezüglich einer schweren Bedrohung der öffentlichen Sicherheit oder einer möglichen schweren Straftat, d. h. ab dem Zeitpunkt, zu dem diese Behörden nach den einschlägigen Bestimmungen des nationalen Rechts solche Ermittlungen einleiten können, eine umgehende Sicherung anzuordnen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 91). 121 Was des Weiteren die Vielfalt der in Rn. 75 des vorliegenden Urteils genannten Maßnahmen der Vorratsspeicherung der Verkehrs- und Standortdaten betrifft, ist klarzustellen, dass diese verschiedenen Maßnahmen nach der Wahl des nationalen Gesetzgebers und unter Einhaltung der Grenzen des absolut Notwendigen zusammen Anwendung finden können. Unter diesen Umständen steht Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta in der Auslegung durch die auf das Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791), zurückgehende Rechtsprechung einer Kombination dieser Maßnahmen nicht entgegen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 92). 122 Viertens und letztens ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus dem die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zusammenfassenden Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791), ergibt, die Verhältnismäßigkeit der nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 getroffenen Maßnahmen die Einhaltung nicht nur der Erfordernisse der Geeignetheit und der Erforderlichkeit verlangt, sondern auch des Erfordernisses, dass diese Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen müssen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 93). 123 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 51 des Urteils vom 8. April 2014, Digital Rights Ireland u. a. (C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238), entschieden hat, dass zwar die Bekämpfung schwerer Kriminalität von größter Bedeutung für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit ist und dass ihre Wirksamkeit in hohem Maß von der Nutzung moderner Ermittlungstechniken abhängen kann; eine solche dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung kann aber, so grundlegend sie auch sein mag, für sich genommen die Erforderlichkeit einer Maßnahme der allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten – wie sie die Richtlinie 2006/24 vorsieht – nicht rechtfertigen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 94). 124 Im selben Sinne hat der Gerichtshof in Rn. 145 des Urteils vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791), klargestellt, dass selbst die positiven Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – die sich, je nach Fall, aus den Art. 3, 4 und 7 der Charta ergeben können und, wie in Rn. 64 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, die Schaffung von Regeln für eine wirksame Bekämpfung von Straftaten betreffen – keine so schwerwiegenden Eingriffe rechtfertigen können, wie sie mit nationalen Rechtsvorschriften, die eine Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen, für die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte fast der gesamten Bevölkerung verbunden sind, ohne dass die Daten der Betroffenen einen zumindest mittelbaren Zusammenhang mit dem verfolgten Ziel aufweisen (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 95). 125 Im Übrigen sind die Urteile des EGMR vom 25. Mai 2021, Big Brother Watch u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2021:0525JUD005817013), und vom 25. Mai 2021, Centrum för Rättvisa/Schweden (CE:ECHR:2021:0525JUD003525208), die von einigen Regierungen in der mündlichen Verhandlung angeführt worden sind, um geltend zu machen, dass die EMRK nationalen Regelungen, die im Wesentlichen eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsähen, nicht entgegenstehe, nicht geeignet, die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58, die sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, in Frage zu stellen. In diesen Urteilen ging es nämlich um das massenhafte Abfangen von Daten betreffend internationale Kommunikationen. Somit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, in den genannten Urteilen weder über die Vereinbarkeit einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten im Inland noch auch nur über ein Abfangen dieser Daten in großem Umfang zur Verhütung, Feststellung und Ermittlung schwerer Straftaten mit der EMRK entschieden. Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten gewährleistet werden soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird, so dass die entsprechenden Rechte der EMRK bei der Auslegung der Charta nur als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen sind (Urteil vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., C‑336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 56). Zum Zugang zu Daten, die allgemein und unterschiedslos auf Vorrat gespeichert wurden 126 In der mündlichen Verhandlung hat die dänische Regierung vorgebracht, dass die zuständigen nationalen Behörden zum Zweck der Bekämpfung schwerer Kriminalität Zugang zu Verkehrs- und Standortdaten haben müssten, die gemäß der aus dem Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 135 bis 139), hervorgegangenen Rechtsprechung allgemein und unterschiedslos auf Vorrat gespeichert worden seien, um einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit zu begegnen. 127 Zunächst ist festzustellen, dass die Gestattung des Zugangs zu allgemein und unterschiedslos auf Vorrat gespeicherten Verkehrs- und Standortdaten zum Zweck der Bekämpfung schwerer Kriminalität diesen Zugang von Umständen abhängig machen würde, die mit diesem Ziel nichts zu tun haben – je nachdem, ob in dem betreffenden Mitgliedstaat eine ernste Bedrohung für die nationale Sicherheit im Sinne der vorstehenden Randnummer besteht oder nicht –, während im Hinblick auf das alleinige Ziel der Bekämpfung schwerer Kriminalität, das die Speicherung dieser Daten und den Zugang zu ihnen rechtfertigen soll, nichts eine unterschiedliche Behandlung insbesondere zwischen den Mitgliedstaaten rechtfertigen würde (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 97). 128 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, kann der Zugang zu von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste in Anwendung einer gemäß Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erlassenen Rechtsvorschrift auf Vorrat gespeicherten Verkehrs- und Standortdaten, der unter vollständiger Beachtung der sich aus der Rechtsprechung zur Auslegung dieser Richtlinie ergebenden Voraussetzungen zu erfolgen hat, grundsätzlich nur mit dem dem Gemeinwohl dienenden Ziel gerechtfertigt werden, zu dem die Speicherung den Betreibern auferlegt wurde. Etwas anderes gilt nur, wenn die Bedeutung des mit dem Zugang verfolgten Ziels die Bedeutung des Ziels, das die Speicherung gerechtfertigt hat, übersteigt (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 98). 129 Das Vorbringen der dänischen Regierung bezieht sich aber auf eine Situation, in der das Ziel des beabsichtigten Zugangsersuchens, nämlich die Bekämpfung schwerer Kriminalität, in der Hierarchie der dem Gemeinwohl dienenden Ziele von geringerer Bedeutung ist als das Ziel, das die Speicherung rechtfertigte, nämlich der Schutz der nationalen Sicherheit. In einer solchen Situation Zugang zu den auf Vorrat gespeicherten Daten zu gewähren, würde gegen die Hierarchie der dem Gemeinwohl dienenden Ziele verstoßen, auf die in der vorstehenden Randnummer sowie in den Rn. 68, 71, 72 und 73 dieses Urteils hingewiesen worden ist (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 99). 130 Außerdem und vor allem dürfen nach der in Rn. 74 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung Verkehrs- und Standortdaten für die Zwecke der Bekämpfung schwerer Kriminalität nicht allgemein und unterschiedslos auf Vorrat gespeichert werden, so dass auch der Zugang zu diesen Daten zu diesen Zwecken nicht gerechtfertigt sein kann. Wenn diese Daten ausnahmsweise allgemein und unterschiedslos zum Schutz der nationalen Sicherheit vor einer Bedrohung, die als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufen ist, unter den in Rn. 71 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen gespeichert wurden, dürfen die für strafrechtliche Ermittlungen zuständigen nationalen Behörden im Rahmen der Strafverfolgung nicht auf diese Daten zugreifen, da sonst das in Rn. 74 genannte Verbot einer solchen Speicherung zum Zweck der Bekämpfung schwerer Straftaten seine praktische Wirksamkeit verlieren würde (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 100). 131 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen. Dagegen ist der genannte Art. 15 Abs. 1 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die – es zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, sofern diese Anordnung Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist, und sofern die Anordnung nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum ergeht; – zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen; – zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP‑Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen; – zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen; – es zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori, zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufzugeben, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern. Diese Rechtsvorschriften müssen durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen. Kosten 132 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 geänderten Fassung ist im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen; er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die – es zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, sofern diese Anordnung Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist, und sofern die Anordnung nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum ergeht; – zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen; – zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP‑Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen; – zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen; – es zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori, zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufzugeben, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern. Diese Rechtsvorschriften müssen durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen. Lenaerts Arabadjiev Prechal Rodin Jarukaitis Ziemele von Danwitz Safjan Biltgen Xuereb Piçarra Rossi Kumin Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. September 2022. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 15. September 2022.#Strafverfahren gegen DD.#Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 8 Abs. 1 – Recht einer beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung – Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit der beschuldigten Person – Möglichkeit, die Verletzung eines Rechts in einem späteren Verfahrensstadium zu beheben – Zusätzliche Vernehmung des Zeugen – Richtlinie 2013/48/EU – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren – Art. 3 Abs. 1 – Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit des Rechtsbeistands der beschuldigten Person.#Rechtssache C-347/21.
62021CJ0347
ECLI:EU:C:2022:692
2022-09-15T00:00:00
Collins, Gerichtshof
62021CJ0347 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer) 15. September 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 8 Abs. 1 – Recht einer beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung – Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit der beschuldigten Person – Möglichkeit, die Verletzung eines Rechts in einem späteren Verfahrensstadium zu beheben – Zusätzliche Vernehmung des Zeugen – Richtlinie 2013/48/EU – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren – Art. 3 Abs. 1 – Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit des Rechtsbeistands der beschuldigten Person“ In der Rechtssache C‑347/21 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 3. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juni 2021, in dem Strafverfahren gegen DD, Beteiligte: Spetsializirana prokuratura, erlässt DER GERICHTSHOF (Achte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und M. Gavalec, Generalanwalt: A. M. Collins, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von DD, vertreten durch V. Vasilev, Advokat, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) und von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1). 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen DD wegen Straftaten im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2013/48 3 Im 54. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 heißt es: „Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften erlassen. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um ein höheres Schutzniveau zu bieten. …“ 4 Art. 1 („Gegenstand“) dieser Richtlinie bestimmt: „Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften für die Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren … auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, auf Benachrichtigung eines Dritten von dem Freiheitsentzug sowie auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs festgelegt.“ 5 Art. 3 („Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren“) der Richtlinie sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können. … (3)   Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand umfasst Folgendes: … c) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen mindestens das Recht haben, dass ihr Rechtsbeistand den folgenden Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beiwohnt, falls diese in den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen sind und falls die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Personen bei den betreffenden Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist: i) Identifizierungsgegenüberstellungen; ii) Vernehmungsgegenüberstellungen; iii) Tatortrekonstruktionen. …“ Richtlinie 2016/343 6 In den Erwägungsgründen 33 und 47 der Richtlinie 2016/343 heißt es: „(33) Das Recht auf ein faires Verfahren ist eines der Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft. Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, beruht auf diesem Recht und sollte in der gesamten Union sichergestellt werden. … (47) Diese Richtlinie wahrt die in der [Charta der Grundrechte der Europäischen Union] und der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter … das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte. …“ 7 Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.“ Bulgarisches Recht 8 Art. 55 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) sieht vor: „Die beschuldigte Person hat folgende Rechte: … am Strafverfahren teilzunehmen … einen Verteidiger zu haben.“ 9 Nach Art. 94 Abs. 1 Nr. 8 NPK ist, wenn eine Sache in Abwesenheit der beschuldigten Person verhandelt wird, deren Verteidigung durch einen Rechtsanwalt zwingend. 10 Art. 99 NPK sieht vor: „Der Verteidiger hat folgende Rechte: … am Strafverfahren teilzunehmen …“ 11 Gemäß Art. 269 Abs. 3 NPK ist eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten nur dann zulässig, wenn dieser nicht auffindbar ist oder über die Möglichkeit einer solchen Verhandlung informiert worden ist. 12 Art. 271 Abs. 2 NPK bestimmt: „Die Gerichtsverhandlung ist zu vertagen, wenn folgende Personen nicht erscheinen: … 2. der Angeklagte … 3. der Verteidiger …“ 13 Art. 348 Abs. 3 NPK bestimmt: „Ein Verstoß gegen die Verfahrensregeln ist wesentlich, wenn: 1. er zu einer Beschränkung der Verfahrensrechte der Beteiligten geführt hat und ihm nicht abgeholfen wurde; …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 14 DD, ein Beamter der Grenzpolizei am Flughafen Sofia (Bulgarien), wird gemeinsam mit anderen Personen wegen Straftaten im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung vor dem vorlegenden Gericht, dem Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien), strafrechtlich verfolgt. 15 Zum ersten Verhandlungstermin vor dem vorlegenden Gericht am 15. Oktober 2020 erschienen DD und sein Rechtsanwalt VV. Bei diesem Termin wurde u. a. der Zeuge mit geheimer Identität Nr. 263 vernommen, der von VV befragt werden konnte. Die Fortsetzung dieser Vernehmung wurde für den 30. November 2020 angesetzt. 16 Am 27. November 2020 beantragte VV die Verschiebung des anberaumten Verhandlungstermins und die Vertagung des Verfahrens mit der Begründung, dass er nach einer Coronavirus-Erkrankung noch nicht genesen sei. 17 Im Verhandlungstermin am 30. November 2020 beantragte DD die Vertagung des Verfahrens wegen der Abwesenheit seines Rechtsanwalts VV. Das vorlegende Gericht fuhr trotzdem mit der Vernehmung des Zeugen mit geheimer Identität Nr. 263 fort, wobei es einräumte, dass dadurch das Recht von DD auf Vertretung durch einen Rechtsanwalt und das Recht von VV, der Verhandlung beizuwohnen und daran mitzuwirken, verletzt würden. Ungeachtet dessen vertrat dieses Gericht unter Bezugnahme auf das Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person) (C‑688/18, EU:C:2020:94), die Auffassung, dass die Rechtsverletzung behoben werden könne, indem der Zeuge mit geheimer Identität Nr. 263 im darauffolgenden, für den 18. Dezember 2020 anberaumten Verhandlungstermin erneut vernommen werde, damit VV ihn befragen könne. Die beim Termin vom 30. November 2020 anwesenden Beteiligten stellten dem Zeugen ihre Fragen. In der Folge wurde VV eine Abschrift des Protokolls dieser Vernehmung übersandt. 18 Am 4., 10. und 15. Dezember 2020 legte VV Dokumente vor, die seine gesundheitlichen Probleme sowie die Coronavirus-Erkrankung von DD bescheinigten, und beantragte zweimal die Vertagung der Rechtssache. 19 Im folgenden Verhandlungstermin, der trotzdem am 18. Dezember 2020 in Abwesenheit von DD und VV stattfand, nahm das vorlegende Gericht die Befragung des Zeugen YAR vor, dessen Aussage für die Strafverfolgung von DD relevant war. Es wies dabei erneut darauf hin, dass DD und VV die Gelegenheit gegeben werde, ihn im nächsten Termin zu befragen. Abschriften des Protokolls dieser Vernehmung wurden DD und VV übersandt. 20 Am 11. Januar 2021 fand ein Verhandlungstermin statt, zu dem DD und VV erschienen. Bei dieser Gelegenheit stellte VV die Entscheidung des vorlegenden Gerichts, die Verhandlungstermine vom 30. November 2020 und 18. Dezember 2020 aufrechtzuerhalten, unter Berufung auf eine Verletzung der Verteidigungsrechte in Frage. Hierzu vertrat das vorlegende Gericht u. a. die Ansicht, dass die Durchführung der Verhandlungstermine zwar zu einer Verletzung des Rechts von DD und VV auf persönliche Anwesenheit geführt habe, diese aber durch eine erneute Vernehmung der betroffenen Zeugen behoben werden könne. 21 In einem Verhandlungstermin am 22. Februar 2021 konnten DD und VV den Zeugen mit geheimer Identität Nr. 263 und den Zeugen YAR befragen. Bei dieser Gelegenheit stellte DD keine Fragen, während VV nur den Zeugen YAR befragte und angab, keine Fragen an den Zeugen mit geheimer Identität Nr. 263 zu haben. 22 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach nationalem Recht durch eine Beweiserhebung, u. a. eine Zeugenvernehmung, in Abwesenheit des Angeklagten und seines Rechtsanwalts das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung und auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verletzt werde. Es stehe fest, dass dieser Verfahrensfehler nur dann behoben werden könne, wenn diese Zeugen erneut geladen würden und dem Angeklagten und seinem Rechtsanwalt Gelegenheit gegeben werde, sie zu befragen. 23 Das nationale Recht regele jedoch nicht ausdrücklich, welchen Charakter diese erneute Zeugenvernehmung habe. Entweder handle es sich lediglich um eine zusätzliche Vernehmung, und in diesem Fall blieben die Angaben, die die Zeugen zu den Fragen der anderen Beteiligten bei einer vorausgegangenen Vernehmung in Abwesenheit des Angeklagten und seines Rechtsanwalts gemacht hätten, gültig, oder die erneute Vernehmung ersetze die vorausgegangene, die dann als unwirksam und ohne rechtliche Bedeutung anzusehen sei. In einem solchen Fall müssten die Beteiligten, die bei der vorausgegangenen Vernehmung anwesend gewesen seien, die Fragen, die sie bei dieser Gelegenheit gestellt hätten, erneut stellen. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, es gebe Anhaltspunkte dafür, dass eine zusätzliche Vernehmung genüge, um den Verstoß gegen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahrensregeln zu beheben. 24 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich aus dem Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person) (C‑688/18, EU:C:2020:94), dass keine Verletzung des in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerten Rechts des Angeklagten auf persönliche Anwesenheit gegeben sei, wenn er zwar in einem Verhandlungstermin abwesend gewesen sei, anschließend aber die in seiner Abwesenheit vorgenommenen Handlungen in seiner Anwesenheit wiederholt würden. Das vorlegende Gericht ist jedoch der Auffassung, dass der Umfang dieses Erfordernisses nicht klar sei. Es fragt sich konkreter, ob es notwendig sei, die gesamte Vernehmung eines Zeugen zu wiederholen, so dass die zuvor anwesenden Beteiligten, die dem Zeugen bereits ihre Fragen gestellt hätten, nun nochmal dieselben Fragen stellen müssten und danach der zuvor abwesende Angeklagte seine Fragen stelle, oder ob es genüge, dass die zusätzliche Vernehmung dem Angeklagten und seinem Rechtsbeistand lediglich die Gelegenheit zur Befragung des Zeugen biete. 25 Außerdem fragt sich das vorlegende Gericht, ob das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 verankerte Recht von DD auf Verteidigung durch einen Rechtsbeistand verletzt worden sei, da in der vorliegenden Rechtssache die Verhandlungstermine vom 30. November 2020 und 18. Dezember 2020 in Abwesenheit von VV stattgefunden hätten. 26 Vor diesem Hintergrund hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist das Recht auf persönliche Anwesenheit des Angeklagten gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie und im Licht ihres 44. Erwägungsgrundes gewahrt, wenn in einem gesonderten Verhandlungstermin ein Zeuge in Abwesenheit des Angeklagten vernommen wurde, der Angeklagte aber im darauffolgenden Verhandlungstermin die Gelegenheit hatte, diesen Zeugen zu befragen, jedoch erklärt hat, keine Fragen zu haben, oder ist zur Wahrung des Rechts auf persönliche Anwesenheit die vollständige Wiederholung dieser Vernehmung, einschließlich der Wiederholung der Fragen der weiteren Beteiligten, die bei der ersten Vernehmung anwesend waren, erforderlich? 2. Ist das Recht auf Verteidigung durch einen Rechtsbeistand gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie gewahrt, wenn in zwei gesonderten Verhandlungsterminen zwei Zeugen in Abwesenheit des Rechtsanwalts des Angeklagten vernommen wurden, er aber im darauffolgenden Verhandlungstermin die Gelegenheit hatte, die beiden Zeugen zu befragen, oder ist zur Wahrung des Rechts auf Verteidigung durch einen Rechtsbeistand erforderlich, dass diese beiden Vernehmungen, einschließlich der Fragen der weiteren Beteiligten aus der ersten Vernehmung, vollständig wiederholt werden und zudem dem Rechtsanwalt, der bei den beiden vorausgegangenen Verhandlungsterminen abwesend war, Gelegenheit gegeben wird, seine Fragen zu stellen? 27 Mit Schreiben vom 5. August 2022 teilte der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) dem Gerichtshof mit, dass infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) aufgelöst worden ist und dass bestimmte Strafsachen, die bei diesem Gericht anhängig waren, einschließlich der Rechtssache im Ausgangsverfahren, ab diesem Zeitpunkt an den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) verwiesen worden sind. Zu den Vorlagefragen 28 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen sind, dass, wenn das nationale Gericht, um die Wahrung des Rechts der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung und ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewährleisten, eine zusätzliche Vernehmung eines Belastungszeugen vornimmt, da die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand aus nicht von ihnen zu vertretenden Gründen nicht an der vorausgegangenen Vernehmung dieses Zeugen teilnehmen konnten, es genügt, dass die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand diesen Zeugen frei befragen können, oder ob diese zusätzliche Vernehmung in einer vollständigen Wiederholung der vorausgegangenen Vernehmung des Zeugen bestehen muss, was die Ungültigkeit der bei dieser Vernehmung vorgenommenen Verfahrenshandlungen zur Folge hätte. 29 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 sicherstellen müssen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein. 30 Nach ihrem 47. Erwägungsgrund wahrt diese Richtlinie die in der Charta der Grundrechte und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter das Recht auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte. 31 Wie aus dem 33. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, beruht das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, auf dem Recht auf ein faires Verfahren, das in Art. 6 EMRK verankert ist, dem, wie es in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) heißt, Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 der Charta entsprechen. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung dieser Bestimmungen ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C‑38/18, EU:C:2019:628, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 In diesem Zusammenhang ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung ein in Art. 6 EMRK verankertes Grundprinzip darstellt. Diesem Grundsatz kommt im Strafrecht besondere Bedeutung zu, dessen Verfahren im Allgemeinen ein erstinstanzliches Gericht vorsehen muss, das den Anforderungen von Art. 6 EMRK voll und ganz genügt, vor dem der Rechtsunterworfene zu Recht verlangen kann, „angehört“ zu werden und insbesondere Gelegenheit zu haben, sein Verteidigungsvorbringen mündlich vorzutragen, die belastenden Zeugenaussagen zu hören sowie Zeugen zu befragen und ins Kreuzverhör zu nehmen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteile vom 23. November 2006, Jussila/Finnland, CE:ECHR:2006:1123JUD007305301, § 40, und vom 4. März 2008, Hüseyin Turan/Türkei, CE:ECHR:2008:0304JUD001152902, § 31). 33 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht ferner hervor, dass die Vertragsstaaten bei der Wahl der Mittel, anhand deren ihre Justizsysteme mit den Anforderungen von Art. 6 EMRK in Bezug auf das Recht des Angeklagten auf Teilnahme an der Verhandlung in Einklang gebracht werden können, über einen weiten Spielraum verfügen, wobei sich die vom innerstaatlichen Recht und von der innerstaatlichen Praxis gebotenen Verfahrensmittel als wirksam erweisen müssen, wenn der Angeklagte weder auf sein Erscheinen noch auf seine Verteidigung verzichtet hat noch die Absicht hatte, sich der Justiz zu entziehen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien, CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 83). 34 Was insbesondere das in Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK vorgesehene Recht auf Ladung und Vernehmung von Zeugen angeht, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass diese Bestimmung den Grundsatz aufstellt, dass vor der Verurteilung eines Angeklagten in der Regel alle ihn belastenden Beweise in einer öffentlichen Verhandlung in seiner Anwesenheit zum Zweck einer kontradiktorischen Auseinandersetzung vorgelegt werden müssen. Ausnahmen von diesem Grundsatz können nur unter dem Vorbehalt der Wahrung der Verteidigungsrechte zugelassen werden, die im Allgemeinen verlangen, dass dem Angeklagten eine angemessene und ausreichende Gelegenheit gegeben wird, belastende Zeugenaussagen zu bestreiten und deren Urheber zu befragen, sei es zum Zeitpunkt ihrer Aussage oder in einem späteren Stadium (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteile vom 15. Dezember 2011, Al-Khawadja und Tahery/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2011:1215JUD002676605, § 118, sowie vom 23. März 2016, Blokhin/Russland, CE:ECHR:2016:0323JUD004715206, § 200). 35 In Anbetracht dieser Rechtsprechung ist festzustellen, dass die Befragung eines Belastungszeugen in einem Verhandlungstermin, in dem die beschuldigte Person aus nicht von ihr zu vertretenden Gründen abwesend war, zwar ihr in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankertes Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung verletzt, diese Bestimmung aber einer Behebung der Verletzung in einem späteren Stadium des Verfahrens nicht entgegensteht. So hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Person, die eine Wiederholung von Handlungen in ihrer Anwesenheit erwirkt hat, die bei Verhandlungsterminen vorgenommen wurden, zu denen sie nicht erscheinen konnte, nicht als Person angesehen werden kann, die bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend war (Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person], C‑688/18, EU:C:2020:94, Rn. 48). 36 Um die Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren und der Verteidigungsrechte zu gewährleisten, muss die Wiederholung der Vernehmung des Belastungszeugen jedoch unter Bedingungen erfolgen, die der beschuldigten Person eine angemessene Gelegenheit geben, die belastende Zeugenaussage zu bestreiten und deren Urheber zu befragen. 37 Zu diesem Zweck genügt es, eine zusätzliche Vernehmung durchzuführen, bei der die beschuldigte Person die Gelegenheit hat, den Zeugen frei zu befragen, ohne dass es einer vollständigen Wiederholung der in ihrer Abwesenheit erfolgten Vernehmung bedarf, da es im Hinblick auf die in der vorstehenden Randnummer genannten Anforderungen nicht erforderlich erscheint, die bei dieser Vernehmung vorgenommenen Verfahrenshandlungen für ungültig zu erklären. 38 Wichtig ist jedoch, dass der beschuldigten Person vor der zusätzlichen Vernehmung eine Abschrift des Protokolls der in ihrer Abwesenheit vorgenommenen Vernehmung des Belastungszeugen übermittelt wird. Denn nur wenn die beschuldigte Person Kenntnis vom Inhalt und Ablauf der Befragung des Zeugen bei dieser vorausgegangenen Vernehmung hat, ist sie vollständig in der Lage, ihn gegebenenfalls auf der Grundlage der bei der Vernehmung gemachten Angaben zu befragen. 39 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass DD aus gesundheitlichen Gründen nicht am Verhandlungstermin vom 18. Dezember 2020 teilnehmen konnte, in dem der Zeuge YAR befragt wurde. DD wurde jedoch eine Abschrift des Protokolls dieser Vernehmung übermittelt, und er hatte in der Folge Gelegenheit, diesen Zeugen in einem späteren Verhandlungstermin am 22. Februar 2021 frei zu befragen. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist daher festzustellen, dass die Verletzung des in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerten Rechts von DD auf Anwesenheit in der Verhandlung auf diese Weise behoben worden ist. 40 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 das Grundprinzip aufgestellt wird, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass sie ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2020, VW [Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht], C‑659/18, EU:C:2020:201, Rn. 31). 41 In Bezug auf die Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen, auf die dieses Recht Anwendung findet, sieht Art. 3 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2013/48 vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen mindestens das Recht haben, dass ihr Rechtsbeistand den Identifizierungsgegenüberstellungen, Vernehmungsgegenüberstellungen und Tatortrekonstruktionen beiwohnt. 42 Darüber hinaus werden nach ihrem Art. 1 mit der Richtlinie 2013/48 Mindestvorschriften u. a. für das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in Strafverfahren Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten, festgelegt. 43 Im 54. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es, dass die Mitgliedstaaten die in ihr festgelegten Rechte ausweiten können, um ein höheres Schutzniveau zu bieten, da mit ihr nur Mindestvorschriften erlassen werden. 44 Bereits nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2013/48 können die Mitgliedstaaten dementsprechend das Recht von Verdächtigen oder beschuldigten Personen, dass ihr Rechtsbeistand den in dieser Bestimmung aufgeführten Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beiwohnt, auf andere Handlungen, wie die Vernehmung eines Belastungszeugen vor einem Strafgericht, ausweiten. 45 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass unter Berücksichtigung der in den Rn. 35 bis 38 des vorliegenden Urteils angeführten Grundprinzipien eines fairen Verfahrens die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte einer beschuldigten Person als praktisch und wirksam angesehen werden kann, wenn der Rechtsbeistand der beschuldigten Person, der bei einer Vernehmung eines Belastungszeugen vor einem Strafgericht aus nicht von ihm zu vertretenden Gründen abwesend war, die Gelegenheit hatte, den Zeugen auf der Grundlage der Abschrift der in seiner Abwesenheit vorgenommenen Vernehmung bei einer zusätzlichen Vernehmung frei zu befragen. Es ist daher nicht erforderlich, die Vernehmung, die in seiner Abwesenheit stattgefunden hat, vollständig zu wiederholen. 46 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen sind, dass, wenn das nationale Gericht, um die Wahrung des Rechts der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung und ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewährleisten, eine zusätzliche Vernehmung eines Belastungszeugen vornimmt, da die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand aus nicht von ihnen zu vertretenden Gründen nicht an der vorausgegangenen Vernehmung dieses Zeugen teilnehmen konnten, es genügt, dass die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand den Zeugen frei befragen können, sofern der beschuldigten Person und ihrem Rechtsbeistand vor dieser zusätzlichen Vernehmung eine Abschrift des Protokolls der vorausgegangenen Vernehmung des Zeugen übermittelt wurde. Unter diesen Umständen ist es nicht erforderlich, die Vernehmung, die in Abwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsbeistands stattgefunden hat, vollständig zu wiederholen und die bei dieser Vernehmung vorgenommenen Verfahrenshandlungen für ungültig zu erklären. Kosten 47 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt: Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs sind wie folgt auszulegen: Wenn das nationale Gericht, um die Wahrung des Rechts der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung und ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewährleisten, eine zusätzliche Vernehmung eines Belastungszeugen vornimmt, da die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand aus nicht von ihnen zu vertretenden Gründen nicht an der vorausgegangenen Vernehmung dieses Zeugen teilnehmen konnten, genügt es, dass die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand den Zeugen frei befragen können, sofern der beschuldigten Person und ihrem Rechtsbeistand vor dieser zusätzlichen Vernehmung eine Abschrift des Protokolls der vorausgegangenen Vernehmung des Zeugen übermittelt wurde. Unter diesen Umständen ist es nicht erforderlich, die Vernehmung, die in Abwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsbeistands stattgefunden hat, vollständig zu wiederholen und die bei dieser Vernehmung vorgenommenen Verfahrenshandlungen für ungültig zu erklären. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 1. August 2022.#Bundesrepublik Deutschland gegen SW u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 10 Abs. 3 Buchst. a – Art. 16 Abs. 1 Buchst. b – Begriff ‚minderjähriges Kind‘ – Begriff ‚tatsächliche familiäre Bindungen‘ – Volljährige Person, die die Familienzusammenführung mit einem als Flüchtling anerkannten Minderjährigen beantragt – Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft.#Verbundene Rechtssachen C-273/20 und C-355/20.
62020CJ0273
ECLI:EU:C:2022:617
2022-08-01T00:00:00
Gerichtshof, Hogan
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62020CJ0273 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 1. August 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 10 Abs. 3 Buchst. a – Art. 16 Abs. 1 Buchst. b – Begriff ‚minderjähriges Kind‘ – Begriff ‚tatsächliche familiäre Bindungen‘ – Volljährige Person, die die Familienzusammenführung mit einem als Flüchtling anerkannten Minderjährigen beantragt – Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft“ In den verbundenen Rechtssachen C‑273/20 und C‑355/20 betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Beschlüssen vom 23. April 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juni bzw. 30. Juli 2020, in den Verfahren Bundesrepublik Deutschland gegen SW (C‑273/20), BL, BC (C‑355/20), Beigeladene: Stadt Darmstadt (C‑273/20), Stadt Chemnitz (C‑355/20), erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters N. Wahl, Generalanwalt: G. Hogan, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von SW, vertreten durch Rechtsanwalt H. Mohrmann, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. Hanje und M. J. Langer als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und D. Schaffrin als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2 Buchst. f, Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 16 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12). 2 Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Bundesrepublik Deutschland einerseits und den syrischen Staatsangehörigen SW sowie BL und BC andererseits über deren Anträge auf Erteilung eines nationalen Visums zur Familienzusammenführung mit ihrem jeweiligen, in Deutschland als Flüchtling anerkannten Sohn. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 8 und 9 der Richtlinie 2003/86 wird ausgeführt: „(2) Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. … (4) Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird. … (6) Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens sollten die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden. … (8) Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden. (9) Die Familienzusammenführung sollte auf jeden Fall für die Mitglieder der Kernfamilie, d. h. den Ehegatten und die minderjährigen Kinder gelten.“ 4 Art. 1 der Richtlinie 2003/86 lautet: „Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.“ 5 In Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … f) ‚unbegleiteter Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.“ 6 Art. 4 der Richtlinie sieht vor: „(1)   Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt: … b) den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden und seines Ehegatten, einschließlich der Kinder, die gemäß einem Beschluss der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats oder einem aufgrund der internationalen Verpflichtungen dieses Mitgliedstaats automatisch vollstreckbaren oder anzuerkennenden Beschluss adoptiert wurden; … Die minderjährigen Kinder im Sinne dieses Artikels dürfen das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltende Volljährigkeitsalter noch nicht erreicht haben und dürfen nicht verheiratet sein. … (2)   Vorbehaltlich der in Kapitel IV genannten Bedingungen können die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt gemäß dieser Richtlinie gestatten: a) den Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Zusammenführenden oder seines Ehegatten, wenn Letztere für ihren Unterhalt aufkommen und Erstere in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben; …“ 7 In Art. 5 der Richtlinie 2003/86 heißt es: „(1)   Die Mitgliedstaaten legen fest, ob zur Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung ein Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder vom Zusammenführenden oder von dem oder den Familienangehörigen bei den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gestellt werden muss. … (5)   Bei der Prüfung des Antrags tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.“ 8 Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 sieht vor: „Handelt es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen, so a) gestatten die Mitgliedstaaten ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung; …“ 9 Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie lautet: „(1)   Sobald dem Antrag auf Familienzusammenführung stattgegeben wurde, genehmigt der betreffende Mitgliedstaat die Einreise des oder der Familienangehörigen. Hierzu gewährt der betreffende Mitgliedstaat diesen Personen jede Erleichterung zur Erlangung der vorgeschriebenen Visa. (2)   Der betreffende Mitgliedstaat erteilt den Familienangehörigen einen ersten Aufenthaltstitel mit mindestens einjähriger Gültigkeitsdauer. Dieser Aufenthaltstitel ist verlängerbar.“ 10 Art. 15 der Richtlinie 2003/86 sieht vor: „(1)   Spätestens nach fünfjährigem Aufenthalt und unter der Voraussetzung, dass dem Familienangehörigen kein Aufenthaltstitel aus anderen Gründen als denen der Familienzusammenführung erteilt wurde, haben der Ehegatte oder der nicht eheliche Lebenspartner und das volljährig gewordene Kind – falls erforderlich auf Antrag – das Recht auf einen eigenen Aufenthaltstitel, der unabhängig von jenem des Zusammenführenden ist. Die Mitgliedstaaten können bei Ehegatten oder nicht ehelichen Lebenspartnern die Erteilung des in Unterabsatz 1 genannten Aufenthaltstitels auf Fälle, in denen die familiären Bindungen zerbrechen, beschränken. (2)   Die Mitgliedstaaten können volljährigen Kindern und Verwandten in gerader aufsteigender Linie, auf die Artikel 4 Absatz 2 Anwendung findet, einen eigenen Aufenthaltstitel gewähren. … (4)   Die Bedingungen für die Erteilung und die Dauer eines eigenen Aufenthaltstitels sind im nationalen Recht festgelegt.“ 11 In Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es: „Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung ablehnen oder gegebenenfalls den Aufenthaltstitel eines Familienangehörigen entziehen oder seine Verlängerung verweigern, wenn einer der folgenden Fälle vorliegt: a) Die in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen sind nicht oder nicht mehr erfüllt. … b) Zwischen dem Zusammenführenden und dem (den) Familienangehörige(n) bestehen keine tatsächlichen ehelichen oder familiären Bindungen, oder sie bestehen nicht mehr. …“ 12 Art. 17 der Richtlinie 2003/86 lautet: „Im Fall der Ablehnung eines Antrags, [des] Entzug[s] oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“ Deutsches Recht 13 Das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: AufenthG) sieht in § 6 Abs. 3 vor: „Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die ICT‑Karte, die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU geltenden Vorschriften. …“ 14 In § 25 („Aufenthalt aus humanitären Gründen“) Abs. 2 AufenthG heißt es: „Einem Ausländer ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt hat. …“ 15 § 36 („Nachzug der Eltern und sonstiger Familienangehöriger“) AufenthG lautet: „(1)   Den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, § 25 Absatz 1 oder Absatz 2 Satz 1 erste Alternative, eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 3 oder nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 4 besitzt, ist abweichend von § 5 Absatz 1 Nummer 1 und § 29 Absatz 1 Nummer 2 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. (2)   Sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers kann zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Auf volljährige Familienangehörige sind § 30 Abs. 3 und § 31, auf minderjährige Familienangehörige ist § 34 entsprechend anzuwenden.“ Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen 16 SW sowie BL und BC begehren als syrische Staatsangehörige die Erteilung von nationalen Visa zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem jeweiligen, als Flüchtling anerkannten Sohn. 17 Der am 18. Januar 1999 geborene Sohn von SW sowie der am 1. Januar 1999 geborene Sohn von BL und BC reisten im Jahr 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Auf ihre am 10. Dezember 2015 bzw. 5. Oktober 2015 gestellten Asylanträge erkannte ihnen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 15. Juli 2016 bzw. 10. Dezember 2015 die Flüchtlingseigenschaft zu. Am 15. August 2016 bzw. 26. Mai 2016 erteilte ihnen die jeweilig zuständige Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von drei Jahren. 18 Am 4. Oktober 2016 bzw. 9. November 2016 beantragten SW sowie BL und BC bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Beirut für sich selbst und für weitere Kinder, die Geschwister der jeweils im Bundesgebiet lebenden Söhne sind, nationale Visa zum Zweck der Familienzusammenführung mit dem jeweiligen Sohn. Wie sich aus dem Vorlagebeschluss in der Rechtssache C-355/20 ergibt, hatten die Söhne von BL und BC bereits per E-Mail vom 29. Januar 2016 einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihren Eltern an ebendiese Botschaft übermittelt. 19 Mit Bescheiden vom 2. März 2017 und 28. März 2017 lehnte die Botschaft diese Visaanträge mit der Begründung ab, dass der Sohn von SW sowie der Sohn von BL und BC in der Zwischenzeit, am 18. Januar 2017 bzw. am 1. Januar 2017, volljährig geworden seien. 20 Mit Urteilen vom 1. Februar 2019 und 30. Januar 2019 verpflichtete das Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) die Bundesrepublik Deutschland dazu, SW sowie BL und BC nationale Visa zum Zweck der Familienzusammenführung gemäß § 6 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit § 36 Abs. 1 AufenthG zu erteilen, da ihre Söhne nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, namentlich im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), als Minderjährige zu betrachten seien. 21 Die Bundesrepublik Deutschland legte gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts Berlin Sprungrevision an das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) ein, mit der sie jeweils eine Verletzung von § 36 Abs. 1 AufenthG rügte. Sie macht im Wesentlichen geltend, dass zu dem nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz der Sohn von SW sowie der Sohn von BL und BC keine minderjährigen Flüchtlinge gewesen seien. Die Rechtsprechung aus dem Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), sei auf die vorliegenden Fälle nicht übertragbar, da in der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen sei, eine abschließende Entscheidung nur zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Minderjährigkeit des betroffenen Flüchtlings im Sinne von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 ergangen sei. Nicht entschieden worden sei, ob den Eltern eines volljährig gewordenen Flüchtlings ein Visum zu Einreise und Aufenthalt zu erteilen sei, wenn sie nach nationalem Recht kein vom minderjährigen Flüchtling unabhängiges Aufenthaltsrecht hätten und sofort wieder ausreisen müssten. 22 Dem vorlegenden Gericht zufolge haben SW sowie BL und BC auf der Grundlage des nationalen Rechts keinen Rechtsanspruch auf Erteilung eines Visums zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem jeweiligen Sohn. 23 Insbesondere seien die Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 AufenthG in den vorliegenden Fällen nicht erfüllt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hätten nämlich die Eltern eines minderjährigen Flüchtlings nach dieser Bestimmung nur dann einen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung mit diesem, wenn das Kind noch im Zeitpunkt der behördlichen oder tatsachengerichtlichen Entscheidung über den Antrag auf Familienzusammenführung minderjährig sei. Dadurch unterscheide sich der Elternnachzug vom Kindernachzug, der auf Dauer angelegt sei, weil sich die einem Kind erteilte Aufenthaltserlaubnis mit Eintritt der Volljährigkeit zu einem eigenständigen, vom Familiennachzug unabhängigen Aufenthaltsrecht wandle. Eltern eines minderjährigen Flüchtlings, die diesem nachgezogen seien, gewähre das deutsche Recht dagegen bei Volljährigkeit des Kindes kein derartiges eigenständiges Aufenthaltsrecht, da der nationale Gesetzgeber von der fakultativen Ermächtigung in Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 keinen Gebrauch gemacht habe. 24 Ferner sieht sich das vorlegende Gericht vor die Frage gestellt, anhand welcher Kriterien es zu beurteilen hat, ob das Erfordernis tatsächlicher familiärer Bindungen erfüllt ist, an das Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 das Recht auf Familienzusammenführung knüpft. 25 Vor diesem Hintergrund hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in den Rechtssachen C‑273/20 und C‑355/20 gleichlautende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. a) Kann beim Nachzug zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 das Fortbestehen der Minderjährigkeit „Bedingung“ im Sinne des Art. 16 Abs. l Buchst. a dieser Richtlinie sein? Ist mit den vorgenannten Bestimmungen eine Regelung eines Mitgliedstaats vereinbar, die nachgezogenen Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings im Sinne von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 nur so lange ein (abgeleitetes) Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat gewährt, wie der Flüchtling tatsächlich noch minderjährig ist? b) Falls die Fragen 1.a zu bejahen sind: Ist Art. 16 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a und Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften das (abgeleitete) Aufenthaltsrecht der Eltern auf den Zeitraum bis zur Volljährigkeit des Kindes begrenzt ist, erlaubt ist, einen Antrag der noch im Drittstaat aufhältigen Eltern auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung abzulehnen, wenn der Flüchtling vor der abschließenden Entscheidung über einen innerhalb von drei Monaten nach der Flüchtlingsanerkennung gestellten Antrag im behördlichen oder gerichtlichen Verfahren volljährig geworden ist? 2. Falls in Beantwortung der Fragen l eine Ablehnung der Familienzusammenführung nicht zulässig ist: Welche Anforderungen sind an die tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. l Buchst. b der Richtlinie 2003/86 in Fällen des Elternnachzugs zu einem Flüchtling zu stellen, der vor der Entscheidung über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung volljährig geworden ist? Insbesondere: a) Reicht dafür die Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades (Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86) aus, oder ist auch ein tatsächliches Familienleben erforderlich? b) Falls es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf: Welche Intensität ist dafür erforderlich? Genügen dazu etwa gelegentliche oder regelmäßige Besuchskontakte, bedarf es des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt, oder ist darüber hinaus eine Beistandsgemeinschaft erforderlich, deren Mitglieder aufeinander angewiesen sind? c) Erfordert der Nachzug der Eltern, die sich noch im Drittstaat befinden und einen Antrag auf Familienzusammenführung mit einem als Flüchtling anerkannten, zwischenzeitlich volljährig gewordenen Kind gestellt haben, die Prognose, dass das Familienleben nach der Einreise in der gemäß Frage 2.b geforderten Weise im Mitgliedstaat (wieder) aufgenommen wird? Verfahren vor dem Gerichtshof 26 Mit Entscheidung vom 3. August 2020 hat der Präsident des Gerichtshofs das vorlegende Gericht in der Rechtssache C‑273/20 um Mitteilung gebeten, ob es in Anbetracht des Urteils vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle. Mit Beschluss vom 20. August 2020, der am 27. August 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es das Ersuchen aufrechterhalte. Hinsichtlich der in der Rechtssache aufgeworfenen Fragen bestehe auch nach dem angesprochenen Urteil noch Klärungsbedarf. Gleiches gelte hinsichtlich des Vorabentscheidungsersuchens in der Rechtssache C‑355/20. 27 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. September 2020 sind die Rechtssachen C‑273/20 und C‑355/20 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 28 Mit dem ersten Teil seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass bei der Familienzusammenführung von Eltern und einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie die Minderjährigkeit dieses Flüchtlings auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung über den von den Eltern des Zusammenführenden gestellten Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung eine „Bedingung“ im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a darstellt, bei deren Nichterfüllung die Mitgliedstaaten einen solchen Antrag ablehnen können. Das vorlegende Gericht möchte zudem wissen, ob die genannten Bestimmungen dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, nach der in einem solchen Fall das Aufenthaltsrecht der Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes endet, nicht entgegenstehen. 29 Wie oben in den Rn. 17 bis 19 geschildert worden ist, wurde dem Sohn von SW sowie dem Sohn von BL und BC am 15. Juli 2016 bzw. 10. Dezember 2015 in Deutschland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Am 4. Oktober 2016, also binnen drei Monaten nach Anerkennung ihres Sohns als Flüchtling, beantragte SW ein nationales Visum zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem Sohn, als dieser noch minderjährig war. Auch was BL und BC betrifft, wurde nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, auch wenn ihr Antrag auf nationale Visa erst am 9. November 2016 gestellt wurde, doch der Antrag auf Familienzusammenführung durch ihre Söhne bereits am 29. Januar 2016 übermittelt, also binnen drei Monaten nach Anerkennung ihres minderjährigen Sohns als Flüchtling. Erst mit Bescheiden vom 2. März 2017 und 28. März 2017 wurden sodann die jeweiligen Anträge mit der Begründung abgelehnt, dass der Sohn von SW sowie der Sohn von BL und BC in der Zwischenzeit, am 18. Januar 2017 bzw. am 1. Januar 2017, volljährig geworden seien. 30 Zur Beantwortung des ersten Teils der ersten Frage ist daran zu erinnern, dass die Richtlinie 2003/86 nach ihrem Art. 1 die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, zum Ziel hat. 31 Hierzu ergibt sich aus ihrem achten Erwägungsgrund, dass sie für Flüchtlinge günstigere Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung vorsieht, weil ihrer Lage wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. 32 Eine dieser günstigeren Bedingungen bezieht sich auf die Familienzusammenführung mit den Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades des Flüchtlings. Während nämlich, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 die Möglichkeit einer Familienzusammenführung grundsätzlich dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen bleibt und u. a. von der Bedingung abhängt, dass der Zusammenführende für den Unterhalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades aufkommt und diese in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben, sieht Art. 10 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie als Ausnahme von diesem Grundsatz vor, dass die Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades ein Recht auf eine solche Zusammenführung mit dem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling haben, das weder in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt ist noch den in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a genannten Bedingungen unterliegt (Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 33 und 34). 33 Die Definition des Begriffs „unbegleiteter Minderjähriger“, der in der Richtlinie 2003/86 nur in diesem Art. 10 Abs. 3 Buchst. a verwendet wird, findet sich in Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie. Dort heißt es zwar, dass der Ausdruck „unbegleiteter Minderjähriger“ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen bezeichnet, der u. a. ein Alter von unter 18 Jahren hat, doch wird weder der Zeitpunkt konkretisiert, auf den für die Beurteilung, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, abzustellen ist, noch dafür auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen. Der Gerichtshof hat unter diesen Umständen bereits entschieden, dass den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Festlegung des Zeitpunkts, auf den für die Beurteilung des Alters des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings für die Zwecke des Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 abzustellen ist, kein Spielraum eingeräumt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 39 bis 45). 34 Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung u. a. des Kontexts der Bestimmung und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 35 Insoweit besteht das Ziel der Richtlinie 2003/86 darin, die Familienzusammenführung zu begünstigen, und sie soll ferner Drittstaatsangehörigen, insbesondere Minderjährigen, Schutz gewähren (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Außerdem achten die Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bei der Durchführung des Rechts der Union die Rechte, halten sich an die in der Charta niedergelegten Grundsätze und fördern deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden. 37 Insoweit haben die Mitgliedstaaten, insbesondere ihre Gerichte, nach ständiger Rechtsprechung nicht nur ihr nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen, sondern sie müssen auch darauf achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten kollidiert (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Konkret wird in Art. 7 der Charta das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkannt. Art. 7 der Charta ist nach ständiger Rechtsprechung in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der Charta und unter Beachtung des in deren Art. 24 Abs. 3 niedergelegten Erfordernisses regelmäßiger persönlicher Beziehungen eines Kindes zu beiden Elternteilen zu lesen (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Daraus folgt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 im Licht des Art. 7 und des Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ausgelegt und angewandt werden müssen, wie sich im Übrigen aus dem Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes und des Art. 5 Abs. 5 dieser Richtlinie ergibt, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Im vorliegenden Fall geht aus den Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der unbegleitete minderjährige Flüchtling nach dem deutschen Recht nicht nur bei Stellung des Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung durch den Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades, sondern auch zu dem Zeitpunkt, zu dem die zuständigen nationalen Behörden oder die etwa befassten nationalen Gerichte über einen solchen Antrag entscheiden, jünger als 18 Jahre alt sein muss. 41 Der Gerichtshof hat aber bereits entschieden, dass Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der bei Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und Stellung seines Asylantrags in diesem Staat jünger als 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist (Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 64). 42 In diesem Zusammenhang ist als Erstes festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet, als Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung des Alters des Antragstellers oder, je nach Fall, des Zusammenführenden für die Zwecke der Anwendung von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 richtet, weder mit den Zielen dieser Richtlinie noch mit den Anforderungen in Einklang stünde, die sich aus Art. 7 der Charta, der die Achtung des Familienlebens bezweckt, und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergeben, nach dem bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, insbesondere bei den Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie 2003/86 treffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 36). 43 Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte hätten dann nämlich keine Veranlassung, die Anträge der Eltern Minderjähriger mit der Dringlichkeit, die geboten ist, um der Schutzbedürftigkeit der Minderjährigen Rechnung zu tragen, vorrangig zu bearbeiten, und könnten somit in einer Weise handeln, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden würde (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C‑768/19, EU:C:2021:709, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Als Zweites würde eine solche Auslegung es auch nicht ermöglichen, im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, zu gewährleisten, da sie dazu führen würde, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags, und nicht von Umständen, die in der Sphäre des Antragstellers liegen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 45 Des Weiteren könnte eine solche Auslegung, da damit das Recht auf Familienzusammenführung von zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängig gemacht würde, die voll und ganz im Verantwortungsbereich der zuständigen nationalen Behörden und Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats lägen, große Unterschiede bei der Bearbeitung von Anträgen auf Familienzusammenführung zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats zur Folge haben (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 43). 46 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass bei der Familienzusammenführung von Eltern und einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling im Sinne von Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86 der Zeitpunkt der Entscheidung über den von den Eltern des Zusammenführenden gestellten Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft des betreffenden Flüchtlings nicht maßgebend ist. 47 Folglich kann die Minderjährigkeit des Flüchtlings auch noch zu diesem Zeitpunkt keine „Bedingung“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 sein, bei deren Nichtbeachtung die Mitgliedstaaten einen solchen Antrag ablehnen können; andernfalls entstünde ein Widerspruch zu der oben in Rn. 41 wiedergegebenen Auslegung von Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 durch den Gerichtshof. 48 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, das Alter des Antragstellers oder, je nach Fall, des Zusammenführenden nicht wie diejenigen Voraussetzungen, die namentlich im Rahmen von Kapitel IV der Richtlinie 2003/86 vorgesehen sind und auf die in Art. 16 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie abgestellt wird, als eine materielle Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung im Sinne des sechsten Erwägungsgrundes und von Art. 1 der Richtlinie angesehen werden kann. Im Gegensatz zu den in Kapitel IV vorgesehenen Voraussetzungen stellt die Voraussetzung des Alters nämlich eine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags auf Familienzusammenführung dar, deren Entwicklung sicher und vorhersehbar ist und die daher nur zum Zeitpunkt der Einreichung dieses Antrags beurteilt werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 46). 49 Daraus folgt, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 einer nationalen Regelung entgegensteht, die bei der Familienzusammenführung von Eltern und einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie verlangt, dass dieser Flüchtling zum Zeitpunkt der Entscheidung über den von den Eltern des Zusammenführenden gestellten Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung noch minderjährig ist. 50 Was die Frage betrifft, ob das Aufenthaltsrecht der Eltern auf den Zeitraum beschränkt werden darf, in dem die Minderjährigkeit des Zusammenführenden fortbesteht, ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 13 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86, sobald dem Antrag auf Familienzusammenführung stattgegeben wurde, verpflichtet sind, den Familienangehörigen einen ersten Aufenthaltstitel mit mindestens einjähriger Gültigkeitsdauer zu erteilen. 51 Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass, auch dann, wenn die Familienzusammenführung von den Eltern eines minderjährigen Flüchtlings beantragt wurde, der inzwischen volljährig geworden ist, diesen Eltern, wenn ihrem Antrag stattgegeben wird, ein Aufenthaltstitel erteilt werden muss, der mindestens ein Jahr lang gültig ist, ohne dass der Eintritt der Volljährigkeit des als Flüchtling anerkannten Kindes dazu führen darf, dass die Dauer eines solchen Aufenthaltstitels verkürzt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C‑768/19, EU:C:2021:709, Rn. 63). Somit verstößt es gegen diese Bestimmung, den Eltern unter solchen Umständen ein Aufenthaltsrecht nur so lange zu gewähren, wie das Kind tatsächlich minderjährig ist. 52 Nach alledem ist auf den ersten Teil der ersten Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass bei der Familienzusammenführung von Eltern und einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie die Minderjährigkeit dieses Flüchtlings auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung über den von den Eltern des Zusammenführenden gestellten Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung keine „Bedingung“ im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a darstellt, bei deren Nichterfüllung die Mitgliedstaaten einen solchen Antrag ablehnen können. Außerdem sind die genannten Bestimmungen im Licht von Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der in einem solchen Fall das Aufenthaltsrecht der Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes endet. 53 In Anbetracht der Antwort auf den ersten Teil der ersten Frage ist der zweite Teil dieser Frage nicht zu beantworten, da er vom vorlegenden Gericht nur für den Fall der Bejahung des ersten Teils dieser Frage gestellt worden ist. Zur zweiten Frage 54 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, unter welchen Voraussetzungen bei der Familienzusammenführung eines Elternteils und eines als Flüchtling anerkannten minderjährigen Kindes tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 anzunehmen sind, wenn das Kind vor Erlass der Entscheidung über den Antrag dieses Elternteils auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung volljährig geworden ist. 55 Insbesondere ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klärung, ob dafür die Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades ausreichend ist oder ob es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf und wie intensiv dieses bejahendenfalls sein muss. Ferner möchte es wissen, ob eine Familienzusammenführung erfordert, dass nach der Einreise des Elternteils in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats das Familienleben dort wieder aufgenommen wird. 56 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es den Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 gestattet ist, einen Antrag auf Familienzusammenführung abzulehnen, den hierfür erteilten Aufenthaltstitel zu entziehen oder seine Verlängerung zu verweigern, wenn zwischen dem Zusammenführenden und dem bzw. den Familienangehörigen keine tatsächlichen ehelichen oder familiären Bindungen bestehen oder sie nicht mehr bestehen. Diese Bestimmung legt jedoch keine Kriterien fest, anhand deren sich das Bestehen solcher tatsächlichen familiären Bindungen beurteilen lässt, und stellt auch keine konkreten Anforderungen an die Intensität der betreffenden familiären Beziehungen. Darüber hinaus verweist sie in diesem Punkt auch nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten. 57 Wie oben in Rn. 34 ausgeführt, folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung u. a. des Kontexts der Bestimmung und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss. 58 Die Richtlinie 2003/86 soll nach ihrem sechsten Erwägungsgrund über die Familienzusammenführung den Schutz der Familie und die Wahrung oder Herstellung des Familienlebens gewährleisten. Die Familienzusammenführung ist außerdem nach dem vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist, und trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei. 59 Im Übrigen sind, wie oben in Rn. 39 ausgeführt, bei Maßnahmen, die die Familienzusammenführung betreffen, einschließlich der in Art. 16 der Richtlinie 2003/86 vorgesehenen Maßnahmen, die Grundrechte zu beachten, namentlich das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das durch Art. 7 sowie durch Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta garantiert wird, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen. 60 Zudem ist nach dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 der Lage von Flüchtlingen wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Deshalb sieht diese Richtlinie für Flüchtlinge und ihre Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vor. 61 Schließlich ist, um zu beurteilen, welche Voraussetzungen für die Annahme tatsächlicher familiärer Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 erfüllt sein müssen – wie sich auch aus Art. 17 dieser Richtlinie ergibt –, eine Einzelfallprüfung anhand aller für den jeweiligen Fall relevanten Faktoren und im Licht der mit der Richtlinie verfolgten Ziele vorzunehmen. 62 Dabei genügt die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades nicht, um eine tatsächliche familiäre Bindung zu begründen. Die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 und der Charta schützen nämlich das Recht auf ein Familienleben und fördern dessen Wahrung, wobei sie es allerdings, sofern die Betroffenen weiterhin ein tatsächliches Familienleben führen, den Inhabern dieses Rechts überlassen, darüber zu entscheiden, wie sie ihr Familienleben führen wollen, und insbesondere keine Anforderungen an die Intensität von deren familiärer Beziehung stellen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C‑768/19, EU:C:2021:709, Rn. 58). 63 Vorliegend steht zum einen fest, dass sowohl das Kind von SW als auch das Kind von BL und BC noch minderjährig waren, als sie gezwungen waren, ihr Herkunftsland zu verlassen, und dass es sich somit in beiden Fällen bei den jeweils Beteiligten zusammen um eine Kernfamilie im Sinne des neunten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2003/86 handelte, für die nach demselben Erwägungsgrund die Familienzusammenführung „auf jeden Fall“ gelten sollte. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass zwischen den Betroffenen in der Zeit vor der Flucht des jeweiligen Kindes keine tatsächlichen familiären Bindungen bestanden. 64 Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass SW sowie BL und BC und ihr jeweiliges Kind während der Zeit ihrer Trennung, die namentlich auf die Sondersituation der Kinder als Flüchtlinge zurückging, kein echtes Familienleben führen konnten, weshalb allein auf diesen Umstand an sich nicht die Feststellung gestützt werden kann, dass keine tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 bestanden. Im Übrigen kann auch nicht angenommen werden, dass jegliche familiäre Bindung zwischen einem Elternteil und seinem Kind sofort wegfällt, sobald das minderjährige Kind volljährig wird. 65 Davon abgesehen setzen tatsächliche familiäre Bindungen die Feststellung voraus, dass die familiäre Bindung wirklich gegeben ist oder der Wille besteht, eine solche Bindung herzustellen oder aufrechtzuerhalten. 66 So kann der Umstand, dass die Betroffenen beabsichtigen, einander gelegentlich zu besuchen, sofern dies möglich ist, und in irgendeiner Weise regelmäßigen Kontakt zu pflegen, unter Berücksichtigung insbesondere der ihre Situation kennzeichnenden tatsächlichen Umstände, zu denen das Alter des Kindes gehört, für die Annahme, dass sie persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. 67 Darüber hinaus kann, wie vom Gerichtshof ebenfalls entschieden, auch nicht verlangt werden, dass sich das zusammenführende Kind und sein Elternteil gegenseitig finanziell unterstützen, da wahrscheinlich ist, dass sie nicht über die materiellen Mittel dafür verfügen (vgl. entsprechend Urteil vom 1. August 2022, Bundesrepublik Deutschland [Nachzug eines volljährig gewordenen Kindes], C‑279/20, EU:C:2022:XXX, Rn. 68). 68 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass für die Annahme, dass bei der Familienzusammenführung eines Elternteils und eines als Flüchtling anerkannten minderjährigen Kindes tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne dieser Bestimmung bestehen, wenn das Kind vor Erlass der Entscheidung über den Antrag dieses Elternteils auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung volljährig geworden ist, die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades nicht genügt. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass das zusammenführende Kind und der betreffende Elternteil im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit dieser Elternteil Anspruch auf Familienzusammenführung haben kann. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich das zusammenführende Kind und der betreffende Elternteil gegenseitig finanziell unterstützen. Kosten 69 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidungen sind daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass bei der Familienzusammenführung von Eltern und einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie die Minderjährigkeit dieses Flüchtlings auch noch zum Zeitpunkt der Entscheidung über den von den Eltern des Zusammenführenden gestellten Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung keine „Bedingung“ im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. a darstellt, bei deren Nichterfüllung die Mitgliedstaaten einen solchen Antrag ablehnen können. Außerdem sind die genannten Bestimmungen im Licht von Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der in einem solchen Fall das Aufenthaltsrecht der Eltern mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes endet. 2. Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass für die Annahme, dass bei der Familienzusammenführung eines Elternteils und eines als Flüchtling anerkannten minderjährigen Kindes tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne dieser Bestimmung bestehen, wenn das Kind vor Erlass der Entscheidung über den Antrag dieses Elternteils auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung volljährig geworden ist, die bloße Verwandtschaft in gerader aufsteigender Linie ersten Grades nicht genügt. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass das zusammenführende Kind und der betreffende Elternteil im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit dieser Elternteil Anspruch auf Familienzusammenführung haben kann. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich das zusammenführende Kind und der betreffende Elternteil gegenseitig finanziell unterstützen. Prechal Passer Biltgen Rossi Wahl Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 1. August 2022. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 1. August 2022.#Bundesrepublik Deutschland gegen XC.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c – Begriff ‚minderjähriges Kind‘ – Art. 16 Abs. 1 Buchst. b – Begriff ‚tatsächliche familiäre Bindungen‘ – Kind, das die Familienzusammenführung mit seinem als Flüchtling anerkannten Vater beantragt – Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft.#Rechtssache C-279/20.
62020CJ0279
ECLI:EU:C:2022:618
2022-08-01T00:00:00
Collins, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62020CJ0279 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 1. August 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c – Begriff ‚minderjähriges Kind‘ – Art. 16 Abs. 1 Buchst. b – Begriff ‚tatsächliche familiäre Bindungen‘ – Kind, das die Familienzusammenführung mit seinem als Flüchtling anerkannten Vater beantragt – Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft“ In der Rechtssache C‑279/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Beschluss vom 23. April 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 2020, in dem Verfahren Bundesrepublik Deutschland gegen XC, Beigeladener: Landkreis Cloppenburg, erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters N. Wahl, Generalanwalt: A. M. Collins, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, Avvocato dello Stato, – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und D. Schaffrin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Dezember 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der syrischen Staatsangehörigen XC wegen der Ablehnung des Antrags auf Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familienzusammenführung, den XC gestellt hatte, durch die Bundesrepublik Deutschland. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 8 und 9 der Richtlinie 2003/86 wird ausgeführt: „(2) Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. … (4) Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird. … (6) Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens sollten die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden. … (8) Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden. (9) Die Familienzusammenführung sollte auf jeden Fall für die Mitglieder der Kernfamilie, d. h. den Ehegatten und die minderjährigen Kinder gelten.“ 4 Art. 1 der Richtlinie 2003/86 lautet: „Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.“ 5 In Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … f) ‚unbegleiteter Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.“ 6 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor: „Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt: … c) den minderjährigen Kindern, einschließlich der adoptierten Kinder des Zusammenführenden, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt. Die Mitgliedstaaten können die Zusammenführung in Bezug auf Kinder gestatten, für die ein geteiltes Sorgerecht besteht, sofern der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt; … Die minderjährigen Kinder im Sinne dieses Artikels dürfen das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltende Volljährigkeitsalter noch nicht erreicht haben und dürfen nicht verheiratet sein. …“ 7 In Art. 5 der Richtlinie 2003/86 heißt es: „(1)   Die Mitgliedstaaten legen fest, ob zur Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung ein Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder vom Zusammenführenden oder von dem oder den Familienangehörigen bei den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gestellt werden muss. … (5)   Bei der Prüfung des Antrags tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.“ 8 Art. 10 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86 sieht vor: „Handelt es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen, so a) gestatten die Mitgliedstaaten ungeachtet der in Artikel 4 Absatz 2 Buchstabe a) genannten Bedingungen die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung; …“ 9 Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung ablehnen oder gegebenenfalls den Aufenthaltstitel eines Familienangehörigen entziehen oder seine Verlängerung verweigern, wenn einer der folgenden Fälle vorliegt: … b) Zwischen dem Zusammenführenden und dem (den) Familienangehörige(n) bestehen keine tatsächlichen ehelichen oder familiären Bindungen, oder sie bestehen nicht mehr. …“ 10 Art. 17 der Richtlinie 2003/86 lautet: „Im Fall der Ablehnung eines Antrags, [des] Entzug[s] oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“ Deutsches Recht 11 Das Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: AufenthG) sieht in § 6 Abs. 3 vor: „Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Blaue Karte EU, die ICT‑Karte, die Niederlassungserlaubnis und die Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU geltenden Vorschriften. …“ 12 In § 25 („Aufenthalt aus humanitären Gründen“) Abs. 2 AufenthG heißt es: „Einem Ausländer ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Absatz 1 des Asylgesetzes oder subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes zuerkannt hat. …“ 13 § 32 („Kindernachzug“) Abs. 1 AufenthG bestimmt: „Dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn beide Eltern oder der allein personensorgeberechtigte Elternteil einen der folgenden Aufenthaltstitel besitzt: … 2. Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 1 oder Absatz 2 Satz 1 erste Alternative …“ 14 § 36 („Nachzug der Eltern und sonstiger Familienangehöriger“) AufenthG lautet: „(1)   Den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 4, § 25 Absatz 1 oder Absatz 2 Satz 1 erste Alternative, eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 3 oder nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Absatz 4 besitzt, ist abweichend von § 5 Absatz 1 Nummer 1 und § 29 Absatz 1 Nummer 2 eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. (2)   Sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers kann zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Auf volljährige Familienangehörige sind § 30 Abs. 3 und § 31, auf minderjährige Familienangehörige ist § 34 entsprechend anzuwenden.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 15 XC, geboren am 1. Januar 1999, beantragte als syrische Staatsangehörige, die seit mehreren Jahren in der Türkei lebt, die Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem in Deutschland als Flüchtling anerkannten Vater. 16 Ihre Mutter ist verstorben. Ihr Vater reiste 2015 nach Deutschland ein, wo er im April 2016 einen förmlichen Asylantrag stellte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte ihm auf seine erfolgreiche Klage im Juli 2017 die Flüchtlingseigenschaft zu. Die Ausländerbehörde erteilte ihm im September 2017 eine für drei Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG. 17 Am 10. August 2017 beantragte XC, die am 1. Januar 2017 volljährig geworden war, beim Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland in Istanbul (Türkei) ein nationales Visum zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem in Deutschland wohnhaften Vater. Das Generalkonsulat lehnte die Erteilung des beantragten Visums zuletzt mit Remonstrationsbescheid vom 11. Dezember 2017 ab. Es befand, dass die Voraussetzungen des § 32 AufenthG nicht erfüllt seien, da XC volljährig geworden sei, bevor ihrem Vater die Aufenthaltserlaubnis als Flüchtling erteilt worden sei. Außerdem setze nach § 36 Abs. 2 AufenthG der Familiennachzug volljähriger Kinder eine außergewöhnliche Härte voraus, die im vorliegenden Fall nicht gegeben sei, da nicht erkennbar sei, dass XC in der Türkei kein eigenständiges Leben führen könne. 18 Mit Urteil vom 12. März 2019 gab das Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) der Klage von XC gegen diesen Bescheid des Generalkonsulats statt und verpflichtete die Bundesrepublik Deutschland, ihr ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung zu erteilen. Es begründete seine Entscheidung damit, dass nach dem Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), betreffend den Familiennachzug von Eltern zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, das auf die hier vorliegende umgekehrte Konstellation des Familiennachzugs eines Kindes zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil übertragbar sei, nicht der Zeitpunkt der Beantragung des Visums zum Zweck der Familienzusammenführung für die Beurteilung der Minderjährigenschaft von XC maßgebend sei, sondern der Zeitpunkt der Asylbeantragung durch ihren Vater. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 sei somit dahin auszulegen, dass ein Kind des Zusammenführenden als minderjährig anzusehen sei, wenn es bei der Stellung des Asylantrags durch den Zusammenführenden minderjährig gewesen sei. Außerdem sei auch im Fall des Kindernachzugs die Bestimmung des Zeitpunkts, der für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft des betreffenden Kindes maßgebend sei, nicht dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen, sondern müsse sich aus einer autonomen Auslegung dieser Richtlinie ergeben. Die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Familienzusammenführung würde in Frage gestellt, und die Grundsätze der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung wären verletzt, wenn bei Art. 4 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft des betreffenden Kindes auf den Zeitpunkt der Stellung von dessen Visumantrag abgestellt würde. XC habe ihren Visumantrag vorliegend innerhalb der nach der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs geforderten Frist von drei Monaten ab Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Stammberechtigten gestellt. 19 Die Bundesrepublik Deutschland legte gegen das Urteil Revision an das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) ein. Diese stützte sie darauf, dass es in der Rechtssache, in der das Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), ergangen sei, um einen anderen Sachverhalt, als er vorliegend in Rede stehe, und um die Auslegung einer anderen Bestimmung der Richtlinie 2003/86 als der hier relevanten gegangen sei. Die vom Gerichtshof angeführten Überlegungen zur Auslegung von Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie beanspruchten für die Auslegung des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie keine Geltung, zumal diese Vorschrift ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweise. 20 Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass XC nach nationalem Recht keinen Anspruch auf das beantragte Visum habe. Nach deutschem Recht stehe dem der Umstand entgegen, dass XC vor der Stellung des Visumantrags volljährig geworden sei. Es sieht jedoch Klärungsbedarf, was die Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit der Richtlinie 2003/86 betrifft. Insbesondere wirft es die Frage auf, ob auf den vorliegenden Fall der vom Gerichtshof im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), gewählte Ansatz angewandt werden kann: Danach ist ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als „Minderjähriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 anzusehen. 21 Das vorlegende Gericht hegt insoweit Zweifel, da jenes Urteil den Elternnachzug zu einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gemäß Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 betroffen habe. Im Ausgangsverfahren gehe es hingegen um die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie, der den Kindernachzug zu erwachsenen Drittstaatsangehörigen regle, die in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannt und damit aufenthaltsberechtigt seien. 22 Ferner sieht sich das vorlegende Gericht vor die Frage gestellt, anhand welcher Kriterien es zu beurteilen hat, ob das Erfordernis tatsächlicher familiärer Bindungen erfüllt ist, an das Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 das Recht auf Familienzusammenführung knüpft. 23 Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass ein Kind des Zusammenführenden, der als Flüchtling anerkannt worden ist, auch dann minderjährig im Sinne dieser Vorschrift ist, wenn es im Zeitpunkt der Asylantragstellung des Zusammenführenden minderjährig war, aber schon vor dessen Anerkennung als Flüchtling und Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist? 2. Bei Bejahung der Frage 1: Welche Anforderungen sind an die tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 in einem solchen Fall zu stellen? a) Reicht dafür das rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis aus, oder ist auch ein tatsächliches Familienleben erforderlich? b) Falls es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf: Welche Intensität ist dafür erforderlich? Genügen dazu etwa gelegentliche oder regelmäßige Besuchskontakte, bedarf es des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt oder ist darüber hinaus eine Beistandsgemeinschaft erforderlich, deren Mitglieder aufeinander angewiesen sind? c) Erfordert der Nachzug des zwischenzeitlich volljährig gewordenen Kindes, das sich noch im Drittstaat befindet und einen Antrag auf Familienzusammenführung zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil gestellt hat, die Prognose, dass das Familienleben nach der Einreise in der gemäß Frage 2.b geforderten Weise im Mitgliedstaat (wieder) aufgenommen wird? Verfahren vor dem Gerichtshof 24 Mit Entscheidung vom 3. August 2020 hat der Präsident des Gerichtshofs das vorlegende Gericht um Mitteilung gebeten, ob es in Anbetracht des Urteils vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle. 25 Mit Beschluss vom 8. September 2020, der am 9. September 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es das Ersuchen aufrechterhalte, weil die in der Rechtssache aufgeworfenen Fragen durch das angesprochene Urteil aus Sicht des Gerichts nicht hinreichend beantwortet würden. 26 Am 12. Mai 2021 hat der Gerichtshof der deutschen Regierung gemäß Art. 61 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung eine Frage gestellt, mit der er sie aufgefordert hat, zu der möglichen Bedeutung des Urteils vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), im Hinblick auf die Beantwortung der ersten Vorlagefrage Stellung zu nehmen. Am 21. Juni 2021 hat die deutsche Regierung eine Antwort auf die Frage des Gerichtshofs eingereicht. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 27 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass der maßgebende Zeitpunkt für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, der Zeitpunkt ist, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag im Hinblick auf die Anerkennung als Flüchtling gestellt hat. 28 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass diese Frage den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens geschuldet ist, in dem das betreffende Kind minderjährig war, als sein Vater seinen Asylantrag im April 2016 stellte, aber volljährig wurde, bevor sein Vater, nachdem dessen Antrag ursprünglich von den zuständigen deutschen Behörden abgelehnt worden war, im Juli 2017 als Flüchtling anerkannt wurde, und somit bevor es die Möglichkeit hatte, einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung mit dem betreffenden Elternteil zu stellen; dieser Antrag wurde am 10. August 2017 gestellt. 29 Das vorlegende Gericht ist, wie sich aus der oben in Rn. 25 erwähnten Antwort auf eine Frage des Gerichtshofs ergibt, der Ansicht, dass sich das Ausgangsverfahren von denjenigen unterscheide, in denen das Urteil vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), ergangen sei. Es verweist hierfür namentlich auf die Unterschiede zwischen dem jeweiligen Sach- und Rechtszusammenhang der damaligen Rechtssachen einerseits und des Ausgangsverfahrens andererseits. Insbesondere weist es darauf hin, dass der Gerichtshof in jenem Urteil zwar klargestellt habe, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen sei, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen sei, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind sei, derjenige Zeitpunkt sei, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt werde, und nicht derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags eingelegt worden sei, über den Antrag entschieden werde. Gleichwohl sei nicht die Frage beantwortet worden, ob beim Kindernachzug zu einem als Flüchtling anerkannten Elternteil auf einen früheren Zeitpunkt als den des Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung, nämlich auf denjenigen des Asylantrags, der von diesem Elternteil gestellt worden sei, abgestellt werden könne, da diese Frage für die besagten Rechtssachen nicht entscheidungserheblich gewesen sei. 30 Fraglich ist also, ob unter Berücksichtigung dieser besonderen Umstände im vorliegenden Fall der Ansatz, den der Gerichtshof im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), gewählt hat, in Bezug auf den Zeitpunkt zur Anwendung kommen kann, der für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft des Kindes eines als Flüchtling anerkannten Asylbewerbers maßgebend ist. 31 Vor diesem Hintergrund ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass das Urteil vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), nicht über die Frage befinde, ob der vom Gerichtshof im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), gewählte Ansatz, wie er oben in Rn. 20 geschildert worden ist, vorliegend zur Anwendung gelangen könne. 32 Die erste Frage ist im Licht dieser Vorbemerkungen zu beantworten. 33 Insoweit ist daran zu erinnern, dass das Ziel der Richtlinie 2003/86 darin besteht, die Familienzusammenführung zu begünstigen, und dass sie außerdem Drittstaatsangehörigen, insbesondere Minderjährigen, Schutz gewähren soll (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34 In diesem Zusammenhang erlegt Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte Rechte entsprechen. Er schreibt ihnen in den in der Richtlinie festgelegten Fallkonstellationen vor, den Nachzug bestimmter Familienangehöriger des Zusammenführenden zu gestatten, ohne dass sie in dieser Hinsicht über ein Ermessen verfügen würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 35 Zu den Familienangehörigen des Zusammenführenden, deren Einreise und Aufenthalt der betroffene Mitgliedstaat zu gestatten hat, gehören nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 die „minderjährigen Kinde[r], einschließlich der adoptierten Kinder des Zusammenführenden, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt“. 36 Insoweit gibt Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/86, während er bestimmt, dass die minderjährigen Kinder das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltende Volljährigkeitsalter noch nicht erreicht haben dürfen, weder an, auf welchen Zeitpunkt abzustellen ist, um zu beurteilen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, noch verweist er diesbezüglich auf das Recht der Mitgliedstaaten (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 28). 37 Zwar ist es nach dieser Bestimmung dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen, das gesetzliche Volljährigkeitsalter festzulegen, doch kann ihnen hinsichtlich der Festlegung des Zeitpunkts, auf den für die Beurteilung des Alters des Antragstellers für die Zwecke von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 abzustellen ist, kein Spielraum eingeräumt werden. Aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt nämlich, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung u. a. des Kontexts der Bestimmung und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Wie oben in Rn. 33 ausgeführt, besteht das Ziel der Richtlinie 2003/86 in der Begünstigung der Familienzusammenführung. Zu diesem Zweck legt sie ausweislich ihres Art. 1 die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige fest, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten. 39 Außerdem achten die Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bei der Durchführung des Rechts der Union die Rechte, halten sich an die in der Charta niedergelegten Grundsätze und fördern deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden. 40 Nach ständiger Rechtsprechung haben die Mitgliedstaaten, insbesondere ihre Gerichte, nicht nur ihr nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen, sondern sie müssen auch darauf achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten kollidiert (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Konkret wird in Art. 7 der Charta das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkannt. Art. 7 der Charta ist nach ständiger Rechtsprechung in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der Charta und unter Beachtung des in deren Art. 24 Abs. 3 niedergelegten Erfordernisses regelmäßiger persönlicher Beziehungen eines Kindes zu beiden Elternteilen zu lesen (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Daraus folgt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 im Licht des Art. 7 und des Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ausgelegt und angewandt werden müssen, wie sich im Übrigen aus dem Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes und des Art. 5 Abs. 5 dieser Richtlinie ergibt, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Hier geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass es nach deutschem Recht zwar nicht erforderlich ist, dass das Kind zum Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Antrag auf Familienzusammenführung minderjährig ist, dass es aber zu dem Zeitpunkt minderjährig sein muss, zu dem sein Visumantrag gestellt wird, und zu dem Zeitpunkt, zu dem dem Elternteil die zum Familiennachzug berechtigende Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. 44 Vor diesem Hintergrund könnte sich XC nur dann auf Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 berufen und damit im weiteren Verfahren vor dem vorlegenden Gericht Erfolg haben, wenn sich ihre Minderjährigeneigenschaft nach dem Zeitpunkt beurteilt, zu dem ihr Vater Asyl beantragt hat. 45 Insoweit ist von vornherein darauf hinzuweisen, dass das Kind eines Asylbewerbers einen Antrag auf Familienzusammenführung auf der Grundlage des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 nur dann wirksam stellen kann, wenn über den Antrag des Asyl suchenden Elternteils auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bereits endgültig positiv entschieden wurde. Wie der Gerichtshof bereits erläutert hat, lässt sich diese Voraussetzung unschwer damit erklären, dass sich vor Erlass einer solchen Entscheidung nicht mit Sicherheit feststellen lässt, ob der Betroffene die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, was wiederum Voraussetzung für das Recht auf Familienzusammenführung ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 51 und 63). 46 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ein deklaratorischer Akt ist und ein Flüchtling somit ab dem Zeitpunkt seines entsprechenden Antrags ein Recht auf Zuerkennung dieser Eigenschaft hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 53 und 54). 47 Wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich auch aus den Urteilen des Gerichtshofs vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), und vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), dass das Recht auf Familienzusammenführung, wenn es um minderjährige Kinder geht, nicht durch den Zeitaufwand für Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz oder auf Familienzusammenführung ausgehöhlt werden darf. 48 Ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde des fraglichen Mitgliedstaats über den Asylantrag des betreffenden Elternteils entscheidet, oder auf den späteren Zeitpunkt, zu dem das betroffene Kind seinen Visumantrag zum Zweck der Familienzusammenführung stellt, als Zeitpunkt, nach dem sich die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft für die Zwecke der Anwendung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 richtet, stünde aber nicht nur mit den Zielen dieser Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen und Flüchtlingen besonderen Schutz zu gewähren, sondern auch mit den Anforderungen, die sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergeben, nicht in Einklang; die letztgenannte Bestimmung impliziert dabei, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, insbesondere bei den Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie 2003/86 treffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 36). 49 Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte hätten dann nämlich keine Veranlassung, die Anträge von Eltern Minderjähriger auf internationalen Schutz mit der Dringlichkeit, die geboten ist, um der besonderen Schutzbedürftigkeit der Minderjährigen Rechnung zu tragen, vorrangig zu bearbeiten und könnten somit in einer Weise handeln, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden würde (vgl. entsprechend Urteile vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C‑768/19, EU:C:2021:709, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Außerdem liefe eine solche Auslegung den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit zuwider, indem sie es nicht ermöglichen würde, eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, zu gewährleisten, da sie dazu führen würde, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags, und nicht von Umständen, die in der Sphäre des Antragstellers liegen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 56 und 60 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Des Weiteren könnte eine solche Auslegung, da damit das Recht des betroffenen minderjährigen Kindes auf Familienzusammenführung von zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängig gemacht würde, die voll und ganz im Verantwortungsbereich der zuständigen nationalen Behörden und Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats lägen, große Unterschiede bei der Bearbeitung von Anträgen auf Familienzusammenführung zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats zur Folge haben (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 43). 52 Aus Gründen, die im Wesentlichen denjenigen entsprechen, auf denen die Auslegung von Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 im Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), beruht, ist folglich für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden minderjährig im Sinne des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 ist, wenn es vor der Anerkennung des Zusammenführenden als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags des Zusammenführenden abzustellen. Nur das Abstellen auf diesen Zeitpunkt steht mit den Zielsetzungen dieser Richtlinie und den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten in Einklang. Dabei ist es unerheblich, ob über diesen Antrag unmittelbar nach Antragstellung oder aber, wie im Ausgangsverfahren, nach Nichtigerklärung einer ihn ablehnenden Entscheidung befunden wird. 53 In diesem Zusammenhang ist jedoch klarzustellen, dass in einem solchen Fall der Antrag auf Familienzusammenführung auf der Grundlage des Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 innerhalb einer angemessenen Frist erfolgen muss, d. h. innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling. 54 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass der maßgebende Zeitpunkt für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, der Zeitpunkt ist, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag im Hinblick auf die Anerkennung als Flüchtling gestellt hat, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling gestellt wurde. Zur zweiten Frage 55 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, unter welchen Voraussetzungen bei der Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes und eines als Flüchtling anerkannten Elternteils tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 anzunehmen sind, wenn das Kind vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist. 56 Insbesondere ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klärung, ob dafür das rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis ausreichend ist oder ob es auch eines tatsächlichen Familienlebens bedarf und wie intensiv dieses bejahendenfalls sein muss. Ferner möchte es wissen, ob eine Familienzusammenführung erfordert, dass nach der Einreise des Kindes in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats das Familienleben dort wieder aufgenommen wird. 57 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es den Mitgliedstaaten nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 gestattet ist, einen Antrag auf Familienzusammenführung abzulehnen, den hierfür erteilten Aufenthaltstitel zu entziehen oder seine Verlängerung zu verweigern, wenn zwischen dem Zusammenführenden und dem bzw. den Familienangehörigen keine tatsächlichen ehelichen oder familiären Bindungen bestehen oder sie nicht mehr bestehen. Diese Bestimmung legt jedoch keine Kriterien fest, anhand deren sich das Bestehen solcher tatsächlichen familiären Bindungen beurteilen lässt, und stellt auch keine konkreten Anforderungen an die Intensität der betreffenden familiären Beziehungen. Darüber hinaus verweist sie in diesem Punkt auch nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten. 58 Wie oben in Rn. 37 ausgeführt, folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung u. a. des Kontexts der Bestimmung und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss. 59 Die Richtlinie 2003/86 soll nach ihrem sechsten Erwägungsgrund über die Familienzusammenführung den Schutz der Familie und die Wahrung oder Herstellung des Familienlebens gewährleisten. Die Familienzusammenführung ist außerdem nach dem vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist, und trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei. 60 Im Übrigen sind, wie oben in Rn. 42 ausgeführt, bei Maßnahmen, die die Familienzusammenführung betreffen, einschließlich der in Art. 16 der Richtlinie 2003/86 vorgesehenen Maßnahmen, die Grundrechte zu beachten, namentlich das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das durch Art. 7 sowie durch Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta garantiert wird, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen. 61 Zudem ist nach dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 der Lage von Flüchtlingen wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Deshalb sieht diese Richtlinie für Flüchtlinge günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vor. 62 Schließlich ist, um zu beurteilen, welche Voraussetzungen für die Annahme tatsächlicher familiärer Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 erfüllt sein müssen – wie sich auch aus Art. 17 dieser Richtlinie ergibt –, eine Einzelfallprüfung anhand aller für den jeweiligen Fall relevanten Faktoren und im Licht der mit der Richtlinie verfolgten Ziele vorzunehmen. 63 Dabei genügt das bloße rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht, um eine tatsächliche familiäre Bindung zu begründen. Die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 und der Charta schützen nämlich das Recht auf ein Familienleben und fördern dessen Wahrung, wobei sie es allerdings, sofern die Betroffenen weiterhin ein tatsächliches Familienleben führen, den Inhabern dieses Rechts überlassen, darüber zu entscheiden, wie sie ihr Familienleben führen wollen, und insbesondere keine Anforderungen an die Intensität von deren familiärer Beziehung stellen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C‑768/19, EU:C:2021:709, Rn. 58). 64 Vorliegend steht zum einen fest, dass XC noch minderjährig war, als sich ihr Vater gezwungen sah, sein Herkunftsland zu verlassen, und somit zu dessen Kernfamilie im Sinne des neunten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2003/86 gehörte, für die nach demselben Erwägungsgrund die Familienzusammenführung „auf jeden Fall“ gelten sollte. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass zwischen den Betroffenen in der Zeit vor der Flucht des Vaters keine tatsächlichen familiären Bindungen bestanden. 65 Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass XC und ihr Vater während der Zeit ihrer Trennung, die namentlich auf die Sondersituation des Vaters als Flüchtling zurückging, kein echtes Familienleben führen konnten, weshalb allein auf diesen Umstand an sich nicht die Feststellung gestützt werden kann, dass keine tatsächlichen familiären Bindungen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 bestanden. Im Übrigen kann auch nicht angenommen werden, dass jegliche familiäre Bindung zwischen einem Elternteil und seinem Kind sofort wegfällt, sobald das minderjährige Kind volljährig wird. 66 Davon abgesehen setzen tatsächliche familiäre Bindungen die Feststellung voraus, dass die familiäre Bindung wirklich gegeben ist oder der Wille besteht, eine solche Bindung herzustellen oder aufrechtzuerhalten. 67 So kann der Umstand, dass die Betroffenen beabsichtigen, einander gelegentlich zu besuchen, sofern dies möglich ist, und in irgendeiner Weise regelmäßigen Kontakt zu pflegen, unter Berücksichtigung insbesondere der ihre Situation kennzeichnenden tatsächlichen Umstände, zu denen das Alter des Kindes gehört, für die Annahme, dass sie persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. 68 Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich der zusammenführende Elternteil und sein Kind gegenseitig finanziell unterstützen, da wahrscheinlich ist, dass sie nicht über die materiellen Mittel dafür verfügen. 69 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass für die Annahme, dass bei der Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes und eines als Flüchtling anerkannten Elternteils tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne dieser Bestimmung bestehen, wenn das Kind vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, das bloße rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht genügt. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass der zusammenführende Elternteil und das betreffende Kind im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit dieses Kind Anspruch auf Familienzusammenführung haben kann. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich der zusammenführende Elternteil und sein Kind gegenseitig finanziell unterstützen. Kosten 70 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass der maßgebende Zeitpunkt für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, der Zeitpunkt ist, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag im Hinblick auf die Anerkennung als Flüchtling gestellt hat, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling gestellt wurde. 2. Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass für die Annahme, dass bei der Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes und eines als Flüchtling anerkannten Elternteils tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne dieser Bestimmung bestehen, wenn das Kind vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, das bloße rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht genügt. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass der zusammenführende Elternteil und das betreffende Kind im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit dieses Kind Anspruch auf Familienzusammenführung haben kann. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich der zusammenführende Elternteil und sein Kind gegenseitig finanziell unterstützen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 1. August 2022.#OT gegen Vyriausioji tarnybinės etikos komisija.#Vorabentscheidungsersuchen des Vilniaus apygardos administracinis teismas.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 – Richtlinie 95/46/EG – Art. 7 Buchst. c – Art. 8 Abs. 1 – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und Abs. 3 Unterabs. 2 – Art. 9 Abs. 1 – Zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung, der der Verantwortliche unterliegt, erforderliche Verarbeitung – Im öffentlichen Interesse liegendes Ziel – Verhältnismäßigkeit – Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten – Nationale Regelung, nach der im Internet Daten zu veröffentlichen sind, die in Erklärungen über private Interessen von im öffentlichen Dienst tätigen natürlichen Personen oder von Leitern von Vereinigungen oder Einrichtungen, die öffentliche Mittel erhalten, enthalten sind – Verhütung von Interessenkonflikten und von Korruption im öffentlichen Sektor.#Rechtssache C-184/20.
62020CJ0184
ECLI:EU:C:2022:601
2022-08-01T00:00:00
Gerichtshof, Pikamäe
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62020CJ0184 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 1. August 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 – Richtlinie 95/46/EG – Art. 7 Buchst. c – Art. 8 Abs. 1 – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und Abs. 3 Unterabs. 2 – Art. 9 Abs. 1 – Zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung, der der Verantwortliche unterliegt, erforderliche Verarbeitung – Im öffentlichen Interesse liegendes Ziel – Verhältnismäßigkeit – Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten – Nationale Regelung, nach der im Internet Daten zu veröffentlichen sind, die in Erklärungen über private Interessen von im öffentlichen Dienst tätigen natürlichen Personen oder von Leitern von Vereinigungen oder Einrichtungen, die öffentliche Mittel erhalten, enthalten sind – Verhütung von Interessenkonflikten und von Korruption im öffentlichen Sektor“ In der Rechtssache C‑184/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius, Litauen) mit Entscheidung vom 31. März 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 28. April 2020, in dem Verfahren OT gegen Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, Beteiligter: Fondas „Nevyriausybinių organizacijų informacijos ir paramos centras“, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), J.‑C. Bonichot, A. Kumin und N. Wahl, Generalanwalt: P. Pikamäe, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und V. Vasiliauskienė als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, Avvocato dello Stato, – der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch S. L. Kalėda, H. Kranenborg und D. Nardi als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Dezember 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OT und der Vyriausioji tarnybinės etikos komisija (Oberste Kommission für Dienstethik, Litauen) (im Folgenden: Oberste Ethikkommission) wegen einer Entscheidung der Obersten Ethikkommission, mit der festgestellt wurde, dass OT seine Pflicht zur Abgabe einer Erklärung über private Interessen verletzt habe. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption 3 Das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption, das mit der Resolution 58/4 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 31. Oktober 2003 angenommen wurde und am 14. Dezember 2005 in Kraft trat, wurde von allen Mitgliedstaaten ratifiziert und von der Europäischen Union mit dem Beschluss 2008/801/EG des Rates vom 25. September 2008 (ABl. 2008, L 287, S. 1) genehmigt. 4 In Art. 1 dieses Übereinkommens heißt es: „Die Zwecke dieses Übereinkommens sind a) die Förderung und Verstärkung von Maßnahmen zur effizienteren und wirksameren Verhütung und Bekämpfung von Korruption; … c) die Förderung der Integrität, der Rechenschaftspflicht und der ordnungsgemäßen Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten und öffentlicher Vermögensgegenstände.“ 5 Art. 7 Abs. 4 des Übereinkommens lautet: „Jeder Vertragsstaat ist in Übereinstimmung mit den wesentlichen Grundsätzen seines innerstaatlichen Rechts bestrebt, Regelungen zu beschließen, beizubehalten und in ihrer Wirkung zu verstärken, welche die Transparenz fördern und Interessenkonflikten vorbeugen.“ Strafrechtsübereinkommen über Korruption 6 Im vierten Erwägungsgrund des vom Europarat am 27. Januar 1999 angenommenen und von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Strafrechtsübereinkommens über Korruption heißt es: „unter Hinweis darauf, dass die Korruption eine Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Menschenrechte darstellt, die Grundsätze verantwortungsbewussten staatlichen Handelns, der Billigkeit und der sozialen Gerechtigkeit untergräbt, den Wettbewerb verzerrt, die wirtschaftliche Entwicklung behindert und die Stabilität der demokratischen Institutionen und die sittlichen Grundlagen der Gesellschaft gefährdet“. Unionsrecht Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte beteiligt sind 7 Das am 28. September 2005 in Kraft getretene Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 Absatz 2 Buchstabe c) des Vertrags über die Europäische Union über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind (ABl. 1997, C 195, S. 2), sieht in Art. 2 („Bestechlichkeit“) vor: „(1)   Für die Zwecke dieses Übereinkommens ist der Tatbestand der Bestechlichkeit dann gegeben, wenn ein Beamter vorsätzlich unmittelbar oder über eine Mittelsperson für sich oder einen Dritten Vorteile jedweder Art als Gegenleistung dafür fordert, annimmt oder sich versprechen lässt, dass er unter Verletzung seiner Dienstpflichten eine Diensthandlung oder eine Handlung bei der Ausübung seines Dienstes vornimmt oder unterlässt. (2)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Absatz 1 genannten Handlungen Straftaten sind.“ 8 Art. 3 („Bestechung“) dieses Übereinkommens lautet: „(1)   Für die Zwecke dieses Übereinkommens ist der Tatbestand der Bestechung dann gegeben, wenn eine Person vorsätzlich einem Beamten unmittelbar oder über eine Mittelsperson einen Vorteil jedweder Art für ihn selbst oder für einen Dritten als Gegenleistung dafür verspricht oder gewährt, dass der Beamte unter Verletzung seiner Dienstpflichten eine Diensthandlung oder eine Handlung bei der Ausübung seines Dienstes vornimmt oder unterlässt. (2)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Absatz 1 genannten Handlungen Straftaten sind.“ Richtlinie 95/46/EG 9 In den Erwägungsgründen 10, 30 und 33 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31) hieß es: „(10) Gegenstand der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über die Verarbeitung personenbezogener Daten ist die Gewährleistung der Achtung der Grundrechte und ‑freiheiten, insbesondere des auch in Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und in den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts anerkannten Rechts auf die Privatsphäre. Die Angleichung dieser Rechtsvorschriften darf deshalb nicht zu einer Verringerung des durch diese Rechtsvorschriften garantierten Schutzes führen, sondern muss im Gegenteil darauf abzielen, in der Gemeinschaft ein hohes Schutzniveau sicherzustellen. … (30) Die Verarbeitung personenbezogener Daten ist nur dann rechtmäßig, wenn sie auf der Einwilligung der betroffenen Person beruht oder notwendig ist im Hinblick auf den Abschluss oder die Erfüllung eines für die betroffene Person bindenden Vertrags, zur Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung, zur Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse, in Ausübung hoheitlicher Gewalt oder wenn sie im Interesse einer anderen Person erforderlich ist, vorausgesetzt, dass die Interessen oder die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person nicht überwiegen. … … (33) Daten, die aufgrund ihrer Art geeignet sind, die Grundfreiheiten oder die Privatsphäre zu beeinträchtigen, dürfen nicht ohne ausdrückliche Einwilligung der betroffenen Person verarbeitet werden. Ausnahmen von diesem Verbot müssen ausdrücklich vorgesehen werden bei spezifischen Notwendigkeiten, insbesondere wenn die Verarbeitung dieser Daten für gewisse auf das Gesundheitswesen bezogene Zwecke von Personen vorgenommen wird, die nach dem einzelstaatlichen Recht dem Berufsgeheimnis unterliegen, oder wenn die Verarbeitung für berechtigte Tätigkeiten bestimmter Vereinigungen oder Stiftungen vorgenommen wird, deren Ziel es ist, die Ausübung von Grundfreiheiten zu ermöglichen.“ 10 Der Gegenstand dieser Richtlinie war in deren Art. 1 festgelegt, der wie folgt lautete: „(1)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten nach den Bestimmungen dieser Richtlinie den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere den Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten. (2)   Die Mitgliedstaaten beschränken oder untersagen nicht den freien Verkehr personenbezogener Daten zwischen Mitgliedstaaten aus Gründen des gemäß Absatz 1 gewährleisteten Schutzes.“ 11 Art. 2 der Richtlinie bestimmte: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck a) ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person (‚betroffene Person‘); als bestimmbar wird eine Person angesehen, die direkt oder indirekt identifiziert werden kann, insbesondere durch Zuordnung zu einer Kennnummer oder zu einem oder mehreren spezifischen Elementen, die Ausdruck ihrer physischen, physiologischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität sind; b) ‚Verarbeitung personenbezogener Daten‘ (‚Verarbeitung‘) jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Speichern, die Organisation, die Aufbewahrung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Benutzung, die Weitergabe durch Übermittlung, Verbreitung oder jede andere Form der Bereitstellung, die Kombination oder die Verknüpfung sowie das Sperren, Löschen oder Vernichten; …“ 12 Kapitel II („Allgemeine Bedingungen für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten“) der Richtlinie 95/46 war in neun Abschnitte untergliedert. 13 In Abschnitt I („Grundsätze in Bezug auf die Qualität der Daten“) bestimmte Art. 6 der Richtlinie: „(1)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten a) nach Treu und Glauben und auf rechtmäßige Weise verarbeitet werden; b) für festgelegte eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zweckbestimmungen nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden. … c) den Zwecken entsprechen, für die sie erhoben und/oder weiterverarbeitet werden, dafür erheblich sind und nicht darüber hinausgehen; … (2)   Der für die Verarbeitung Verantwortliche hat für die Einhaltung des Absatzes 1 zu sorgen.“ 14 In Abschnitt II („Grundsätze in Bezug auf die Zulässigkeit der Verarbeitung von Daten“) bestimmte Art. 7 der Richtlinie: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten lediglich erfolgen darf, wenn eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist: … c) die Verarbeitung ist für die Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, der der für die Verarbeitung Verantwortliche unterliegt; … e) die Verarbeitung ist erforderlich für die Wahrnehmung einer Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt und dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder dem Dritten, dem die Daten übermittelt werden, übertragen wurde; …“ 15 In Abschnitt III („Besondere Kategorien der Verarbeitung“) sah Art. 8 („Verarbeitungen besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) der Richtlinie 95/46 vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten untersagen die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie von Daten über Gesundheit oder Sexualleben. … (4)   Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich angemessener Garantien aus Gründen eines wichtigen öffentlichen Interesses entweder im Wege einer nationalen Rechtsvorschrift oder im Wege einer Entscheidung der Kontrollstelle andere als die in Absatz 2 genannten Ausnahmen vorsehen. …“ DSGVO 16 Gemäß Art. 94 Abs. 1 der DSGVO wurde die Richtlinie 95/46 mit Wirkung vom 25. Mai 2018 durch diese Verordnung aufgehoben. Nach ihrem Art. 99 Abs. 2 gilt die DSGVO seit diesem Datum. 17 In den Erwägungsgründen 4, 10, 26, 35, 39 und 51 dieser Verordnung heißt es: „(4) Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der [Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Charta)] anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation, Schutz personenbezogener Daten, Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, unternehmerische Freiheit, Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren und Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen. … (10) Um ein gleichmäßiges und hohes Datenschutzniveau für natürliche Personen zu gewährleisten und die Hemmnisse für den Verkehr personenbezogener Daten in der Union zu beseitigen, sollte das Schutzniveau für die Rechte und Freiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung dieser Daten in allen Mitgliedstaaten gleichwertig sein. … Hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung oder zur Wahrnehmung einer Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, sollten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, nationale Bestimmungen, mit denen die Anwendung der Vorschriften dieser Verordnung genauer festgelegt wird, beizubehalten oder einzuführen. … Diese Verordnung bietet den Mitgliedstaaten zudem einen Spielraum für die Spezifizierung ihrer Vorschriften, auch für die Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten (im Folgenden ‚sensible Daten‘). Diesbezüglich schließt diese Verordnung nicht Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten aus, in denen die Umstände besonderer Verarbeitungssituationen festgelegt werden, einschließlich einer genaueren Bestimmung der Voraussetzungen, unter denen die Verarbeitung personenbezogener Daten rechtmäßig ist. … (26) Die Grundsätze des Datenschutzes sollten für alle Informationen gelten, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen. … Um festzustellen, ob eine natürliche Person identifizierbar ist, sollten alle Mittel berücksichtigt werden, die von dem Verantwortlichen oder einer anderen Person nach allgemeinem Ermessen wahrscheinlich genutzt werden, um die natürliche Person direkt oder indirekt zu identifizieren, wie beispielsweise das Aussondern. … … (35) Zu den personenbezogenen Gesundheitsdaten sollten alle Daten zählen, die sich auf den Gesundheitszustand einer betroffenen Person beziehen und aus denen Informationen über den früheren, gegenwärtigen und künftigen körperlichen oder geistigen Gesundheitszustand der betroffenen Person hervorgehen. … … (39) … Die personenbezogenen Daten sollten für die Zwecke, zu denen sie verarbeitet werden, angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke ihrer Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein. Dies erfordert insbesondere, dass die Speicherfrist für personenbezogene Daten auf das unbedingt erforderliche Mindestmaß beschränkt bleibt. Personenbezogene Daten sollten nur verarbeitet werden dürfen, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann. … … (51) Personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, verdienen einen besonderen Schutz, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten können. … Derartige personenbezogene Daten sollten nicht verarbeitet werden, es sei denn, die Verarbeitung ist in den in dieser Verordnung dargelegten besonderen Fällen zulässig, wobei zu berücksichtigen ist, dass im Recht der Mitgliedstaaten besondere Datenschutzbestimmungen festgelegt sein können, um die Anwendung der Bestimmungen dieser Verordnung anzupassen, damit die Einhaltung einer rechtlichen Verpflichtung oder die Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse oder die Ausübung öffentlicher Gewalt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, möglich ist. Zusätzlich zu den speziellen Anforderungen an eine derartige Verarbeitung sollten die allgemeinen Grundsätze und andere Bestimmungen dieser Verordnung, insbesondere hinsichtlich der Bedingungen für eine rechtmäßige Verarbeitung, gelten. Ausnahmen von dem allgemeinen Verbot der Verarbeitung dieser besonderen Kategorien personenbezogener Daten sollten ausdrücklich vorgesehen werden, unter anderem bei ausdrücklicher Einwilligung der betroffenen Person oder bei bestimmten Notwendigkeiten, insbesondere wenn die Verarbeitung im Rahmen rechtmäßiger Tätigkeiten bestimmter Vereinigungen oder Stiftungen vorgenommen wird, die sich für die Ausübung von Grundfreiheiten einsetzen.“ 18 Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) der DSGVO bestimmt in Abs. 2: „Diese Verordnung schützt die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten.“ 19 In Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) dieser Verordnung heißt es: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck: 1. ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden ‚betroffene Person‘) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann; 2. ‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung; … 15. ‚Gesundheitsdaten‘ personenbezogene Daten, die sich auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person, einschließlich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, beziehen und aus denen Informationen über deren Gesundheitszustand hervorgehen; …“ 20 Kapitel II („Grundsätze“) der DSGVO umfasst deren Art. 5 bis 11. 21 Art. 5 („Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten“) dieser Verordnung sieht in Abs. 1 vor: „Personenbezogene Daten müssen a) auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden (‚Rechtmäßigkeit, Verarbeitung nach Treu und Glauben, Transparenz‘); b) für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden; … (‚Zweckbindung‘); c) dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein (‚Datenminimierung‘); …“ 22 Art. 6 („Rechtmäßigkeit der Verarbeitung“) der Verordnung sieht in den Abs. 1 und 3 vor: „(1)   Die Verarbeitung ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist: … c) die Verarbeitung ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, der der Verantwortliche unterliegt; … e) die Verarbeitung ist für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde; … (3)   Die Rechtsgrundlage für die Verarbeitungen gemäß Absatz 1 Buchstaben c und e wird festgelegt durch a) Unionsrecht oder b) das Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt. Der Zweck der Verarbeitung muss in dieser Rechtsgrundlage festgelegt oder hinsichtlich der Verarbeitung gemäß Absatz 1 Buchstabe e für die Erfüllung einer Aufgabe erforderlich sein, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. … Das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten müssen ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen.“ 23 Art. 9 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) der Verordnung bestimmt in den Abs. 1 und 2: „(1)   Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person ist untersagt. (2)   Absatz 1 gilt nicht in folgenden Fällen: … g) die Verarbeitung ist auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich, …“ Litauisches Recht 24 Das Lietuvos Respublikos viešųjų ir privačių interesų derinimo valstybinėje tarnyboje įstatymas Nr. VIII‑371 (Gesetz Nr. VIII‑371 der Republik Litauen über den Ausgleich von öffentlichen und privaten Interessen im öffentlichen Dienst) vom 2. Juli 1997 (Žin., 1997, Nr. 67-1659) in seiner im Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Gesetz über den Interessenausgleich) zielt gemäß seinem Art. 1 darauf ab, die privaten Interessen der im öffentlichen Dienst tätigen Personen und die öffentlichen Interessen der Gesellschaft zum Ausgleich zu bringen, bei der Entscheidungsfindung den Vorrang des öffentlichen Interesses sicherzustellen, die Unparteilichkeit der getroffenen Entscheidungen zu gewährleisten sowie dem Auftreten und der Entwicklung von Korruption im öffentlichen Dienst vorzubeugen. 25 Nach Art. 2 Abs. 1 dieses Gesetzes fallen unter den Begriff „im öffentlichen Dienst tätige Personen“ u. a. Personen, die in Vereinigungen oder öffentlichen Einrichtungen arbeiten, die aus dem Haushalt oder sonstigen Mitteln des Staates oder einer Gebietskörperschaft finanziert werden, und denen administrative Befugnisse übertragen sind. 26 Art. 3 („Verpflichtungen von Personen, die sich um eine Stelle im öffentlichen Dienst bewerben oder im öffentlichen Dienst tätig sind oder waren“) dieses Gesetzes sieht in den Abs. 2 und 3 vor: „(2)   Personen, die sich um eine Stelle im öffentlichen Dienst bewerben oder im öffentlichen Dienst tätig sind, sowie die weiteren in Art. 4 Abs. 1 dieses Gesetzes genannten Personen sind verpflichtet, ihre privaten Interessen zu deklarieren. (3)   Personen, die aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden sind, unterliegen den in Abschnitt 5 dieses Gesetzes vorgesehenen Beschränkungen.“ 27 Art. 4 („Erklärung über private Interessen“) des Gesetzes über den Interessenausgleich bestimmt in Abs. 1: „Jede Person, die im öffentlichen Dienst tätig ist, sowie jede Person, die sich um Ämter im öffentlichen Dienst bewirbt, hat ihre privaten Interessen zu deklarieren, indem sie eine Erklärung über private Interessen (im Folgenden: Erklärung) gemäß den in diesem Gesetz und anderen Rechtsakten vorgesehenen Modalitäten abgibt. …“ 28 Art. 5 dieses Gesetzes lautet: „(1)   Personen, die ihre privaten Interessen deklarieren, sind verpflichtet, ihre Erklärung auf elektronischem Wege nach den von der [Obersten Ethikkommission] festgelegten Modalitäten innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag ihrer Wahl, Einstellung oder Ernennung abzugeben (außer in den Fällen des Art. 4 Abs. 2 dieses Gesetzes sowie der Abs. 2, 3 und 4 des vorliegenden Artikels). (2)   Personen, die sich um eine Stelle im öffentlichen Dienst bewerben (mit Ausnahme der in Art. 4 Abs. 2 dieses Gesetzes genannten Personen und der Personen, deren Daten kraft Gesetzes der Geheimhaltung unterliegen und/oder die eine Tätigkeit im Bereich der Nachrichtendienste, der Spionageabwehr oder der geheimdienstlichen Kriminalitätsbekämpfung ausüben), geben ihre Erklärung vor ihrer Wahl, Einstellung oder Ernennung ab, sofern in anderen Rechtsvorschriften nichts anderes bestimmt ist. (3)   Personen, deren Daten kraft Gesetzes der Geheimhaltung unterliegen und/oder die eine Tätigkeit im Bereich der Nachrichtendienste, der Spionageabwehr oder der geheimdienstlichen Kriminalitätsbekämpfung ausüben, geben ihre Erklärung innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag ihrer Wahl, Einstellung oder Ernennung bei dem Leiter (bzw. seinem ordnungsgemäß bevollmächtigten Vertreter) der Einrichtung (bzw. der juristischen Person), bei der sie arbeiten, nach den von dieser Einrichtung (bzw. juristischen Person) festgelegten Modalitäten ab. (4)   Die Mitglieder der für die Vergabe öffentlicher Aufträge zuständigen Ausschüsse, die vom Leiter einer Haushaltsbehörde mit der Vergabe von Aufträgen im vereinfachten Verfahren betrauten Personen und die in Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge tätigen Sachverständigen geben ihre Erklärung über private Interessen (falls sie noch keine solche abgegeben haben) vor Beginn ihrer Beteiligung an Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge auf elektronischem Wege ab. Ein Mitglied eines für die Vergabe öffentlicher Aufträge zuständigen Ausschusses, eine vom Leiter einer Haushaltsbehörde mit der Vergabe von Aufträgen im vereinfachten Verfahren betraute Person oder ein in einem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge tätiger Sachverständiger, das/die/der keine Erklärung über private Interessen abgegeben hat, ist nicht zur Beteiligung am Vergabeverfahren befugt und muss der betreffenden Aufgaben entbunden werden. (5)   Soweit dies in den Vorschriften, die die Arbeitsweise der den Betroffenen beschäftigenden Einrichtung (bzw. juristischen Person) regeln, vorgesehen ist, so kann die Erklärung nicht nur beim Leiter (bzw. seinem ordnungsgemäß bevollmächtigten Vertreter) dieser Einrichtung (bzw. juristischen Person) abgegeben werden, sondern auch beim Verantwortlichen (bzw. seinem ordnungsgemäß bevollmächtigten Vertreter) einer im Auftrag oder für Rechnung dieser Einrichtung (bzw. juristischen Person) handelnden juristischen Person oder einer anderen juristischen Person abgegeben werden. (6)   Die Einrichtungen, die befugt sind, auf die Erklärungen zuzugreifen, fordern diese in den vorgesehenen Fällen und nach den gesetzlich festgelegten Modalitäten beim Arbeitgeber der erklärungspflichtigen Person oder bei der [Obersten Ethikkommission] an.“ 29 Art. 6 („Inhalt der Erklärung“) dieses Gesetzes lautet: „(1)   Die erklärungspflichtige Person macht in ihrer Erklärung folgende sie selbst und ihren Ehegatten, Lebensgefährten oder Partner betreffenden Angaben: 1. Vorname, Name, persönliche Kennnummer, Sozialversicherungsnummer, Arbeitgeber und Funktionen; 2. juristische Person, an der die erklärungspflichtige Person oder ihr Ehegatte, Lebensgefährte oder Partner als Teilhaber oder Gesellschafter beteiligt ist; 3. selbständige Tätigkeit im Sinne des Gesetzes der Republik Litauen über die Einkommensteuer; 4. Zugehörigkeit zu Unternehmen, Einrichtungen, Vereinigungen oder Fonds und dort ausgeübte Funktionen, mit Ausnahme der Mitgliedschaft in politischen Parteien oder Gewerkschaften; 5. in den letzten zwölf Kalendermonaten erhaltene Geschenke (außer von Nahestehenden) im Wert von mehr als 150 Euro; 6. Informationen über in den letzten zwölf Kalendermonaten abgeschlossene Transaktionen und andere laufende Transaktionen, wenn der Wert der Transaktion 3000 Euro übersteigt; 7. nahestehende Personen oder andere der erklärungspflichtigen Person bekannte Personen oder Daten, die zu einem Interessenkonflikt führen können. (2)   Die erklärungspflichtige Person braucht die Angaben zu ihrem Ehegatten, Lebensgefährten oder Partner nicht zu machen, wenn sie von diesem getrennt lebt, mit ihm keinen gemeinsamen Haushalt bildet und daher nicht im Besitz dieser Daten ist.“ 30 Art. 10 („Öffentlichkeit der Daten betreffend die privaten Interessen“) des Gesetzes bestimmt: „(1)   Die Daten in den Erklärungen der Mandatsträger und Personen in politischen Ämtern, der Beamten und Bediensteten des Staates, der Richter, der Leiter und stellvertretenden Leiter von Organen des Staates oder einer Gebietskörperschaft, der Beamten und Bediensteten des politischen (persönlichen) Vertrauens, der Beamten des Staates, die die Funktionen von Leitern und stellvertretenden Leitern von Untereinheiten von Organen oder Einrichtungen ausüben, der Leiter und stellvertretenden Leiter von öffentlichen Unternehmen und Haushaltsbehörden des Staates oder einer Gebietskörperschaft, der Leiter und stellvertretenden Leiter von Vereinigungen oder öffentlichen Einrichtungen, die Mittel aus dem Staatshaushalt oder dem Haushalt einer Gebietskörperschaft erhalten, der Beschäftigten der Bank von Litauen, die mit Befugnissen der öffentlichen Verwaltung ausgestattet sind (Überwachung der Finanzmärkte, außergerichtliche Beilegung von Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Finanzmarktakteuren und andere Funktionen der öffentlichen Verwaltung), der Mitglieder der Aufsichts- und Verwaltungsräte sowie der Leiter und stellvertretenden Leiter von Aktiengesellschaften oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung, an denen der Staat oder eine Gebietskörperschaft in einem Umfang beteiligt ist, der ihnen mehr als die Hälfte der Stimmrechte in der Hauptversammlung der Gesellschafter verschafft, der Mitglieder des Verwaltungsrats von öffentlichen Unternehmen des Staates oder einer Gebietskörperschaft, der Vorsitzenden und stellvertretenden Vorsitzenden politischer Parteien, der Berater ohne Vergütung, Assistenten und Berater von Mandatsträgern und Personen in politischen Ämtern, der von den Ausschüssen des Parlaments der Republik Litauen zugelassenen Experten, der Mitglieder der Ministerkollegien, der Mitglieder des Rates der gesetzlichen Krankenversicherung, der Berater ohne Vergütung des Rates der gesetzlichen Krankenversicherung, der Mitglieder des Nationalen Gesundheitsrats, der Ärzte, Zahnärzte und Apotheker, die Inhaber einer Zulassung zur Niederlassung in einem Gesundheitsberuf oder als Apotheker sind und bei Haushaltsbehörden oder Behörden des Staates oder einer Gebietskörperschaft, bei öffentlichen Unternehmen des Staates oder einer Gebietskörperschaft oder bei Unternehmen tätig sind, an denen der Staat oder eine Gebietskörperschaft in einem Umfang beteiligt ist, der ihnen mehr als die Hälfte der Stimmrechte in der Hauptversammlung der Gesellschafter verschafft, sowie die Daten der Mitglieder der für die Vergabe öffentlicher Aufträge zuständigen Ausschüsse, der vom Leiter einer Haushaltsbehörde mit der Vergabe von Aufträgen im vereinfachten Verfahren betrauten Personen und der in Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge tätigen Sachverständigen (mit Ausnahme der Daten in den Erklärungen der Personen, deren Daten kraft Gesetzes der Geheimhaltung unterliegen und/oder die eine Tätigkeit im Bereich der Nachrichtendienste, der Spionageabwehr oder der geheimdienstlichen Kriminalitätsbekämpfung ausüben) sind öffentlich und werden auf der Website der Obersten Ethikkommission nach Maßgabe der von ihr festgelegten Modalitäten veröffentlicht. Verliert eine Person, deren Daten öffentlich sind, den Status der erklärungspflichtigen Person, nimmt die Oberste Ethikkommission die Erklärung auf Antrag der betroffenen Person von ihrer Website. (2)   Folgende in der Erklärung angegebenen Daten dürfen nicht veröffentlicht werden: die persönliche Kennnummer, die Sozialversicherungsnummer, besondere personenbezogene Daten sowie sonstige Angaben, deren Offenlegung gesetzlich verboten ist. Ferner werden die Daten der anderen Partei einer Transaktion, wenn diese eine natürliche Person ist, nicht veröffentlicht.“ 31 In Art. 22 („Für die Kontrolle zuständige Behörden und Bedienstete“) des Gesetzes über den Interessenausgleich heißt es: „Die Art und Weise, in der die von diesem Gesetz erfassten Personen dieses Gesetz anwenden, wird kontrolliert von 1. der [Obersten Ethikkommission]; 2. den Leitern (bzw. ihren ordnungsgemäß bevollmächtigten Vertretern) der betreffenden Organe oder Einrichtungen des Staates oder der Gebietskörperschaften; 3. dem Leiter der Haushaltsbehörde oder den von ihm ordnungsgemäß bevollmächtigten Personen (in Bezug auf die Mitglieder von für die Vergabe öffentlicher Aufträge zuständigen Ausschüssen, die Personen, die vom Leiter einer Haushaltsbehörde mit der Auftragsvergabe im vereinfachten Verfahren betraut worden sind, und die in Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge tätigen Sachverständigen); 4. anderen staatlichen Organen gemäß den gesetzlichen Bestimmungen. … (3)   Bei Vorliegen tatsachengestützter Informationen, dass eine Person den Anforderungen dieses Gesetzes nicht nachkommt, führen die Leiter (bzw. ihre ordnungsgemäß bevollmächtigten Vertreter) der Organe oder Einrichtungen des Staates bzw. der Gebietskörperschaften oder das kollegial geleitete Organ des Staates bzw. der Gebietskörperschaft von sich aus oder auf Anweisung der [Obersten Ethikkommission] eine Untersuchung über die dienstliche Tätigkeit der im öffentlichen Dienst tätigen Person durch. Die [Oberste Ethikkommission] wird über die Ergebnisse der Untersuchung unterrichtet; sie kann beurteilen, ob die im Untersuchungsbericht enthaltene Würdigung des Verhaltens des Betroffenen mit den Bestimmungen dieses Gesetzes in Einklang steht. …“ 32 In Art. 2 Abs. 5 des Gesetzes der Republik Litauen über den Ausgleich von öffentlichen und privaten Interessen in seiner ab dem 1. Januar 2020 geltenden Fassung (im Folgenden: geändertes Gesetz über den Interessenausgleich), in dem der Begriff „im öffentlichen Dienst tätige Personen“ definiert wird, werden als unter diesen Begriff fallende Personen nicht mehr die Personen genannt, die in Vereinigungen oder öffentlichen Einrichtungen arbeiten, die aus dem Haushalt oder sonstigen Mitteln des Staates oder einer Gebietskörperschaft finanziert werden, und denen administrative Befugnisse übertragen sind. 33 Art. 4 Abs. 3 des geänderten Gesetzes über den Interessenausgleich bestimmt: „Die Bestimmungen dieses Gesetzes betreffend die Erklärung über private Interessen sowie die Art. 11 und 13 dieses Gesetzes finden auch Anwendung auf … 8. Leiter von Haushaltsbehörden oder Vergabestellen (im Folgenden zusammen: Vergabestelle), Mitglieder der für die Vergabe öffentlicher Aufträge zuständigen Ausschüsse einer Vergabestelle, Personen, die vom Leiter einer Vergabestelle mit der Auftragsvergabe im vereinfachten Verfahren betraut worden sind, Sachverständige, die in Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge tätig werden, Initiatoren einer Konzession … einer Vergabestelle im Bereich der Versorgungsleistungen, der Abwasserbehandlung, der Energie, des Verkehrs oder der Postdienstleistungen; …“ 34 Art. 2 Abs. 8 des Lietuvos Respublikos asmens duomenų teisinės apsaugos įstatymas Nr. I‑1374 (Gesetz Nr. I‑1374 der Republik Litauen über den rechtlichen Schutz personenbezogener Daten) vom 11. Juni 1996 (Žin., 1996, Nr. 63‑1479) in der bis zum 16. Juli 2018 geltenden Fassung lautete: „Der Ausdruck ‚besondere personenbezogene Daten‘ bezeichnet Daten über die rassische oder ethnische Herkunft, die politischen, religiösen, weltanschaulichen oder sonstigen Überzeugungen, die Gewerkschaftszugehörigkeit, die Gesundheit oder das Sexualleben einer Person sowie Informationen über eine strafrechtliche Verurteilung dieser Person.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 35 Die Oberste Ethikkommission ist eine Behörde, die u. a. dafür zuständig ist, für die Anwendung des Gesetzes über den Interessenausgleich zu sorgen und insbesondere die Erklärungen über private Interessen entgegenzunehmen und zu kontrollieren. 36 OT ist der Leiter von QP, einer im Bereich des Umweltschutzes tätigen Einrichtung litauischen Rechts, die öffentliche Mittel erhält. 37 Mit Entscheidung vom 7. Februar 2018 stellte die Oberste Ethikkommission fest, dass OT gegen Art. 3 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich verstoßen habe, da er keine Erklärung über private Interessen vorgelegt habe. 38 Am 6. März 2018 erhob OT beim vorlegenden Gericht eine Anfechtungsklage gegen diese Entscheidung. 39 Zur Begründung seiner Klage macht OT zum einen geltend, er gehöre nicht zu den von Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich erfassten Personen, die der Pflicht zur Erklärung privater Interessen unterlägen. Als Leiter von QP habe er nämlich keine Befugnisse zur Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung und erbringe keinerlei öffentliche Dienstleistung zugunsten der Bevölkerung. Zudem übe QP als Nichtregierungsorganisation ihre Tätigkeit unabhängig von der öffentlichen Gewalt aus. 40 Zum anderen macht OT für den Fall einer Pflicht zur Abgabe einer Erklärung über private Interessen geltend, dass die Veröffentlichung dieser Erklärung jedenfalls sowohl sein eigenes Recht auf Achtung seines Privatlebens als auch das der anderen Personen, die er gegebenenfalls in seiner Erklärung angeben müsste, verletzen würde. 41 Die Oberste Ethikkommission macht geltend, da OT in einer Einrichtung, die mit Mitteln aus Strukturfonds der Union und aus dem Haushalt des litauischen Staates finanziert werde, über administrative Befugnisse verfüge, sei er, wenngleich er kein Beamter sei, zur Abgabe einer Erklärung über private Interessen verpflichtet, selbst wenn man unterstelle, dass er keine Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehme. Die Veröffentlichung einer solchen Erklärung möge zwar einen Eingriff in das Privatleben des Betroffenen und seines Ehegatten darstellen, doch sei dieser Eingriff im Gesetz über den Interessenausgleich vorgesehen. 42 Das vorlegende Gericht führt aus, es sei zweifelhaft, ob die im Gesetz über den Interessenausgleich vorgesehene Regelung mit Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e und Abs. 3 der DSGVO sowie mit Art. 9 Abs. 1 dieser Verordnung vereinbar sei. Die in einer Erklärung über private Interessen enthaltenen personenbezogenen Daten könnten Informationen über das Privatleben der erklärungspflichtigen Person, ihres Ehegatten, Lebensgefährten oder Partners oder ihrer Kinder offenlegen, so dass ihre Verbreitung geeignet sei, das Recht der betroffenen Personen auf Achtung ihres Privatlebens zu verletzen. Diese Daten könnten nämlich besonders sensible Informationen offenbaren, wie etwa die Tatsache, dass die betroffene Person in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft oder mit einer Person gleichen Geschlechts lebe, und die Verbreitung dieser Informationen könne zu erheblichen Unannehmlichkeiten im Privatleben dieser Personen führen. Die Daten über von der erklärungspflichtigen Person und ihrem Ehegatten, Lebensgefährten oder Partner erhaltenen Geschenke und von ihnen abgeschlossenen Transaktionen offenbarten ebenfalls bestimmte Einzelheiten ihres Privatlebens. Die Daten über Angehörige oder Bekannte der erklärungspflichtigen Person, die einen Interessenkonflikt begründen könnten, offenbarten außerdem Informationen über die Familie dieser Person und ihre persönlichen Beziehungen. 43 Auch wenn das Gesetz über den Interessenausgleich darauf abziele, die Wahrung des Grundsatzes der Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, insbesondere beim Erlass von Entscheidungen mit Bezug zur Verwirklichung des öffentlichen Interesses, zu gewährleisten, sei es zur Erreichung dieses Ziels nicht erforderlich, Umstände, die den Erlass solcher Entscheidungen beeinflussen könnten, im Internet zu veröffentlichen. Die Übermittlung der personenbezogenen Daten an die in Art. 5 dieses Gesetzes genannten Einrichtungen sowie die Kontrollfunktion der in Art. 22 dieses Gesetzes bezeichneten Stellen reichten aus, um die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten. 44 Unter diesen Umständen hat der Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius, Litauen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist die in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e der DSGVO festgelegte Bedingung, dass die Verarbeitung der personenbezogenen Daten für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, im Hinblick auf die in Art. 6 Abs. 3 der DSGVO festgelegten Anforderungen, einschließlich der Anforderung, dass das Recht des Mitgliedstaats ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen muss, und ferner im Hinblick auf die Art. 7 und 8 der Charta dahin auszulegen, dass das nationale Recht nicht die Offenlegung der in Erklärungen über private Interessen enthaltenen Daten und deren Veröffentlichung auf der Website des Verantwortlichen, der Obersten Ethikkommission, verlangen darf, wodurch allen Personen, die Zugang zum Internet haben, Zugang zu diesen Daten gewährt wird? 2. Ist das in Art. 9 Abs. 1 der DSGVO normierte Verbot der Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten unter Berücksichtigung der in Art. 9 Abs. 2 der DSGVO festgelegten Bedingungen, einschließlich der in Buchst. g dieser Bestimmung genannten Bedingung, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich sein muss, auch im Hinblick auf die Art. 7 und 8 der Charta dahin auszulegen, dass das nationale Recht nicht die Offenlegung von Daten in Erklärungen über private Interessen verlangen darf, durch die personenbezogene Daten offenbart werden können, einschließlich solcher Daten, die Rückschlüsse auf politische Ansichten, Gewerkschaftszugehörigkeit, sexuelle Orientierung oder andere persönliche Informationen zulassen, und auch nicht ihre Veröffentlichung auf der Website des Verantwortlichen, der Obersten Ethikkommission, wodurch allen Personen, die Zugang zum Internet haben, Zugang zu diesen Daten gewährt wird? Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens 45 Die litauische Regierung und die Europäische Kommission haben darauf hingewiesen, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens nach der am 1. Januar 2020 in Kraft getretenen Änderung des Gesetzes über den Interessenausgleich nicht mehr in den persönlichen Anwendungsbereich dieses Gesetzes falle. 46 Die Kommission führt außerdem aus, dass der Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen), der vom vorlegenden Gericht angerufen worden sei, um die Verfassungsmäßigkeit bestimmter Vorschriften des Gesetzes über den Interessenausgleich zu beurteilen, in einem Urteil vom 20. September 2018 festgestellt habe, dass Art. 10 dieses Gesetzes, der die Veröffentlichung der Daten betreffend die privaten Interessen vorschreibe, im Ausgangsrechtsstreit nicht entscheidungserheblich sei. 47 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das mit Art. 267 AEUV eingerichtete Verfahren nach ständiger Rechtsprechung ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (Urteil vom 12. März 1998, Djabali, C‑314/96, EU:C:1998:104, Rn. 17, und Beschluss vom 3. Dezember 2020, Fedasil, C‑67/20 bis C‑69/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:1024, Rn. 18). 48 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 22. Februar 2022, Stichting Rookpreventie Jeugd u. a., C‑160/20, EU:C:2022:101, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht auf ein Auskunftsersuchen des Gerichtshofs hin zum einen klargestellt, dass die Rechtmäßigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidung anhand der zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Entscheidung geltenden nationalen Vorschriften zu beurteilen sei. Nach dem Gesetz über den Interessenausgleich zählten zu den Personen, die eine Erklärung über private Interessen abgeben müssten, auch Personen, die in Vereinigungen oder öffentlichen Einrichtungen arbeiteten, die aus dem Haushalt oder sonstigen Mitteln des Staates oder einer Gebietskörperschaft finanziert würden, und denen administrative Befugnisse übertragen seien. 50 Überdies könne der Kläger des Ausgangsverfahrens, auch wenn er nicht mehr einer im öffentlichen Dienst tätigen Person im Sinne des geänderten Gesetzes über den Interessenausgleich gleichgestellt werden könne, gleichwohl unter die in Art. 4 Abs. 3 Nr. 8 dieses Gesetzes genannte Personengruppe fallen und daher zur Abgabe einer Erklärung über private Interessen verpflichtet werden. 51 Zum anderen hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass es für den Ausgangsrechtsstreit ohne Belang sei, dass der Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen) mit Urteil vom 20. September 2018 den Antrag des vorlegenden Gerichts, über die Vereinbarkeit von Art. 10 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über den Interessenausgleich mit der Verfassung der Republik Litauen und dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu entscheiden, mit der Begründung für unzulässig erklärt habe, dass die im Ausgangsverfahren zu klärende Frage nicht die Öffentlichkeit der in den Erklärungen über private Interessen enthaltenen Daten, sondern die Pflicht zur Abgabe einer solchen Erklärung betreffe. 52 Insoweit gelte es zu bedenken, dass, auch wenn es im Ausgangsverfahren, wie der Lietuvos Respublikos Konstitucinis Teismas (Verfassungsgericht der Republik Litauen) ausgeführt habe, in der Tat darum gehe, ob der Kläger durch Nichterfüllung seiner Pflicht zur Abgabe einer Erklärung über private Interessen gegen Art. 3 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 1 dieses Gesetzes verstoßen habe, die Prüfung der Rechtmäßigkeit der fraglichen Entscheidung gleichwohl die Berücksichtigung der zwingenden Folgen einer solchen Abgabe erfordere, die sich aus der Anwendung von Art. 10 dieses Gesetzes ergäben, nämlich die Veröffentlichung bestimmter in der Interessenerklärung enthaltener Daten auf der Website der Obersten Ethikkommission, zumal der Kläger zur Stützung seiner Anfechtungsklage gegen die fragliche Entscheidung die Rechtswidrigkeit dieser Veröffentlichung geltend mache. 53 In Anbetracht dieser Angaben des vorlegenden Gerichts reichen die von der litauischen Regierung und der Kommission angeführten Gesichtspunkte nicht aus, um die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen zu widerlegen, und es kann nicht als offensichtlich angesehen werden, dass die erbetene Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder dass das Problem hypothetischer Natur ist; vielmehr ist zu erwarten, dass das vorlegende Gericht diese Auslegung bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen wird. Im Übrigen verfügt der Gerichtshof über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind. 54 Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig. Zu den Vorlagefragen Zu dem in zeitlicher Hinsicht anwendbaren Recht 55 Mit seinen Fragen ersucht das vorlegende Gericht um die Auslegung der DSGVO. Gemäß ihrem Art. 99 Abs. 2 ist diese Verordnung am 25. Mai 2018 anwendbar geworden, und wie aus ihrem Art. 94 Abs. 1 hervorgeht, wurde die Richtlinie 95/46 am selben Tag durch die DSGVO aufgehoben. 56 Folglich war für die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entscheidung, die von der Obersten Ethikkommission am 7. Februar 2018 erlassen wurde, die Richtlinie 95/46 maßgeblich. 57 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht jedoch hervor, dass die Oberste Ethikkommission dem Kläger des Ausgangsverfahrens mit dieser Entscheidung zur Last gelegt hat, unter Verstoß gegen das Gesetz über den Interessenausgleich keine Erklärung über private Interessen abgegeben zu haben. Unter diesen Umständen ist in Anbetracht der in Rn. 50 des vorliegenden Urteils genannten Informationen und mangels Anhaltspunkten dafür, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens vor dem 25. Mai 2018, d. h. dem Tag, an dem die DSGVO anwendbar geworden ist, eine solche Erklärung abgegeben hat, nicht ausgeschlossen, dass diese Verordnung zeitlich auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. 58 Im Übrigen braucht nicht zwischen den Bestimmungen der Richtlinie 95/46 und den in den beiden Vorlagefragen in ihrer umformulierten Fassung genannten Bestimmungen der DSGVO unterschieden zu werden, da diese Bestimmungen einen ähnlichen Regelungsgehalt haben, soweit es um die Auslegung geht, die der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache vorzunehmen hat (vgl. entsprechend Urteil vom 21. November 2013, Dixons Retail, C‑494/12, EU:C:2013:758, Rn. 18). 59 Um die Fragen des vorlegenden Gerichts zweckdienlich zu beantworten, sind sie also auf der Grundlage sowohl der Richtlinie 95/46 als auch der DSGVO zu prüfen. Zur ersten Frage 60 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Buchst. c und e der Richtlinie 95/46 und Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e und Abs. 3 der DSGVO im Licht der Art. 7 und 8 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Bestimmung entgegenstehen, die vorsieht, dass personenbezogene Daten, die in Erklärungen über private Interessen enthalten sind, die jeder Leiter einer öffentliche Mittel erhaltenden Einrichtung gegenüber der für die Entgegennahme und inhaltlichen Kontrolle dieser Erklärungen zuständigen nationalen Behörde abgeben muss, im Internet veröffentlicht werden. 61 Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 95/46 gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit ihrem zehnten Erwägungsgrund sowie die DSGVO gemäß ihrem Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit ihren Erwägungsgründen 4 und 10 u. a. zum Ziel haben, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu gewährleisten; dieses Schutzrecht wird auch in Art. 8 der Charta anerkannt und steht in engem Zusammenhang mit dem in Art. 7 der Charta verankerten Recht auf Achtung des Privatlebens. 62 Zu diesem Zweck enthalten Kapitel II der Richtlinie 95/46 sowie die Kapitel II und III der DSGVO die Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten bzw. die Rechte der betroffenen Person, die bei dieser Verarbeitung beachtet werden müssen. Insbesondere musste jede Verarbeitung personenbezogener Daten vor der Anwendbarkeit der DSGVO mit den in den Art. 6 und 7 dieser Richtlinie genannten Grundsätzen in Bezug auf die Qualität der Daten und die Zulässigkeit ihrer Verarbeitung im Einklang stehen, und seit der Anwendbarkeit der DSGVO muss sie den in den Art. 5 und 6 dieser Verordnung genannten Grundsätzen für die Verarbeitung von Daten und den Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 96, und vom 24. Februar 2022, Valsts ieņēmumu dienests [Verarbeitung personenbezogener Daten für steuerliche Zwecke], C‑175/20, EU:C:2022:124, Rn. 50). 63 Im vorliegenden Fall sieht Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich vor, dass die Oberste Ethikkommission auf ihrer Website Informationen veröffentlicht, die in den von den in dieser Bestimmung genannten öffentlichen Verantwortungsträgern vorgelegten Erklärungen über private Interessen enthalten sind und deren Inhalt in Art. 6 Abs. 1 dieses Gesetzes festgelegt ist, mit Ausnahme der Informationen, die in Art. 10 Abs. 2 dieses Gesetzes aufgeführt sind. 64 Insoweit ist hervorzuheben, dass die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen ausschließlich die Veröffentlichung der in der Erklärung über private Interessen, die der Leiter einer öffentliche Mittel erhaltenden Einrichtung abgeben muss, enthaltenen Informationen auf der Website der Obersten Ethikkommission betreffen, und nicht die Erklärungspflicht als solche oder die Veröffentlichung einer Interessenerklärung unter anderen Umständen. 65 Da sich die Informationen, die zur Veröffentlichung auf der Website der Obersten Ethikkommission bestimmt sind, auf natürliche Personen beziehen, die durch Vor- und Nachnamen identifiziert sind, handelt es sich um personenbezogene Daten im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 95/46 und Art. 4 Nr. 1 der DSGVO. Der Umstand, dass diese Informationen im Kontext der beruflichen Tätigkeit der erklärungspflichtigen Person stehen, ändert hieran nichts (Urteil vom 9. März 2017, Manni, C‑398/15, EU:C:2017:197, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ferner stellt der Vorgang, der darin besteht, personenbezogene Daten auf eine Website zu stellen, eine Verarbeitung im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 und Art. 4 Nr. 2 der DSGVO dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Oktober 2015, Weltimmo, C‑230/14, EU:C:2015:639, Rn. 37), für die die Oberste Ethikkommission der Verantwortliche im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 und Art. 4 Nr. 7 der DSGVO ist (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 101). 66 Nach dieser Klarstellung ist zu prüfen, ob Art. 7 der Richtlinie 95/46 und Art. 6 der DSGVO, betrachtet im Licht der Art. 7 und 8 der Charta, dem entgegenstehen, dass ein Teil der in der Erklärung über private Interessen, die jeder Leiter einer öffentliche Mittel erhaltenden Einrichtung abzugeben hat, enthaltenen personenbezogenen Daten im Internet veröffentlicht wird, wie dies in Art. 10 des Gesetzes über den Interessenausgleich vorgesehen ist. 67 Art. 7 der Richtlinie 95/46 und Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der DSGVO enthalten eine erschöpfende und abschließende Liste der Fälle, in denen eine Verarbeitung personenbezogener Daten als rechtmäßig angesehen werden kann. Daher muss eine Verarbeitung unter einen der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Fälle subsumierbar sein, um als rechtmäßig angesehen werden zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung). 68 Nach Art. 7 Buchst. e der Richtlinie 95/46 und nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e der DSGVO, den das vorlegende Gericht in seiner ersten Frage anführt, ist die Verarbeitung rechtmäßig, wenn sie für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde. Außerdem ist nach Art. 7 Buchst. c dieser Richtlinie und nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der DSGVO, auf den das vorlegende Gericht in der Begründung seines Vorabentscheidungsersuchens Bezug genommen hat, auch die Verarbeitung rechtmäßig, die zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich ist, der der Verantwortliche unterliegt. 69 Art. 6 Abs. 3 der DSGVO stellt in Bezug auf diese beiden Fälle der Rechtmäßigkeit klar, dass die Verarbeitung auf dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten beruhen muss, dem der Verantwortliche unterliegt, und dass die betreffende Rechtsgrundlage ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen muss. Da diese Anforderungen Ausfluss der Vorgaben sind, die sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergeben, sind sie im Licht der letztgenannten Bestimmung auszulegen und entsprechend auf Art. 7 Buchst. c und e der Richtlinie 95/46 zu übertragen. 70 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen und gegen andere Grundrechte abgewogen werden müssen. Somit können Einschränkungen vorgesehen werden, sofern sie gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt der Grundrechte sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Nach diesem Grundsatz dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Sie müssen sich auf das absolut Notwendige beschränken, und die den Eingriff enthaltende Regelung muss klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der betreffenden Maßnahme vorsehen (Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 105 und die dort angeführte Rechtsprechung). 71 Im vorliegenden Fall ist die Tatsache, dass ein Teil der in der Erklärung über private Interessen, die jeder Leiter einer öffentliche Mittel erhaltenden Einrichtung abzugeben hat, enthaltenen personenbezogenen Daten auf der Website der Obersten Ethikkommission veröffentlicht wird, Folge einer gesetzlichen Bestimmung des mitgliedstaatlichen Rechts, dem die Oberste Ethikkommission unterliegt, nämlich Art. 10 des Gesetzes über den Interessenausgleich. Folglich ist diese Datenverarbeitung zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung erforderlich, der diese Behörde als Verantwortliche unterliegt, und fällt somit unter den in Art. 7 Buchst. c der Richtlinie 95/46 und Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der DSGVO genannten Fall. Unter diesen Umständen braucht nicht geprüft zu werden, ob diese Verarbeitung auch unter Art. 7 Buchst. e dieser Richtlinie und Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e dieser Verordnung fällt. 72 Da außerdem, wie sich aus Rn. 63 des vorliegenden Urteils ergibt, Art. 10 des Gesetzes über den Interessenausgleich den Umfang, in dem die Ausübung des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten eingeschränkt wird, festlegt, ist der sich daraus ergebende Eingriff als gesetzlich vorgesehen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta zu betrachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Februar 2022, Valsts ieņēmumu dienests [Verarbeitung personenbezogener Daten für steuerliche Zwecke], C‑175/20, EU:C:2022:124, Rn. 54). 73 Wie jedoch in Rn. 69 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, muss Art. 10 des Gesetzes über den Interessenausgleich als Rechtsgrundlage der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Datenverarbeitung auch den weiteren Anforderungen genügen, die sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta und Art. 6 Abs. 3 der DSGVO ergeben; insbesondere muss er ein im öffentlichen Interesse liegendes Ziel verfolgen und in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck stehen. 74 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus Art. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich, dass dieses Gesetz dadurch, dass es den Grundsatz der Transparenz der Interessenerklärungen aufstellt, darauf abzielt, bei der Entscheidungsfindung der im öffentlichen Dienst tätigen Personen den Vorrang des öffentlichen Interesses sicherzustellen, die Unparteilichkeit der getroffenen Entscheidungen zu gewährleisten und Interessenkonflikten sowie dem Auftreten und der Entwicklung von Korruption im öffentlichen Dienst vorzubeugen. 75 Da diese Ziele darin bestehen, die Garantien für Redlichkeit und Unparteilichkeit der öffentlichen Entscheidungsträger zu stärken, Interessenkonflikten vorzubeugen und Korruption im öffentlichen Sektor zu bekämpfen, liegen sie unbestreitbar im öffentlichen Interesse und sind folglich legitim. 76 Denn indem dafür Sorge getragen wird, dass die öffentlichen Entscheidungsträger ihre Aufgaben unparteiisch und objektiv wahrnehmen, und indem verhindert wird, dass sie von Erwägungen im Zusammenhang mit privaten Interessen beeinflusst werden, wird angestrebt, die ordnungsgemäße Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten und öffentlicher Güter zu gewährleisten. 77 Überdies stellt die Bekämpfung der Korruption ein Ziel dar, dem sich die Mitgliedstaaten sowohl auf internationaler Ebene als auch auf Unionsebene verschrieben haben. 78 Auf Unionsebene sind die Mitgliedstaaten insbesondere dem Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind, beigetreten, wonach jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen zu treffen hat, damit Korruption mit Beamtenbeteiligung – in Form sowohl von Bestechung als auch von Bestechlichkeit – strafrechtlich geahndet wird. 79 Auf internationaler Ebene bestimmt Art. 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Korruption, dass dieses Übereinkommen u. a. die Förderung und Verstärkung von Maßnahmen zur effizienteren und wirksameren Verhütung und Bekämpfung von Korruption sowie die Förderung der Integrität, der Rechenschaftspflicht und der ordnungsgemäßen Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten und öffentlicher Vermögensgegenstände zum Ziel hat. Zu diesem Zweck sieht Art. 7 Abs. 4 des Übereinkommens vor, dass „[j]eder Vertragsstaat … in Übereinstimmung mit den wesentlichen Grundsätzen seines innerstaatlichen Rechts bestrebt [ist], Regelungen zu beschließen, beizubehalten und in ihrer Wirkung zu verstärken, welche die Transparenz fördern und Interessenkonflikten vorbeugen“. 80 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die nach dem Gesetz über den Interessenausgleich erfolgende Verarbeitung personenbezogener Daten darauf abzielt, von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta bzw. im öffentlichen Interesse liegenden und daher legitimen Zielen im Sinne von Art. 6 Abs. 3 der DSGVO zu entsprechen. 81 Folglich lassen die in den Rn. 74 und 75 des vorliegenden Urteils genannten Ziele gemäß diesen Bestimmungen Einschränkungen der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte zu, vorausgesetzt, dass sie diesen Zielen tatsächlich entsprechen und in einem angemessenen Verhältnis zu diesen Zielen stehen. 82 Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob die Online-Veröffentlichung eines Teils der in der Erklärung über private Interessen, die jeder Leiter einer öffentliche Mittel erhaltenden Einrichtung bei der Obersten Ethikkommission abzugeben hat, enthaltenen personenbezogenen Daten auf der Website dieser Behörde geeignet ist, die in Art. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich definierten, im öffentlichen Interesse liegenden Ziele zu erreichen, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 109). 83 Was zunächst die Frage betrifft, ob die Veröffentlichung von in Erklärungen über private Interessen enthaltenen personenbezogenen Daten auf der Website der Obersten Ethikkommission geeignet ist, das in Art. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich definierte, im öffentlichen Interesse liegende Ziel zu erreichen, so ist festzustellen, dass die Online-Veröffentlichung bestimmter personenbezogener Daten, die in den von den öffentlichen Entscheidungsträgern abgegebenen Erklärungen über private Interessen enthalten sind, dazu angetan ist, diese Entscheidungsträger zu unparteiischem Handeln anzuhalten, da etwaige Interessenkonflikte, die die Wahrnehmung ihrer Aufgaben beeinflussen könnten, durch diese Veröffentlichung aufgedeckt werden können. Eine solche Umsetzung des Transparenzgrundsatzes ist daher geeignet, Interessenkonflikten und Korruption vorzubeugen, die Verantwortung der Akteure des öffentlichen Sektors zu erhöhen und damit das Vertrauen der Bürger in das öffentliche Handeln zu stärken. 84 Folglich erscheint die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Maßnahme geeignet, zur Verwirklichung der mit ihr verfolgten, im öffentlichen Interesse liegenden Ziele beizutragen. 85 Was sodann die Voraussetzung der Erforderlichkeit anbelangt, so geht aus dem 39. Erwägungsgrund der DSGVO hervor, dass diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn das verfolgte, im öffentlichen Interesse liegende Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen, insbesondere die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, eingreifen, wobei sich die Ausnahmen und Einschränkungen hinsichtlich des Grundsatzes des Schutzes solcher Daten auf das absolut Notwendige beschränken müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob das Ziel, Interessenkonflikten und Korruption im öffentlichen Sektor durch Stärkung der Redlichkeit und Unparteilichkeit seiner Verantwortungsträger vorzubeugen, in zumutbarer Weise ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden könnte, die weniger stark in die Rechte der Leiter von öffentliche Mittel erhaltenden Einrichtungen auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten eingreifen würden. 86 Bei dieser Prüfung sind zum einen alle dem betreffenden Mitgliedstaat eigenen rechtlichen und tatsächlichen Aspekte zu berücksichtigen, wie etwa das Bestehen anderweitiger Maßnahmen zur Verhütung von Interessenkonflikten und zur Bekämpfung der Korruption sowie das Ausmaß solcher Konflikte und des Phänomens der Korruption im öffentlichen Dienst, und zum anderen die Art der betreffenden Informationen und die Bedeutung der von der erklärungspflichtigen Person wahrgenommenen Aufgaben, insbesondere die hierarchische Stellung dieser Person, der Umfang der ihr gegebenenfalls übertragenen Kompetenzen in der öffentlichen Verwaltung und die Befugnisse, über die sie in Bezug auf Bindung und Verwaltung öffentlicher Mittel verfügt. 87 Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass das vorlegende Gericht, wie aus Rn. 43 des vorliegenden Urteils hervorgeht, offenbar davon ausgeht, dass die Pflicht, private Interessen gegenüber den in den Art. 5 und 22 des Gesetzes über den Interessenausgleich genannten Stellen zu deklarieren, sowie die von diesen Stellen vorgenommene Kontrolle der Erfüllung dieser Pflicht und des Inhalts dieser Erklärung genügen würden, um die mit diesem Gesetz verfolgten Ziele, nämlich die Verhütung von Interessenkonflikten und die Bekämpfung von Korruption im öffentlichen Sektor, ebenso wirksam zu erreichen. 88 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts besteht eines der Hauptargumente, die die Oberste Ethikkommission im Ausgangsverfahren vorgebracht hat, um die Veröffentlichung der Erklärungen über private Interessen zu rechtfertigen, darin, dass sie nicht über ausreichende personelle Mittel verfüge, um alle ihr vorgelegten Erklärungen tatsächlich zu kontrollieren. 89 Es ist jedoch zu betonen, dass die mangelnde Zuweisung von Mitteln an Behörden keinesfalls einen legitimen Grund darstellen kann, der einen Eingriff in die durch die Charta verbürgten Grundrechte rechtfertigen könnte. 90 Ferner stellt sich die Frage, ob es zur Erreichung der in Art. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich genannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen unbedingt erforderlich ist, dass die Leiter von Einrichtungen, die öffentliche Mittel erhalten, in gleicher Weise wie die anderen in Art. 10 Abs. 1 dieses Gesetzes aufgezählten Kategorien von Ämtern der in diesem Gesetz vorgeschriebenen Publizität unterliegen. 91 Hierzu hat die litauische Regierung vor dem Gerichtshof ausgeführt, dass die Pflicht zur Abgabe einer Unparteilichkeitserklärung, der diese Leiter nach nationalem Recht unterlägen, ausreiche, um die Ziele des Gesetzes über den Interessenausgleich zu erreichen, und dass daher die Anwendung von Art. 10 dieses Gesetzes auf diese Leiter, die bis zum Inkrafttreten des geänderten Gesetzes über den Interessenausgleich am 1. Januar 2020 vorgesehen gewesen sei, über das hinausgehe, was im Hinblick auf diese Ziele unbedingt erforderlich sei. 92 Zweitens bleibt, selbst wenn sich die Veröffentlichung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden personenbezogenen Daten als erforderlich erweisen sollte, um die mit dem Gesetz über den Interessenausgleich verfolgten Ziele zu erreichen, zu bedenken, dass eine potenziell unbegrenzte Zahl von Personen die fraglichen personenbezogenen Daten einsehen kann. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht jedoch nicht hervor, dass der litauische Gesetzgeber beim Erlass der genannten Bestimmung geprüft hätte, ob es unbedingt erforderlich ist, diese Daten im Internet ohne jegliche Zugangsbeschränkung zu veröffentlichen, oder ob die vom Gesetz über den Interessenausgleich verfolgten Ziele ebenso wirksam erreicht werden könnten, wenn die Zahl der Personen, die diese Daten einsehen können, begrenzt würde. 93 Drittens ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung der Erforderlichkeit der Datenverarbeitung gemeinsam mit dem in Art. 6 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 95/46 und Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der DSGVO verankerten Grundsatz der „Datenminimierung“ zu prüfen ist, wonach personenbezogene Daten dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2019, Asociația de Proprietari bloc M5A-ScaraA, C‑708/18, EU:C:2019:1064, Rn. 48). 94 Demnach können allein Daten, deren Veröffentlichung tatsächlich dazu angetan ist, die Garantien für Redlichkeit und Unparteilichkeit der öffentlichen Verantwortungsträger zu stärken, Interessenkonflikten vorzubeugen und Korruption im öffentlichen Sektor zu bekämpfen, Gegenstand einer Verarbeitung sein, wie sie in Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich vorgesehen ist. 95 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus Art. 10 Abs. 2 des Gesetzes über den Interessenausgleich sowie aus den Erläuterungen, die das vorlegende Gericht in Beantwortung des Auskunftsersuchens des Gerichtshofs dargelegt hat, dass der größte Teil der Daten, die gemäß Art. 6 Abs. 1 dieses Gesetzes in der Erklärung über private Interessen enthalten sein müssen, zur Veröffentlichung auf der Website der Obersten Ethikkommission bestimmt ist, mit Ausnahme u. a. der persönlichen Kennnummern der Betroffenen. 96 Insoweit kann es zwar im Hinblick auf das Ziel der Verhütung von Interessenkonflikten und von Korruption im öffentlichen Sektor sachdienlich sein, zu verlangen, dass Erklärungen über private Interessen Informationen, anhand deren die erklärungspflichtige Person identifiziert werden kann, sowie Informationen über die Tätigkeiten des Ehegatten, Lebensgefährten oder Partners dieser Person enthalten, doch scheint die Online-Veröffentlichung von namensbezogenen Daten über den Ehegatten, Lebensgefährten oder Partner des Leiters einer öffentliche Mittel erhaltenden Einrichtung oder über diesem Leiter nahestehende oder sonstige ihm bekannte Personen, die einen Interessenkonflikt begründen können, über das absolut Erforderliche hinauszugehen. Wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist nämlich nicht ersichtlich, dass die verfolgten Ziele von öffentlichem Interesse nicht erreicht werden könnten, wenn für die Zwecke der Veröffentlichung nur, je nach Fall, der allgemeine Ausdruck Ehegatte, Lebensgefährte oder Partner verwendet würde, verbunden mit der Angabe der relevanten Interessen der betreffenden Personen im Zusammenhang mit ihren Tätigkeiten. 97 Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die systematische Online-Veröffentlichung aller Transaktionen der erklärungspflichtigen Person, deren Wert 3000 Euro übersteigt, im Hinblick auf die verfolgten Ziele unbedingt erforderlich wäre. 98 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung nicht verfolgt werden kann, ohne den Umstand zu berücksichtigen, dass sie mit den von der Maßnahme betroffenen Grundrechten in Einklang gebracht werden muss, indem eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der fraglichen Rechte vorgenommen wird (Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 52). Folglich ist, um die Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Datenverarbeitung zu beurteilen, die Schwere des durch diese Verarbeitung bewirkten Eingriffs in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten zu ermitteln und zu prüfen, ob die Bedeutung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung, die mit dieser Verarbeitung verfolgt wird, im Verhältnis zu dieser Schwere steht. 99 Bei der Beurteilung der Schwere des Eingriffs ist insbesondere der Art der in Rede stehenden personenbezogenen Daten Rechnung zu tragen, vor allem der möglicherweise sensiblen Natur dieser Daten, sowie der Art und den konkreten Modalitäten ihrer Verarbeitung, insbesondere der Zahl der Personen, die Zugang zu diesen Daten haben, und den Zugangsmodalitäten (Urteil vom 11. Dezember 2019, Asociaţia de Proprietari bloc M5A-ScaraA, C‑708/18, EU:C:2019:1064, Rn. 57). 100 Im vorliegenden Fall ist zum einen festzustellen, dass die Online-Veröffentlichung von namensbezogenen Daten über den Ehegatten, Partner oder Lebensgefährten der erklärungspflichtigen Person oder über ihr nahestehende oder bekannte Personen, die einen Interessenkonflikt begründen können, sowie die Angabe des Gegenstands der Transaktionen mit einem Wert von mehr als 3000 Euro geeignet sind, Informationen über bestimmte sensible Aspekte des Privatlebens der betroffenen Personen, wie z. B. ihre sexuelle Orientierung, zu offenbaren. Zudem betrifft die in Art. 10 des Gesetzes über den Interessenausgleich geregelte Verarbeitung personenbezogener Daten, soweit sie eine solche Veröffentlichung namensbezogener Daten über andere Personen als die erklärungspflichtige Person in ihrer Funktion als öffentlicher Entscheidungsträger vorsieht, auch Personen, die diese Funktion nicht innehaben und gegenüber denen die Umsetzung der Ziele dieses Gesetzes nicht in gleicher Weise geboten ist wie in Bezug auf die erklärungspflichtige Person. 101 Die Schwere eines solchen Eingriffs kann sich durch die kumulative Wirkung der personenbezogenen Daten, die von einer Veröffentlichung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden betroffen sind, weiter verstärken, da sich durch die Kombination dieser Daten ein besonders detailliertes Bild des Privatlebens der betroffenen Personen erstellen lässt (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU–Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 128). 102 Zum anderen steht fest, dass diese Verarbeitung dazu führt, dass die personenbezogenen Daten der breiten Öffentlichkeit und damit einer potenziell unbegrenzten Zahl von Personen im Internet frei zugänglich sind. 103 Folglich ermöglicht es diese Verarbeitung, dass Personen, die sich aus Gründen, die nichts mit der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung der Verhütung von Interessenkonflikten und von Korruption im öffentlichen Sektor zu tun haben, über die persönliche, materielle und finanzielle Situation der erklärungspflichtigen Person und ihrer Familienangehörigen Kenntnis verschaffen wollen, ungehindert auf diese Daten zugreifen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 118). 104 Wie der Generalanwalt in Nr. 78 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann die Veröffentlichung dieser Daten somit beispielsweise dazu führen, dass die Betroffenen immer wieder gezielten Werbe- oder Kundenakquisemaßnahmen ausgesetzt sind oder sogar Gefahr laufen, Opfer von Straftaten zu werden. 105 Daher ist eine Verarbeitung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die in Rn. 100 des vorliegenden Urteils genannten personenbezogenen Daten betrifft, als schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz der personenbezogenen Daten der betroffenen Personen anzusehen. 106 Die Schwere dieses Eingriffs ist gegen die Bedeutung der Ziele der Verhütung von Interessenkonflikten und von Korruption im öffentlichen Sektor abzuwägen. 107 Insoweit hält es der Gerichtshof, um die Bedeutung des Ziels der Korruptionsbekämpfung innerhalb der Union zu verdeutlichen, für zweckmäßig, auf den Bericht der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 3. Februar 2014 über die „Korruptionsbekämpfung in der EU“ (COM[2014] 38 final) Bezug zu nehmen, in dem es heißt, dass die Korruption – die ein Problem für die verantwortungsvolle Staatsführung, den sparsamen Umgang mit öffentlichen Geldern und für wettbewerbsfähige Märkte darstelle – die wirtschaftliche Entwicklung behindere, die Demokratie schwäche und der sozialen Gerechtigkeit sowie der Rechtsstaatlichkeit schade und geeignet sei, das Vertrauen der Bürger in demokratische Institutionen und Verfahren zu erschüttern. Ferner wird in diesem Bericht angegeben, dass die gesamte Union – je nach Mitgliedstaat in größerem oder geringerem Umfang – von diesem Phänomen betroffen sei. 108 In ähnlicher Weise wird im vierten Erwägungsgrund des vom Europarat angenommenen Strafrechtsübereinkommens über Korruption darauf hingewiesen, dass Korruption „eine Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Menschenrechte darstellt, die Grundsätze verantwortungsbewussten staatlichen Handelns, der Billigkeit und der sozialen Gerechtigkeit untergräbt, den Wettbewerb verzerrt, die wirtschaftliche Entwicklung behindert und die Stabilität der demokratischen Institutionen und die sittlichen Grundlagen der Gesellschaft gefährdet“. 109 Angesichts dessen ist unbestreitbar, dass die Korruptionsbekämpfung in der Union von großer Bedeutung ist. 110 In diesem Zusammenhang erfordert die Abwägung zwischen dem Eingriff, der sich aus der Veröffentlichung der in den Erklärungen über private Interessen enthaltenen personenbezogenen Daten ergibt, und den dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen der Verhütung von Interessenkonflikten und von Korruption im öffentlichen Sektor, dass u. a. die konkreten Ausprägungen und das Ausmaß der Korruption im öffentlichen Dienst des betreffenden Mitgliedstaats berücksichtigt werden, was bedeutet, dass das Ergebnis der Abwägung zwischen diesen Zielsetzungen einerseits und dem Recht der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten andererseits nicht unbedingt für alle Mitgliedstaaten gleich ist (vgl. entsprechend Urteil vom 24. September 2019, Google [Räumliche Reichweite der Auslistung], C‑507/17, EU:C:2019:772, Rn. 67). 111 Außerdem ist, wie sich aus Rn. 86 des vorliegenden Urteils ergibt, bei dieser Abwägung zu berücksichtigen, dass das Allgemeininteresse an der Veröffentlichung personenbezogener Daten je nach der Bedeutung der von der erklärungspflichtigen Person wahrgenommenen Aufgaben variieren kann; maßgeblich sind insoweit insbesondere die hierarchische Stellung dieser Person, der Umfang der ihr gegebenenfalls übertragenen Kompetenzen in der öffentlichen Verwaltung und die Befugnisse, über die sie in Bezug auf Bindung und Verwaltung öffentlicher Mittel verfügt (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 81). 112 Nach diesen klarstellenden Hinweisen ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Online-Veröffentlichung des überwiegenden Teils der in der Erklärung über private Interessen, die jeder Leiter einer öffentliche Mittel erhaltenden Einrichtung abzugeben hat, enthaltenen personenbezogenen Daten nicht den Erfordernissen einer ausgewogenen Gewichtung genügt. Denn im Vergleich zu einer Erklärungspflicht in Verbindung mit einer von der Obersten Ethikkommission ausgeübten Inhaltskontrolle, deren Wirksamkeit der betreffende Mitgliedstaat zu gewährleisten hat, indem er diese Behörde mit den dafür erforderlichen Mitteln ausstattet, stellt eine solche Veröffentlichung einen erheblich schwereren Eingriff in die durch die Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte dar, ohne dass diese zusätzliche Schwere durch etwaige Vorteile kompensiert werden könnte, die sich hinsichtlich der Verhütung von Interessenkonflikten und der Bekämpfung von Korruption aus der Veröffentlichung aller dieser Daten ergeben könnten. 113 Zudem enthalten die dem Gerichtshof vorliegenden Akten keinen Anhaltspunkt dafür, dass die auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften Garantien vorsähen, um der Gefahr von missbräuchlichen Verwendungen wie den in den Rn. 103 und 104 des vorliegenden Urteils angeführten zu begegnen. 114 Was hingegen die Daten betreffend die Zugehörigkeit der erklärungspflichtigen Person bzw. – ohne namentliche Nennung – ihres Ehegatten, Lebensgefährten oder Partners zu Unternehmen, Einrichtungen, Vereinigungen oder Fonds sowie die Daten in Bezug auf ihre selbständigen Tätigkeiten und die juristischen Personen, an denen sie als Teilhaber oder Gesellschafter beteiligt sind, anbelangt, so ist davon auszugehen, dass die Transparenz hinsichtlich des Bestehens oder Nichtbestehens solcher Interessen es den Bürgern und den Wirtschaftsteilnehmern ermöglicht, die finanzielle Unabhängigkeit der Personen, die über Entscheidungsbefugnisse bei der Verwaltung öffentlicher Mittel verfügen, genau zu überblicken. Ferner können die Daten über empfangene Geschenke (außer von Nahestehenden), deren Wert 150 Euro übersteigt, auf Korruptionshandlungen hinweisen. 115 Vorausgesetzt, dass eine ausgewogene Gewichtung mit Rücksicht auf den Umfang der Entscheidungsbefugnis der erklärungspflichtigen Person erfolgt und der Grundsatz der Datenminimierung gewahrt wird, kann die Veröffentlichung solcher in der Interessenerklärung enthaltenen Daten mit den Vorteilen für die Verhütung von Interessenkonflikten und die Bekämpfung von Korruption gerechtfertigt werden, die eine solche Transparenz dadurch mit sich bringt, dass die Garantien für Redlichkeit und Unparteilichkeit der öffentlichen Verantwortungsträger gestärkt werden. 116 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 Buchst. c der Richtlinie 95/46 und Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der DSGVO im Licht der Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften, nach denen die Erklärung über private Interessen, die jeder Leiter einer öffentliche Mittel erhaltenden Einrichtung abgeben muss, im Internet zu veröffentlichen ist, insbesondere insoweit entgegenstehen, als diese Veröffentlichung namensbezogene Daten über den Ehegatten, Lebensgefährten oder Partner der erklärungspflichtigen Person oder über ihr nahestehende oder bekannte Personen, die einen Interessenkonflikt begründen können, oder Daten über jede in den letzten zwölf Kalendermonaten abgeschlossene Transaktion mit einem Wert von über 3000 Euro betrifft. Zur zweiten Frage 117 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der DSGVO dahin auszulegen sind, dass die Veröffentlichung personenbezogener Daten, die geeignet sind, die politischen Meinungen, die Gewerkschaftszugehörigkeit oder die sexuelle Orientierung einer natürlichen Person indirekt zu offenbaren, auf der Website der Behörde, die für die Entgegennahme und die inhaltliche Kontrolle von Erklärungen über private Interessen zuständig ist, eine Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne dieser Bestimmungen darstellt. 118 Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der DSGVO ist u. a. die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von Daten zum Sexualleben oder zur sexuellen Orientierung einer natürlichen Person untersagt. Gemäß der Überschrift dieser Artikel handelt es sich um besondere Kategorien personenbezogener Daten, wobei diese Daten im 34. Erwägungsgrund der Richtlinie 95/46 und im zehnten Erwägungsgrund der DSGVO auch als „sensible Daten“ bezeichnet werden. 119 Im vorliegenden Fall sind die personenbezogenen Daten, deren Veröffentlichung nach Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich zwingend ist, zwar ihrer Natur nach keine sensiblen Daten im Sinne der Richtlinie 95/46 und der DSGVO; jedoch hält es das vorlegende Gericht für möglich, aus den namensbezogenen Daten über den Ehegatten, Lebensgefährten oder Partner der erklärungspflichtigen Person bestimmte Informationen über das Sexualleben oder die sexuelle Orientierung dieser Person und ihres Ehegatten, Lebensgefährten oder Partners abzuleiten. 120 Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob Daten, aus denen mittels gedanklicher Kombination oder Ableitung auf die sexuelle Orientierung einer natürlichen Person geschlossen werden kann, unter die besonderen Kategorien personenbezogener Daten im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der DSGVO fallen. 121 Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 21. Dezember 2021, Bank Melli Iran, C‑124/20, EU:C:2021:1035, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 122 Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 untersagen die Mitgliedstaaten die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit „hervorgehen“, sowie die Verarbeitung von Daten „über“ Gesundheit oder Sexualleben. Art. 9 Abs. 1 der DSGVO bestimmt seinerseits, dass u. a. die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit „hervorgehen“, sowie die Verarbeitung von „Gesundheitsdaten“ oder Daten „zum“ Sexualleben oder zur sexuellen Orientierung einer natürlichen Person untersagt sind. 123 Wie der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge der Sache nach ausgeführt hat, spricht die Verwendung des Verbs „hervorgehen“ in diesen Bestimmungen dafür, dass eine Verarbeitung erfasst ist, die sich nicht nur auf ihrem Wesen nach sensible Daten bezieht, sondern auch auf Daten, aus denen sich mittels eines Denkvorgangs der Ableitung oder des Abgleichs indirekt sensible Informationen ergeben, wohingegen aber die Präpositionen „zu“ und „über“ bzw. die Verwendung eines Kompositums zum Ausdruck zu bringen scheinen, dass eine direktere Verbindung zwischen der Verarbeitung und den betreffenden Daten, bei denen auf ihr originäres Wesen abzustellen ist, bestehen muss. 124 Letztere Auslegung, die zu einer Unterscheidung je nach Art der betroffenen sensiblen Daten führen würde, stünde allerdings nicht im Einklang mit einer kontextbezogenen Analyse der fraglichen Vorschriften; sie liefe insbesondere Art. 4 Nr. 15 der DSGVO zuwider, wonach „Gesundheitsdaten“ personenbezogene Daten sind, die sich auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person, einschließlich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, beziehen und aus denen Informationen über deren Gesundheitszustand „hervorgehen“, und stünde auch im Widerspruch zum 35. Erwägungsgrund der DSGVO, in dem es heißt, dass zu den personenbezogenen Gesundheitsdaten alle Daten zählen sollten, die sich auf den Gesundheitszustand einer betroffenen Person beziehen und aus denen Informationen über den früheren, gegenwärtigen und künftigen körperlichen oder geistigen Gesundheitszustand der betroffenen Person „hervorgehen“. 125 Für eine weite Auslegung der Begriffe „besondere Kategorien personenbezogener Daten“ und „sensible Daten“ spricht auch das in Rn. 61 des vorliegenden Urteils genannte Ziel der Richtlinie 95/46 und der DSGVO, das darin besteht, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen – insbesondere ihres Privatlebens – bei der Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2003, Lindqvist, C‑101/01, EU:C:2003:596, Rn. 50). 126 Die gegenteilige Auslegung liefe zudem dem Zweck von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der DSGVO zuwider, der darin besteht, einen erhöhten Schutz vor Datenverarbeitungen zu gewährleisten, die, wie sich aus dem 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 95/46 und dem 51. Erwägungsgrund der DSGVO ergibt, aufgrund der besonderen Sensibilität der betreffenden Daten einen besonders schweren Eingriff in die durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 44). 127 Folglich können diese Bestimmungen nicht dahin ausgelegt werden, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten, die indirekt sensible Informationen über eine natürliche Person offenbaren können, von der in diesen Bestimmungen vorgesehenen verstärkten Schutzregelung ausgenommen ist, da andernfalls die praktische Wirksamkeit dieser Regelung und der von ihr bezweckte Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen beeinträchtigt würden. 128 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der DSGVO dahin auszulegen sind, dass die Veröffentlichung personenbezogener Daten, die geeignet sind, die sexuelle Orientierung einer natürlichen Person indirekt zu offenbaren, auf der Website der Behörde, die für die Entgegennahme und die inhaltliche Kontrolle von Erklärungen über private Interessen zuständig ist, eine Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne dieser Bestimmungen darstellt. Kosten 129 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 7 Buchst. c der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr sowie Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) sind im Licht der Art. 7, 8 und 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften, nach denen die Erklärung über private Interessen, die jeder Leiter einer öffentliche Mittel erhaltenden Einrichtung abgeben muss, im Internet zu veröffentlichen ist, insbesondere insoweit entgegenstehen, als diese Veröffentlichung namensbezogene Daten über den Ehegatten, Lebensgefährten oder Partner der erklärungspflichtigen Person oder über ihr nahestehende oder bekannte Personen, die einen Interessenkonflikt begründen können, oder Daten über jede in den letzten zwölf Kalendermonaten abgeschlossene Transaktion mit einem Wert von über 3000 Euro betrifft. 2. Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 sind dahin auszulegen, dass die Veröffentlichung personenbezogener Daten, die geeignet sind, die sexuelle Orientierung einer natürlichen Person indirekt zu offenbaren, auf der Website der Behörde, die für die Entgegennahme und die inhaltliche Kontrolle von Erklärungen über private Interessen zuständig ist, eine Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne dieser Bestimmungen darstellt. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Litauisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 1. August 2022.#HOLD Alapkezelő Befektetési Alapkezelő Zrt. gegen Magyar Nemzeti Bank.#Vorabentscheidungsersuchen der Kúria.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Richtlinie 2009/65/EG – Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) – Richtlinie 2011/61/EU – Alternative Investmentfonds – Vergütungspolitik und ‑praxis der Geschäftsführer einer OGAW-Verwaltungsgesellschaft oder eines Verwalters alternativer Investmentfonds – An bestimmte Mitglieder der Geschäftsleitung ausgeschüttete Dividende – Begriff der Vergütung – Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Eigentumsrecht.#Rechtssache C-352/20.
62020CJ0352
ECLI:EU:C:2022:606
2022-08-01T00:00:00
Kokott, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62020CJ0352 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 1. August 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Richtlinie 2009/65/EG – Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) – Richtlinie 2011/61/EU – Alternative Investmentfonds – Vergütungspolitik und ‑praxis der Geschäftsführer einer OGAW-Verwaltungsgesellschaft oder eines Verwalters alternativer Investmentfonds – An bestimmte Mitglieder der Geschäftsleitung ausgeschüttete Dividende – Begriff der Vergütung – Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Eigentumsrecht“ In der Rechtssache C‑352/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) mit Entscheidung vom 2. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Juli 2020, in dem Verfahren HOLD Alapkezelő Befektetési Alapkezelő Zrt. gegen Magyar Nemzeti Bank erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen, in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, sowie der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin) und des Richters P. G. Xuereb, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Oktober 2021, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der HOLD Alapkezelő Befektetési Alapkezelő Zrt., vertreten durch Á. P. Baráti, T. Fehér, P. Jalsovszky und B. D. Zsibrita, Ügyvédek, – der Magyar Nemzeti Bank, vertreten durch T. Kende und P. Sonnevend, Ügyvédek, sowie G. Subai, Rechtsberater, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch L. Havas, J. Rius Riu und H. Tserepa-Lacombe, dann durch V. Bottka, J. Rius Riu und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte, – der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde, vertreten durch G. Filippa als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 16. Dezember 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 14 bis 14b der Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) (ABl. 2009, L 302, S. 32) in der durch die Richtlinie 2014/91/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 (ABl. 2014, L 257, S. 186) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2009/65), Art. 13 Abs. 1 und Anhang II Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2011/61/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2011 über die Verwalter alternativer Investmentfonds und zur Änderung der Richtlinien 2003/41/EG und 2009/65/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 1060/2009 und (EU) Nr. 1095/2010 (ABl. 2011, L 174, S. 1) sowie Art. 2 Nr. 5 der Delegierten Verordnung (EU) 2017/565 der Kommission vom 25. April 2016 zur Ergänzung der Richtlinie 2014/65/EU des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die organisatorischen Anforderungen an Wertpapierfirmen und die Bedingungen für die Ausübung ihrer Tätigkeit sowie in Bezug auf die Definition bestimmter Begriffe für die Zwecke der genannten Richtlinie (ABl. 2017, L 87, S. 1) 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der HOLD Alapkezelő Befektetési Alapkezelő Zrt. (im Folgenden: HOLD) und der Magyar Nemzeti Bank (Ungarische Nationalbank) wegen eines Bescheids, mit dem diese gegen HOLD wegen ihrer Vergütungspraxis eine Sanktion verhängt hat. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2009/65 3 Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2009/65 bezeichnet der Ausdruck „Verwaltungsgesellschaft“ für die Zwecke dieser Richtlinie eine Gesellschaft, deren reguläre Geschäftstätigkeit in der Verwaltung von in der Form eines Investmentfonds oder einer Investmentgesellschaft konstituierten Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) besteht (gemeinsame Portfolioverwaltung von OGAW). 4 Art. 6 Abs. 3 und 4 dieser Richtlinie bestimmt: „(3)   Abweichend von Absatz 2 können die Mitgliedstaaten einer Verwaltungsgesellschaft – zusätzlich zur Verwaltung von OGAW – die Zulassung für die Erbringung der folgenden Dienstleistungen erteilen: a) individuelle Verwaltung einzelner Portfolios – einschließlich der Portfolios von Pensionsfonds – mit einem Ermessensspielraum im Rahmen eines Mandats der Anleger, sofern die betreffenden Portfolios eines oder mehrere der in Anhang I Abschnitt C der Richtlinie 2004/39/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates (ABl. 2004, L 145, S. 1)] genannten Instrumente enthalten, und b) als Nebendienstleistungen: i) Anlageberatung in Bezug auf eines oder mehrere der in Anhang I Abschnitt C der Richtlinie 2004/39/EG genannten Instrumente, ii) Verwahrung und technische Verwaltung in Bezug auf die Anteile von Organismen für gemeinsame Anlagen. … (4)   Artikel 2 Absatz 2 und die Artikel 12, 13 und 19 der Richtlinie 2004/39/EG finden auf die Erbringung der in Absatz 3 genannten Dienstleistungen durch Verwaltungsgesellschaften Anwendung.“ 5 Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2009/65 lautet: „Jeder Mitgliedstaat erlässt Wohlverhaltensregeln, welche die in diesem Mitgliedstaat zugelassenen Verwaltungsgesellschaften fortwährend einzuhalten haben. Diese Regeln müssen zumindest die Beachtung der in diesem Absatz aufgeführten Grundsätze gewährleisten. Gemäß diesen Grundsätzen muss die Verwaltungsgesellschaft a) bei der Ausübung ihrer Tätigkeit recht und billig im besten Interesse der von ihr verwalteten OGAW und der Integrität des Marktes handeln; b) ihre Tätigkeit mit der gebotenen Sachkenntnis, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit im besten Interesse der von ihr verwalteten OGAW und der Integrität des Marktes ausüben; c) über die für eine ordnungsgemäße Geschäftstätigkeit erforderlichen Mittel und Verfahren verfügen und diese wirksam einsetzen; d) sich um die Vermeidung von Interessenkonflikten bemühen und, wenn sich diese nicht vermeiden lassen, dafür sorgen, dass die von ihr verwalteten OGAW nach Recht und Billigkeit behandelt werden, und e) alle für die Ausübung ihrer Tätigkeit geltenden Vorschriften im besten Interesse ihrer Anleger und der Integrität des Marktes einhalten.“ 6 Art. 14a dieser Richtlinie sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten verlangen von den Verwaltungsgesellschaften die Festlegung und Anwendung einer Vergütungspolitik und ‑praxis, die mit einem soliden und wirksamen Risikomanagement vereinbar und diesem förderlich ist und weder zur Übernahme von Risiken ermutigt, die mit den Risikoprofilen, Vertragsbedingungen oder Satzungen der von ihnen verwalteten OGAW nicht vereinbar sind, noch die Verwaltungsgesellschaft daran hindert, pflichtgemäß im besten Interesse des OGAW zu handeln. (2)   Die Vergütungspolitik und ‑praxis umfasst feste und variable Bestandteile der Gehälter und freiwillige Altersversorgungsleistungen. (3)   Die Vergütungspolitik und ‑praxis gilt für die Kategorien von Mitarbeitern, einschließlich Geschäftsleitung, Risikoträger, Mitarbeitern mit Kontrollfunktionen und Mitarbeiter, die sich aufgrund ihrer Gesamtvergütung in derselben Einkommensstufe befinden wie die Geschäftsleitung und Risikoträger, deren Tätigkeiten einen wesentlichen Einfluss auf die Risikoprofile der Verwaltungsgesellschaften oder der von ihnen verwalteten OGAW haben. (4)   Die [Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA)] gibt gemäß Artikel 16 der Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/77/EG der Kommission (ABl. 2010, L 331, S. 84)] Leitlinien für die zuständigen Behörden oder die Finanzmarktteilnehmer heraus, die die in Absatz 3 des vorliegenden Artikels genannten Personen und die Anwendung der in Artikel 14b genannten Grundsätze betreffen. Diese Leitlinien tragen den in der Empfehlung 2009/384/EG der Kommission [vom 30. April 2009 zur Vergütungspolitik im Finanzdienstleistungssektor (ABl. 2009, L 120, S. 22)] enthaltenen Grundsätzen für eine solide Vergütungspolitik, der Größe der Verwaltungsgesellschaft und der von ihr verwalteten OGAW, ihrer internen Organisation und der Art, dem Umfang und der Komplexität ihrer Geschäfte Rechnung. …“ 7 In Art. 14b der Richtlinie heißt es: „(1)   Bei der Festlegung und Anwendung der in Artikel 14a genannten Vergütungspolitik wenden die Verwaltungsgesellschaften die nachstehend genannten Grundsätze in einer Art und einem Ausmaß an, die ihrer Größe, ihrer internen Organisation und der Art, dem Umfang und der Komplexität ihrer Geschäfte angemessen sind: a) Die Vergütungspolitik ist mit einem soliden und wirksamen Risikomanagement vereinbar und diesem förderlich und ermutigt zu keiner Übernahme von Risiken, die mit den Risikoprofilen, Vertragsbedingungen oder Satzungen der von der Verwaltungsgesellschaft verwalteten OGAW nicht vereinbar sind. b) Die Vergütungspolitik steht im Einklang mit Geschäftsstrategie, Zielen, Werten und Interessen der Verwaltungsgesellschaft und der von ihr verwalteten OGAW und der Anleger solcher OGAW und umfasst Maßnahmen zur Vermeidung von Interessenkonflikten. … g) Bei erfolgsabhängiger Vergütung basiert die Gesamtvergütung auf einer Bewertung sowohl der Leistung des betreffenden Mitarbeiters und seiner Abteilung bzw. des betreffenden OGAW sowie deren Risiken als auch des Gesamtergebnisses der Verwaltungsgesellschaft, und werden bei der Bewertung der individuellen Leistung finanzielle und nicht finanzielle Kriterien berücksichtigt. h) Die Leistungsbewertung erfolgt in einem mehrjährigen Rahmen, der der Haltedauer, die den Anlegern des von der Verwaltungsgesellschaft verwalteten OGAW empfohlen wurde, angemessen ist, um zu gewährleisten, dass die Bewertung auf die längerfristige Leistung des OGAW und seiner Anlagerisiken abstellt und die tatsächliche Auszahlung erfolgsabhängiger Vergütungskomponenten über denselben Zeitraum verteilt ist. … j) Die festen und variablen Bestandteile der Gesamtvergütung stehen in einem angemessenen Verhältnis zueinander, wobei der Anteil des festen Bestandteils an der Gesamtvergütung hoch genug ist, um in Bezug auf die variablen Vergütungskomponenten völlige Flexibilität zu bieten, einschließlich der Möglichkeit, auf die Zahlung einer variablen Komponente zu verzichten. … l) Die Erfolgsmessung, anhand deren variable Vergütungskomponenten oder Pools von variablen Vergütungskomponenten berechnet werden, schließt einen umfassenden Berichtigungsmechanismus für alle Arten laufender und künftiger Risiken ein. m) Je nach rechtlicher Struktur des OGAW und seiner Satzung oder seinen Vertragsbedingungen muss ein erheblicher Anteil, mindestens jedoch 50 % der variablen Vergütungskomponente aus Anteilen des betreffenden OGAW, gleichwertigen Beteiligungen oder mit Anteilen verknüpften Instrumenten oder gleichwertigen unbaren Instrumenten mit Anreizen bestehen, die gleichermaßen wirksam sind wie jedwedes der in diesem Buchstaben genannten Instrumente; der Mindestwert von 50 % kommt nicht zur Anwendung, wenn weniger als 50 % des von der Verwaltungsgesellschaft verwalteten Gesamtportfolios auf OGAW entfallen. Für die unter diesem Buchstaben genannten Instrumente gilt eine geeignete Zurückstellungspolitik, die darauf abstellt, die Anreize an den Interessen der Verwaltungsgesellschaft und der von ihr verwalteten OGAW sowie den Interessen der OGAW-Anleger auszurichten. Die Mitgliedstaaten oder ihre zuständigen Behörden können gegebenenfalls Einschränkungen hinsichtlich der Arten und Formen dieser Instrumente beschließen oder bestimmte Instrumente verbieten. Dieser Buchstabe gilt sowohl für den Anteil der variablen Vergütungskomponente, die gemäß Buchstabe n zurückgestellt wird, als auch für den Anteil der nicht zurückgestellten variablen Vergütungskomponente. n) Ein wesentlicher Anteil, mindestens jedoch 40 % der variablen Vergütungskomponente wird über einen Zeitraum zurückgestellt, der angesichts der Haltedauer, die den Anlegern des betreffenden OGAW empfohlen wurde, angemessen und korrekt auf die Art der Risiken dieses OGAW ausgerichtet ist. Der Zeitraum nach diesem Buchstaben beträgt mindestens drei Jahre; die im Rahmen von Regelungen zur Rückstellung der Vergütungszahlung zu zahlende Vergütung wird nicht rascher als auf anteiliger Grundlage erworben; macht die variable Komponente einen besonders hohen Betrag aus, so wird die Auszahlung von mindestens 60 % des Betrags zurückgestellt. o) Die variable Vergütung, einschließlich des zurückgestellten Anteils, wird nur dann ausgezahlt oder verdient, wenn sie angesichts der Finanzlage der Verwaltungsgesellschaft insgesamt tragbar und aufgrund der Leistung der betreffenden Geschäftsabteilung, des OGAW und der betreffenden Person gerechtfertigt ist. Ein schwaches oder negatives finanzielles Ergebnis der Verwaltungsgesellschaft oder des betreffenden OGAW führt generell zu einer erheblichen Absenkung der gesamten variablen Vergütung, wobei sowohl laufende Kompensationen als auch Verringerungen bei Auszahlungen von zuvor erwirtschafteten Beträgen, auch durch Malus- oder Rückforderungsvereinbarungen, berücksichtigt werden. … r) Die variable Vergütung wird nicht in Form von Instrumenten oder Verfahren gezahlt, die eine Umgehung der Anforderungen dieser Richtlinie erleichtern. … (3)   Die in Absatz 1 festgelegten Grundsätze gelten für jede Art von Leistung, die von der Verwaltungsgesellschaft gewährt wird, für jeden direkt von dem OGAW selbst gezahlten Betrag, einschließlich Anlageerfolgsprämien (performance fees), und für jede Übertragung von Anteilen des OGAW zugunsten von Mitarbeiterkategorien, einschließlich Geschäftsleitung, Risikoträgern, Mitarbeitern mit Kontrollfunktionen und aller Mitarbeiter, die sich aufgrund ihrer Gesamtvergütung in derselben Einkommensstufe befinden wie Geschäftsleitung und Risikoträger, deren Tätigkeiten einen wesentlichen Einfluss auf ihr Risikoprofil oder das Risikoprofil der von ihnen verwalteten OGAW haben. …“ Richtlinie 2014/91 8 In den Erwägungsgründen 5, 7 und 10 der Richtlinie 2014/91 heißt es: „(5) Bei der Anwendung der in dieser Richtlinie festgelegten Grundsätze für eine solide Vergütungspolitik und ‑praxis sollten die Mitgliedstaaten den in der Empfehlung [2009/384] enthaltenen Grundsätzen, der Arbeit des Rates für Finanzstabilität und der Zusage der G20 zur Minderung der Risiken im Finanzdienstleistungssektor Rechnung tragen. … (7) Die Grundsätze für eine solide Vergütungspolitik sollten auch für Zahlungen gelten, die OGAW an Verwaltungsgesellschaften oder Investmentgesellschaften leisten. … (10) Die Bestimmungen über die Vergütung sollten die vollständige Wahrnehmung der durch den [EU-Vertrag], den [AEU-Vertrag] und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union … garantierten Grundrechte, die allgemeinen Grundsätze des nationalen Vertrags- und Arbeitsrechts, geltende Rechtsnormen in Bezug auf die Rechte von Anteilseignern und die Beteiligung und die allgemeinen Zuständigkeiten der Verwaltungs- und Aufsichtsorgane der betroffenen Gesellschaften sowie gegebenenfalls die Befugnis der Sozialpartner, Tarifverträge im Einklang mit nationalem Recht und nationaler Praxis abzuschließen und durchzusetzen, nicht berühren.“ Richtlinie 2011/61 9 Die Erwägungsgründe 26 und 28 der Richtlinie 2011/61 lauten: „(26) Die in der Empfehlung [2009/384] festgelegten Grundsätze für eine solide Vergütungspolitik stimmen mit den in dieser Richtlinie festgelegten Grundsätzen überein und ergänzen diese. … (28) Die Bestimmungen bezüglich der Vergütung sollten von der vollständigen Wahrnehmung der durch die Verträge garantierten Grundrechte, insbesondere von den Bestimmungen des Artikels 153 Absatz 5 AEUV, den allgemeinen Grundsätzen des nationalen Vertrags- und Arbeitsrechts, geltenden Rechtsnormen in Bezug auf die Rechte von Anteilseignern und der Beteiligung und den allgemeinen Zuständigkeiten der Verwaltungs- und Aufsichtsorgane der betroffenen Institution sowie gegebenenfalls von der Befugnis der Sozialpartner, Tarifverträge im Einklang mit nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten abzuschließen und durchzusetzen, unberührt bleiben.“ 10 Gemäß ihrem Art. 1 werden in der Richtlinie 2011/61 Vorschriften für die Zulassung, die laufende Tätigkeit und die Transparenz der Verwalter alternativer Investmentfonds (alternative investment fund managers – AIFM) festgelegt, die alternative Investmentfonds (im Folgenden: AIF) in der Europäischen Union verwalten und/oder vertreiben. 11 Für die Zwecke dieser Richtlinie ist ein „AIFM“ gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie jede juristische Person, deren reguläre Geschäftstätigkeit darin besteht, einen oder mehrere AIF zu verwalten. 12 Art. 6 Abs. 4 und 6 dieser Richtlinie bestimmt: „(4)   Abweichend von Absatz 2 können die Mitgliedstaaten einem externen AIFM die Zulassung zur Erbringung der folgenden Dienstleistungen erteilen: a) [i]ndividuelle Verwaltung einzelner Portfolios, einschließlich solcher, die von Pensionsfonds und Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung gehalten werden, gemäß Artikel 19 Absatz 1 der Richtlinie 2003/41/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. Juni 2003 über die Tätigkeiten und die Beaufsichtigung von Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung (ABl. 2003, L 235, S. 10)] und im Einklang mit von den Anlegern erteilten Einzelmandaten mit Ermessensspielraum, b) als Nebendienstleistungen: i) Anlageberatung, ii) Verwahrung und Verwaltung im Zusammenhang mit Anteilen an Organismen für gemeinsame Anlagen, iii) Annahme und Übermittlung von Aufträgen, die Finanzinstrumente zum Gegenstand haben. … (6)   Für die Erbringung der in Absatz 4 dieses Artikels genannten Dienstleistungen durch AIFM gelten Artikel 2 Absatz 2 und Artikel 12, 13 und 19 der Richtlinie [2004/39].“ 13 In Art. 13 der Richtlinie 2011/61 heißt es: „(1)   Die Mitgliedstaaten verpflichten die AIFM dazu, für alle Kategorien von Mitarbeitern einschließlich der Führungskräfte, Risikoträger, und Mitarbeiter mit Kontrollfunktionen und aller Mitarbeiter, die eine Gesamtvergütung erhalten, aufgrund derer sie sich in derselben Einkommensstufe befinden wie die Führungskräfte und Risikoträger, deren berufliche Tätigkeit sich wesentlich auf die Risikoprofile der AIFM oder auf die Risikoprofile der von ihnen verwalteten AIF auswirkt, eine Vergütungspolitik und ‑praxis festzulegen, die mit einem soliden und wirksamen Risikomanagement vereinbar und diesem förderlich ist und nicht zur Übernahme von Risiken ermutigen, die nicht mit dem Risikoprofil, den Vertragsbedingungen oder der Satzung der von ihnen verwalteten AIF vereinbar sind. Die AIFM legen die Vergütungspolitik und ‑praxis gemäß Anhang II fest. …“ 14 Anhang II („Vergütungspolitik“) dieser Richtlinie sieht vor: „(1) Bei der Festlegung und Anwendung der gesamten Vergütungspolitik einschließlich der Gehälter und freiwilligen Altersversorgungsleistungen für jene Mitarbeiterkategorien, einschließlich Geschäftsleitung, Risikoträger und Mitarbeiter mit Kontrollfunktionen und aller Mitarbeiter, die eine Gesamtvergütung erhalten, aufgrund derer sie sich in derselben Einkommensstufe befinden wie Mitglieder der Geschäftsleistung und Risikoträger, deren Tätigkeit sich wesentlich auf die Risikoprofile der AIFM oder von ihnen verwalteter AIF auswirkt, wenden AIFM die nachstehend genannten Grundsätze nach Maßgabe ihrer Größe, ihrer internen Organisation und der Art, dem Umfang und der Komplexität ihrer Geschäfte an: a) Die Vergütungspolitik ist mit einem soliden und wirksamen Risikomanagement vereinbar und diesem förderlich und ermutigt nicht zur Übernahme von Risiken, die unvereinbar sind mit den Risikoprofilen, Vertragsbedingungen oder Satzungen der von ihnen verwalteten AIF; b) Vergütungspolitik steht mit Geschäftsstrategie, Zielen, Werten und Interessen des AIFM und der von ihm verwalteten AIF oder der Anleger solcher AIF in Einklang und umfasst auch Maßnahmen zur Vermeidung von Interessenkonflikten; … g) bei erfolgsabhängiger Vergütung liegt der Vergütung insgesamt eine Bewertung sowohl der Leistung des betreffenden Mitarbeiters und seiner Abteilung bzw. des betreffenden AIF als auch des Gesamtergebnisses des AIFM zugrunde, und bei der Bewertung der individuellen Leistung werden finanzielle wie auch nicht finanzielle Kriterien berücksichtigt; h) um zu gewährleisten, dass die Beurteilung auf die längerfristige Leistung abstellt und die tatsächliche Auszahlung erfolgsabhängiger Vergütungskomponenten über einen Zeitraum verteilt ist, der der Rücknahmepolitik der von ihm verwalteten AIF und ihren Anlagerisiken Rechnung trägt, sollte die Leistungsbeurteilung in einem mehrjährigen Rahmen erfolgen, der dem Lebenszyklus der vom AIFM verwalteten AIF entspricht; … j) bei der Gesamtvergütung stehen feste und variable Bestandteile in einem angemessenen Verhältnis und der Anteil der festen Komponente an der Gesamtvergütung ist genügend hoch, dass eine flexible Politik bezüglich der variablen Komponente uneingeschränkt möglich ist und auch ganz auf die Zahlung einer variablen Komponente verzichtet werden kann; … l) die Erfolgsmessung, anhand derer variable Vergütungskomponenten oder Pools von variablen Vergütungskomponenten berechnet werden, schließt einen umfassenden Berichtigungsmechanismus für alle einschlägigen Arten von laufenden und künftigen Risiken ein; m) je nach der rechtlichen Struktur des AIF und seiner Vertragsbedingungen oder seiner Satzung muss ein erheblicher Anteil der variablen Vergütungskomponente, und in jedem Fall mindestens 50 %, aus Anteilen des betreffenden AIF oder gleichwertigen Beteiligungen oder mit Anteilen verknüpften Instrumenten oder gleichwertigen unbaren Instrumenten bestehen; der Mindestwert von 50 % kommt jedoch nicht zur Anwendung, wenn weniger als 50 % des vom AIFM verwalteten Gesamtportfolios auf AIF entfallen. Für die Instrumente nach diesem Buchstaben gilt eine geeignete Rückstellungspolitik, die darauf abstellt, die Anreize an den Interessen des AIFM und der von diesem verwalteten AIF sowie an den Interessen der Anleger der AIF auszurichten. Die Mitgliedstaaten bzw. die zuständigen nationalen Behörden können Einschränkungen betreffend die Arten und Formen dieser Instrumente beschließen oder, sofern dies angemessen ist, bestimmte Instrumente verbieten. Diese Bestimmung ist sowohl auf den Anteil der variablen Vergütungskomponente anzuwenden, die gemäß Buchstabe n zurückgestellt wird, als auch auf den Anteil der nicht zurückgestellten variablen Vergütungskomponente; n) ein wesentlicher Anteil der variablen Vergütungskomponente, und in jedem Fall mindestens 40 %, wird über einen Zeitraum zurückgestellt, der angesichts des Lebenszyklus und der Rücknahmegrundsätze des betreffenden AIF angemessen ist und ordnungsgemäß auf die Art der Risiken dieses AIF ausgerichtet ist. Der Zeitraum nach diesem Buchstaben sollte mindestens drei bis fünf Jahre betragen, es sei denn der Lebenszyklus des betreffenden AIF ist kürzer. Die im Rahmen von Regelungen zur Zurückstellung der Vergütungszahlung zu zahlende Vergütung wird nicht rascher als auf anteiliger Grundlage erworben. Macht die variable Komponente einen besonders hohen Betrag aus, so wird die Auszahlung von mindestens 60 % des Betrags zurückgestellt; o) die variable Vergütung, einschließlich des zurückgestellten Anteils, wird nur dann ausgezahlt oder erworben, wenn sie angesichts der Finanzlage des AIFM insgesamt tragbar ist und nach der Leistung der betreffenden Geschäftsabteilung, des AIF und der betreffenden Person gerechtfertigt ist. Eine schwache oder negative finanzielle Leistung des AIFM oder der betreffenden AIF führt in der Regel zu einer erheblichen Schrumpfung der gesamten variablen Vergütung, wobei sowohl laufende Kompensationen als auch Verringerungen bei Auszahlungen von zuvor erwirtschafteten Beträgen, auch durch Malus- oder Rückforderungsvereinbarungen, berücksichtigt werden; … r) die variable Vergütung wird nicht in Form von Instrumenten oder Verfahren gezahlt, die eine Umgehung der Anforderungen dieser Richtlinie erleichtern. (2) Die in Absatz 1 genannten Grundsätze gelten für alle Arten von Vergütungen, die von AIFM gezahlt werden, für jeden direkt von dem AIF selbst gezahlten Betrag, einschließlich carried interests, und für jede Übertragung von Anteilen des AIF, die zugunsten derjenigen Mitarbeiterkategorien, einschließlich der Geschäftsleitung, Risikokäufer, Mitarbeiter mit Kontrollfunktionen und aller Mitarbeiter, die eine Gesamtvergütung erhalten, aufgrund derer sie sich in derselben Einkommensstufe befinden wie Mitglieder der Geschäftsleistung und Risikokäufer, vorgenommen werden, deren berufliche Tätigkeit sich wesentlich auf ihr Risikoprofil oder auf die Risikoprofile der von ihnen verwalteten AIF auswirkt. …“ Delegierte Verordnung 2017/565 15 Art. 1 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2017/565 sieht vor: „Kapitel II und Kapitel III Abschnitte 1 bis 4, Artikel 59 Absatz 4, Artikel 60 und Abschnitte 6 und 8 sowie – soweit sie sich auf diese Bestimmungen beziehen – Kapitel I, Kapitel III Abschnitt 9 und Kapitel IV dieser Richtlinie finden gemäß Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie [2009/65] und Artikel 6 Absatz 6 der Richtlinie [2011/61] Anwendung.“ 16 Art. 2 Nr. 5 in Kapitel I („Geltungsbereich und Begriffsbestimmungen“) dieser Delegierten Verordnung bestimmt: „Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck … 5. ‚Vergütung‘ jede Form von Zahlungen oder von finanziellen oder nichtfinanziellen Leistungen, welche die Firmen bei der Erbringung von Wertpapier- oder Nebendienstleistungen für Kunden direkt oder indirekt an relevante Personen leisten; …“ Empfehlung 2009/384 17 In den Erwägungsgründen 1 und 3 der Empfehlung 2009/384 heißt es: „(1) Das Eingehen übermäßiger Risiken in der Finanzdienstleistungsbranche … hat zur Insolvenz von Finanzinstituten und zur Schaffung systemischer Probleme in den Mitgliedstaaten und auf internationaler Ebene beigetragen. Diese Probleme haben sich auf die übrige Wirtschaft übertragen und zu hohen Kosten für die gesamte Gesellschaft geführt. (2) Auch wenn sie nicht die Hauptursache der 2007 und 2008 entstandenen Finanzkrise waren, waren die unangemessenen Vergütungspraktiken im Finanzdienstleistungssektor nach einhelliger Auffassung an das Eingehen übermäßiger Risiken gekoppelt und trugen so zu den erheblichen Verlusten wichtiger Finanzinstitute bei. (3) Die gängigen Vergütungspraktiken in einem Großteil der Finanzdienstleistungsbranche liefen einem effizienten und soliden Risikomanagement zuwider. Mit diesen Praktiken wurde das Erzielen kurzfristiger Gewinne belohnt und die Mitarbeiter wurden dazu verleitet, die mit ungebührlich hohen Risiken verbundenen Tätigkeiten fortzusetzen, mit denen kurzfristig höhere Gewinne erzielt wurden. Langfristig wurden die Finanzinstitute aber höheren potenziellen Verlusten ausgesetzt.“ Leitlinien der ESMA 18 Die Dokumente der ESMA mit dem Titel „Leitlinien für solide Vergütungspolitiken unter Berücksichtigung der AIFMD (ESMA/2013/232), 3. Juli 2013“ (im Folgenden: AIFM-Leitlinien) und „Leitlinien für solide Vergütungspolitiken unter Berücksichtigung der [Richtlinie 2009/65/EG] (ESMA/2016/575), 14. Oktober 2016“ (im Folgenden: OGAW-Leitlinien) gelten für die Verwalter alternativer Investmentfonds (im Folgenden: AIFM) bzw. die Verwaltungsgesellschaften im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2009/65 sowie für die zuständigen Behörden. 19 In den Nrn. 10 und 17 der AIFM-Leitlinien heißt es: „10. Ausschließlich zu Zwecken der Leitlinien und Anhang II der [Richtlinie 2011/61] umfasst der Begriff Vergütung i) alle vom AIFM bezahlten Formen von Zahlungen oder Leistungen, ii) alle vom [alternativen Investmentfonds (AIF)] selbst bezahlten Beträge, einschließlich Carried interest und … im Austausch für berufliche Dienste, die von identifizierten Mitarbeitern des AIFM erbracht werden. Zu Zwecken von Punkt ii) dieses Absatzes sind Zahlungen, ausgenommen Rückerstattungen von Kosten und Aufwendungen, die direkt vom AIF an den AIFM zugunsten der betroffenen Mitarbeiterkategorien des AIFM für die erbrachten beruflichen Dienste geleistet werden, die anderenfalls zu einer Umgehung der betroffenen Bestimmungen über die Vergütung führen würden, zu Zwecken dieser Leitlinien und Anhang II der [Richtlinie 2011/61] als Vergütung zu betrachten. … 17. Ebenfalls zu berücksichtigen ist die Position der Gesellschaften oder ähnlicher Strukturen. Dividenden oder ähnliche Ausschüttungen, welche die Gesellschafter als Eigentümer eines AIFM erhalten, fallen nicht unter diese Leitlinien, sofern das effektive Ergebnis der Zahlung dieser Dividenden nicht zu einer Umgehung der betreffenden Bestimmungen über die Vergütung führt, wobei die Absicht der Umgehung dieser Bestimmungen zu diesem Zweck irrelevant ist.“ 20 In den Nrn. 11 und 15 der OGAW-Leitlinien heißt es: „11. Ausschließlich zu Zwecken der Leitlinien und von Artikel 14b der [Richtlinie 2009/65] umfasst der Begriff Vergütung eines oder mehrere der folgenden Elemente: i) alle von der Verwaltungsgesellschaft bezahlten Formen von Zahlungen oder Leistungen, ii) alle vom OGAW selbst bezahlten Beträge, einschließlich eines jeden Anteils von Anlageerfolgsprämien (Performance Fees), die direkt oder indirekt zugunsten identifizierter Mitarbeiter gezahlt werden, oder … im Austausch für berufliche Leistungen, die von identifizierten Mitarbeitern der Verwaltungsgesellschaft erbracht werden. Wenn Zahlungen, ausgenommen Rückerstattungen von Kosten und Aufwendungen, direkt vom OGAW an die Verwaltungsgesellschaft zugunsten der betreffenden Mitarbeiterkategorien der Verwaltungsgesellschaft oder direkt vom OGAW an die betreffenden Mitarbeiterkategorien der Verwaltungsgesellschaft für die erbrachten beruflichen Dienste geleistet werden, die anderenfalls zu einer Umgehung der betreffenden Bestimmungen über die Vergütung führen würden, sollten diese zum Zwecke dieser Leitlinien und von Artikel 14b der [Richtlinie 2009/65] als Vergütung betrachtet werden. … 15. Ebenfalls zu berücksichtigen ist die Position der Gesellschaften oder ähnlicher Strukturen. Dividenden oder ähnliche Ausschüttungen, welche die Gesellschafter als Eigentümer einer Verwaltungsgesellschaft erhalten, fallen nicht unter diese Leitlinien, sofern das effektive Ergebnis der Zahlung dieser Dividenden nicht zu einer Umgehung der betreffenden Bestimmungen über die Vergütung führt, wobei die Absicht der Umgehung dieser Bestimmungen zu diesem Zweck irrelevant ist.“ Ungarisches Recht Gesetz über gemeinsame Anlagen 21 Die Richtlinien 2009/65 und 2011/61 wurden durch das A kollektív befektetési formákról és kezelőikről, valamint egyes pénzügyi tárgyú törvények módosításáról szóló 2014. évi XVI. törvény (Gesetz Nr. XVI von 2014 über Organismen für gemeinsame Anlagen und ihre Verwalter sowie zur Änderung bestimmter Gesetze im Finanzbereich, im Folgenden: Gesetz über gemeinsame Anlagen) in ungarisches Recht umgesetzt. § 26/A dieses Gesetzes sieht vor: „Der Verwalter der OGAW gewährleistet eine Vergütungspolitik und ‑praxis, die mit einem wirksamen und soliden Risikomanagement vereinbar und diesem förderlich ist sowie den in Anhang 13 festgelegten Grundsätzen entspricht.“ 22 § 33 dieses Gesetzes bestimmt: „Der AIFM gewährleistet eine Vergütungspolitik und ‑praxis, die mit einem wirksamen und soliden Risikomanagement vereinbar und diesem förderlich ist sowie den in Anhang 13 festgelegten Grundsätzen entspricht.“ 23 Anhang 13 des Gesetzes über gemeinsame Anlagen, der die Vergütungspolitik betrifft, entspricht mit geringfügigen Abweichungen Art. 14b der Richtlinie 2009/65 und Anhang II der Richtlinie 2011/61. Empfehlungen der Ungarischen Nationalbank 24 In Nr. 11 der Javadalmazási politika alkalmazásáról szóló 3/2017. (II. 9.) MNB ajánlás (Empfehlung Nr. 3/2017 der Ungarischen Nationalbank vom 9. Februar 2017 zur Umsetzung der Vergütungspolitik) heißt es: „Sind Beschäftigte eines der Vergütungspolitik unterliegenden Instituts gleichzeitig Mehrheitsanteilseigner dieses Instituts oder eines Tochterunternehmens dieses Instituts, so ist die Vergütungspolitik unter Berücksichtigung dieses besonderen Umstands zu gestalten. Das Institut muss gegenüber jedem Beschäftigten sicherstellen, dass die Vergütungspolitik mit den Anforderungen der einschlägigen Bestimmungen des [Gesetzes Nr. CCXXXVII von 2013 über Kreditinstitute und Finanzunternehmen] bzw. des [Gesetzes Nr. CXXXVIII von 2007 über Wertpapierfirmen, Händler an den Warenbörsen und die Regeln der Tätigkeiten, die sie ausüben können] und mit dem Inhalt dieser Empfehlung in Einklang steht.“ 25 In Nr. 8 der Az alternatív befektetési alapkezelők által alkalmazandó javadalmazási politikáról szóló 4/2018. (I. 16.) MNB ajánlás (Empfehlung Nr. 4/2018 der Ungarischen Nationalbank vom 16. Januar 2018 zu der von Verwaltern alternativer Investmentfonds anzuwendenden Vergütungspolitik) heißt es: „Die in dieser Empfehlung formulierten Anforderungen beziehen sich grundsätzlich nicht auf an den Eigentümer des AIF‑Verwalters gezahlte Dividenden oder auf Zahlungen, die den Charakter von Dividenden haben, es sei denn, dies führt in der Praxis zur Umgehung der einschlägigen Vergütungsvorschriften, unabhängig davon, ob das Ziel der Zahlung die Umgehung der Vorschriften war.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 26 HOLD, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, ist eine Gesellschaft, die von der Ungarischen Nationalbank zugelassen wurde und deren reguläre Geschäftstätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist. 27 Seit dem 20. März 2014 wendet HOLD auf bestimmte Kategorien ihrer Angestellten eine Vergütungspolitik an. Zu den von dieser Politik begünstigten Angestellten gehören Angestellte, die als Geschäftsleiter, Anlageleiter bzw. Portfoliomanager tätig sind, die Anteile am Kapital von HOLD in Form von Stammaktien und Vorzugsaktien halten. Zwei dieser Angestellten sind Alleinaktionäre von zwei Aktiengesellschaften, die von HOLD ausgegebene Aktien halten. In den Geschäftsjahren 2015 bis 2018 schüttete HOLD Dividenden auf Vorzugsaktien und Stammaktien an die betroffenen Angestellten und Gesellschaften aus. 28 Mit Bescheid vom 11. April 2019 wies die Ungarische Nationalbank als Aufsichtsbehörde HOLD u. a. an, eine Vergütungspolitik und ‑praxis einzuführen, die den Anforderungen des Gesetzes über gemeinsame Anlagen entspricht. Sie war der Ansicht, dass die unmittelbar und mittelbar an die betroffenen Angestellten ausgeschütteten Dividenden ihrem Wesen nach dazu führen könnten, dass diese Personen ein Interesse daran hätten, dass HOLD kurzfristige Gewinne erwirtschafte, und somit einen Anreiz hätten, Risiken einzugehen, die nicht mit dem Risikoprofil der von ihr verwalteten Investmentfonds sowie mit ihren Verwaltungsvorschriften und den Interessen der Inhaber von Fondsanteilen vereinbar seien, so dass die Modalitäten der Zahlung dieser Dividenden als eine Umgehung der Vorschriften über die zurückgestellte leistungsabhängige Vergütung anzusehen seien. Infolgedessen verhängte die Ungarische Nationalbank gegen HOLD ein Bußgeld. 29 HOLD erhob beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) Klage gegen diesen Bescheid und machte geltend, dass die Dividenden keine variable Vergütung darstellten und nicht in den Anwendungsbereich ihrer Vergütungspolitik fielen. Die variable Vergütungskomponente sei eine Vergütung, die den Angestellten für ihre beruflichen Dienste auf der Grundlage von Leistungskriterien gezahlt werde, während die Dividende unter das Eigentumsrecht des Anteilseigners falle, und zwar unabhängig von seiner für die Gesellschaft geleisteten Tätigkeit, seiner Beschäftigung und seiner individuellen Leistung. Außerdem hätten die betreffenden Angestellten als Mehrheitsanteilseigner – entgegen der Behauptung der Ungarischen Nationalbank, dass die Dividendenzahlung sie zu kurzfristigem Gewinnstreben veranlassen könne – ein Interesse daran, die Geschäfte der Klägerin des Ausgangsverfahrens langfristig aufrechtzuerhalten. 30 Der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof) wies diese Klage mit der Begründung ab, dass die an die betroffenen Angestellten ausgeschütteten Dividenden einer Vergütung gleichzustellen seien, auch wenn sie formal keine Vergütung für erbrachte Dienste darstellten. Diese Dividenden, die in ihrer Größenordnung deutlich über den festen und variablen Vergütungen lägen, riefen bei diesen Angestellten ein Interesse an kurzfristigen Gewinnen der Investmentfonds hervor, was zu einer mit den Interessen der Anleger unvereinbaren Risikobereitschaft veranlasse und eine Zahlungsweise darstelle, mit der die geltenden Vorschriften über die Vergütungspolitik umgangen werden könnten. 31 HOLD hätte die Zahlung von mindestens 40 % der auf die streitigen Vorzugsaktien ausgeschütteten Dividenden zurückstellen müssen, indem sie diese Zahlung am Lebenszyklus der verwalteten Investmentfonds und an der Rückzahlung der Fondsanteile hätte ausrichten und sie auf mindestens drei Jahre verteilen müssen. Die Vergütungspolitik gelte auch für Dividenden, die an von den betreffenden Angestellten kontrollierte Gesellschaften ausgeschüttet würden, da diese Zahlung ebenfalls im Vermögensinteresse der Angestellten liege. 32 Die mit einem Rechtsmittel der Klägerin des Ausgangsverfahrens befasste Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) weist darauf hin, dass sie u. a. feststellen müsse, ob die unmittelbar und mittelbar an die betroffenen Angestellten ausgeschütteten Dividenden unter die Vergütungspolitik im Sinne von Anhang 13 des Gesetzes über gemeinsame Anlagen fielen. Der „Doppelstatus“ der betroffenen Angestellten, die sowohl Anteilseigner als auch Angestellte seien, die für die wirtschaftliche Effizienz der Klägerin des Ausgangsverfahrens und für die Durchführung ihrer Vergütungspolitik verantwortlich seien, sei ein entscheidender Faktor und werfe die Frage auf, ob bei der Beurteilung der Frage, ob die Grundsätze der Vergütungspolitik eingehalten worden seien, die Beträge, die diesen Angestellten im Rahmen ihres Arbeitsverhältnisses gezahlt würden, und die Beträge, die ihnen unmittelbar und mittelbar aufgrund ihrer Eigenschaft als Aktionäre gezahlt würden, in ihrer Gesamtheit zu prüfen seien. 33 Unter diesen Umständen hält es die Kúria (Oberster Gerichtshof) für erforderlich, eine Auslegung der Art. 14 bis 14b der Richtlinie 2009/65, des 28. Erwägungsgrundes, des Art. 13 Abs. 1 und des Anhangs II Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2011/61 sowie des Art. 2 Nr. 5 der Delegierten Verordnung 2017/565 zu erhalten, und hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Unterfallen Dividenden, die den betreffenden Angestellten der Klägerin des Ausgangsverfahrens a) unmittelbar aufgrund ihrer an der Fondsverwalterin gehaltenen Dividendenvorzugsaktien bzw. b) mittelbar aufgrund von Dividendenvorzugsaktien der Klägerin des Ausgangsverfahrens, die von im Eigentum der betreffenden Angestellten stehenden Einpersonenaktiengesellschaften gehalten werden, ausgeschüttet werden, der Vergütungspolitik von Verwaltern von Investmentfonds? Verfahren vor dem Gerichtshof 34 Mit Schreiben der Kanzlei des Gerichtshofs vom 9. September 2021 ist die ESMA gemäß Art. 24 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ersucht worden, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, um die schriftlichen Fragen des Gerichtshofs zu beantworten. Daraufhin hat die ESMA schriftliche Erklärungen eingereicht, zu denen sich die Teilnehmer der mündlichen Verhandlung äußern konnten. Zur Vorlagefrage 35 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich die Frage des vorlegenden Gerichts u. a. auf Art. 2 Nr. 5 der Delegierten Verordnung 2017/565 bezieht. Hierzu ist festzustellen, dass sich aus Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung in Verbindung mit Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2009/65 und Art. 6 Abs. 6 der Richtlinie 2011/61 ergibt, dass die Delegierte Verordnung auf OGAW-Verwaltungsgesellschaften und AIFM nur anwendbar ist, soweit diese befugt sind, die in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2009/65 bzw. Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2011/61 genannten Dienstleistungen zu erbringen. 36 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht jedoch nicht hervor, dass HOLD zur Erbringung solcher Dienstleistungen berechtigt gewesen wäre. Da die Delegierte Verordnung 2017/565 keinen Bezug zum Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits aufweist, bedarf es mithin keiner Auslegung ihres Art. 2 Nr. 5. 37 Somit ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob die Art. 14 bis 14b der Richtlinie 2009/65, Art. 13 Abs. 1 und Anhang II Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2011/61 dahin auszulegen sind, dass die Bestimmungen über die Vergütungspolitik und ‑praxis auf Dividenden anwendbar sind, die eine Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, unmittelbar oder mittelbar an bestimmte ihrer Angestellten, die als Geschäftsleiter, Anlageleiter bzw. Portfoliomanager tätig sind, aufgrund ihres Eigentumsrechts an den Aktien dieser Gesellschaft zahlt. 38 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 14a Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2009/65 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2011/61 von den Verwaltungsgesellschaften und AIFM die Festlegung und Anwendung einer Vergütungspolitik und ‑praxis verlangen, die mit einem soliden und wirksamen Risikomanagement vereinbar und diesem förderlich ist und nicht zur Übernahme von Risiken ermutigt, die mit den Risikoprofilen, Vertragsbedingungen oder Satzungen der verwalteten OGAW und AIF nicht vereinbar sind. 39 Hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereichs dieser Vergütungspolitik und ‑praxis sehen Art. 14a Abs. 3 der Richtlinie 2009/65 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2011/61 vor, dass diese für die Kategorien von Mitarbeitern, einschließlich Geschäftsleitung, Risikoträger, Mitarbeiter mit Kontrollfunktionen und aller Mitarbeiter, die sich aufgrund ihrer Gesamtvergütung in derselben Einkommensstufe befinden wie die Geschäftsleitung und Risikoträger, gilt, deren berufliche Tätigkeit einen wesentlichen Einfluss auf die Risikoprofile der Verwaltungsgesellschaften und AIFM oder der von ihnen verwalteten OGAW und AIF haben. 40 Das vorlegende Gericht hegt keinen Zweifel daran, dass die betroffenen Angestellten im Rahmen des Ausgangsverfahrens in den persönlichen Anwendungsbereich der Vergütungspolitik und ‑praxis fallen, wie er in Art. 14a Abs. 3 der Richtlinie 2009/65 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2011/61 definiert ist. Es fragt hingegen nach dem sachlichen Anwendungsbereich dieser Vergütungspolitik und ‑praxis und insbesondere danach, ob bei der Beurteilung der Frage, ob die Bestimmungen über die Vergütungspolitik und ‑praxis eingehalten wurden, die Beträge zu berücksichtigen sind, die die Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, diesen Angestellten unmittelbar oder mittelbar in Form von Dividenden aufgrund ihres Eigentumsrechts an den Aktien dieser Gesellschaft zahlt. 41 Insoweit ist hinsichtlich der Auslegung des Begriffs „Vergütung“ für die Zwecke der Anwendung der Richtlinien 2009/65 und 2011/61 zum einen darauf hinzuweisen, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen (Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Zum anderen sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, sowie die Zwecke und Ziele, die mit dem Rechtsakt, zu dem sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 15. März 2022, Autorité des marchés financiers, C‑302/20, EU:C:2022:190, Rn. 63). 43 Die Richtlinie 2009/65 und die Richtlinie 2011/61 sehen vor, dass die Mitgliedstaaten von den OGAW-Verwaltungsgesellschaften und AIFM die Festlegung und Anwendung einer Vergütungspolitik und ‑praxis verlangen, enthalten aber keinen Verweis auf das nationale Recht, was die Tragweite des Begriffs „Vergütung“ anbelangt. 44 Hinsichtlich des Wortlauts von Art. 14a Abs. 1 der Richtlinie 2009/65 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2011/61 ist festzustellen, dass der Begriff „Vergütung“ darin nicht definiert wird. Nach seiner gewöhnlichen Bedeutung bezeichnet dieser Begriff jedoch eine Geld- oder Sachleistung als Gegenleistung für eine Arbeit oder Dienstleistung. 45 Nach Art. 14a Abs. 2 der Richtlinie 2009/65 umfasst die Vergütungspolitik und ‑praxis feste und variable Bestandteile der Gehälter und freiwillige Altersversorgungsleistungen. Auch nach Anhang II Nr. 1 der Richtlinie 2011/61 schließt die gesamte Vergütungspolitik die Gehälter und freiwilligen Altersversorgungsleistungen ein. 46 Dass diese beiden Kategorien in diesen Bestimmungen ausdrücklich genannt sind, schließt jedoch die Anwendung der Vergütungspolitik und ‑praxis auf andere Formen von Zahlungen als Gehälter und freiwillige Altersversorgungsleistungen nicht aus. 47 Was den Regelungszusammenhang dieser Bestimmungen betrifft, geht aus Art. 14b Abs. 3 der Richtlinie 2009/65 und Anhang II Nr. 2 der Richtlinie 2011/61 hervor, dass die Grundsätze der Vergütungspolitik für jede Art von Leistung und für alle Arten von Vergütungen, die von der OGAW-Verwaltungsgesellschaft oder dem AIFM gezahlt werden, bzw. für jeden direkt von dem OGAW bzw. AIF selbst gezahlten Betrag, einschließlich Anlageerfolgsprämien (performance fees), und für jede Übertragung von Anteilen des OGAW sowie für „carried interests“ und für jede Übertragung von Anteilen des AIF zugunsten derjenigen Mitarbeiterkategorien, die in den persönlichen Anwendungsbereich der Vergütungspolitik fallen, gelten. 48 Die Vergütungspolitik soll somit für alle Zahlungen oder sonstigen Vorteile gelten, die als Gegenleistung für berufliche Dienste gezahlt werden, die von den in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Politik fallenden Angestellten von OGAW-Verwaltungsgesellschaften oder AIFM erbracht werden. 49 Dividenden wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden werden zwar nicht als eine solche Gegenleistung, sondern aufgrund eines Eigentumsrechts an den Aktien der Gesellschaft gezahlt, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist. 50 Nach Art. 14b Abs. 1 Buchst. r der Richtlinie 2009/65 und Anhang II Nr. 1 Buchst. r der Richtlinie 2011/61 muss jedoch verhindert werden, dass die variable Vergütung mittels Instrumenten oder Verfahren gezahlt wird, die eine Umgehung der Anforderungen dieser Richtlinien erleichtern. 51 Daraus folgt, dass die Bestimmungen der Richtlinien 2009/65 und 2011/61 über die Vergütungspolitik und ‑praxis für die Ausschüttung von Dividenden aus Aktien gelten müssen, die zwar keine Gegenleistung für erbrachte berufliche Dienste, aber dennoch geeignet ist, die betreffenden Angestellten der OGAW-Verwaltungsgesellschaft oder des AIFM zu ermutigen, Risiken zu übernehmen, die mit den Risikoprofilen, Vertragsbedingungen oder Satzungen der von dieser Gesellschaft oder diesem Verwalter verwalteten OGAW und AIF nicht vereinbar sind oder den Interessen der OGAW oder AIF und der Personen, die in sie investiert haben, schaden und somit die Umgehung der sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Anforderungen erleichtern. 52 Wie die Generalanwältin in den Nrn. 34 und 41 ihrer Schlussanträge ausführt, ist eine solche Auslegung im Hinblick auf die Ziele dieser Richtlinien geboten, die darin bestehen, die Anleger zu schützen, insbesondere wenn ihre Interessen mit Blick sowohl auf das Risiko als auch die Nachhaltigkeit von Investitionsentscheidungen in Konflikt mit den Interessen von Fondsmanagern geraten können, und die Stabilität des Finanzsystems zu gewährleisten. 53 Wie sich im Übrigen aus den Erwägungsgründen 1 bis 3 der Empfehlung 2009/384 ergibt, waren die unangemessenen Vergütungspraktiken im Finanzdienstleistungssektor, mit denen das Erzielen kurzfristiger Gewinne belohnt wurde und die Mitarbeiter dazu verleitet wurden, die mit ungebührlich hohen Risiken verbundenen Tätigkeiten fortzusetzen, mit denen kurzfristig höhere Gewinne erzielt wurden, die Finanzinstitute langfristig aber höheren potenziellen Verlusten ausgesetzt wurden, an das Eingehen übermäßiger Risiken gekoppelt und trugen so zu den erheblichen Verlusten wichtiger Finanzinstitute bei. Nach dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/91 und dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/61 ist die Empfehlung 2009/384 bei der Umsetzung der in den Richtlinien 2009/65 und 2011/61 festgelegten Vergütungspolitik und ‑praxis zu berücksichtigen. 54 Wie in Rn. 38 des vorliegenden Urteils ausgeführt, soll die in den Richtlinien 2009/65 und 2011/61 geregelte Vergütungspolitik und ‑praxis in diesem Zusammenhang einem soliden und wirksamen Risikomanagement förderlich sein und nicht zur Übernahme von Risiken ermutigen, die mit den Risikoprofilen, Vertragsbedingungen oder Satzungen der OGAW bzw. AIF nicht vereinbar sind. 55 Zur Umsetzung dieser Ziele bestimmen die Richtlinien 2009/65 und 2011/61, insbesondere Art. 14b Abs. 1 Buchst. m der Richtlinie 2009/65 und Anhang II Nr. 1 Buchst. m der Richtlinie 2011/61, dass die Vergütungspolitik Mechanismen umfassen muss, die darauf abzielen, die Anreize an den Interessen der Verwaltungsgesellschaft und der von ihr verwalteten OGAW bzw. des AIFM und der von ihm verwalteten AIF sowie an den Interessen der OGAW‑ bzw. AIF‑Anleger auszurichten. 56 So sehen zunächst Art. 14b Abs. 1 Buchst. j der Richtlinie 2009/65 und Anhang II Nr. 1 Buchst. j der Richtlinie 2011/61, um nicht eine variable Vergütungsmethode zu begünstigen, die zu kurzfristigem Leistungsstreben verleiten könnte, vor, dass die festen und variablen Bestandteile der Gesamtvergütung in einem „angemessenen Verhältnis“ zueinander stehen, wobei „der Anteil des festen Bestandteils an der Gesamtvergütung hoch genug ist“, legen aber nicht fest, in welchem Verhältnis diese Bestandteile zueinander stehen. 57 Sodann muss nach Art. 14b Abs. 1 Buchst. m der Richtlinie 2009/65 und Anhang II Nr. 1 Buchst. m der Richtlinie 2011/61 ein Anteil von mindestens 50 % der variablen Vergütungskomponente grundsätzlich aus Anteilen des betreffenden OGAW oder AIF bestehen, für die im Übrigen eine geeignete Rückstellungspolitik gilt. 58 Schließlich sehen Art. 14b Abs. 1 Buchst. n und o der Richtlinie 2009/65 und Anhang II Nr. 1 Buchst. n und o der Richtlinie 2011/61 zum einen vor, dass mindestens 40 % des variablen Vergütungsbestandteils über einen „angemessenen Zeitraum“ von mindestens drei Jahren zurückgestellt werden müssen, und zum anderen, dass die variable Vergütung, einschließlich des zurückgestellten Anteils, nur dann ausgezahlt oder erworben wird, wenn sie angesichts der Finanzlage der Verwaltungsgesellschaft oder des AFIM insgesamt tragbar ist und aufgrund der Leistung der betreffenden Geschäftsabteilung, des OGAW, des AIF und der betreffenden Person gerechtfertigt ist. 59 Wie die Generalanwältin in den Nrn. 62 und 63 ihrer Schlussanträge feststellt, zielen diese Bestimmungen darauf ab, die Interessenlage der Angestellten derjenigen der Anleger anzunähern und sicherzustellen, dass die Angestellten auch von eventuell auftretenden Verlusten der OGAW und AIF betroffen sind und nicht lediglich an den Gewinnen partizipieren. Darüber hinaus sollen diese Bestimmungen sicherstellen, dass eine kurzfristige Wertsteigerung, die sich innerhalb der den OGAW‑Anlegern empfohlenen Haltedauer oder des Lebenszyklus und der Rücknahmegrundsätze des betreffenden AIF wieder verflüchtigt, Angestellten der OGAW-Verwaltungsgesellschaft oder des AIFM nicht vorzeitig und damit ungerechtfertigterweise einen Vorteil einbringt. 60 Um sowohl die Erreichung der Ziele als auch die praktische Wirksamkeit der Richtlinien 2009/65 und 2011/61 zu gewährleisten, müssen deren Bestimmungen über die Vergütungspolitik und ‑praxis auf alle Zahlungen oder Vorteile anwendbar sein, die eine OGAW-Verwaltungsgesellschaft oder ein AIFM an Angestellte zahlt, die in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Bestimmungen fallen, wenn diese Zahlungen oder Vorteile, die zwar keine Vergütung für erbrachte berufliche Dienste, aber dennoch geeignet sind, diese Angestellten zur Übernahme von Risiken, wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils beschrieben, zu veranlassen und somit die Umgehung der sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Anforderungen zu erleichtern. 61 Diese Auslegung wird im Übrigen durch Nr. 17 der AIFM-Leitlinien und Nr. 15 der OGAW-Leitlinien bestätigt, wonach Dividenden oder ähnliche Ausschüttungen, welche die Gesellschafter als Eigentümer eines AIFM oder einer OGAW-Verwaltungsgesellschaft erhalten, nicht unter die genannten Leitlinien fallen, sofern das effektive Ergebnis der Zahlung dieser Dividenden nicht zu einer Umgehung der betreffenden Bestimmungen über die Vergütung führt, wobei die Absicht der Umgehung dieser Bestimmungen zu diesem Zweck irrelevant ist. 62 Daraus folgt, dass dann, wenn Angestellte einer Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, die in den persönlichen Anwendungsbereich der die Vergütung betreffenden Bestimmungen der Richtlinien 2009/65 und 2011/61 fallen, unmittelbar oder mittelbar Dividenden von dieser Gesellschaft erhalten, zu prüfen ist, ob die Politik der Ausschüttung dieser Dividenden der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils dargestellten entspricht. 63 In Bezug auf Dividenden, die von einer Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, an ihre Angestellten gezahlt werden, die Aktien dieser Gesellschaft halten, die als Anlage und nicht als Gegenleistung für erbrachte berufliche Dienste erworben wurden, ist darauf hinzuweisen, dass sich, wie die Generalanwältin in den Nrn. 48 und 49 ihrer Schlussanträge ausführt, der bloße Umstand, dass die Gewinne dieser Gesellschaft von den Gewinnen der von ihr verwalteten OGAW und AIF beeinflusst werden, als solcher nicht ausreicht, um festzustellen, dass diese Angestellten dadurch veranlasst würden, Entscheidungen zu treffen, die geeignet sind, eine solide und ausgewogene Verwaltung dieser Investmentfonds sowie die Interessen der Personen, die in sie investiert haben, zu beeinträchtigen. 64 Es ist jedoch zu prüfen, ob zwischen den von den OGAW und AIF erzielten Gewinnen, den Gewinnen der Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, und den Beträgen, die diese Gesellschaft an ihre Angestellten als Dividenden für die an ihr gehaltenen Aktien zahlt, ein solcher Zusammenhang besteht, dass diese Angestellten ein Interesse daran hätten, dass die OGAW und AIF kurzfristig möglichst hohe Gewinne erzielen. 65 Dies würde insbesondere für einen Mechanismus gelten, der vorsieht, dass vom OGAW oder AIF an die Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, eine Erfolgsprovision gezahlt wird, sobald eine Zielrendite während eines bestimmten Referenzzeitraums übertroffen wird, und dass diese Provision ganz oder teilweise von der Gesellschaft in Form von Dividenden an die betreffenden Angestellten oder die von ihnen kontrollierten Gesellschaften gezahlt wird, und zwar unabhängig von den Ergebnissen, die der OGAW oder AIF nach diesem Zeitraum erzielt hat, und insbesondere den Verlusten, die der OGAW oder AIF erlitten hat. Ein solcher Mechanismus wäre nämlich geeignet, diese Angestellten zu Entscheidungen wie den in Rn. 63 des vorliegenden Urteils genannten zu veranlassen. 66 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Ausgangsverfahren zu beurteilen, ob ein Zusammenhang im Sinne von Rn. 64 des vorliegenden Urteils besteht, und insbesondere im Licht dieses etwaigen Zusammenhangs, aber auch des Umfangs der von den betroffenen Angestellten unmittelbar oder über von ihnen kontrollierte Gesellschaften gehaltenen Beteiligungen am Kapital der Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, der mit diesen Beteiligungen verbundenen Stimmrechte, der Art der an dieser Gesellschaft gehaltenen Anteile, der Politik und des Entscheidungsprozesses betreffend die Gewinnausschüttung der Gesellschaft sowie der im Verhältnis zu den erbrachten beruflichen Diensten möglicherweise geringen Höhe der von der Gesellschaft an diese Angestellten gezahlten festen Vergütung zu prüfen, ob sich diese Angestellten so dazu verleiten lassen, übermäßige Risiken einzugehen, wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils beschrieben, was dann geeignet wäre, die Umgehung der Anforderungen der Richtlinien 2009/65 und 2011/61 in Bezug auf die Vergütungspolitik und ‑praxis zu erleichtern. 67 Stellt sich anhand der in der vorstehenden Randnummer genannten Kriterien heraus, dass die Politik der Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, in Bezug auf die Ausschüttung von Dividenden an ihre Angestellten, die in den persönlichen Anwendungsbereich der Vergütungsbestimmungen der Richtlinien 2009/65 und 2011/61 fallen, einen solchen Anreiz enthält, muss diese Zahlung den Grundsätzen der Vergütungspolitik und ‑praxis, insbesondere den in den Rn. 56 bis 58 des vorliegenden Urteils angeführten Grundsätzen, unterliegen, wobei diese Grundsätze gemäß dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/91 für Zahlungen gelten können, die OGAW an die Gesellschaft, die sie verwalten, leisten. 68 HOLD macht unter Berufung auf den zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/91 und den 28. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/61 geltend, die vorstehende Auslegung verstoße gegen das in Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerte Eigentumsrecht der Aktionäre. 69 Die Charta gilt nach ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Zum einen muss daher die Auslegung der Richtlinien 2009/65 und 2011/61 mit der Charta im Einklang stehen. Zum anderen ist die Charta im Ausgangsverfahren anwendbar, da es sich um eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 der Charta handelt, wenn die nationalen Behörden überprüfen, ob eine Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, die in den nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinien niedergelegten Grundsätze der Vergütungspolitik und ‑praxis beachten. 70 Nach Art. 17 Abs. 1 der Charta hat jede Person das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist. 71 Außerdem können nach Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen der Ausübung der in der Charta verankerten Rechte und Freiheiten wie des Eigentumsrechts vorgenommen werden, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 72 Erstens ist in Bezug auf die Frage, ob Art. 17 Abs. 1 der Charta auf das Eigentum an Aktien und das mit ihnen verbundene Dividendenbezugsrecht anwendbar ist, darauf hinzuweisen, dass sich der durch diese Bestimmung gewährte Schutz auf vermögenswerte Rechte bezieht, aus denen sich im Hinblick auf die betreffende Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht (Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a., C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 73 Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Aktien einer Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, haben einen Vermögenswert und verleihen ihrem Inhaber eine gesicherte Rechtsposition, die eine selbständige Ausübung der sich aus ihnen ergebenden Rechte ermöglicht. Sie fallen daher unter Art. 17 Abs. 1 der Charta. 74 Zweitens ist festzustellen, dass mit der sich aus den Rn. 41 bis 67 des vorliegenden Urteils ergebenden Auslegung der Richtlinien 2009/65 und 2011/61 das Eigentumsrecht der betroffenen Angestellten an den Aktien der Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist und für die sie arbeiten, nicht in Frage gestellt und daher kein Eigentum im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Charta entzogen wird. 75 Gleichwohl stellt die mit dieser Auslegung einhergehende Anwendung der in Rn. 67 des vorliegenden Urteils genannten Grundsätze auf Dividenden aus Aktien eine Regelung der Nutzung des Eigentums im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Satz 3 der Charta dar, die geeignet ist, die Ausübung dieses Eigentumsrechts und insbesondere die Möglichkeit für die angestellten Anteilseigner zu beeinträchtigen, aus diesem Eigentum u. a. unter Berücksichtigung der in den Rn. 57 und 58 des vorliegenden Urteils genannten Vorschriften über die Zurückstellung und den Aufschub von Zahlungen Nutzen zu ziehen. 76 Insoweit geht aus Art. 17 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta hervor, dass die Nutzung des Eigentums gesetzlich geregelt werden kann, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist, und die in Art. 52 Abs. 1 der Charta angeführten und in Rn. 71 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Voraussetzungen beachtet werden. 77 Im vorliegenden Fall folgen die Einschränkungen der Rechte der Anteilseigner, die sich daraus ergeben würden, dass eine Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, die Grundsätze der Vergütungspolitik und ‑praxis auf die Dividendenausschüttungen an bestimmte ihrer Angestellten anwendet, aus den Richtlinien 2009/65 und 2011/61 sowie aus den nationalen Rechtsvorschriften zu deren Umsetzung. Sie sind daher im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen. 78 Da die Anwendung der in den Rn. 57 und 58 des vorliegenden Urteils genannten Vorschriften über die Zurückstellung und den Aufschub von Zahlungen nicht zu einer Entziehung des Eigentums führt, sondern, wie in den Rn. 74 und 75 des vorliegenden Urteils ausgeführt, eine Regelung der Nutzung des Eigentums darstellt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie in den Wesensgehalt des Eigentumsrechts eingreift (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a., C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 53). 79 Zu den mit den Bestimmungen der Richtlinien 2009/65 und 2011/61 über die Vergütungspolitik und ‑praxis und insbesondere mit diesen Vorschriften über die Zurückstellung und den Aufschub verfolgten Zielen wurde in Rn. 52 des vorliegenden Urteils festgestellt, dass diese darin bestehen, die Anleger zu schützen und die Stabilität des Finanzsystems zu gewährleisten. Das Eingehen übermäßiger Risiken, das mit diesen Bestimmungen verhindert werden soll, kann nämlich nicht nur den Interessen des OGAW oder AIF schaden, sondern auch systemische Probleme im Finanzsektor verursachen. 80 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Anlegerschutz nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel der Union darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Banco Santander [Bankenabwicklung Banco Popular], C‑410/20, EU:C:2022:351, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Gleiches gilt für die Ziele, die Stabilität des Banken- und Finanzsystems sicherzustellen und Systemrisiken zu vermeiden (Urteil vom 16. Juli 2020, Adusbef u. a., C‑686/18, EU:C:2020:567, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). 81 Daher entsprechen die Einschränkungen der Ausübung der Rechte der Anteilseigner, die sich daraus ergeben würden, dass eine Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, die Grundsätze der Vergütungspolitik und ‑praxis auf die Dividendenausschüttungen an bestimmte ihrer Angestellten anwendet, tatsächlich den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Satz 3 und Art. 52 Abs. 1 der Charta. 82 Da schließlich eine solche Anwendung auf Situationen beschränkt ist, in denen die Politik der Ausschüttung von Dividenden aus Aktien an Angestellte, die in den persönlichen Anwendungsbereich der die Vergütungspolitik und ‑praxis betreffenden Bestimmungen der Richtlinien 2009/65 und 2011/61 fallen, diese Angestellten dazu verleiten kann, übermäßige Risiken einzugehen, die den Interessen der betreffenden OGAW und AIF sowie den Interessen von deren Anlegern schaden, und daher geeignet ist, die Umgehung der sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Anforderungen zu erleichtern, erscheinen diese Einschränkungen im Hinblick auf die mit den genannten Bestimmungen verfolgten Ziele verhältnismäßig. 83 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 14 bis 14b der Richtlinie 2009/65, Art. 13 Abs. 1 und Anhang II Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2011/61 dahin auszulegen sind, dass die Bestimmungen über die Vergütungspolitik und ‑praxis auf Dividenden, die eine Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von OGAW und AIF ist, unmittelbar oder mittelbar an bestimmte ihrer Angestellten, die als Geschäftsleiter, Anlageleiter bzw. Portfoliomanager tätig sind, aufgrund ihres Eigentumsrechts an den Aktien dieser Gesellschaft zahlt, anwendbar sind, wenn die Politik der Ausschüttung dieser Dividenden diese Angestellten dazu verleiten kann, Risiken einzugehen, die den Interessen der von dieser Gesellschaft verwalteten OGAW bzw. AIF sowie den Interessen von deren Anlegern schaden, und daher geeignet ist, die Umgehung der sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Anforderungen zu erleichtern. Kosten 84 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Art. 14 bis 14b der Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) in der durch die Richtlinie 2014/91/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 geänderten Fassung, Art. 13 Abs. 1 und Anhang II Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2011/61/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2011 über die Verwalter alternativer Investmentfonds und zur Änderung der Richtlinien 2003/41/EG und 2009/65/EG und der Verordnungen (EG) Nr. 1060/2009 und (EU) Nr. 1095/2010 sind dahin auszulegen, dass die Bestimmungen über die Vergütungspolitik und ‑praxis auf Dividenden, die eine Gesellschaft, deren reguläre Tätigkeit die Verwaltung von Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) und alternativer Investmentfonds (AIF) ist, unmittelbar oder mittelbar an bestimmte ihrer Angestellten, die als Geschäftsleiter, Anlageleiter bzw. Portfoliomanager tätig sind, aufgrund ihres Eigentumsrechts an den Aktien dieser Gesellschaft zahlt, anwendbar sind, wenn die Politik der Ausschüttung dieser Dividenden diese Angestellten dazu verleiten kann, Risiken einzugehen, die den Interessen der von dieser Gesellschaft verwalteten OGAW bzw. AIF sowie den Interessen von deren Anlegern schaden, und daher geeignet ist, die Umgehung der sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Anforderungen zu erleichtern. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 8. Juni 2022.#Guangxi Xin Fu Yuan Co. Ltd gegen Europäische Kommission.#Dumping – Einfuhren von Geschirr und anderen Artikeln aus Keramik für den Tisch- oder Küchengebrauch mit Ursprung in China – Auslaufüberprüfung – Umgehung – Art. 13 der Verordnung (EU) 2016/1036 – Verbundene Unternehmen – Verfahrenspflichten – Art. 5 Abs. 10 und 11 der Verordnung 2016/1036 – Art. 6.1, 6.2 und 12.1 des Antidumping-Übereinkommens – Verteidigungsrechte – Gleichbehandlung – Vertrauensschutz – Offensichtlicher Beurteilungsfehler.#Rechtssache T-144/20.
62020TJ0144
ECLI:EU:T:2022:346
2022-06-08T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0144 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0144 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0144 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Zehnte Kammer) vom 13. Oktober 2021.#Ciano Trading & Services CT & S SpA u. a. gegen Europäische Kommission.#Öffentliche Dienstleistungsaufträge – Ausschreibungsverfahren – Nachhaltige Verpflegung für die Kommission in Brüssel und Umgebung – Aufhebung der Ausschreibung – Vertrauensschutz – Rechtsmissbrauch.#Rechtssache T-45/21.
62021TJ0045
ECLI:EU:T:2021:701
2021-10-13T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62021TJ0045 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62021TJ0045 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62021TJ0045 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 21. Dezember 2021.#Datax sp. z o.o. gegen Europäische Exekutivagentur für die Forschung.#Schiedsklausel – Siebtes Rahmenprogramm für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration (2007 – 2013) – Finanzhilfevereinbarungen HELP und GreenNets – Untersuchung des OLAF – Personalkosten – Beweislast – Verlässlichkeit der Zeitnachweise – Fehlende Förderfähigkeit der vom Begünstigten erklärten Kosten – Rückforderung – Belastungsanzeigen – Verjährung – Angemessene Frist – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T-381/20.
62020TJ0381
ECLI:EU:T:2021:932
2021-12-21T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0381 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0381 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0381 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 5. Mai 2022.#EB u. a. gegen Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB).#Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Art. 157 AEUV – Protokoll (Nr. 33) – Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen – Richtlinie 2006/54/EG – Art. 5 Buchst. c und Art. 12 – Verbot mittelbarer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – Nach dem im Protokoll und in Art. 12 genannten Zeitpunkt anwendbares betriebliches System der sozialen Sicherheit – Beamtenpensionen – Nationale Regelung, die eine jährliche Anpassung der Pensionen vorsieht – Degressive Anpassung nach Maßgabe der Höhe der Pensionen, die ab einem bestimmten Betrag ganz entfällt – Rechtfertigungsgründe.#Rechtssache C-405/20.
62020CJ0405
ECLI:EU:C:2022:347
2022-05-05T00:00:00
Rantos, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62020CJ0405 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 5. Mai 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Art. 157 AEUV – Protokoll (Nr. 33) – Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen – Richtlinie 2006/54/EG – Art. 5 Buchst. c und Art. 12 – Verbot mittelbarer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts – Nach dem im Protokoll und in Art. 12 genannten Zeitpunkt anwendbares betriebliches System der sozialen Sicherheit – Beamtenpensionen – Nationale Regelung, die eine jährliche Anpassung der Pensionen vorsieht – Degressive Anpassung nach Maßgabe der Höhe der Pensionen, die ab einem bestimmten Betrag ganz entfällt – Rechtfertigungsgründe“ In der Rechtssache C‑405/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 31. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 28. August 2020, in dem Verfahren EB, JS, DP gegen Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB) erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter T. von Danwitz (Berichterstatter) und P. G. Xuereb, Generalanwalt: A. Rantos, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von JS und EB, vertreten durch Rechtsanwalt M. Riedl, – von DP, vertreten durch Rechtsanwalt M. Riedl und durch sich selbst, – der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und A. Szmytkowska als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Januar 2022 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 157 AEUV, des dem AEU‑Vertrag beigefügten Protokolls (Nr. 33) zu Art. 157 AEUV (im Folgenden: Protokoll Nr. 33) sowie der Art. 5 und 12 der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. 2006, L 204, S. 23). 2 Es ergeht im Rahmen von drei Rechtsstreitigkeiten zwischen EB, JS und DP einerseits und der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau (BVAEB) (Österreich) andererseits über die jährliche Anpassung ihrer Pensionen. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Das Protokoll Nr. 33 bestimmt: „Im Sinne des Artikels 157 [AEUV] gelten Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit nicht als Entgelt, sofern und soweit sie auf Beschäftigungszeiten vor dem 17. Mai 1990 zurückgeführt werden können, außer im Fall von Arbeitnehmern oder deren anspruchsberechtigten Angehörigen, die vor diesem Zeitpunkt eine Klage bei Gericht oder ein gleichwertiges Verfahren nach geltendem einzelstaatlichen Recht anhängig gemacht haben.“ 4 In Art. 1 der Richtlinie 2006/54 heißt es: „Ziel der vorliegenden Richtlinie ist es, die Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sicherzustellen. Zu diesem Zweck enthält sie Bestimmungen zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in Bezug auf … c) betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit. …“ 5 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck a) ‚unmittelbare Diskriminierung‘ eine Situation, in der eine Person aufgrund ihres Geschlechts eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; b) ‚mittelbare Diskriminierung‘ eine Situation, in der dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen des einen Geschlechts in besonderer Weise gegenüber Personen des anderen Geschlechts benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich; … f) ‚betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit‘ Systeme, die nicht durch die Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit [(ABl. 1979, L 6, S. 24)] geregelt werden und deren Zweck darin besteht, den abhängig Beschäftigten und den Selbständigen in einem Unternehmen oder einer Unternehmensgruppe, in einem Wirtschaftszweig oder den Angehörigen eines Berufes oder einer Berufsgruppe Leistungen zu gewähren, die als Zusatzleistungen oder Ersatzleistungen die gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit ergänzen oder an ihre Stelle treten, unabhängig davon, ob der Beitritt zu diesen Systemen Pflicht ist oder nicht.“ 6 Art. 3 („Positive Maßnahmen“) der Richtlinie 2006/54 lautet: „Die Mitgliedstaaten können im Hinblick auf die Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben Maßnahmen im Sinne von Artikel [157 Absatz 4 AEUV] beibehalten oder beschließen.“ 7 Kapitel 2 („Gleichbehandlung in betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit“) des Titels II der Richtlinie 2006/54 enthält u. a. deren Art. 5 und 12. 8 Art. 5 („Diskriminierungsverbot“) der Richtlinie 2006/54 lautet: „Unbeschadet des Artikels 4 darf es in betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geben, insbesondere hinsichtlich a) des Anwendungsbereichs solcher Systeme und [der] Bedingungen für den Zugang zu ihnen, b) der Beitragspflicht und der Berechnung der Beiträge, c) der Berechnung der Leistungen, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten und für unterhaltsberechtigte Personen, sowie der Bedingungen betreffend die Geltungsdauer und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs.“ 9 Art. 12 („Rückwirkung“) der Richtlinie 2006/54 bestimmt: „(1)   Jede Maßnahme zur Umsetzung dieses Kapitels in Bezug auf die Arbeitnehmer deckt alle Leistungen der betrieblichen Systeme der sozialen Sicherheit ab, die für Beschäftigungszeiten nach dem 17. Mai 1990 gewährt werden, und gilt rückwirkend bis zu diesem Datum, außer im Fall von Arbeitnehmern oder ihren anspruchsberechtigten Angehörigen, die vor diesem Zeitpunkt Klage bei Gericht oder ein gleichwertiges Verfahren nach dem geltenden einzelstaatlichen Recht angestrengt haben. In diesem Fall werden die Umsetzungsmaßnahmen rückwirkend bis zum 8. April 1976 angewandt und decken alle Leistungen ab, die für Beschäftigungszeiten nach diesem Zeitpunkt gewährt werden. Für Mitgliedstaaten, die der [Union] nach dem 8. April 1976 und vor dem 17. Mai 1990 beigetreten sind, gilt anstelle dieses Datums das Datum, an dem Artikel [157 AEUV] auf ihrem Hoheitsgebiet anwendbar wurde. (2)   Absatz 1 Satz 2 steht dem nicht entgegen, dass den Arbeitnehmern oder ihren Anspruchsberechtigten, die vor dem 17. Mai 1990 Klage erhoben haben, einzelstaatliche Vorschriften über die Fristen für die Rechtsverfolgung nach innerstaatlichem Recht entgegengehalten werden können, sofern sie für derartige Klagen nicht ungünstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und sofern sie die Ausübung der durch das [Unionsrecht] gewährten Rechte nicht praktisch unmöglich machen. (3)   Für Mitgliedstaaten, die nach dem 17. Mai 1990 der [Union] beigetreten sind und zum 1. Januar 1994 Vertragsparteien des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum waren, wird das Datum ,17. Mai 1990‘ in Absatz 1 Satz 1 durch ,1. Januar 1994‘ ersetzt. (4)   Für andere Mitgliedstaaten, die nach dem 17. Mai 1990 beigetreten sind, wird das Datum ,17. Mai 1990‘ in den Absätzen 1 und 2 durch das Datum ersetzt, zu dem Artikel [157 AEUV] in ihrem Hoheitsgebiet anwendbar wurde.“ Österreichisches Recht 10 § 41 des Bundesgesetzes über die Pensionsansprüche der Bundesbeamten, ihrer Hinterbliebenen und Angehörigen (Pensionsgesetz 1965) vom 18. November 1965 (BGBl. Nr. 340/1965) in seiner für die Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung (im Folgenden: PG 1965) bestimmt: „… (2)   Die nach diesem Bundesgesetz gebührenden Ruhe- und Versorgungsbezüge … sind zum selben Zeitpunkt und im selben Ausmaß wie die Pensionen in der gesetzlichen Pensionsversicherung anzupassen, wenn auf sie bereits 1. vor dem 1. Jänner des betreffenden Jahres ein Anspruch bestanden hat … … (4)   Die in § 711 [des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes] für das Kalenderjahr 2018 festgelegte Vorgangsweise bei der Pensionsanpassung ist sinngemäß … anzuwenden … Bei einer Erhöhung nach § 711 Abs. 1 Z 2 [des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes] ist der gesamte Erhöhungsbetrag dem Ruhe- oder Versorgungsgenuss zuzurechnen.“ 11 § 108f des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes in seiner für die Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung (im Folgenden: ASVG) sieht vor: „(1)   Der Bundesminister für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz hat für jedes Kalenderjahr den Anpassungsfaktor unter Bedachtnahme auf den Richtwert festzusetzen. (2)   Der Richtwert ist so festzusetzen, dass die Erhöhung der Pensionen auf Grund der Anpassung mit dem Richtwert der Erhöhung der Verbraucherpreise nach Abs. 3 entspricht. Er ist auf drei Dezimalstellen zu runden. (3)   Die Erhöhung der Verbraucherpreise ist auf Grund der durchschnittlichen Erhöhung in zwölf Kalendermonaten bis zum Juli des Jahres, das dem Anpassungsjahr vorangeht, zu ermitteln, wobei der Verbraucherpreisindex 2000 oder ein an seine Stelle tretender Index heranzuziehen ist. Dazu ist das arithmetische Mittel der für den Berechnungszeitraum von der Statistik Austria veröffentlichten Jahresinflationsraten zu bilden.“ 12 In § 108h ASVG heißt es: „(1)   Mit Wirksamkeit ab 1. Jänner eines jeden Jahres sind a) alle Pensionen aus der Pensionsversicherung, für die der Stichtag (§ 223 Abs. 2) vor dem 1. Jänner dieses Jahres liegt, … mit dem Anpassungsfaktor zu vervielfachen. … (2)   Der Anpassung nach Abs. 1 ist die Pension zugrunde zu legen, auf die nach den am 31. Dezember des vorangegangenen Jahres in Geltung gestandenen Vorschriften Anspruch bestand …“ 13 § 711 ASVG bestimmt: „(1)   Abweichend von § 108h Abs. 1 erster Satz und Abs. 2 ist die Pensionserhöhung für das Kalenderjahr 2018 nicht mit dem Anpassungsfaktor, sondern wie folgt vorzunehmen: Das Gesamtpensionseinkommen (Abs. 2) ist zu erhöhen 1. wenn es nicht mehr als 1500 [Euro] monatlich beträgt, um 2,2 %; 2. wenn es über 1500 [Euro] bis zu 2000 [Euro] monatlich beträgt, um 33 [Euro]; 3. wenn es über 2000 [Euro] bis zu 3355 [Euro] monatlich beträgt, um 1,6 %; 4. wenn es über 3355 [Euro] bis zu 4980 [Euro] monatlich beträgt, um einen Prozentsatz, der zwischen den genannten Werten von 1,6 % auf 0 % linear absinkt. Beträgt das Gesamtpensionseinkommen mehr als 4980 [Euro] monatlich, so findet keine Erhöhung statt. …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 14 Bei den Klägern der Ausgangsverfahren, EB, JS und DP, handelt es sich um drei vor 1955 geborene männliche Personen, die in Österreich als Bundesbeamte tätig waren. Sie wurden in den Jahren 2000, 2013 bzw. 2006 in den Ruhestand versetzt. Im Jahr 2017 belief sich der Bruttobetrag ihrer Pensionen bei EB auf 6872,43 Euro, bei JS auf 4676,48 Euro und bei DP auf 5713,22 Euro. 15 Die Kläger der Ausgangsverfahren beantragten bei der BVAEB eine Anpassung ihrer Pensionen ab dem 1. Januar 2018. Die BVAEB lehnte eine Anpassung der Pensionen von EB und DP mit der Begründung ab, dass sie den in § 711 Abs. 1 ASVG genannten Höchstbetrag von 4980 Euro pro Monat überstiegen. Die Pension von JS wurde um 0,2989 % erhöht. 16 Die Kläger der Ausgangsverfahren erhoben Klage beim Bundesverwaltungsgericht (Österreich) und machten geltend, § 41 Abs. 4 PG 1965 in Verbindung mit § 711 Abs. 1 Z 4 und letzter Satz ASVG, die eine Anpassung ihrer Pensionen wegen deren Höhe in zwei Fällen vollständig und im dritten Fall fast vollständig ausschlössen, führe ihnen gegenüber zu einer unionsrechtswidrigen mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. 17 Zur Stützung ihrer Klagen trugen die Kläger der Ausgangsverfahren vor, durch die für sie geltende nationale Regelung zur Anpassung der Pensionen habe sich ihre Situation seit 1995 ständig verschlechtert; in den Jahren 2001 bis 2017 seien höhere Pensionen nur geringfügig angepasst worden. Außerdem stelle die genannte Regelung eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar, denn nach einer statistischen Analyse gehörten zu den Beziehern von Pensionen mit einem monatlichen Betrag von mehr als 4980 Euro, die unter das PG 1965 fielen, 8417 Männer und 1040 Frauen, während insgesamt 79491 Männer und 22470 Frauen im österreichischen Bundesdienst Pensionen bezögen. 18 Das Bundesverwaltungsgericht wies die Klagen mit der Begründung ab, dass es Rechtfertigungsgründe für die gerügte Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gebe. Was speziell EB und DP angehe, sei unstreitig, dass von § 41 Abs. 4 PG 1965 in Verbindung mit § 711 Abs. 1 letzter Satz ASVG sehr viel mehr Männer als Frauen betroffen seien. 19 Dagegen legten die Kläger der Ausgangsverfahren beim vorlegenden Gericht, dem Verwaltungsgerichtshof (Österreich), Revision ein. 20 Das vorlegende Gericht führt aus, da die Kläger der Ausgangsverfahren vor 1955 geboren seien, fielen die von ihnen nach dem PG 1965 bezogenen Pensionen in den Anwendungsbereich von Art. 157 AEUV, des Protokolls Nr. 33 und von Art. 12 der Richtlinie 2006/54. Daher stelle sich erstens die Frage, ob die in diesem Protokoll und in dem genannten Artikel der Richtlinie vorgesehene zeitliche Beschränkung des Gebots der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die im Fall der Republik Österreich den Zeitraum vor dem 1. Januar 1994 betreffe, Auswirkungen auf die Klagen habe. Es wäre zwar denkbar, dass diese Beschränkung auf Leistungsbestandteile wie die von den Klägern der Ausgangsverfahren beanstandete Anpassung der Pensionen, sei es auch nur anteilig für ihre vor dem 1. Januar 1994 zurückgelegten Beschäftigungszeiten, Anwendung finde, doch spreche insbesondere die auf das Urteil vom 6. Oktober 1993, Ten Oever (C‑109/91, EU:C:1993:833), zurückgehende Rechtsprechung des Gerichtshofs für eine Auslegung, wonach die genannte Beschränkung auf eine solche Anpassung nicht anwendbar sei und die Kläger der Ausgangsverfahren nicht daran hindern könne, sich auf das Gebot der Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu berufen. 21 Zweitens sei nach der in Rede stehenden nationalen Regelung den Bundesbeamten im Ruhestand, deren monatliche Bruttopension einen bestimmten Betrag übersteige, im Gegensatz zu Personen mit niedrigeren Pensionen eine Anpassung der Pension für das Jahr 2018 vollständig oder fast vollständig versagt geblieben. Eine solche Benachteiligung könnte eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellen, wenn sie eine wesentlich höhere Zahl von Männern als von Frauen betreffe. Seit 1997 folge die jährliche Anpassung der Pensionen nicht mehr der Entwicklung der Bezüge der Beamten im aktiven Dienst, sondern orientiere sich nach einer Verweisung in § 41 PG 1965 auf das ASVG grundsätzlich an der Inflationsrate, mit dem Ziel, die Kaufkraft der Begünstigten zu sichern. Obwohl dieses System so konzipiert sei, dass es allgemein und langfristig Anwendung finden solle, habe der österreichische Gesetzgeber regelmäßig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, in bestimmten Jahren von der allgemeinen Inflationsindexierung der Pensionen abweichende Regelungen zu erlassen. 22 In Bezug auf die Anpassung der Pensionen für das Jahr 2018 habe die österreichische Regierung diese Abweichung mit einer sozialen Komponente begründet. Auch die BVAEB habe sich zur Rechtfertigung einer etwaigen mittelbaren Diskriminierung auf diese soziale Zielsetzung berufen; sie habe geltend gemacht, zum einen entstünde, wenn in jedem Jahr ein einheitlicher Prozentsatz angewandt würde, rasch eine „nicht zu rechtfertigende Kluft“ bei der Höhe der Pensionen, und zum anderen könne bei den höchsten Pensionen eine geringere Anpassung ausreichen, ohne ihren Wert oder den Lebensstandard der Begünstigten zu gefährden, so dass eine solche Anpassung im Interesse der Finanzierung des gesamten dem Staat zur Verfügung stehenden Anpassungsvolumens nicht nur zumutbar, sondern aus Gründen der Solidarität geboten sei. 23 Fraglich sei jedoch, ob diese Gründe eine etwaige mittelbare Diskriminierung rechtfertigen könnten und ob die Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit beachtet würden. Insbesondere bestünden Zweifel an der Erforderlichkeit, der Angemessenheit und der Kohärenz der nationalen Regelung über die Anpassung der in Rede stehenden Pensionen. So beschränke sich die darin enthaltene Maßnahme auf Pensionsberechtigte und, mehr noch, auf bestimmte Gruppen von ihnen, obwohl es andere geeignete sozialpolitische Instrumente wie z. B. progressive Einkommensteuersätze, Transferzahlungen und sonstige durch Steuern finanzierte Hilfsleistungen gebe. Die von § 41 PG 1965 betroffenen Bundesbeamten im Ruhestand befänden sich außerdem nach dem innerstaatlichen Recht in einer besonderen Lage, die sie von den Beziehern von Pensionen aufgrund sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften wie dem ASVG unterscheide. Die Pensionen dieser Beamten seien nämlich nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (Österreich) als öffentlich-rechtliches Entgelt anzusehen, das im Rahmen eines Dienstverhältnisses auf Lebenszeit zur Abgeltung während des aktiven Dienstes erbrachter Dienstleistungen gezahlt werde. Sozialversicherungsrechtliche Pensionen beruhten auf dem Grundsatz der Beitragsfinanzierung und seien von einer Versicherungsanstalt zu zahlen; die Beiträge der Beamten im aktiven Dienst flössen dagegen dem Staatshaushalt zu, und das dem PG 1965 zugrunde liegende Konzept sei nicht mit dem dieser Systeme identisch. 24 Überdies habe der nationale Gesetzgeber bei den Beamten im aktiven Dienst keine solche Maßnahme des „sozialen Ausgleichs“ getroffen; ihre Bezüge für das Jahr 2018 seien ohne degressive Staffelung in einem die Inflationsrate übersteigenden Umfang angehoben worden, um sie am Wirtschaftsaufschwung teilhaben zu lassen. Desgleichen habe der Gesetzgeber für die aufgrund anderer, z. B. privater, betrieblicher Systeme der sozialen Sicherheit gewährten Pensionen keine derartige Anpassungsregelung geschaffen, abgesehen von der begrenzten Kategorie der von staatsnahen Unternehmen gezahlten Pensionen. Fraglich sei zudem, ob bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit und der Kohärenz der angeblich diskriminierenden Maßnahme zu berücksichtigen sei, dass es sich nicht um eine einmalige Maßnahme gehandelt habe, da sich die Kläger der Ausgangsverfahren auf die kumulativen Wirkungen der verschiedenen seit ihrer Versetzung in den Ruhestand getroffenen Maßnahmen zur Anpassung der Höhe ihrer Pensionen beriefen. 25 Schließlich habe das Bundesverwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass die Benachteiligung der überwiegend männlichen Rentner mit höheren Pensionen im Licht der Tatsache zu prüfen sei, dass Frauen in der Vergangenheit auf den Stellen mit den höchsten Bezügen unterrepräsentiert gewesen und dadurch benachteiligt worden seien. Der Klärung bedürfe auch, welche Konsequenzen aus einer solchen Feststellung hinsichtlich der Kläger der Ausgangsverfahren zu ziehen seien. 26 Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist die Einschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs des Gebots der Gleichbehandlung zwischen Männern und Frauen nach dem Urteil vom 17. Mai 1990, Barber (C‑262/88, EU:C:1990:209), sowie gemäß dem Protokoll Nr. 33 und Art. 12 der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen, dass sich ein (österreichischer) Pensionsbezieher rechtens nicht oder nur (anteilig) für jenen Teil des Anspruchs, der auf Beschäftigungszeiten nach dem 1. Januar 1994 zurückgeht, auf das Gebot der Gleichbehandlung berufen kann, um geltend zu machen, dass er durch Regelungen über eine für das Jahr 2018 festgelegte Anpassung von Beamtenpensionen, wie jene, die in den Ausgangsverfahren angewendet wurde, diskriminiert wurde? 2. Ist das Gebot der Gleichbehandlung zwischen Männern und Frauen (nach Art. 157 AEUV in Verbindung mit Art. 5 der Richtlinie 2006/54) dahin auszulegen, dass sich eine mittelbare Ungleichbehandlung wie jene, die – gegebenenfalls – aus den in den Ausgangsverfahren anwendbaren Regelungen über die Pensionsanpassung 2018 resultiert, auch unter Bedachtnahme auf schon früher gesetzte ähnliche Maßnahmen und den durch die kumulative Wirkung derselben verursachten beträchtlichen Verlust im Verhältnis zu einer inflationsbedingten Anpassung des Realwerts von Ruhebezügen (fallbezogen von 25 %) als gerechtfertigt erweist, insbesondere – zur Verhinderung einer (bei regelmäßiger Anpassung mit einem einheitlichen Satz entstehenden) „Kluft“ zwischen höheren und niedrigeren Ruhebezügen, wiewohl diese eine rein nominelle wäre und das Verhältnis der Werte unverändert ließe, – zur Verwirklichung einer allgemeinen „sozialen Komponente“ im Sinne der Stärkung der Kaufkraft der Bezieher geringerer Ruhebezüge, wiewohl a) dieses Ziel auch ohne Einschränkung der Anpassung höherer Bezüge erreichbar wäre und b) der Gesetzgeber eine solche Maßnahme nicht in gleicher Weise auch zur Kaufkraftstärkung bei der Inflationsanpassung geringerer Aktivbezüge der Beamten (zulasten der Anpassung höherer Aktivbezüge) vorsieht und auch keine Regelung zum vergleichbaren Eingriff in die Wertanpassung von Pensionen aus sonstigen betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit (ohne staatliche Beteiligung) traf, um (zulasten der Anpassung höherer Pensionen) eine Kaufkraftstärkung geringerer Pensionen zu erreichen, – zur Erhaltung und Finanzierung „des Systems“, wiewohl die Ruhebezüge der Beamten nicht aus einem versicherungsartig organisierten und beitragsfinanzierten System von einer Versicherungsanstalt geschuldet werden, sondern vom Bund als Dienstgeber der Beamten im Ruhestand als Entgelt für geleistete Arbeit, so dass nicht die Erhaltung oder Finanzierung eines Systems, sondern letztlich nur Haushaltserwägungen ausschlaggebend wären, – weil es einen eigenständigen Rechtfertigungsgrund bildet oder (dem vorgelagert) die Annahme einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne der Richtlinie 2006/54 zulasten der Männer von vornherein ausschließt, wenn die statistisch wesentlich höhere Betroffenheit von Männern in der Gruppe der Bezieher höherer Ruhebezüge als Folge einer insbesondere in der Vergangenheit typischerweise fehlenden Chancengleichheit für Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen einzustufen ist, oder – weil die Regelung als positive Maßnahme im Sinne des Art. 157 Abs. 4 AEUV zulässig ist? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 27 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Protokoll Nr. 33 und Art. 12 der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen sind, dass die darin vorgesehene zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen für eine nationale Regelung gilt, die eine jährliche Anpassung der aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit, das nach dem in diesen Bestimmungen genannten Zeitpunkt anwendbar ist, gewährten Pensionen vorsieht. 28 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 157 AEUV der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit verankert ist. 29 Die Richtlinie 2006/54 enthält, wie aus ihrem Art. 1 hervorgeht, Bestimmungen zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen u. a. in Bezug auf betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit. 30 Wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt und wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, fällt eine Pension wie die der österreichischen Bundesbeamten nach dem PG 1965 zum einen unter den Begriff des Entgelts im Sinne von Art. 157 AEUV, da ihre Höhe von den Dienstzeiten und Ruhegenussvordienstzeiten sowie den Dienstbezügen des Beamten abhängt und da sie eine künftige Geldzahlung des Arbeitgebers an die Arbeitnehmer als unmittelbare Folge ihres Beschäftigungsverhältnisses darstellt. Sie wird nach innerstaatlichem Recht nämlich als Fortzahlung eines Entgelts im Rahmen eines nach Übertritt des Beamten in den Ruhestand weiter bestehenden Dienstverhältnisses angesehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2015, Felber, C‑529/13, EU:C:2015:20, Rn. 23). 31 Zum anderen wird eine solche Rente im Rahmen eines „betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/54 gezahlt, das den Angehörigen einer Berufsgruppe Leistungen gewährt, die als Ersatzleistungen an die Stelle der Leistungen eines gesetzlichen Sozialversicherungssystems treten sollen. In Österreich sind die Bundesbeamten nämlich aufgrund ihrer Beschäftigung in einem Dienstverhältnis beim Bund vom Rentenversicherungssystem des ASVG ausgenommen, weil ihnen aus ihrem Dienstverhältnis die Anwartschaft auf ein Ruhe- und Versorgungsgehalt zusteht, das den Leistungen dieses Rentenversicherungssystems gleichwertig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2016, Lesar, C‑159/15, EU:C:2016:451, Rn. 28). 32 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut des Protokolls Nr. 33 Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit nicht als Entgelt im Sinne von Art. 157 AEUV gelten, „sofern und soweit“ sie auf Beschäftigungszeiten „vor“ dem 17. Mai 1990 zurückgeführt werden können. Desgleichen deckt nach dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 jede Maßnahme zur Umsetzung der die Gleichbehandlung in den genannten Systemen betreffenden Bestimmungen von Titel II Kapitel 2 dieser Richtlinie „alle“ Leistungen solcher Systeme ab, die für Beschäftigungszeiten „nach“ dem 17. Mai 1990 gewährt werden. 33 Da die in diesen Bestimmungen vorgesehene Beschränkung der zeitlichen Wirkungen des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen eine Ausnahme von der Grundregel des AEU‑Vertrags darstellt, ist sie eng auszulegen. 34 Zweitens ist festzustellen, dass der Wortlaut des Protokolls Nr. 33 mit dem des dem EG‑Vertrag beigefügten Protokolls (Nr. 17) zu Art. 141 EG übereinstimmt; sie weisen einen offensichtlichen Zusammenhang mit dem Urteil vom 17. Mai 1990, Barber (C‑262/88, EU:C:1990:209), auf, da sie insbesondere auf den Tag der Verkündung dieses Urteils Bezug nehmen. 35 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 6. Oktober 1993, Ten Oever (C‑109/91, EU:C:1993:833), ausgeführt hat, kann gemäß dem Urteil vom 17. Mai 1990, Barber (C‑262/88, EU:C:1990:209), die unmittelbare Wirkung von Art. 119 EWG‑Vertrag (nach Änderung Art. 141 EG, jetzt Art. 157 AEUV) zur Stützung der Forderung nach Gleichbehandlung auf dem Gebiet der betrieblichen Renten nur für Leistungen geltend gemacht werden, die aufgrund von Beschäftigungszeiten nach dem 17. Mai 1990 – dem Tag der Verkündung dieses Urteils – geschuldet werden, vorbehaltlich der für Arbeitnehmer oder deren anspruchsberechtigte Angehörige, die vor diesem Zeitpunkt nach dem anwendbaren innerstaatlichen Recht Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben, vorgesehenen Ausnahme (Urteil vom 23. Oktober 2003, Schönheit und Becker, C‑4/02 und C‑5/02, EU:C:2003:583, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Zwingende Gründe der Rechtssicherheit schließen es nämlich aus, dass Rechtsverhältnisse, deren Wirkungen sich in der Vergangenheit erschöpft haben, in Frage gestellt werden, wenn dies rückwirkend das finanzielle Gleichgewicht zahlreicher Versorgungssysteme stören könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Oktober 2003, Schönheit und Becker, C‑4/02 und C‑5/02, EU:C:2003:583, Rn. 99). 37 Diese Beschränkung wird im Protokoll Nr. 33 aufgegriffen und findet sich auch in Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54. 38 Für die Republik Österreich wurde der im Urteil vom 17. Mai 1990, Barber (C‑262/88, EU:C:1990:209), genannte Stichtag gemäß Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2006/54 durch den 1. Januar 1994 ersetzt. 39 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass der in Art. 157 AEUV aufgestellte Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen zu den Grundlagen der Union gehört. Überdies fördert die Union nach Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV u. a. die Gleichstellung von Frauen und Männern, und nach Art. 23 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist die Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juni 2021, Tesco Stores, C‑624/19, EU:C:2021:429, Rn. 33 und 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die jährliche Anpassung der Pensionen, die in der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung für das Jahr 2018 vorgesehen ist, anhand des Pensionsbetrags berechnet wird, den der Empfänger im Vorjahr bezogen hatte und auf den bereits ein Anspruch bestand, wobei die Anpassung degressiv erfolgt und ab einem bestimmten Betrag ganz entfällt. Außerdem hängt die Anpassung nicht vom Zeitpunkt der Beschäftigungs- oder Beitragszeiten des betreffenden Empfängers ab. 41 Vor dem vorlegenden Gericht rügen die Kläger der Ausgangsverfahren einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen nur in Bezug auf diese nationale Regelung, die keine Rückwirkung hat. Außerdem wurden sie nach dem 1. Januar 1994 in den Ruhestand versetzt und erheben weder gegen den Zeitpunkt des Beginns ihrer Pension noch gegen deren ursprünglich festgesetzte Höhe Einwände. Sie stellen die Höhe ihrer Pension auch nicht im Zusammenhang mit Zahlungen in der Vergangenheit oder mit Beschäftigungszeiten vor dem 1. Januar 1994 in Frage. 42 In Anbetracht der im Wesentlichen oben in den Rn. 32 bis 39 wiedergegebenen Erwägungen sind das Protokoll Nr. 33 und Art. 12 der Richtlinie 2006/54 nicht dahin auszulegen, dass die in diesen Bestimmungen vorgesehene zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen auf eine jährliche Anpassung der Pensionen anzuwenden ist, da ein solcher Mechanismus nicht dazu führt, dass vor dem dort vorgesehenen Stichtag erworbene Ansprüche oder erbrachte Zahlungen in Frage gestellt werden. Daraus folgt, dass diese Beschränkung im vorliegenden Fall den Klägern der Ausgangsverfahren in Bezug auf eine jährliche Anpassung der Pensionen, wie sie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung allein für das Jahr 2018 vorsieht, nicht entgegengehalten werden kann. 43 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass das Protokoll Nr. 33 und Art. 12 der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen sind, dass die darin vorgesehene zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen nicht für eine nationale Regelung gilt, die eine jährliche Anpassung der aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit, das nach dem in diesen Bestimmungen genannten Zeitpunkt anwendbar ist, gewährten Pensionen vorsieht. Zur zweiten Frage 44 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 157 AEUV und Art. 5 der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine degressive jährliche Anpassung des Betrags der Pensionen der nationalen Beamten nach Maßgabe seiner Höhe vorsieht, wobei die Anpassung ab einem bestimmten Pensionsbetrag ganz entfällt. 45 Gemäß Art. 5 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 darf es in betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit hinsichtlich der Berechnung der Leistungen keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geben. 46 Vorab ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht zu einer unmittelbaren Diskriminierung führt, da sie für männliche und weibliche Arbeitnehmer gleichermaßen gilt. 47 In Bezug auf die Frage, ob eine solche Regelung zu einer mittelbaren Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/54 führt, ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass nach § 41 Abs. 4 PG 1965 in Verbindung mit § 711 Abs. 1 ASVG die österreichischen Bundesbeamten, deren monatliche Pension einen bestimmten Betrag übersteigt, gegenüber den Beziehern niedrigerer Pensionen benachteiligt werden, da die Erhöhung ihrer Pension geringer ausfällt oder ganz entfällt. Eine solche Regelung schafft somit eine Ungleichbehandlung der österreichischen Bundesbeamten anhand eines dem Anschein nach neutralen Kriteriums, und zwar der Höhe ihrer Pension. 48 Zu der Frage, ob diese Ungleichbehandlung Personen eines Geschlechts im Vergleich zu Personen des anderen Geschlechts besonders benachteiligt, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es nach den von den Klägern der Ausgangsverfahren vorgelegten Nachweise und den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht ausgeschlossen sei, dass die Voraussetzungen für eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts statistisch gesehen erfüllt seien. Insbesondere sei in Bezug auf zwei der Kläger der Ausgangsverfahren unstreitig, dass von § 41 Abs. 4 PG 1965 in Verbindung mit § 711 Abs. 1 letzter Satz ASVG sehr viel mehr Männer als Frauen betroffen seien, da zu der Gruppe von Personen, die Pensionen über der in dieser Regelung festgelegten Obergrenze bezögen, mehr Männer gehörten. 49 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass das Vorliegen eines solchen besonderen Nachteils u. a. dann festgestellt werden kann, wenn nachgewiesen wird, dass sich eine nationale Regelung auf einen signifikant höheren Anteil von Personen eines Geschlechts im Vergleich zu Personen des anderen Geschlechts ungünstig auswirkt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2020, YS [Betriebspensionen leitender Angestellter], C‑223/19, EU:C:2020:753, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Die Beurteilung von Tatbeständen, die auf eine mittelbare Diskriminierung schließen lassen, obliegt dem einzelstaatlichen Gericht nach den nationalen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten, die insbesondere vorsehen können, dass eine mittelbare Diskriminierung mit allen Mitteln, u. a. anhand statistischer Daten, festgestellt werden kann. Es ist daher Sache des einzelstaatlichen Gerichts, zu beurteilen, inwieweit die ihm vorgelegten statistischen Daten zuverlässig sind und ob es sie berücksichtigen kann, d. h. insbesondere, ob sie nicht rein zufällige oder konjunkturelle Erscheinungen widerspiegeln und ob sie hinreichend aussagekräftig sind (Urteil vom 24. September 2020, YS [Betriebspensionen leitender Angestellter], C‑223/19, EU:C:2020:753, Rn. 50 und 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Sollte sich aus den Statistiken, die das vorlegende Gericht heranziehen kann, in der Tat ergeben, dass die Arbeitnehmer eines Geschlechts von der in Rede stehenden nationalen Regelung prozentual erheblich stärker betroffen sind als die ebenfalls in den Anwendungsbereich dieser Regelung fallenden Arbeitnehmer des anderen Geschlechts, wäre davon auszugehen, dass eine solche Situation eine gegen Art. 5 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 verstoßende mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt, es sei denn, die Regelung ist durch objektive Faktoren gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Dezember 2007, Voß, C‑300/06, EU:C:2007:757, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 24. September 2020, YS [Betriebspensionen leitender Angestellter], C‑223/19, EU:C:2020:753, Rn. 54). 52 Wie sich aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/54 ergibt, müsste das vorlegende Gericht in einem solchen Fall sodann prüfen, inwieweit eine solche Ungleichbehandlung gleichwohl durch Faktoren gerechtfertigt werden kann, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. 53 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass dies nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs insbesondere dann der Fall ist, wenn die gewählten Mittel einem legitimen sozialpolitischen Ziel dienen und zur Erreichung des mit der in Rede stehenden Regelung verfolgten Ziels geeignet und erforderlich sind, wobei solche Mittel nur dann als zur Erreichung des geltend gemachten Ziels geeignet angesehen werden, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, dieses Ziel zu erreichen, und wenn sie in kohärenter und systematischer Weise angewandt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 2014, Leone, C‑173/13, EU:C:2014:2090, Rn. 53 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 24. September 2020, YS [Betriebspensionen leitender Angestellter], C‑223/19, EU:C:2020:753, Rn. 56). 54 Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten bei der Wahl der zur Verwirklichung ihrer sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele geeigneten Maßnahmen über einen weiten Entscheidungsspielraum verfügen (Urteil vom 24. September 2020, YS [Betriebspensionen leitender Angestellter], C‑223/19, EU:C:2020:753, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich ferner, dass es zwar letztlich Sache des für die Beurteilung des Sachverhalts und die Auslegung des nationalen Rechts allein zuständigen innerstaatlichen Gerichts ist, festzustellen, ob und in welchem Umfang die Rechtsvorschrift, um die es in der ihm unterbreiteten Rechtssache geht, durch einen solchen objektiven Faktor gerechtfertigt ist, doch kann der Gerichtshof, der die Fragen dieses Gerichts sachdienlich zu beantworten hat, ihm geeignete Hinweise zur Ermöglichung seiner Entscheidung geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2020, YS [Betriebspensionen leitender Angestellter], C‑223/19, EU:C:2020:753, Rn. 58). 56 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervor, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung darauf abzielt, die Kaufkraft der Pensionsempfänger dadurch zu erhalten, dass die niedrigeren Pensionen gegenüber den höchsten mittels eines „sozialen Ausgleichs“ begünstigt werden, um zu verhindern, dass zwischen ihnen eine zu große Kluft entsteht, und um ihre dauerhafte Finanzierung sicherzustellen. 57 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können Haushaltserwägungen zwar eine Diskriminierung zum Nachteil eines der Geschlechter nicht rechtfertigen, aber Zielsetzungen in Form der nachhaltigen Sicherung der Finanzierung von Pensionsleistungen und der Verringerung des Unterschieds bei der Höhe staatlich finanzierter Pensionen können als legitime sozialpolitische Ziele angesehen werden, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. September 2020, YS [Betriebspensionen leitender Angestellter], C‑223/19, EU:C:2020:753, Rn. 61, und vom 21. Januar 2021, INSS, C‑843/19, EU:C:2021:55, Rn. 38). 58 Folglich werden mit der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung legitime sozialpolitische Ziele verfolgt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. 59 Hinsichtlich der Frage, ob diese Regelung den oben in Rn. 53 genannten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit genügt, und insbesondere in Bezug auf ihre Angemessenheit ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen, dass sie es ermöglicht, nur Pensionen von durchschnittlicher oder geringer Höhe anzuheben, wobei insbesondere sichergestellt wird, dass die niedrigsten Pensionen in einem die Inflation übersteigenden Maß angehoben werden, somit zu einer dauerhaften Finanzierung dieser Pensionen beizutragen und die Unterschiede zwischen ihnen zu verringern. 60 Zwar ändert, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, eine Inflationsindexierung der Pensionen als solche nichts an den Niveauunterschieden zwischen den verschiedenen Pensionen, und der Abstand zwischen ihnen bleibt mathematisch gesehen unverändert. Preiserhöhungen wirken sich jedoch stärker auf den Lebensstandard der Bezieher von geringen Pensionen aus. Außerdem führt die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, da sie nur Leistungen über einem gewissen Schwellenwert betrifft, dazu, dass Letztere sich dem Niveau der niedrigeren Pensionen annähern. 61 Zur kohärenten und systematischen Umsetzung dieser Regelung ist festzustellen, dass sie, wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen und den schriftlichen Erklärungen der österreichischen Regierung ergibt, für alle Beamtenpensionen gilt, aber auch für die Bezieher von Pensionen sowohl aus betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit von staatlich kontrollierten Unternehmen als auch aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem ASVG. Die jährliche Anpassung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Renten soll demnach für alle Bezieher staatlicher Renten gelten; dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts. 62 In Anbetracht des oben in Rn. 54 angesprochenen weiten Entscheidungsspielraums der Mitgliedstaaten bei der Wahl geeigneter Maßnahmen zur Erreichung ihrer sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele kann die Kohärenz der Durchführung der Anpassungsmaßnahme nicht allein deshalb in Frage gestellt werden, weil es bereits andere spezifische sozialpolitische Instrumente zur Erreichung des Ziels einer Stützung niedriger Einkommen gibt. 63 Das Gleiche gilt für den Umstand, dass sich die betreffende Anpassungsmaßnahme weder auf die Pensionen der privaten betrieblichen Systeme der sozialen Sicherheit noch auf die Bezüge der Beamten im aktiven Dienst erstreckte. 64 Zum einen sind diese privaten Systeme, vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht, nämlich nicht vom Staat abhängig. Zum anderen ist zu den Beamten im aktiven Dienst zu sagen, dass zwar ihre Ernennung nach dem innerstaatlichen Recht ein Dienstverhältnis auf Lebenszeit begründet und dass ihre Pension einem vom Staat als Ausgleich für Dienste während der aktiven Dienstzeit geschuldeten Entgelt entspricht, doch geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen und den schriftlichen Erklärungen der österreichischen Regierung ebenfalls hervor, dass das System der Beamtenpensionen in den letzten etwa 20 Jahren mehrfach geändert wurde, um es dem System des ASVG anzugleichen. Insbesondere folgte die Anpassung ihrer Pensionen nicht mehr der Entwicklung der Bezüge der Beamten im aktiven Dienst, sondern im Prinzip – wie bei den im Rahmen des letztgenannten Systems gezahlten Pensionen – der Entwicklung der Inflationsrate. Im Übrigen scheinen sich die Ruhestandsbeamten und die Beamten im aktiven Dienst in Anbetracht der Ziele, die mit der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung verfolgt werden, nicht in einer vergleichbaren Situation zu befinden, da insbesondere das Ziel, den Unterschied zwischen den Pensionen zu verringern, um zu verhindern, dass sich im Lauf der Zeit eine Kluft zwischen ihren Niveaus auftut, eine Trennung zwischen ihrer Verwaltung und derjenigen der Dienstbezüge erforderlich macht. 65 Auch der Umstand, dass die Pensionen der Beamten nicht von einer Versicherungsanstalt gezahlt werden, an die sie ihre Beiträge entrichtet haben, sondern unmittelbar vom Staat, dürfte im Hinblick auf das vom österreichischen Gesetzgeber mit dem Erlass der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung verfolgte Ziel einer nachhaltigen Finanzierung der Pensionen und einer Verringerung des Unterschieds zwischen ihnen nicht ausschlaggebend sein. Zudem ist eine Anpassung der Pensionen keine Leistung, die eine Gegenleistung für die gezahlten Beiträge darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Oktober 2011, Brachner, C‑123/10, EU:C:2011:675, Rn. 79). 66 Diese Regelung wurde somit – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht insoweit vorzunehmenden Prüfungen – in systematischer und kohärenter Weise umgesetzt. 67 Die Regelung dürfte auch nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich ist. Die Kläger der Ausgangsverfahren machen zwar geltend, ihre Pensionen hätten im Vergleich zu dem Fall, dass sie seit ihrer Versetzung in den Ruhestand gemäß dem nationalen Recht jährlich einen Inflationsausgleich erhalten hätten, erheblich an Wert verloren. Die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung trägt jedoch der Leistungsfähigkeit der Betroffenen Rechnung. Die in § 711 ASVG, auf den § 41 Abs. 4 PG 1965 verweist, vorgesehenen Beschränkungen bei der Erhöhung der Pensionen sind nämlich nach Maßgabe der Höhe der gewährten Leistungen gestaffelt, und nur bei den höchsten Pensionen ist eine solche Erhöhung ausgeschlossen. 68 Unter diesen Umständen braucht nicht geprüft zu werden, ob diese Beschränkungen nach Art. 157 Abs. 4 AEUV oder Art. 3 der Richtlinie 2006/54 gerechtfertigt werden können. Jedenfalls ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht auf eine nationale Regelung Anwendung finden können, die sich darauf beschränkt, Frauen einen Aufschlag auf ihre Pension zukommen zu lassen, ohne den Schwierigkeiten abzuhelfen, auf die sie während ihrer beruflichen Laufbahn stoßen können, und die nicht geeignet erscheint, die Nachteile, die Frauen hinzunehmen haben, dadurch auszugleichen, dass ihnen bei ihrer beruflichen Laufbahn geholfen wird, und damit die volle Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social [Rentenzulage für Mütter], C‑450/18, EU:C:2019:1075, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). 69 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 157 AEUV und Art. 5 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, die eine degressive jährliche Anpassung des Betrags der Pensionen der nationalen Beamten nach Maßgabe seiner Höhe vorsieht, wobei die Anpassung ab einem bestimmten Pensionsbetrag ganz entfällt, in dem Fall, dass sich diese Regelung auf einen signifikant höheren Anteil männlicher als weiblicher Pensionsbezieher ungünstig auswirkt, nicht entgegenstehen, sofern mit ihr in kohärenter und systematischer Weise die Ziele der Gewährleistung einer nachhaltigen Finanzierung der Pensionen und einer Verringerung des Niveauunterschieds zwischen den staatlich finanzierten Pensionen verfolgt werden, ohne dass sie über das hinausgeht, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist. Kosten 70 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: 1. Das dem AEU-Vertrag beigefügte Protokoll (Nr. 33) zu Art. 157 AEUV und Art. 12 der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen sind dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen nicht für eine nationale Regelung gilt, die eine jährliche Anpassung der aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit, das nach dem in diesen Bestimmungen genannten Zeitpunkt anwendbar ist, gewährten Pensionen vorsieht. 2. Art. 157 AEUV und Art. 5 Buchst. c der Richtlinie 2006/54 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, die eine degressive jährliche Anpassung des Betrags der Pensionen der nationalen Beamten nach Maßgabe seiner Höhe vorsieht, wobei die Anpassung ab einem bestimmten Pensionsbetrag ganz entfällt, in dem Fall, dass sich diese Regelung auf einen signifikant höheren Anteil männlicher als weiblicher Pensionsbezieher ungünstig auswirkt, nicht entgegenstehen, sofern mit ihr in kohärenter und systematischer Weise die Ziele der Gewährleistung einer nachhaltigen Finanzierung der Pensionen und einer Verringerung des Niveauunterschieds zwischen den staatlich finanzierten Pensionen verfolgt werden, ohne dass sie über das hinausgeht, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist. Arabadjiev Bay Larsen Ziemele von Danwitz Xuereb Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. Mai 2022. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident der Ersten Kammer A. Arabadjiev (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Beschluss des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 26. April 2022.#RM gegen Landespolizeidirektion Steiermark.#Vorabentscheidungsersuchen des Landesverwaltungsgerichts Steiermark.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Freier Dienstleistungsverkehr – Art. 56 AEUV – Glücksspiel – Zugänglichmachen von verbotenen Ausspielungen – Sanktionen – Verhältnismäßigkeit – Mindestgeldstrafen – Kumulation – Fehlende Höchstgrenze – Ersatzfreiheitsstrafe – Proportionaler Beitrag zu den Kosten des Verfahrens – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 49 Abs. 3.#Rechtssache C-508/20.
62020CO0508
ECLI:EU:C:2022:336
2022-04-26T00:00:00
Szpunar, Gerichtshof
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) 26. April 2022(*) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Freier Dienstleistungsverkehr – Art. 56 AEUV – Glücksspiel – Zugänglichmachen von verbotenen Ausspielungen – Sanktionen – Verhältnismäßigkeit – Mindestgeldstrafen – Kumulation – Fehlende Höchstgrenze – Ersatzfreiheitsstrafe – Proportionaler Beitrag zu den Kosten des Verfahrens – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 49 Abs. 3“ In der Rechtssache C‑508/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidung vom 23. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Oktober 2020, in dem Verfahren RM gegen Landespolizeidirektion Steiermark erlässt DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin I. Ziemele (Berichterstatterin) sowie der Richter T. von Danwitz und A. Kumin, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, folgenden Beschluss 1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 56 AEUV und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen RM und der Landespolizeidirektion Steiermark (Österreich) über Sanktionen, die gegen RM wegen unternehmerischer Zugänglichmachung verbotener Ausspielungen verhängt wurden. Rechtlicher Rahmen GSpG 3        Das Glücksspielgesetz (Bundesgesetz zur Regelung des Glücksspielwesens) vom 28. November 1989 (BGBl. Nr. 620/1989) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: GSpG) bestimmt in seinem § 2 („Ausspielungen“): „(1)      Ausspielungen sind Glücksspiele, 1.      die ein Unternehmer veranstaltet, organisiert, anbietet oder zugänglich macht und 2.      bei denen Spieler oder andere eine vermögenswerte Leistung in Zusammenhang mit der Teilnahme am Glücksspiel erbringen (Einsatz) und 3.      bei denen vom Unternehmer, von Spielern oder von anderen eine vermögenswerte Leistung in Aussicht gestellt wird (Gewinn). … (4)      Verbotene Ausspielungen sind Ausspielungen, für die eine Konzession oder Bewilligung nach diesem Bundesgesetz nicht erteilt wurde und die nicht vom Glücksspielmonopol des Bundes gemäß § 4 ausgenommen sind. …“ 4        § 52 („Verwaltungsstrafbestimmungen“) GSpG bestimmt: „(1)      Es begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Behörde in den Fällen der Z 1 mit einer Geldstrafe von bis zu 60 000 Euro und in den Fällen der Z 2 bis 11 mit bis zu 22 000 Euro zu bestrafen, 1.      wer zur Teilnahme vom Inland aus verbotene Ausspielungen im Sinne des § 2 Abs. 4 veranstaltet, organisiert oder unternehmerisch zugänglich macht oder sich als Unternehmer im Sinne des § 2 Abs. 2 daran beteiligt; … (2)      Bei Übertretung des Abs. 1 Z 1 mit bis zu drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen ist für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe in der Höhe von 1 000 Euro bis zu 10 000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 3 000 Euro bis zu 30 000 Euro, bei Übertretung mit mehr als drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe von 3 000 Euro bis zu 30 000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 6 000 Euro bis zu 60 000 Euro zu verhängen.“ VStG 5        In § 9 („Besondere Fälle der Verantwortlichkeit“) des Verwaltungsstrafgesetzes (BGBl. Nr. 52/1991) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: VStG) heißt es: „(1)      Für die Einhaltung der Verwaltungsvorschriften durch juristische Personen … ist, sofern die Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmen und soweit nicht verantwortliche Beauftragte (Abs. 2) bestellt sind, strafrechtlich verantwortlich, wer zur Vertretung nach außen berufen ist. … (7)      Juristische Personen … sowie die in Abs. 3 genannten natürlichen Personen haften für die über die zur Vertretung nach außen Berufenen oder über einen verantwortlichen Beauftragten verhängten Geldstrafen, sonstige in Geld bemessene Unrechtsfolgen und die Verfahrenskosten zur ungeteilten Hand.“ 6        § 16 („Ersatzfreiheitsstrafe“) VStG sieht vor: „(1)      Wird eine Geldstrafe verhängt, so ist zugleich für den Fall ihrer Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe festzusetzen. (2)      Die Ersatzfreiheitsstrafe darf das Höchstmaß der für die Verwaltungsübertretung angedrohten Freiheitsstrafe und, wenn keine Freiheitsstrafe angedroht und nicht anderes bestimmt ist, zwei Wochen nicht übersteigen. Eine Ersatzfreiheitsstrafe von mehr als sechs Wochen ist nicht zulässig. Sie ist ohne Bedachtnahme auf § 12 nach den Regeln der Strafbemessung festzusetzen. …“ 7        In § 19 („Strafbemessung“) VStG heißt es: „(1)      Grundlage für die Bemessung der Strafe sind die Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes und die Intensität seiner Beeinträchtigung durch die Tat. …“ 8        § 20 („Außerordentliche Milderung der Strafe“) VStG bestimmt: „Überwiegen die Milderungsgründe die Erschwerungsgründe beträchtlich oder ist der Beschuldigte ein Jugendlicher, so kann die Mindeststrafe bis zur Hälfte unterschritten werden.“ 9        § 64 („Kosten des Strafverfahrens“) VStG sieht vor: „(1)      In jedem Straferkenntnis ist auszusprechen, dass der Bestrafte einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens zu leisten hat. (2)      Dieser Beitrag ist für das Verfahren erster Instanz mit 10 % der verhängten Strafe, mindestens jedoch mit 10 Euro zu bemessen; bei Freiheitsstrafen ist zur Berechnung der Kosten ein Tag Freiheitsstrafe gleich 100 Euro anzurechnen. … …“ Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz 10      § 38 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (BGBl. I Nr. 33/2013) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht die Anwendung der Bestimmungen u. a. des VStG auf das Verfahren über Beschwerden in Verwaltungsstrafsachen vor. 11      Art. 52 („Kosten“) dieses Gesetzes bestimmt: „(1)      In jedem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes, mit dem ein Straferkenntnis bestätigt wird, ist auszusprechen, dass der Bestrafte einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens zu leisten hat. (2)      Dieser Beitrag ist für das Beschwerdeverfahren mit 20 % der verhängten Strafe, mindestens jedoch mit zehn Euro zu bemessen; bei Freiheitsstrafen ist zur Berechnung der Kosten ein Tag Freiheitsstrafe gleich 100 Euro anzurechnen. …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 12      Vom 4. Dezember 2018 bis zum 28. Februar 2019 machte die von RM vertretene Gesellschaft zehn Glücksspielautomaten unternehmerisch in einem bestimmten Lokal zugänglich. 13      Mit Straferkenntnis wurde RM gemäß § 9 VStG als für die von dieser Gesellschaft begangenen Übertretungen des § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG verantwortlich befunden. Nach § 52 Abs. 2 VStG verhängte die Verwaltungsstrafbehörde gegen ihn pro Übertretung, d. h. pro zugänglich gemachten Glücksspielautomaten, eine Verwaltungsstrafe in Höhe von 30 000 Euro und nach § 16 VStG, der nach § 38 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung auf das Verfahren über Beschwerden in Verwaltungsstrafsachen anwendbar ist, eine Ersatzfreiheitsstrafe von sieben Tagen, d. h. insgesamt – für zehn Glückspielautomaten – eine Geldstrafe von 300 000 Euro und eine Ersatzfreiheitsstrafe von 70 Tagen. Außerdem schrieb sie ihm gemäß § 64 Abs. 2 VStG die Zahlung eines Beitrags zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 30 000 Euro vor. 14      RM erhob hiergegen Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich), dem vorlegenden Gericht. 15      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass seine Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Sanktion davon abhänge, ob die Bestimmungen des GSpG in Verbindung mit denen des VStG, die es für die Strafbemessung anzuwenden habe, mit Art. 56 AEUV und gegebenenfalls mit Art. 49 Abs. 3 der Charta vereinbar seien. 16      Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Steiermark beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1.      Hat das nationale Gericht in einem Strafverfahren, das zum Schutze einer Monopolregelung geführt wird, die von ihm anzuwendende Strafsanktionsnorm im Lichte der Dienstleistungsfreiheit zu prüfen, wenn es bereits zuvor die Monopolregelung entsprechend den Vorgaben des Gerichtshofs geprüft hat und diese Prüfung ergeben hat, dass die Monopolregelung gerechtfertigt ist? 2.      Für den Fall der Bejahung der ersten Frage: a)      Ist Art. 56 AEUV dahingehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG zwingend die Verhängung einer Geldstrafe pro Glücksspielautomat ohne absolute Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen vorsieht? b)      Ist Art. 56 AEUV dahingehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Verhängung einer Mindeststrafe in der Höhe von 6 000 Euro pro Glücksspielautomat zwingend vorsieht? c)      Ist Art. 56 AEUV dahingehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe pro Glücksspielautomat ohne absolute Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen vorsieht? d)      Ist Art. 56 AEUV dahingehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche im Fall der Bestrafung wegen des unternehmerischen Zugänglichmachens verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Vorschreibung eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens in der Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen vorsieht? 3.      Für den Fall der Verneinung der ersten Frage: a)      Ist Art. 49 Abs. 3 der Charta dahingehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG zwingend die Verhängung einer Geldstrafe pro Glücksspielautomat ohne absolute Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen vorsieht? b)      Ist Art. 49 Abs. 3 der Charta dahingehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Verhängung einer Mindeststrafe in der Höhe von 6 000 Euro pro Glücksspielautomat zwingend vorsieht? c)      Ist Art. 49 Abs. 3 der Charta dahingehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe pro Glücksspielautomat ohne absolute Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen vorsieht? d)      Ist Art. 49 Abs. 3 der Charta dahingehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche im Fall der Bestrafung wegen des unternehmerischen Zugänglichmachens verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Vorschreibung eines Beitrages zu den Kosten des Strafverfahrens in der Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen vorsieht? Zu den Vorlagefragen 17      Wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, kann der Gerichtshof gemäß Art. 99 seiner Verfahrensordnung auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden. 18      Da die Antwort auf die Fragen des vorlegenden Gerichts klar aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere aus dem Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark (Glücksspielautomaten) (C‑231/20, EU:C:2021:845), abgeleitet werden kann, ist die genannte Verfahrensvorschrift anzuwenden. Zur ersten Frage 19      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, das mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer wegen Verstoßes gegen das Glücksspielmonopol verhängten Sanktion befasst ist, in einem Verfahren über die Verhängung von Sanktionen wegen eines solchen Verstoßes speziell prüfen muss, ob die in der anwendbaren Regelung vorgesehenen Sanktionen mit Art. 56 AEUV vereinbar sind, wenn bereits entschieden wurde, dass die Einführung eines solchen Monopolsystems mit dieser Bestimmung vereinbar ist. 20      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf Regelungen eines Mitgliedstaats, die die Ausübung einer Tätigkeit im Glücksspielsektor in diesem Staat u. a. von der Verpflichtung, über eine Konzession und eine polizeiliche Genehmigung zu verfügen, abhängig machen und die strafrechtliche Sanktionen für den Fall vorsehen, dass die fraglichen Rechtsvorschriften nicht eingehalten werden, bereits entschieden hat, dass gesondert für jede mit den nationalen Rechtsvorschriften auferlegte Beschränkung, darunter auch für die in diesen Vorschriften vorgesehenen Sanktionen, namentlich zu prüfen ist, ob die Beschränkung geeignet ist, die Verwirklichung des von dem fraglichen Mitgliedstaat geltend gemachten Ziels oder der von ihm geltend gemachten Ziele zu gewährleisten, und ob sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels oder dieser Ziele erforderlich ist (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 21      Daher hat das nationale Gericht, das mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer wegen Verstoßes gegen das Glücksspielmonopol verhängten Sanktion befasst ist, speziell zu prüfen, ob diese Beschränkung mit Art. 56 AEUV vereinbar ist (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 22      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht zwar hervor, dass das nationale Gericht im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit einer beschränkenden Regelung mit Art. 56 AEUV eine Gesamtwürdigung nicht nur der Umstände vornehmen muss, unter denen diese Regelung erlassen worden ist, sondern auch jener, unter denen sie durchgeführt wird, was zwangsläufig das speziell in dieser Regelung vorgesehene Sanktionssystem einschließt, auf dessen Grundlage die Sanktionsentscheidung erlassen wurde (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 23      Wie sich jedoch aus der Vorlageentscheidung ergibt, wurden die gegen den Revisionswerber des Ausgangsverfahrens verhängten Sanktionen nicht nur auf der Grundlage von § 52 GSpG, sondern auch auf der Grundlage der im Verwaltungsstreitverfahren anwendbaren §§ 16 und 64 VStG festgesetzt, die gleichzeitig mit jedem Straferkenntnis die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe und die Vorschreibung eines Beitrags zu den Kosten des Verwaltungsstrafverfahrens vorsehen. 24      Zu dem Umstand, dass sie nicht im GSpG, sondern in den allgemeinen Bestimmungen des VStG vorgesehen sind, ist darauf hinzuweisen, dass solche Sanktionen in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Methoden für deren Bestimmung mit dem Unionsrecht vereinbar sein und die durch dieses Recht garantierten Grundfreiheiten beachten müssen (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). 25      Daher ist das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sanktionssystem im Hinblick auf Art. 56 AEUV gesondert zu prüfen (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 34). 26      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, das mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer wegen Verstoßes gegen das Glücksspielmonopol verhängten Sanktion befasst ist, in einem Verfahren über die Verhängung von Sanktionen wegen eines solchen Verstoßes speziell prüfen muss, ob die in der anwendbaren Regelung vorgesehenen Sanktionen unter Berücksichtigung der konkreten Methoden für deren Bestimmung mit Art. 56 AEUV vereinbar sind. Zur zweiten Frage 27      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die im Fall der unternehmerischen Zugänglichmachung verbotener Ausspielungen Folgendes zwingend vorsieht: –        die Festsetzung einer Mindestgeldstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen; –        die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtdauer der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen, und –        einen Beitrag zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen. 28      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Festlegung von Sanktionen im Bereich der Glücksspiele zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, dass aber das Unionsrecht dieser Zuständigkeit nach ständiger Rechtsprechung Schranken setzt, da solche Regelungen die durch das Unionsrecht garantierten Grundfreiheiten nicht beschränken dürfen (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind alle Maßnahmen, die die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs untersagen, behindern oder weniger attraktiv machen, als Beschränkungen dieser Freiheit zu verstehen (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30      Insoweit ist eine nationale Regelung wie die des Ausgangsverfahrens, die vorsieht, dass im Fall der Nichteinhaltung von Verpflichtungen, die für sich genommen den freien Dienstleistungsverkehr beschränken, gegen den Erbringer von Dienstleistungen Sanktionen verhängt werden, geeignet, die Ausübung dieser Freiheit weniger attraktiv zu machen, und stellt somit eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31      Gleichwohl können nach gefestigter Rechtsprechung nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, zulässig sein, wenn sie zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, wenn sie geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32      Der Gerichtshof hat im Übrigen klargestellt, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, die Ziele ihrer Politik auf dem Gebiet der Glücksspiele festzulegen und gegebenenfalls das angestrebte Schutzniveau genau zu bestimmen. Jedoch müssen die von ihnen vorgeschriebenen Beschränkungen den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügen (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 33      Zudem ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn sich ein Mitgliedstaat auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, diese im Unionsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere der nunmehr durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen. Die vorgesehenen Ausnahmen können daher für die betreffende nationale Regelung nur dann gelten, wenn sie im Einklang mit den Grundrechten steht, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34      Hierzu ist erstens festzustellen, dass – soweit das Unionsrecht die Mitgliedstaaten ermächtigt, von Art. 56 AEUV abzuweichen und Beschränkungen für die Erbringung von Glücksspieldienstleistungen aufzuerlegen, und sofern diese Beschränkungen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, sie geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, – davon auszugehen ist, dass die Verhängung von verwaltungsrechtlichen oder strafrechtlichen Sanktionen zur Durchsetzung dieser Beschränkungen denselben zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht wie die genannten Beschränkungen (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 43). 35      Zweitens ist festzustellen, dass die Verhängung von verwaltungsrechtlichen oder strafrechtlichen Sanktionen wegen Verstoßes gegen eine die Erbringung von Glücksspieldienstleistungen beschränkende Regelung grundsätzlich die Einhaltung dieser Regelung zu gewährleisten vermag und daher geeignet ist, die Erreichung des hiermit verfolgten Ziels zu gewährleisten (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 44). 36      Außerdem muss drittens die Härte der verhängten Sanktionen der Schwere der mit ihnen geahndeten Taten entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, wobei sich eine solche Anforderung insbesondere aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen ergibt (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 37      Was als Erstes die Verhängung einer Mindestgeldstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten betrifft, ist nicht ersichtlich, dass eine solche Sanktion für sich genommen im Hinblick auf die Schwere der fraglichen Taten unverhältnismäßig wäre, da von illegalem Automatenglücksspiel, das sich behördlichen Kontrollen naturgemäß entzieht und in welchem Bereich die zum Spielerschutz getroffenen gesetzlichen Vorkehrungen nicht überprüft werden können, eine besonders hohe Sozialschädlichkeit ausgehen kann, wobei der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen hat, dass die Ausspielungen zu Ausgaben verleiten, die schädliche persönliche und soziale Folgen haben können (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). 38      Was die Höhe dieser Mindestgeldstrafe angeht, ist es Sache des nationalen Gerichts, bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Sanktion das Verhältnis zwischen der Höhe der möglichen Geldstrafe und dem wirtschaftlichen Gewinn aus der begangenen Tat zu berücksichtigen, um die Verantwortlichen von der Begehung einer solchen Tat abzuschrecken. Es muss sich jedoch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vergewissern, dass der auf diese Weise festgesetzte Mindestbetrag nicht außer Verhältnis zu diesem Vorteil steht (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 39      Zu dem Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung keine Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen vorsieht, ist festzustellen, dass zwar die Festsetzung einer Mindestgeldstrafe in Verbindung mit der Kumulation von Geldstrafen ohne Höchstgrenze, wenn die Tat mehrere nicht bewilligte Glücksspielautomaten betrifft, zur Verhängung finanzieller Sanktionen in erheblicher Höhe führen kann (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 48). 40      Eine solche Maßnahme ermöglicht es jedoch u. a., dem durch die geahndeten Taten erzielbaren wirtschaftlichen Nutzen zu begegnen und so das illegale Angebot zunehmend unattraktiv zu machen, so dass sie als solche nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Es ist jedoch auch Sache des nationalen Gerichts, sich zu vergewissern, dass die Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen nicht außer Verhältnis zu diesem Vorteil steht (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 49). 41      Was als Zweites die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe betrifft, ist ebenfalls nicht ersichtlich, dass die Verhängung einer solchen Sanktion an sich im Hinblick auf Art und Schwere der in Rede stehenden Taten unverhältnismäßig wäre, da sie gewährleisten soll, dass diese Taten im Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe wirksam geahndet werden können (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 50). 42      Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Verhängung einer solchen Sanktion in jedem Einzelfall durch stichhaltige Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein muss, da diese angesichts der daraus resultierenden Folgen für die betroffene Person besonders schwerwiegend ist (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Ersatzfreiheitsstrafe bei Verwaltungsübertretungen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden pro Übertretung höchstens zwei Wochen betragen darf. 44      Insoweit ist festzustellen, dass – wenn jeder Glücksspielautomat oder Eingriffsgegenstand die Verhängung einer solchen Ersatzfreiheitsstrafe nach sich ziehen kann und die anwendbare Regelung keine Höchstgrenze der Gesamtdauer der zulässigen Ersatzfreiheitsstrafen vorsieht – die Kumulation solcher Sanktionen zur Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe von erheblicher Dauer führen kann, die möglicherweise nicht der Schwere der festgestellten Übertretungen entspricht, für die die geltende Regelung nur Geldstrafen vorsieht. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob dies im Hinblick auf die Dauer der tatsächlich verhängten Ersatzfreiheitsstrafe der Fall ist (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 53). 45      Was als Drittes die Vorschreibung eines Beitrags zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Gerichtsgebühren grundsätzlich zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Gerichtssystems beitragen, da sie eine Finanzierungsquelle für die gerichtliche Tätigkeit der Mitgliedstaaten darstellen. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Vorschreibung eines solchen Beitrags an sich gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46      Es ist indes Sache des vorlegenden Gerichts, sich zu vergewissern, dass ein solcher Beitrag zu den Kosten, da er auf der Grundlage eines Prozentsatzes der Höhe der verhängten Geldstrafe vorgeschrieben wird, bei der konkreten Festsetzung seiner Höhe und angesichts der fehlenden Höchstgrenze dieser Geldstrafe im Hinblick auf die tatsächlichen Kosten eines solchen Verfahrens weder überhöht ist noch das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf Zugang zu den Gerichten verletzt (Urteil vom 14. Oktober 2021, Landespolizeidirektion Steiermark [Glücksspielautomaten], C‑231/20, EU:C:2021:845, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die im Fall der unternehmerischen Zugänglichmachung verbotener Ausspielungen Folgendes zwingend vorsieht: –        die Festsetzung einer Mindestgeldstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen, sofern der Gesamtbetrag der verhängten Geldstrafen nicht außer Verhältnis zu dem durch die geahndeten Taten erzielbaren wirtschaftlichen Vorteil steht; –        die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtdauer der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen, sofern die Dauer der tatsächlich verhängten Ersatzfreiheitsstrafe im Hinblick auf die Schwere der festgestellten Taten nicht übermäßig lang ist, und –        einen Beitrag zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen, sofern dieser Beitrag im Hinblick auf die tatsächlichen Kosten eines solchen Verfahrens weder überhöht ist noch das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf Zugang zu den Gerichten verletzt. Zur dritten Frage 48      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten. Kosten 49      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt: 1.      Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, das mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer wegen Verstoßes gegen das Glücksspielmonopol verhängten Sanktion befasst ist, in einem Verfahren über die Verhängung von Sanktionen wegen eines solchen Verstoßes speziell prüfen muss, ob die in der anwendbaren Regelung vorgesehenen Sanktionen unter Berücksichtigung der konkreten Methoden für deren Bestimmung mit Art. 56 AEUV vereinbar sind. 2.      Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die im Fall der unternehmerischen Zugänglichmachung verbotener Ausspielungen Folgendes zwingend vorsieht: –        die Festsetzung einer Mindestgeldstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen, sofern der Gesamtbetrag der verhängten Geldstrafen nicht außer Verhältnis zu dem durch die geahndeten Taten erzielbaren wirtschaftlichen Vorteil steht; –        die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtdauer der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen, sofern die Dauer der tatsächlich verhängten Ersatzfreiheitsstrafe im Hinblick auf die Schwere der festgestellten Taten nicht übermäßig lang ist, und –        einen Beitrag zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen, sofern dieser Beitrag im Hinblick auf die tatsächlichen Kosten eines solchen Verfahrens weder überhöht ist noch das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht auf Zugang zu den Gerichten verletzt. Unterschriften *      Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 17. März 2022.#NP gegen Daimler AG, Mercedes-Benz Werk Berlin.#Vorabentscheidungsersuchen des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2008/104/EG – Leiharbeit – Art. 1 Abs. 1 – „Vorübergehende“ Überlassung – Begriff – Besetzung eines dauerhaften Arbeitsplatzes – Art. 5 Abs. 5 – Aufeinanderfolgende Überlassungen – Art. 10 – Sanktionen – Art. 11 – Abweichung von der vom nationalen Gesetzgeber festgelegten Höchstdauer durch die Sozialpartner.#Rechtssache C-232/20.
62020CJ0232
ECLI:EU:C:2022:196
2022-03-17T00:00:00
Tanchev, Gerichtshof
62020CJ0232 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 17. März 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2008/104/EG – Leiharbeit – Art. 1 Abs. 1 – „Vorübergehende“ Überlassung – Begriff – Besetzung eines dauerhaften Arbeitsplatzes – Art. 5 Abs. 5 – Aufeinanderfolgende Überlassungen – Art. 10 – Sanktionen – Art. 11 – Abweichung von der vom nationalen Gesetzgeber festgelegten Höchstdauer durch die Sozialpartner“ In der Rechtssache C‑232/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 13. Mai 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juni 2020, in dem Verfahren NP gegen Daimler AG, Mercedes-Benz Werk Berlin erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Arabadjiev in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin), sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin, Generalanwalt: E. Tanchev, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von NP, vertreten durch R. Buschmann und K. Jessolat, Beistände, – der Daimler AG, Mercedes-Benz Werk Berlin, vertreten durch Rechtsanwälte U. Baeck und M. Launer, – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte, – der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier und N. Vincent als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und C. Valero als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. September 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (ABl. 2008, L 327, S. 9), insbesondere ihres Art. 1 Abs. 1. 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NP und der Daimler AG, Mercedes-Benz Werk Berlin (im Folgenden: Daimler), über den Antrag von NP auf Feststellung des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses mit Daimler mit der Begründung, dass seine Überlassung als Leiharbeitnehmer an Daimler aufgrund ihrer Dauer nicht als „vorübergehend“ eingestuft werden könne. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Die Erwägungsgründe 12, 16, 17, 19 und 21 der Richtlinie 2008/104 lauten: „(12) Die vorliegende Richtlinie legt einen diskriminierungsfreien, transparenten und verhältnismäßigen Rahmen zum Schutz der Leiharbeitnehmer fest und wahrt gleichzeitig die Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen. … (16) Um der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen auf flexible Weise gerecht zu werden, können die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern gestatten, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festzulegen, sofern das Gesamtschutzniveau für Leiharbeitnehmer gewahrt bleibt. (17) Außerdem sollten die Mitgliedstaaten unter bestimmten, genau festgelegten Umständen auf der Grundlage einer zwischen den Sozialpartnern auf nationaler Ebene geschlossenen Vereinbarung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in beschränktem Maße abweichen dürfen, sofern ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet ist. … (19) Die vorliegende Richtlinie beeinträchtigt weder die Autonomie der Sozialpartner, noch sollte sie die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern beeinträchtigen, einschließlich des Rechts, Tarifverträge gemäß nationalem Recht und nationalen Gepflogenheiten bei gleichzeitiger Einhaltung des geltenden Gemeinschaftsrechts auszuhandeln und zu schließen. … (21) Die Mitgliedstaaten sollten für Verstöße gegen die Verpflichtungen aus dieser Richtlinie Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren zur Wahrung der Rechte der Leiharbeitnehmer sowie wirksame, abschreckende und verhältnismäßige Sanktionen vorsehen.“ 4 Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2008/104 bestimmt: „(1)   Diese Richtlinie gilt für Arbeitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten. (2)   Diese Richtlinie gilt für öffentliche und private Unternehmen, bei denen es sich um Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen handelt, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie Erwerbszwecke verfolgen oder nicht. (3)   Die Mitgliedstaaten können nach Anhörung der Sozialpartner vorsehen, dass diese Richtlinie nicht für Arbeitsverträge oder Beschäftigungsverhältnisse gilt, die im Rahmen eines spezifischen öffentlichen oder von öffentlichen Stellen geförderten beruflichen Ausbildungs‑, Eingliederungs- und Umschulungsprogramms geschlossen wurden.“ 5 In Art. 2 („Ziel“) der Richtlinie heißt es: „Ziel dieser Richtlinie ist es, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gemäß Artikel 5 gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber anerkannt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein angemessener Rahmen für den Einsatz von Leiharbeit festgelegt werden muss, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen.“ 6 Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 1 Buchst. b bis e dieser Richtlinie sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … b) ‚Leiharbeitnehmerunternehmen‘ eine natürliche oder juristische Person, die nach einzelstaatlichem Recht mit Leiharbeitnehmern Arbeitsverträge schließt oder Beschäftigungsverhältnisse eingeht, um sie entleihenden Unternehmen zu überlassen, damit sie dort unter deren Aufsicht und Leitung vorübergehend arbeiten; c) ‚Leiharbeitnehmer‘ einen Arbeitnehmer, der mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen hat oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen ist, um einem entleihenden Unternehmen überlassen zu werden und dort unter dessen Aufsicht und Leitung vorübergehend zu arbeiten; d) ‚entleihendes Unternehmen‘ eine natürliche oder juristische Person, in deren Auftrag und unter deren Aufsicht und Leitung ein Leiharbeitnehmer vorübergehend arbeitet; e) ‚Überlassung‘ den Zeitraum, während dessen der Leiharbeitnehmer dem entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt wird, um dort unter dessen Aufsicht und Leitung vorübergehend zu arbeiten“. 7 Art. 5 („Grundsatz der Gleichbehandlung“) Abs. 1, 3 und 5 der Richtlinie 2008/104 bestimmt: „(1)   Die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer entsprechen während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen, die für sie gelten würden, wenn sie von jenem genannten Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären. Bei der Anwendung von Unterabsatz 1 müssen die im entleihenden Unternehmen geltenden Regeln in Bezug auf a) den Schutz schwangerer und stillender Frauen und den Kinder- und Jugendschutz sowie b) die Gleichbehandlung von Männern und Frauen und sämtliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Rasse oder der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung so eingehalten werden, wie sie durch Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, Tarifverträge und/oder sonstige Bestimmungen allgemeiner Art festgelegt sind. … (3)   Die Mitgliedstaaten können nach Anhörung der Sozialpartner diesen die Möglichkeit einräumen, auf der geeigneten Ebene und nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern, welche von den in Absatz 1 aufgeführten Regelungen abweichen können, enthalten können. … (5)   Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten, um eine missbräuchliche Anwendung dieses Artikels zu verhindern und um insbesondere aufeinander folgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern. Sie unterrichten die Kommission über solche Maßnahmen.“ 8 Art. 9 („Mindestvorschriften“) dieser Richtlinie lautet: „(1)   Diese Richtlinie lässt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, für Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder den Abschluss von Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zuzulassen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind. (2)   Die Durchführung dieser Richtlinie ist unter keinen Umständen ein hinreichender Grund zur Rechtfertigung einer Senkung des allgemeinen Schutzniveaus für Arbeitnehmer in den von dieser Richtlinie abgedeckten Bereichen. Dies gilt unbeschadet der Rechte der Mitgliedstaaten und/oder der Sozialpartner, angesichts sich wandelnder Bedingungen andere Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder vertragliche Regelungen festzulegen als diejenigen, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Richtlinie gelten, sofern die Mindestvorschriften dieser Richtlinie eingehalten werden.“ 9 In Art. 10 („Sanktionen“) der Richtlinie heißt es: „(1)   Für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen oder durch entleihende Unternehmen sehen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen vor. Sie sorgen insbesondere dafür, dass es geeignete Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren gibt, um die Erfüllung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen durchsetzen zu können. (2)   Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die im Falle eines Verstoßes gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie Anwendung finden, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren Durchführung zu gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, angemessen und abschreckend sein. …“ 10 Art. 11 („Umsetzung“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten setzen die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft und veröffentlichen sie, um dieser Richtlinie bis spätestens zum 5. Dezember 2011 nachzukommen, oder sie vergewissern sich, dass die Sozialpartner die erforderlichen Vorschriften im Wege von Vereinbarungen festlegen; dabei sind die Mitgliedstaaten gehalten, die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit sie jederzeit gewährleisten können, dass die Ziele dieser Richtlinie erreicht werden. …“ Deutsches Recht 11 § 1 („Erlaubnispflicht“) Abs. 1 des Gesetzes zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung vom 3. Februar 1995 (BGBl. 1995 I, S. 158) in der vom 1. Dezember 2011 bis zum 31. März 2017 geltenden Fassung (im Folgenden: AÜG) bestimmte: „Arbeitgeber, die als Verleiher Dritten (Entleihern) Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zur Arbeitsleistung überlassen wollen, bedürfen der Erlaubnis. Die Überlassung von Arbeitnehmern an Entleiher erfolgt vorübergehend.“ 12 § 3 AÜG sah insoweit vor, dass die Erlaubnis oder ihre Verlängerung zu versagen ist, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Antragsteller die für die Ausübung der Tätigkeit nach § 1 erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitzt, insbesondere weil er die Vorschriften des Sozialversicherungsrechts, über die Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer, über die Arbeitsvermittlung, über die Anwerbung im Ausland oder über die Ausländerbeschäftigung, die Vorschriften des Arbeitsschutzrechts oder die arbeitsrechtlichen Pflichten nicht einhält. 13 Nach § 5 AÜG konnte die Erlaubnis mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, wenn die Erlaubnisbehörde aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, die Erlaubnis zu versagen. Die Erlaubnis wurde mit dem Wirksamwerden des Widerrufs unwirksam. 14 Nach § 9 AÜG waren Verträge zwischen Verleihern und Entleihern sowie zwischen Verleihern und Leiharbeitnehmern, wenn der Verleiher nicht die vom Gesetz verlangte Erlaubnis hatte, unwirksam. § 10 AÜG sah vor, dass in diesem Fall ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer als zustande gekommen gilt. 15 Das AÜG wurde durch das Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze vom 21. Februar 2017 (BGBl. 2017 I, S. 258, im Folgenden: AÜG in geänderter Fassung) geändert, das am 1. April 2017 in Kraft trat. 16 § 1 („Arbeitnehmerüberlassung, Erlaubnispflicht“) AÜG in geänderter Fassung sieht vor: „(1)   … Die Überlassung von Arbeitnehmern ist vorübergehend bis zu einer Überlassungshöchstdauer nach Absatz 1b zulässig. … (1b)   Der Verleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate demselben Entleiher überlassen; der Entleiher darf denselben Leiharbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander folgende Monate tätig werden lassen. Der Zeitraum vorheriger Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an denselben Entleiher ist vollständig anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als drei Monate liegen. In einem Tarifvertrag von Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche kann eine von Satz 1 abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden. … In einer auf Grund eines Tarifvertrages von Tarifvertragsparteien der Einsatzbranche getroffenen Betriebs- oder Dienstvereinbarung kann eine von Satz 1 abweichende Überlassungshöchstdauer festgelegt werden. …“ 17 § 9 Abs. 1 Nr. 1b AÜG in geänderter Fassung bestimmt: „Unwirksam sind: 1b. Arbeitsverträge zwischen Verleihern und Leiharbeitnehmern mit dem Überschreiten der zulässigen Überlassungshöchstdauer nach § 1 Absatz 1b, es sei denn, der Leiharbeitnehmer erklärt schriftlich bis zum Ablauf eines Monats nach Überschreiten der zulässigen Überlassungshöchstdauer gegenüber dem Verleiher oder dem Entleiher, dass er an dem Arbeitsvertrag mit dem Verleiher festhält, …“ 18 § 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG in geänderter Fassung bestimmt: „Ist der Vertrag zwischen einem Verleiher und einem Leiharbeitnehmer nach § 9 unwirksam, so gilt ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer zu dem zwischen dem Entleiher und dem Verleiher für den Beginn der Tätigkeit vorgesehenen Zeitpunkt als zustande gekommen; tritt die Unwirksamkeit erst nach Aufnahme der Tätigkeit beim Entleiher ein, so gilt das Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer mit dem Eintritt der Unwirksamkeit als zustande gekommen. …“ 19 § 19 Abs. 2 AÜG in geänderter Fassung enthält eine Übergangsbestimmung, in der es heißt: „Überlassungszeiten vor dem 1. April 2017 werden bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer nach § 1 Absatz 1b … nicht berücksichtigt.“ 20 Der Tarifvertrag vom 23. Mai 2012 zur Leih-/Zeitarbeit in der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg und der ihm nachfolgende Tarifvertrag vom 1. Juni 2017 sehen u. a. vor, dass ein vorübergehender Einsatz von Leiharbeitnehmern zulässig ist. Der Tarifvertrag vom 1. Juni 2017 nimmt darüber hinaus ausdrücklich auf die Öffnungsklausel in § 1 Abs. 1b AÜG in geänderter Fassung Bezug. Die Tarifvertragsparteien stimmen ferner darin überein, dass die Höchstdauer eines Einsatzes nach diesem Tarifvertrag 48 Monate nicht überschreiten darf. Ziffer 8 des Tarifvertrags enthält eine Übergangsregelung. Danach sollen die Betriebsparteien eine Überlassungshöchstdauer vereinbaren. Sofern keine Einigung erzielt wird, gilt eine Überlassungshöchstdauer von 36 Monaten ab dem 1. Juni 2017. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 21 NP war seit dem 1. September 2014 bei einem Leiharbeitsunternehmen beschäftigt. Von diesem Zeitpunkt an bis zum 31. Mai 2019 wurde er – mit Ausnahme eines zweimonatigen Elternurlaubs – ausschließlich Daimler als entleihendem Unternehmen zur Verfügung gestellt, wo er ständig in der Motorenfertigung arbeitete. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts diente die in Rede stehende Beschäftigung nicht der Vertretung eines Arbeitnehmers. 22 Am 27. Juni 2019 erhob NP beim Arbeitsgericht Berlin (Deutschland) eine Klage, mit der er die Feststellung begehrte, dass zwischen Daimler und ihm seit dem 1. September 2015, hilfsweise seit dem 1. März 2016, weiter hilfsweise seit dem 1. November 2016, weiter hilfsweise seit dem 1. Oktober 2018 und äußerst hilfsweise seit dem 1. Mai 2019 ein Arbeitsverhältnis besteht. Hierzu machte er u. a. geltend, dass die Überlassung an Daimler wegen ihrer mehr als einjährigen Dauer nicht als „vorübergehend“ eingestuft werden könne und dass die Übergangsbestimmung des § 19 Abs. 2 AÜG in geänderter Fassung gegen Unionsrecht verstoße. Mit Urteil vom 8. Oktober 2019 wies das Arbeitsgericht Berlin die Klage ab. 23 Am 22. November 2019 legte NP gegen dieses Urteil Berufung beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) ein. 24 Das vorlegende Gericht führt aus, das nationale Recht, mit dem die Richtlinie 2008/104 umgesetzt werde, habe zwar von Anfang an vorgesehen, dass die Überlassung von Arbeitnehmern nur „vorübergehend“ erfolgen könne, doch sei eine maximale Überlassungsdauer erst ab dem 1. April 2017 in das nationale Recht eingeführt worden, die auf 18 Monate festgelegt worden sei. Hiervon könne im Rahmen von Tarifverträgen von Tarifvertragsparteien der betreffenden Branche oder im Rahmen einer aufgrund eines solchen Tarifvertrags getroffenen Betriebs- oder Dienstvereinbarung abgewichen werden. Ebenfalls seit diesem Zeitpunkt sehe die geltende Regelung als Sanktion für den Fall der Überschreitung der maximalen Überlassungsdauer vor, dass ein Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer als zu Beginn der vorgesehenen Tätigkeit zustande gekommen gelte. 25 Darüber hinaus enthalte die in der vorstehenden Randnummer angesprochene Gesetzesänderung eine Übergangsvorschrift, nach der bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer nur die nach dem 1. April 2017 zurückgelegten Arbeitszeiten berücksichtigt würden. Außerdem sähen der in Rn. 20 des vorliegenden Urteils genannte Tarifvertrag vom 1. Juni 2017 sowie eine Gesamtbetriebsvereinbarung vom 20. September 2017, die für Daimler gelte, eine maximal zulässige Überlassungsdauer von 36 Monaten vor, die ab dem 1. Juni 2017 bzw. dem 1. April 2017 berechnet werde. Daraus folge, dass bei einem Arbeitnehmer wie NP die Dauer seiner Überlassung bei Daimler nach der geltenden Regelung nicht so angesehen werde, als habe sie die in dieser Regelung vorgesehene Höchstdauer überschritten, obwohl sich diese Überlassung über einen Zeitraum von fast fünf Jahren erstreckt habe. 26 Vor diesem Hintergrund weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Klage von NP, soweit sie auf die Feststellung gerichtet sei, dass ein Arbeitsverhältnis mit Daimler vor dem 1. Oktober 2018 bestanden habe, nur dann in vollem Umfang Erfolg haben könne, wenn das Unionsrecht dies gebiete. 27 Unter diesen Umständen hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen schon dann nicht mehr als „vorübergehend“ im Sinne des Art. 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen, wenn die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird? 2. Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers unterhalb einer Zeitspanne von 55 Monaten als nicht mehr „vorübergehend“ im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2008/104 anzusehen? Wenn die erste oder die zweite Vorlagefrage bejaht wird: 3. Besteht für den Leiharbeitnehmer ein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen, auch wenn das nationale Recht eine solche Sanktion vor dem 1. April 2017 nicht vorsieht? 4. Verstößt eine nationale Regelung wie § 19 Abs. 2 AÜG dann gegen Art. 1 der Richtlinie 2008/104, wenn sie erstmals ab dem 1. April 2017 eine individuelle Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten vorschreibt, vorangegangene Zeiten der Überlassung aber ausdrücklich unberücksichtigt lässt, wenn bei Berücksichtigung der vorangegangenen Zeiten die Überlassung als nicht mehr vorübergehend zu qualifizieren wäre? 5. Kann die Ausdehnung der individuellen Überlassungshöchstdauer den Tarifvertragsparteien überlassen werden? Falls dies bejaht wird: Gilt dies auch für Tarifvertragsparteien, die nicht für das Arbeitsverhältnis des betroffenen Leiharbeitnehmers, sondern für die Branche des entleihenden Unternehmens zuständig sind? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 28 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „vorübergehend“ der Überlassung eines Arbeitnehmers, der einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsverhältnis mit einem Leiharbeitsunternehmen hat, an ein entleihendes Unternehmen entgegensteht, die zur Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird. 29 Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2010, Pontini u. a., C‑375/08, EU:C:2010:365, Rn. 58, und vom 29. Juli 2019, Pelham u. a., C‑476/17, EU:C:2019:624, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Als Erstes geht aus dem Wortlaut von Art. 1 der Richtlinie 2008/104, der deren Anwendungsbereich definiert, hervor, dass diese Richtlinie nach ihrem Art. 1 Abs. 1 für Arbeitnehmer gilt, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten. 31 Schon dem Wortlaut dieser Bestimmung ist somit zu entnehmen, dass der Begriff „vorübergehend“ nicht darauf abzielt, den Einsatz von Leiharbeit auf Arbeitsplätze zu beschränken, die nicht dauerhaft vorhanden sind oder die vertretungsweise besetzt werden, da dieser Begriff nicht den Arbeitsplatz kennzeichnet, der im entleihenden Unternehmen zu besetzen ist, sondern die Modalitäten der Überlassung eines Arbeitnehmers an dieses Unternehmen. 32 Als Zweites wird diese Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 anhand des Wortlauts durch den Kontext, in den sich diese Bestimmung einfügt, und insbesondere durch die Systematik dieser Richtlinie bestätigt. 33 Erstens betrifft nämlich keine Bestimmung der Richtlinie 2008/104 die Art der Arbeit oder die Art der Stelle, die im entleihenden Unternehmen besetzt werden soll. Ferner zählt diese Richtlinie auch nicht die Fälle auf, die den Einsatz dieser Arbeitsform rechtfertigen, da die Mitgliedstaaten, wie der Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bei der Festlegung der Situationen, die einen Einsatz von Leiharbeit rechtfertigen, einen bedeutenden Wertungsspielraum behalten. Insoweit sieht die Richtlinie 2008/104 – wie sich aus ihrem Art. 9 Abs. 2 ergibt – lediglich die Einführung von Mindestanforderungen vor (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 41). 34 Zweitens wird der Begriff „vorübergehend“ auch in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b bis e der Richtlinie 2008/104 verwendet, in dem die Begriffe „Leiharbeitsunternehmen“, „Leiharbeitnehmer“, „entleihendes Unternehmen“ und „Überlassung“ definiert werden. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, geht aus diesen Definitionen hervor, dass das Arbeitsverhältnis mit einem entleihenden Unternehmen seiner Natur nach vorübergehend ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 61). 35 Drittens hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass Art. 5 Abs. 5 Satz 1 dieser Richtlinie, der vorsieht, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten ergreifen, um eine missbräuchliche Anwendung dieses Artikels zu verhindern und um insbesondere aufeinanderfolgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen dieser Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern, die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, den Einsatz von befristeter Arbeitnehmerüberlassung von der Angabe der technischen oder mit der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung eines Arbeitnehmers zusammenhängenden Gründe abhängig zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 42). 36 Daraus folgt, wie die Kommission im Wesentlichen geltend macht, dass der Unionsgesetzgeber nicht die Absicht hatte, den Einsatz von Leiharbeit zu beschränken, indem er dem Leiharbeitnehmer nur die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz mit vorübergehendem Charakter gestattete. 37 Als Drittes wird eine solche Auslegung nicht durch die mit der Richtlinie 2008/104 verfolgten Ziele, wie sie in deren zwölftem Erwägungsgrund und Art. 2 genannt werden, widerlegt, nämlich einen diskriminierungsfreien, transparenten und verhältnismäßigen Rahmen zum Schutz der Leiharbeitnehmer bei gleichzeitiger Wahrung der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen festzulegen und die Entwicklung flexibler Arbeitsformen, die Schaffung von Arbeitsplätzen und den Schutz von Leiharbeitnehmern zu fördern, da, wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge im Wesentlichen festgestellt hat, die Verfolgung dieser Ziele es nicht erfordert, dass Leiharbeitnehmer nicht für den Einsatz auf dauerhaften und nicht vertretungsweise besetzten Arbeitsplätzen eingestellt werden dürfen. Im Gegenteil stützt der Umstand, dass die Richtlinie 2008/104, wie der Gerichtshof festgestellt hat, auch darauf abzielt, den Zugang der Leiharbeitnehmer zu unbefristeter Beschäftigung bei dem entleihenden Unternehmen zu fördern (Urteil vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 51), die Auslegung, dass ein befristet beschäftigter Arbeitnehmer einem entleihenden Unternehmen zur vorübergehenden Besetzung eines dauerhaft vorhandenen Arbeitsplatzes überlassen werden kann, den er später dauerhaft besetzen könnte. 38 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „vorübergehend“ der Überlassung eines Arbeitnehmers, der einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsverhältnis mit einem Leiharbeitsunternehmen hat, an ein entleihendes Unternehmen, die zur Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird, nicht entgegensteht. Zur zweiten Frage Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 39 Daimler bestreitet die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der zweiten Frage, da mit dieser Frage erreicht werden solle, dass der Gerichtshof die Überlassung des Arbeitnehmers, um den es im Ausgangsverfahren gehe, in tatsächlicher Hinsicht würdige. 40 Hierzu genügt die Feststellung, dass die zweite Frage nicht die Feststellung oder Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits betrifft, sondern die rechtliche Einordnung der Dauer der Überlassung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leiharbeitnehmers im Hinblick auf die u. a. in Art. 1 der Richtlinie 2008/104 gestellte Anforderung, dass eine solche Überlassung „vorübergehend“ bleiben muss. Die unionsrechtliche Einstufung der vom vorlegenden Gericht festgestellten Tatsachen setzt jedoch eine Auslegung des Unionsrechts voraus, für die der Gerichtshof im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Asociación Profesional Elite Taxi, C‑434/15, EU:C:2017:981, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Daher ist der Gerichtshof für die Beantwortung der zweiten Frage zuständig. Zur Zulässigkeit 42 Daimler hält die zweite Frage jedenfalls für unzulässig, weil sie für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich sei. 43 Insoweit genügt der Hinweis, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteil vom 25. November 2021, job-medium, C‑233/20, EU:C:2021:960, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 25. November 2021, job-medium, C‑233/20, EU:C:2021:960, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung). 45 Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht, wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils ausgeführt, mit seiner zweiten Frage wissen, wie die Dauer der Überlassung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leiharbeitnehmers im Hinblick auf die u. a. in Art. 1 der Richtlinie 2008/104 vorgesehene Anforderung, dass eine solche Überlassung „vorübergehend“ sein muss, rechtlich zu qualifizieren ist. Denn die Klage von NP könne, soweit er die Feststellung begehre, dass vor dem 1. Oktober 2018 ein Arbeitsverhältnis mit Daimler bestanden habe, nur dann vollen Erfolg haben, wenn das Unionsrecht dies gebiete (siehe Rn. 26 des vorliegenden Urteils). 46 Somit ist festzustellen, dass die zweite Frage die Auslegung des Unionsrechts betrifft und dass die Antwort auf diese Frage für die Entscheidung des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits erheblich ist. 47 Diese Frage ist daher zulässig. Zur Sache 48 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es ist nämlich Aufgabe des Gerichtshofs, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Verfahren zu entscheiden, auch wenn die Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (Urteil vom 21. Juni 2016, New Valmar, C‑15/15, EU:C:2016:464, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Auch wenn das vorlegende Gericht seine zweite Frage formal auf die Auslegung von Art. 1 der Richtlinie 2008/104 beschränkt hat, hindert dies demnach den Gerichtshof nicht daran, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm für die Beurteilung der bei ihm anhängigen Sache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 21. Juni 2016, New Valmar, C‑15/15, EU:C:2016:464, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Im vorliegenden Fall ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof mit seiner zweiten Frage zwar um Auslegung von Art. 1 der Richtlinie 2008/104 und insbesondere des in dessen Abs. 1 verwendeten Begriffs „vorübergehend“, doch geht aus der Begründung der Vorlageentscheidung hervor, dass es mit dieser Frage nicht wissen möchte, ob die Überlassung des betreffenden Leiharbeitnehmers in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, sondern vielmehr, ob diese Überlassung noch als „vorübergehend“ im Sinne dieser Richtlinie angesehen werden kann, oder ob sie im Gegenteil aufgrund der aufeinanderfolgenden Verlängerungen des Einsatzes dieses Arbeitnehmers, die sich zu einer Überlassungsdauer von 55 Monaten summieren, missbräuchlich ist, wobei das vorlegende Gericht hervorhebt, dass NP vor ihm eine solche Missbräuchlichkeit geltend gemacht habe. 51 Somit soll mit dieser Frage im Wesentlichen geklärt werden, ob unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden solche Verlängerungen einen missbräuchlichen Einsatz aufeinander folgender Überlassungen eines Leiharbeitnehmers im Sinne von Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 darstellen können. 52 Unter diesen Umständen ist die zweite Frage umzuformulieren und festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit ihr im Kern wissen möchte, ob Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen sind, dass es einen missbräuchlichen Einsatz aufeinander folgender Überlassungen eines Leiharbeitnehmers darstellt, wenn solche Überlassungen auf demselben Arbeitsplatz bei einem entleihenden Unternehmen für eine Dauer von 55 Monaten verlängert werden. 53 Zunächst ist festzustellen, dass die Richtlinie 2008/104 nicht speziell darauf abzielt, die Dauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen festzulegen, bei deren Überschreitung eine solche Überlassung nicht mehr als „vorübergehend“ eingestuft werden kann. Denn weder Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104, der, wie in Rn. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, darauf Bezug nimmt, dass Arbeitnehmer entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um „vorübergehend“ zu arbeiten, noch irgendeine andere Bestimmung dieser Richtlinie legt eine Dauer fest, bei deren Überschreitung eine Überlassung nicht mehr als „vorübergehend“ eingestuft werden kann. Ebenso wenig werden die Mitgliedstaaten durch eine Bestimmung dieser Richtlinie verpflichtet, im nationalen Recht eine solche Dauer vorzusehen. 54 Außerdem verpflichtet Art. 5 Abs. 5 Satz 1 der Richtlinie 2008/104, der u. a. vorsieht, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um aufeinanderfolgende Überlassungen zur Umgehung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu verhindern, diese Staaten nicht dazu, die Zahl der aufeinanderfolgenden Überlassungen desselben Arbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen zu begrenzen, ebenso wenig wie er eine spezifische Maßnahme vorsieht, die die Mitgliedstaaten zu diesem Zweck treffen müssten, auch nicht zu Verhinderung von Missbräuchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 42 und 44). 55 Daraus folgt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichten, eine bestimmte Regelung in diesem Bereich zu erlassen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. März 2015, AKT, C‑533/13, EU:C:2015:173, Rn. 31). 56 Gleichwohl allerdings erlegt Art. 5 Abs. 5 Satz 1 der Richtlinie 2008/104, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um aufeinanderfolgende Überlassungen eines Leiharbeitnehmers zu verhindern, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 insgesamt umgangen werden sollen. Insbesondere müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Leiharbeit bei demselben entleihenden Unternehmen nicht zu einer Dauersituation für einen Leiharbeitnehmer wird (Urteil vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 55 und 60). 57 Insoweit steht es den Mitgliedstaaten frei, im nationalen Recht eine bestimmte Dauer festzulegen, bei deren Überschreitung eine Überlassung insbesondere dann nicht mehr als vorübergehend angesehen werden kann, wenn sich die aufeinanderfolgenden Verlängerungen der Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen über einen längeren Zeitraum erstrecken. Dabei muss eine solche Dauer nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 notwendigerweise vorübergehend, d. h. nach der Bedeutung dieses Begriffs im allgemeinen Sprachgebrauch zeitlich begrenzt sein. 58 Falls in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats diese Dauer nicht genannt wird, ist es Sache der nationalen Gerichte, diese Dauer für jeden Einzelfall und unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählen, zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2008, Andersen, C‑306/07, EU:C:2008:743, Rn. 52) und sich zu vergewissern, wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge im Wesentlichen festgestellt hat, dass die aufeinanderfolgenden Überlassungen eines Leiharbeitnehmers nicht darauf ausgelegt waren, die Ziele der Richtlinie 2008/104, insbesondere die vorübergehende Natur der Leiharbeit, zu umgehen. 59 Dabei kann das vorlegende Gericht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs folgende Erwägungen berücksichtigen. 60 Führen aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen zu einer Beschäftigungsdauer bei diesem Unternehmen, die länger ist, als das, was unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählen, vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, könnte dies ein Hinweis auf einen missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen im Sinne von Art. 5 Abs. 5 Satz 1 der Richtlinie 2008/104 sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 69). 61 Ebenso umgehen aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen den Wesensgehalt der Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 und kommen einem Missbrauch dieser Form des Beschäftigungsverhältnisses gleich, da sie den Ausgleich, den diese Richtlinie zwischen der Flexibilität für die Arbeitgeber und der Sicherheit für die Arbeitnehmer herstellt, beeinträchtigen, indem sie Letztere unterminieren (Urteil vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 70). 62 Schließlich hat das nationale Gericht, wenn in einem konkreten Fall keine objektive Erklärung dafür gegeben wird, dass das betreffende entleihende Unternehmen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge zurückgreift, vor dem Hintergrund des nationalen Rechtsrahmens und unter Berücksichtigung der Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen, ob eine der Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 umgangen wird, und dies erst recht, wenn es derselbe Leiharbeitnehmer ist, der dem entleihenden Unternehmen durch die fragliche Reihe von Verträgen überlassen wird (Urteil vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 71). 63 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen sind, dass es einen missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen eines Leiharbeitnehmers darstellt, wenn diese Überlassungen auf demselben Arbeitsplatz bei einem entleihenden Unternehmen für eine Dauer von 55 Monaten verlängert werden, falls die aufeinanderfolgenden Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen zu einer Beschäftigungsdauer bei diesem Unternehmen führen, die länger ist als das, was unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählen, und im Kontext des nationalen Regelungsrahmens vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, ohne dass eine objektive Erklärung dafür gegeben wird, dass das betreffende entleihende Unternehmen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge zurückgreift. Diese Feststellungen zu treffen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. Zur vierten Frage 64 Vorab ist festzustellen, dass die vierte Frage, die als Drittes zu prüfen ist, vom vorlegenden Gericht im Hinblick auf den von ihm dargelegten Umstand gestellt wird, dass, obwohl die nationale Regelung ab dem 1. Dezember 2011 vorsah, dass die Überlassung des Arbeitnehmers an das entleihende Unternehmen vorübergehenden Charakter haben musste, der deutsche Gesetzgeber erst durch eine Änderung dieser Regelung, die am 1. April 2017 in Kraft trat, d. h. mehr als sechs Jahre nach dem Zeitpunkt, zu dem die Richtlinie 2008/104 umzusetzen war, vorgesehen hat, dass, vorbehaltlich von Abweichungen, die in Tarifverträgen zwischen den Sozialpartnern der Entleiherbranche und in auf der Grundlage dieser Tarifverträge geschlossenen Betriebs- oder Dienstvereinbarungen vorgesehen werden können, die Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers auf 18 Monate festzulegen ist, wobei er in einer Übergangsvorschrift bestimmt hat, dass bei der Berechnung dieser Höchstdauer nur die Überlassungszeiten nach dem 1. April 2017 zu berücksichtigen sind. 65 Das vorlegende Gericht fragt sich nicht nur, ob die Richtlinie 2008/104 einer solchen Regelung entgegensteht, soweit diese Regelung die Berücksichtigung von vor ihrem Inkrafttreten liegenden Zeiträumen ausschließt, obwohl eine solche Berücksichtigung dazu führen könnte, dass eine Überlassung nicht mehr „vorübergehend“ wäre, sondern auch, ob es verpflichtet ist, die in Rede stehende Übergangsvorschrift ganz oder teilweise unangewendet zu lassen. 66 Somit möchte das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Höchstdauer der Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen festlegt, zugleich aber durch eine Übergangsvorschrift die Berücksichtigung von vor dem Inkrafttreten dieser Regelung liegenden Zeiträumen bei der Berechnung dieser Dauer ausschließt. Bejahendenfalls möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es, wenn es mit einem Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen befasst ist, verpflichtet ist, eine solche Übergangsvorschrift unangewendet zu lassen. 67 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, gibt Art. 5 Abs. 5 Satz 1 der Richtlinie 2008/104 den Mitgliedstaaten in klaren, genauen und nicht an Bedingungen geknüpften Worten auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Missbräuche zu verhindern, die darin bestehen, Überlassungen von Leiharbeitnehmern mit dem Ziel aufeinander folgen zu lassen, die Bestimmungen dieser Richtlinie zu umgehen. Folglich ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehrt, keine Maßnahmen zu ergreifen, um den vorübergehenden Charakter der Leiharbeit zu wahren (Urteil vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 63). 68 In Rn. 53 des vorliegenden Urteils ist darauf hingewiesen worden, dass keine Bestimmung der Richtlinie 2008/104 die Mitgliedstaaten verpflichtet, im nationalen Recht eine Dauer vorzusehen, bei deren Überschreitung eine Überlassung nicht mehr als „vorübergehend“ eingestuft werden kann. 69 Vielmehr steht es den Mitgliedstaaten frei, zum einen im nationalen Recht eine Höchstdauer für die Überlassung einzuführen, bei deren Überschreitung davon ausgegangen wird, dass die Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen keinen vorübergehenden Charakter mehr hat, und zum anderen, Übergangsvorschriften zu diesem Zweck vorzusehen. 70 Aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 ergibt sich nämlich, dass diese Richtlinie das Recht der Mitgliedstaaten unberührt lässt, für Arbeitnehmer günstigere Rechtsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen, zu denen eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gehört, die eine Höchstdauer festlegt, bei deren Überschreitung davon ausgegangen wird, dass die Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen nicht mehr vorübergehend ist. 71 Dabei dürfen die Mitgliedstaaten jedoch nicht gegen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 verstoßen. So darf zum einen ein Mitgliedstaat bei der Festlegung einer Höchstdauer für die Überlassung eines vorübergehend beschäftigten Arbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen diese Dauer nicht so festlegen, dass sie über den vorübergehenden Charakter einer solchen Überlassung hinausgeht, oder aufeinanderfolgende Überlassungen eines Leiharbeitnehmers in einer Weise ermöglicht, die die Bestimmungen dieser Richtlinie gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 5 Satz 1 umgeht. Zum anderen ist, wie sich aus Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2008/104 ergibt, die Durchführung dieser Richtlinie unter keinen Umständen ein hinreichender Grund zur Rechtfertigung einer Senkung des allgemeinen Schutzniveaus für Arbeitnehmer in den von dieser Richtlinie abgedeckten Bereichen. 72 Da die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 verpflichtet waren, diesen Bestimmungen bis spätestens zum 5. Dezember 2011 nachzukommen, ist davon auszugehen, dass sie ab diesem Zeitpunkt verpflichtet waren, sicherzustellen, dass die Überlassung von Leiharbeitnehmern eine Dauer nicht überschreitet, die als „vorübergehend“ eingestuft werden kann. 73 Im vorliegenden Fall darf jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 62 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, eine Übergangsvorschrift wie die in Rn. 19 des vorliegenden Urteils angesprochene nicht dazu führen, dass dem Schutz, der einem Leiharbeitnehmer, der aufgrund der Dauer seiner Überlassung an ein entleihendes Unternehmen insgesamt nicht mehr nur „vorübergehend“ zur Verfügung gestellt worden wäre, durch die Richtlinie 2008/104 gewährt wird, die praktische Wirksamkeit genommen wird. 74 Demnach ist die Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, die eine Höchstdauer der Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen festlegt, dann entgegensteht, wenn diese Regelung dem Schutz, der einem Leiharbeitnehmer, der aufgrund der Dauer seiner Überlassung an ein entleihendes Unternehmen insgesamt nicht mehr nur „vorübergehend“ zur Verfügung gestellt worden wäre, durch die Richtlinie 2008/104 gewährt wird, die praktische Wirksamkeit nehmen würde. Die Prüfung, ob dies tatsächlich der Fall ist, ist Sache des nationalen Gerichts. 75 Bejahendenfalls möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es, wenn es mit einem Rechtsstreit befasst ist, in dem sich nur Privatpersonen gegenüberstehen, verpflichtet ist, eine Übergangsvorschrift wie die in Rn. 19 des vorliegenden Urteils angesprochene unangewendet zu lassen. 76 Hierzu hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen anhängig ist, bei der Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung der in einer Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen erlassen worden sind, das gesamte nationale Recht berücksichtigen und es so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auslegen muss, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar ist (Urteile vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale, C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 4. Juni 2015, Faber, C‑497/13, EU:C:2015:357, Rn. 33). 77 Dieser Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts unterliegt jedoch bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale, C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 39, vom 13. Dezember 2018, Hein, C‑385/17, EU:C:2018:1018, Rn. 51, und vom 14. Oktober 2020, KG [Aufeinanderfolgende Überlassungen im Rahmen von Leiharbeit], C‑681/18, EU:C:2020:823, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). 78 Im vorliegenden Fall ist es, wie der Generalanwalt in den Nrn. 63 und 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Sache des vorlegenden Gerichts, zu entscheiden, ob die in Rn. 19 des vorliegenden Urteils angesprochene Übergangsvorschrift unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts so ausgelegt werden kann, dass sie im Einklang mit den Anforderungen der Richtlinie 2008/104 steht, und mithin so, dass sie dem Kläger des Ausgangsverfahrens nicht das Recht nimmt, sich auf die Gesamtdauer seiner Überlassung an das entleihende Unternehmen zu berufen, um gegebenenfalls eine Überwindung des vorübergehenden Charakters dieser Überlassung festzustellen. 79 Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verlangt, dass das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, dann, wenn es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen dieses Rechts entsprechend auslegen kann, für die volle Wirksamkeit der Bestimmungen des Unionsrechts Sorge zu tragen hat, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 18. Januar 2022, Thelen Technopark Berlin, C‑261/20, EU:C:2022:33, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). 80 Allerdings sind auch die anderen wesentlichen Merkmale des Unionsrechts, insbesondere die Natur und die Rechtswirkungen der Richtlinien, zu berücksichtigen (Urteil vom 18. Januar 2022, Thelen Technopark Berlin, C‑261/20, EU:C:2022:33, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 81 So kann eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche vor dem nationalen Gericht nicht möglich ist. Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV besteht nämlich die Verbindlichkeit einer Richtlinie, aufgrund deren eine Berufung auf sie möglich ist, nur in Bezug auf „jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird“. Die Union ist nur dort befugt, mit unmittelbarer Wirkung allgemein und abstrakt Verpflichtungen zulasten der Einzelnen anzuordnen, wo ihr die Befugnis zum Erlass von Verordnungen zugewiesen ist. Daher gestattet eine Bestimmung einer Richtlinie, selbst wenn sie klar, genau und unbedingt ist, es dem nationalen Gericht nicht, eine dieser Bestimmung entgegenstehende Bestimmung seines innerstaatlichen Rechts auszuschließen, wenn aufgrund dessen einer Privatperson eine zusätzliche Verpflichtung auferlegt würde (Urteil vom 18. Januar 2022, Thelen Technopark Berlin, C‑261/20, EU:C:2022:33, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). 82 Daraus folgt, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen anhängig ist, nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet ist, eine unionsrechtswidrige Übergangsvorschrift unangewendet zu lassen, die für die Anwendung einer Regelung, die eine Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers festlegt, die Berücksichtigung der dem Inkrafttreten dieser Regelung vorausgegangenen Überlassungszeiträume ausschließt. 83 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Höchstdauer der Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen festlegt, wenn sie durch eine Übergangsvorschrift die Berücksichtigung von vor dem Inkrafttreten dieser Regelung liegenden Zeiträumen bei der Berechnung dieser Dauer ausschließt und dem nationalen Gericht die Möglichkeit nimmt, die tatsächliche Dauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers zu berücksichtigen, um festzustellen, ob diese Überlassung im Sinne der Richtlinie „vorübergehend“ war; dies festzustellen ist Sache dieses Gerichts. Ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen anhängig ist, ist nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine solche unionsrechtswidrige Übergangsvorschrift unangewendet zu lassen. Zur dritten Frage Zur Zulässigkeit 84 Daimler hält die dritte Frage für unzulässig, da der Zusammenhang mit dem Unionsrecht nicht nachgewiesen sei. 85 Insoweit genügt die Feststellung, dass diese Frage speziell den Punkt betrifft, ob ein Leiharbeitnehmer unmittelbar aus dem Unionsrecht einen Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit einem entleihenden Unternehmen ableiten kann, falls im nationalen Recht keine Sanktion für den Fall der Nichteinhaltung der Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 vorgesehen ist. Der Zusammenhang mit dem Unionsrecht ist somit hinreichend dargetan. 86 Folglich ist die dritte Frage zulässig. Zur Sache 87 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass in Ermangelung einer nationalen Rechtsvorschrift, die eine Sanktion für die Nichteinhaltung dieser Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen vorsieht, der Leiharbeitnehmer aus dem Unionsrecht ein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen ableiten kann. 88 Das vorlegende Gericht stellt diese Frage, weil der deutsche Gesetzgeber bis zum 31. März 2017 keine Sanktion für den Fall vorgesehen habe, dass die Überlassung eines Leiharbeitnehmers nicht mehr als vorübergehend angesehen werden kann. 89 Es weist aber darauf hin, dass nach dem anwendbaren nationalen Recht ein Arbeitsverhältnis mit dem entleihenden Unternehmen zustande komme, wenn das Leiharbeitsunternehmen nicht die erforderliche Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung besitze, und fragt sich, ob dann nicht wegen der praktischen Wirksamkeit von Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 die gleiche Sanktion greifen müsse, wenn die Überlassung nicht mehr vorübergehend sei. 90 Zunächst ist festzustellen, dass die Prämisse, auf die sich das vorlegende Gericht stützt, wonach in Deutschland keine Sanktion für den Fall vorgesehen gewesen sei, dass die Überlassung eines Leiharbeitnehmers nicht mehr als vorübergehend angesehen werden könne, von der deutschen Regierung bestritten wird, die darauf hinweist, dass die Überlassungen von Leiharbeitnehmern, die keinen vorübergehenden Charakter hätten, bereits vor dem 1. April 2017 durch einen Entzug der für die Arbeitnehmerüberlassung durch Leiharbeitsunternehmen erforderlichen Erlaubnis sanktioniert worden sei. 91 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV die Aufgaben des Gerichtshofs und die des vorlegenden Gerichts klar getrennt sind und es ausschließlich Sache des vorlegenden Gerichts ist, das nationale Recht auszulegen (Urteil vom 14. November 2019, Spedidam, C‑484/18, EU:C:2019:970, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 92 Es ist also nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens über die Auslegung nationaler Vorschriften zu befinden. Der Gerichtshof hat im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die Vorlagefragen einfügen, von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen (Urteil vom 14. November 2019, Spedidam, C‑484/18, EU:C:2019:970, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 93 Nach Art. 288 Abs. 3 AEUV ist die Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. 94 Zwar belässt diese Bestimmung den Mitgliedstaaten die Freiheit bei der Wahl der Mittel und Wege zur Umsetzung der Richtlinie, doch lässt diese Freiheit die Verpflichtung der einzelnen Mitgliedstaaten unberührt, im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die vollständige Wirksamkeit der Richtlinie entsprechend ihrer Zielsetzung zu gewährleisten (Urteil vom 10. April 1984, von Colson und Kamann, 14/83, EU:C:1984:153, Rn. 15). 95 Im vorliegenden Fall verpflichtet Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 die Mitgliedstaaten, für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen geeignete Maßnahmen vorzusehen. Insbesondere müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass es geeignete Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren gibt, um die Erfüllung der sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen durchsetzen zu können. Nach Art. 10 Abs. 2 dieser Verordnung legen die Mitgliedstaaten die Sanktionen fest, die im Falle eines Verstoßes gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2008/104 Anwendung finden, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren Durchführung zu gewährleisten; diese Sanktionen müssen wirksam, angemessen und abschreckend sein, worauf auch im 21. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hingewiesen wird. 96 Wie aus dem Wortlaut von Art. 10 der Richtlinie 2008/104 eindeutig hervorgeht, enthält diese Bestimmung keine genauen Regeln für die Festlegung der dort genannten Sanktionen, sondern überlässt es den Mitgliedstaaten, unter den Sanktionen diejenigen auszuwählen, die zur Erreichung des Ziels der Richtlinie geeignet sind. 97 Daraus folgt, dass ein Leiharbeitnehmer, dessen Überlassung an ein entleihendes Unternehmen unter Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 5 Satz 1 der Richtlinie 2008/104 nicht mehr vorübergehend wäre, in Anbetracht der in Rn. 79 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung aus dem Unionsrecht kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit diesem Unternehmen ableiten kann. 98 Eine gegenteilige Auslegung würde in der Praxis zu einem Verlust des Ermessens führen, das allein den nationalen Gesetzgebern verliehen wurde, denen in dem von Art. 10 der Richtlinie 2008/104 definierten Rahmen die Schaffung einer geeigneten Sanktionsregelung obliegt (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Oktober 2018, Link Logistik N&N, C‑384/17, EU:C:2018:810, Rn. 54). 99 Die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei kann sich jedoch auf die mit dem Urteil vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428), begründete Rechtsprechung berufen, um gegebenenfalls Ersatz des entstandenen Schadens zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Januar 2014, Association de médiation sociale, C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). 100 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass in Ermangelung einer nationalen Rechtsvorschrift, die eine Sanktion für die Nichteinhaltung dieser Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen vorsieht, der Leiharbeitnehmer aus dem Unionsrecht kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen ableiten kann. Zur fünften Frage 101 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Tarifvertragsparteien ermächtigt, auf der Ebene der Branche der entleihenden Unternehmen von der durch eine solche Regelung festgelegten Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers abzuweichen. 102 Diese Frage werde mit Blick darauf gestellt, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104, wonach die Sozialpartner Regelungen einführen können, die von dem in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie aufgestellten Grundsatz abweichen, nur Abweichungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung in seiner Konkretisierung durch diesen Artikel betreffe. Somit sei nicht ersichtlich, dass den Tarifvertragsparteien Kompetenzen im Hinblick auf die Ausgestaltung der Dauer der Arbeitnehmerüberlassung eingeräumt worden wären. 103 Zwar können die Mitgliedstaaten, wie sich aus Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 ergibt, den Sozialpartnern nur unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit einräumen, von den in Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung genannten Voraussetzungen abzuweichen. Außerdem heißt es im 17. Erwägungsgrund dieser Verordnung insoweit, dass die Mitgliedstaaten unter bestimmten, genau festgelegten Umständen auf der Grundlage einer zwischen den Sozialpartnern auf nationaler Ebene geschlossenen Vereinbarung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in beschränktem Maße abweichen dürfen, sofern ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet ist. 104 Die Rolle der Sozialpartner bei der Umsetzung der Richtlinie 2008/104 ist jedoch nicht auf die ihnen in Art. 5 dieser Richtlinie übertragene Aufgabe beschränkt. 105 Insbesondere sieht erstens der 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie einen weiten Bereich für eine Intervention der Sozialpartner vor, indem er klarstellt, dass die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern gestatten können, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festzulegen, sofern das Gesamtschutzniveau für Leiharbeitnehmer gewahrt bleibt. Ferner beeinträchtigt die Richtlinie ausweislich ihres 19. Erwägungsgrundes weder die Autonomie der Sozialpartner, noch die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern, einschließlich des Rechts, Tarifverträge gemäß nationalem Recht und nationalen Gepflogenheiten bei gleichzeitiger Einhaltung des geltenden Unionsrechts auszuhandeln und zu schließen. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten insoweit über einen weiten Wertungsspielraum verfügen, insbesondere bei der Bestimmung der hierzu befugten Sozialpartner. 106 Zweitens sieht Art. 9 der Richtlinie 2008/104 im Wesentlichen vor, dass die Mitgliedstaaten Tarifverträge oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zulassen können, sofern die Mindestvorschriften dieser Richtlinie eingehalten werden. 107 Drittens haben die Mitgliedstaaten, wie sich aus Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 eindeutig ergibt, die Möglichkeit, dieser Richtlinie nachzukommen, indem sie entweder die hierfür erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, oder indem sie sich vergewissern, dass die Sozialpartner die erforderlichen Vorschriften im Wege von Vereinbarungen festlegen; dabei sind die Mitgliedstaaten gehalten, die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit sie jederzeit gewährleisten können, dass die Ziele dieser Richtlinie erreicht werden. 108 Die den Mitgliedstaaten damit durch die Richtlinie 2008/104 eingeräumte Möglichkeit steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten die Verwirklichung der sozialpolitischen Ziele, die mit einer in diesem Bereich erlassenen Richtlinie verfolgt werden, in erster Linie den Sozialpartnern überlassen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2010, Ingeniørforeningen i Danmark, C‑405/08, EU:C:2010:69, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 109 Diese Möglichkeit befreit die Mitgliedstaaten jedoch nicht von der Verpflichtung, durch geeignete Rechts- und Verwaltungsvorschriften sicherzustellen, dass die Arbeitnehmer in vollem Umfang den Schutz in Anspruch nehmen können, den ihnen die Richtlinie 2008/104 gewährt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2010, Ingeniørforeningen i Danmark, C‑405/08, EU:C:2010:69, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 110 Zu dem Umstand, dass im vorliegenden Fall die Tarifvertragsparteien aus der Branche der entleihenden Unternehmen zuständig wären, ist festzustellen, dass die Richtlinie 2008/104 insoweit keine Einschränkung oder Verpflichtung vorsieht, so dass eine solche Entscheidung in den Wertungsspielraum der Mitgliedstaaten fällt. 111 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die Tarifvertragsparteien ermächtigt, auf der Ebene der Branche der entleihenden Unternehmen von der durch eine solche Regelung festgelegten Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers abzuweichen. Kosten 112 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „vorübergehend“ der Überlassung eines Arbeitnehmers, der einen Arbeitsvertrag oder ein Arbeitsverhältnis mit einem Leiharbeitsunternehmen hat, an ein entleihendes Unternehmen, die zur Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird, nicht entgegensteht. 2. Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2008/104 sind dahin auszulegen, dass es einen missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen eines Leiharbeitnehmers darstellt, wenn diese Überlassungen auf demselben Arbeitsplatz bei einem entleihenden Unternehmen für eine Dauer von 55 Monaten verlängert werden, falls die aufeinanderfolgenden Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen zu einer Beschäftigungsdauer bei diesem Unternehmen führen, die länger ist als das, was unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählen, und im Kontext des nationalen Regelungsrahmens vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, ohne dass eine objektive Erklärung dafür gegeben wird, dass das betreffende entleihende Unternehmen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge zurückgreift. Diese Feststellungen zu treffen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. 3. Die Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Höchstdauer der Überlassung desselben Leiharbeitnehmers an dasselbe entleihende Unternehmen festlegt, wenn sie durch eine Übergangsvorschrift die Berücksichtigung von vor dem Inkrafttreten dieser Regelung liegenden Zeiträumen bei der Berechnung dieser Dauer ausschließt und dem nationalen Gericht die Möglichkeit nimmt, die tatsächliche Dauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers zu berücksichtigen, um festzustellen, ob diese Überlassung im Sinne der Richtlinie „vorübergehend“ war; dies festzustellen, ist Sache dieses Gerichts. Ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privatpersonen anhängig ist, ist nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine solche unionsrechtswidrige Übergangsvorschrift unangewendet zu lassen. 4. Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass in Ermangelung einer nationalen Rechtsvorschrift, die eine Sanktion für die Nichteinhaltung dieser Richtlinie durch Leiharbeitsunternehmen oder entleihende Unternehmen vorsieht, der Leiharbeitnehmer aus dem Unionsrecht kein subjektives Recht auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen ableiten kann. 5. Die Richtlinie 2008/104 ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die die Tarifvertragsparteien ermächtigt, auf der Ebene der Branche der entleihenden Unternehmen von der durch eine solche Regelung festgelegten Höchstdauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers abzuweichen. Arabadjiev Ziemele von Danwitz Xuereb Kumin Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 17. März 2022. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 10. März 2022.#"Grossmaniaˮ Mezőgazdasági Termelő és Szolgáltató Kft gegen Vas Megyei Kormányhivatal.#Vorabentscheidungsersuchen des Győri Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundsätze des Rechts der Union – Vorrang – Unmittelbare Wirkung – Loyale Zusammenarbeit – Art. 4 Abs. 3 EUV – Art. 63 AEUV – Pflichten eines Mitgliedstaats, die sich aus einem Vorabentscheidungsurteil ergeben – Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts durch den Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsurteil – Pflicht, dem Unionsrecht die volle Wirksamkeit zu verschaffen – Pflicht eines nationalen Gerichts, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof zuwiderläuft – Verwaltungsentscheidung, die mangels gerichtlichen Rechtsbehelfs bestandskräftig geworden ist – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Haftung des Mitgliedstaats.#Rechtssache C-177/20.
62020CJ0177
ECLI:EU:C:2022:175
2022-03-10T00:00:00
Tanchev, Gerichtshof
62020CJ0177 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 10. März 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundsätze des Rechts der Europäischen Union – Vorrang – Unmittelbare Wirkung – Loyale Zusammenarbeit – Art. 4 Abs. 3 EUV – Art. 63 AEUV – Pflichten eines Mitgliedstaats, die sich aus einem Vorabentscheidungsurteil ergeben – Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts durch den Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsurteil – Pflicht, dem Unionsrecht die volle Wirksamkeit zu verschaffen – Pflicht eines nationalen Gerichts, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof zuwiderläuft – Verwaltungsentscheidung, die mangels gerichtlichen Rechtsbehelfs bestandskräftig geworden ist – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Haftung des Mitgliedstaats“ In der Rechtssache C‑177/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Győri Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Győr, Ungarn) mit Entscheidung vom 6. März 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2020, in dem Verfahren „Grossmania“ Mezőgazdasági Termelő és Szolgáltató Kft. gegen Vas Megyei Kormányhivatal erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer (Berichterstatterin), der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl, Generalanwalt: E. Tanchev, Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Juni 2021, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der „Grossmania“ Mezőgazdasági Termelő és Szolgáltató Kft., vertreten durch T. Szendrő-Németh, Ügyvéd, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten, – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte, – der spanischen Regierung, vertreten durch J. Rodríguez de la Rúa Puig als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Erlbacher, L. Malferrari und L. Havas als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. September 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 AEUV. 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Grossmania“ Mezőgazdasági Termelő és Szolgáltató Kft. (im Folgenden: Grossmania) und der Vas Megyei Kormányhivatal (Regierungsbehörde für das Komitat Vas, Ungarn) wegen der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der ein Antrag auf Wiedereintragung von kraft Gesetzes erloschenen und gelöschten Nießbrauchsrechten in das Grundbuch abgelehnt wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Anhang X der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33) trägt die Überschrift „Liste nach Artikel 24 der Beitrittsakte: Ungarn“. In Nr. 2 von Kapitel 3 („Freier Kapitalverkehr“) dieses Anhangs heißt es: „Unbeschadet der Verpflichtungen aus den Verträgen, auf die sich die Europäische Union gründet, kann Ungarn die Verbote des Erwerbs von landwirtschaftlichen Flächen durch natürliche Personen, die weder ihren Wohnsitz in Ungarn haben noch ungarische Staatsbürger sind, sowie durch juristische Personen gemäß seinen zum Zeitpunkt der Unterzeichnung dieser Akte geltenden Rechtsvorschriften nach dem Beitritt sieben Jahre lang beibehalten. Auf keinen Fall dürfen Staatsangehörige der Mitgliedstaaten oder juristische Personen, die gemäß den Gesetzen eines anderen Mitgliedstaats geschaffen wurden, beim Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen ungünstiger als am Tag der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags behandelt werden. … Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats, die sich als selbstständige Landwirte niederlassen wollen, mindestens drei Jahre lang ununterbrochen ihren rechtmäßigen Wohnsitz in Ungarn hatten und dort mindestens drei Jahre lang ununterbrochen in der Landwirtschaft tätig waren, dürfen weder den Bestimmungen des vorstehenden Unterabsatzes noch anderen Regeln und Verfahren als denjenigen unterworfen werden, die für ungarische Staatsangehörige gelten. … Liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass bei Ablauf der Übergangsfrist der Markt für landwirtschaftliche Flächen in Ungarn ernsthaft gestört ist oder dass solche ernsthaften Störungen drohen, so entscheidet die [Europäische] Kommission auf Antrag Ungarns über eine Verlängerung der Übergangsfrist von bis zu drei Jahren.“ 4 Mit dem Beschluss 2010/792/EU der Kommission vom 20. Dezember 2010 zur Verlängerung des Übergangszeitraums für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen in Ungarn (ABl. 2010, L 336, S. 60) wurde die in Anhang X Kapitel 3 Nr. 2 der vorstehend genannten Beitrittsakte vorgesehene Übergangsfrist bis zum 30. April 2014 verlängert. Ungarisches Recht 5 § 38 Abs. 1 des Földről szóló 1987. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 1987 über Grundbesitz) sah vor, dass natürliche Personen, die nicht die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen oder diese zwar besitzen, sich aber dauerhaft außerhalb Ungarns aufhalten, und juristische Personen, die ihren Sitz außerhalb Ungarns haben oder zwar in Ungarn haben, aber deren Kapital von natürlichen oder juristischen Personen gehalten wird, die außerhalb Ungarns ansässig sind, das Eigentum an Anbauflächen – sei es durch Kauf, Tausch oder Schenkung – nur nach vorheriger Genehmigung durch das Finanzministerium erwerben konnten. 6 Mit § 1 Abs. 5 der 171/1991 Korm. rendelet (Regierungsverordnung 171/1991) vom 27. Dezember 1991, die am 1. Januar 1992 in Kraft trat, wurde für Personen, die nicht die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen, die Möglichkeit eines Erwerbs von Anbauflächen ausgeschlossen; dies galt nicht für Personen mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder für Personen mit Flüchtlingsstatus. 7 Das Termőföldről szóló 1994. évi LV. törvény (Gesetz Nr. LV von 1994 über Anbauflächen, im Folgenden: Gesetz von 1994 über Anbauflächen) behielt dieses Erwerbsverbot aufrecht und erstreckte es auf juristische Personen, unabhängig davon, ob sie ihren Sitz in Ungarn haben oder nicht. 8 Dieses Gesetz wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2002 durch das Termőföldről szóló 1994. évi LV. törvény módosításáról szóló 2001. évi CXVII. törvény (Gesetz Nr. CXVII von 2001 zur Änderung des Gesetzes Nr. LV von 1994 über Anbauflächen) geändert, um auch die Möglichkeit auszuschließen, vertraglich ein Nießbrauchsrecht an Anbauflächen zugunsten von natürlichen Personen ohne ungarische Staatsangehörigkeit oder juristischen Personen zu bestellen. § 11 Abs. 1 des Gesetzes von 1994 über Anbauflächen bestimmte nach diesen Änderungen: „Für die vertragliche Bestellung eines Nießbrauchs- oder Nutzungsrechts gelten die Bestimmungen des Kapitels II über die Beschränkung des Eigentumserwerbs. …“ 9 § 11 Abs. 1 des Gesetzes von 1994 über Anbauflächen wurde in der Folge durch das Egyes agrár tárgyú törvények módosításáról szóló 2012. évi CCXIII. törvény (Gesetz Nr. CCXIII von 2012 zur Änderung bestimmter Gesetze über die Landwirtschaft) geändert. In der neuen geänderten Fassung, die am 1. Januar 2013 in Kraft trat, bestimmte § 11 Abs. 1: „Das vertraglich bestellte Nießbrauchsrecht ist nichtig, es sei denn, die Bestellung erfolgte zugunsten eines nahen Verwandten.“ Durch das Gesetz Nr. CCXIII von 2012 wurde in dieses Gesetz von 1994 auch ein neuer § 91 Abs. 1 eingefügt, wonach „[a]m 1. Januar 2033 kraft Gesetzes alle am 1. Januar 2013 bestehenden unbefristeten oder über den 30. Dezember 2032 hinaus befristeten Nießbrauchsrechte [erlöschen], die durch einen Vertrag zwischen Personen begründet worden sind, die keine nahen Angehörigen sind“. 10 Das Mező- és erdőgazdasági földek forgalmáról szóló 2013. évi CXXII. törvény (Gesetz Nr. CXXII von 2013 über den Verkauf land- und forstwirtschaftlicher Flächen, im Folgenden: Gesetz von 2013 über landwirtschaftliche Flächen) wurde am 21. Juni 2013 erlassen und ist am 15. Dezember 2013 in Kraft getreten. 11 § 37 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über landwirtschaftliche Flächen beließ es bei der Regelung, dass ein vertraglich bestelltes Nießbrauchs- oder Nutzungsrecht an den genannten Flächen nichtig ist, es sei denn, die Bestellung erfolgte zugunsten eines nahen Angehörigen. 12 Das Mező- és erdőgazdasági földek forgalmáról szóló 2013. évi CXXII. törvénnyel összefüggő egyes rendelkezésekről és átmeneti szabályokról szóló 2013. évi CCXII. törvény (Gesetz Nr. CCXII von 2013 über bestimmte Vorschriften und Übergangsregelungen betreffend das Gesetz Nr. CXXII von 2013 über den Verkauf land- und forstwirtschaftlicher Flächen, im Folgenden: Gesetz von 2013 über Übergangsregelungen) wurde am 12. Dezember 2013 erlassen und ist am 15. Dezember 2013 in Kraft getreten. 13 § 108 Abs. 1 dieses Gesetzes, mit dem § 91 Abs. 1 des Gesetzes von 1994 über Anbauflächen aufgehoben wurde, lautet: „Am 1. Mai 2014 erlöschen kraft Gesetzes alle am 30. April 2014 bestehenden unbefristeten oder über den 30. April 2014 hinaus befristeten Nießbrauchsrechte, die durch einen Vertrag zwischen Personen begründet worden sind, die keine nahen Angehörigen sind.“ 14 Nach der Verkündung des Urteils vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157), wurde § 108 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen durch die Hinzufügung von zwei neuen Abs. 4 und 5 mit Wirkung vom 11. Januar 2019 geändert, die wie folgt lauten: „(4)   Ist aufgrund gerichtlicher Entscheidungen die Wiederherstellung des gemäß Absatz 1 erloschenen Rechts erforderlich, hätte dieses aufgrund der zum Zeitpunkt der erstmaligen Eintragung geltenden Rechtsvorschriften jedoch wegen eines Formfehlers oder eines materiellen Fehlers nicht eingetragen werden können, unterrichtet die Grundbuchbehörde die Staatsanwaltschaft und setzt das Verfahren bis zum Abschluss der Prüfung durch die Staatsanwaltschaft und des daraufhin eingeleiteten Verfahrens aus. (5)   Als Fehler im Sinne des Absatzes 4 ist es anzusehen, wenn a) der Nutzungsberechtigte eine juristische Person ist, b) das Nießbrauchs- oder Nutzungsrecht nach dem 31. Dezember 2001 zugunsten einer juristischen Person oder eines Bürgers eines anderen Staates als Ungarn ins Grundbuch eingetragen worden ist, c) zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Eintragung des Nießbrauchs- oder Nutzungsrechts aufgrund der seinerzeit geltenden Rechtsvorschriften für den Erwerb des Rechts eine von einer anderen Behörde ausgestellte Bescheinigung oder Genehmigung erforderlich war, die von der Partei nicht vorgelegt worden ist.“ 15 § 94 des Ingatlan-nyilvántartásról szóló 1997. évi CXLI. törvény (Gesetz Nr. CXLI von 1997 über das Grundbuch, im Folgenden: Grundbuchgesetz) bestimmt: „(1)   Im Fall der Löschung eines aufgrund der Bestimmungen von § 108 Abs. 1 [des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen] erlöschenden Nießbrauchs- oder Nutzungsrechts (in diesem Paragrafen im Folgenden zusammen: Nießbrauchsrecht) im Grundbuch muss eine nießbrauchsberechtigte natürliche Person auf die durch die Grundbuchbehörde spätestens bis zum 31. Oktober 2014 versandte Aufforderung hin binnen 15 Tagen nach deren Zustellung auf einem durch den Minister eingeführten Formular eine Erklärung über das Bestehen des nahen Angehörigenverhältnisses zwischen ihr und dem Grundstückseigentümer, der gemäß der für die Eintragung als Grundlage dienenden Urkunde das Nießbrauchsrecht bestellt hat, abgeben. Bei einem Versäumen dieser Frist ist nach dem 31. Dezember 2014 kein Antrag auf Wiedereinsetzung zulässig. … (3)   Wenn aufgrund der Erklärung kein nahes Angehörigenverhältnis besteht oder der Berechtigte innerhalb der Frist keine Erklärung abgibt, löscht die Grundbuchbehörde das eingetragene Nießbrauchsrecht innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Frist zur Abgabe der Erklärung, spätestens bis zum 31. Juli 2015, von Amts wegen im Grundbuch. … (5)   Die Grundbuchbehörde löscht spätestens am 31. Dezember 2014 von Amts wegen im Grundbuch Nießbrauchsrechte, die zugunsten von juristischen Personen oder Einheiten eingetragen wurden, die keine Rechtspersönlichkeit haben, aber fähig sind, Rechte zu erwerben, die in das Register eingetragen werden können, und die gemäß § 108 Abs. 1 des [Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen] erloschen sind.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 16 Grossmania, eine Handelsgesellschaft mit Sitz in Ungarn, deren Gesellschafter natürliche Personen mit der Staatsangehörigkeit anderer Mitgliedstaaten sind, war Inhaberin von Nießbrauchsrechten, die sie an landwirtschaftlichen Parzellen in Jánosháza und Duka (Ungarn) erworben hatte. 17 Nachdem diese Nießbrauchsrechte gemäß § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen am 1. Mai 2014 kraft Gesetzes erloschen waren, wurden sie von der zuständigen Behörde gemäß § 94 Abs. 5 des Grundbuchgesetzes im Grundbuch gelöscht. Die Firma Grossmania legte gegen diese Löschung keinen Rechtsbehelf ein. 18 Nachdem der Gerichtshof mit seinem Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157), entschieden hatte, dass Art. 63 AEUV einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach in der Vergangenheit bestellte Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen, deren Inhaber keine nahen Angehörigen des Eigentümers dieser Flächen sind, kraft Gesetzes erlöschen und infolgedessen im Grundbuch gelöscht werden, beantragte Grossmania am 10. Mai 2019 bei der Vas Megyei Kormányhivatal Celldömölki Járási Hivatala (Regierungsbehörde für das Komitat Vas – Verwaltungsbehörde Celldömölk, Ungarn) die Wiedereintragung ihrer Nießbrauchsrechte. 19 Mit Bescheid vom 17. Mai 2019 wies diese Behörde den Antrag gestützt auf § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen und § 37 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über landwirtschaftliche Flächen als unzulässig zurück. 20 Die von Grossmania mit einem Widerspruch gegen diesen Bescheid befasste Regierungsbehörde für das Komitat Vas bestätigte diesen Bescheid mit Bescheid vom 5. August 2019 mit der Begründung, dass § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen und § 37 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über landwirtschaftliche Flächen noch in Kraft seien und der beantragten Wiedereintragung entgegenstünden. Zu dem Argument in Bezug auf das Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157), erklärte diese Behörde, dass dieses Urteil nur auf die Einzelfälle anwendbar sei, in denen es ergangen sei. Das Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn (Nießbrauch an landwirtschaftlichen Flächen) (C‑235/17, EU:C:2019:432), das in einem Verfahren über eine Vertragsverletzungsklage wegen derselben nationalen Regelung ergangen ist, habe für Entschädigungsfragen Geltung, nicht für die Wiedereintragung von zuvor gelöschten Nießbrauchsrechten. 21 Grossmania erhob gegen den Bescheid vom 5. August 2019 Klage beim Győri Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Győr, Ungarn), dem vorlegenden Gericht. 22 Dieses weist zunächst darauf hin, dass es zum Zeitpunkt des Ausgangsrechtsstreits im innerstaatlichen Recht noch keine Rechtsvorschriften gebe, aufgrund deren Grossmania einen Ausgleich für den Schaden erlangen könne, der sich aus dem Erlöschen kraft Gesetzes und aus der Löschung ihrer Nießbrauchsrechte ergebe. 23 Zwar habe das Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht, Ungarn) in einer Entscheidung vom 21. Juli 2015 zum einen festgestellt, dass das Magyarország Alaptörvénye (Ungarisches Grundgesetz) dadurch verletzt worden sei, dass der nationale Gesetzgeber für die durch die Anwendung von § 108 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen weggefallenen Nießbrauchs- und Nutzungsrechte keine Regelung für den Ausgleich außergewöhnlicher Vermögensnachteile getroffen habe, die durch die Aufhebung dieser Rechte verursacht worden seien und nicht im Rahmen der Abrechnung zwischen den Vertragsparteien geltend gemacht werden könnten, und zum anderen den nationalen Gesetzgeber aufgefordert, diesem Versäumnis bis spätestens 1. Dezember 2015 abzuhelfen. Zum Zeitpunkt des Ausgangsrechtsstreits sei jedoch noch keine Maßnahme in dieser Hinsicht getroffen worden. 24 Das vorlegende Gericht führt sodann aus, dass Grossmania, da sie keinen Vermögensausgleich erlangen könne, keine andere Möglichkeit gehabt habe, als die Wiedereintragung ihrer Nießbrauchsrechte zu beantragen. In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht nach der Tragweite der Bindungswirkungen der in Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteile des Gerichtshofs. 25 Es weist insoweit darauf hin, dass wegen des zwingenden Charakters einer Auslegung, die der Gerichtshof zuvor auf der Grundlage von Art. 267 AEUV vorgenommen habe, ein letztinstanzliches nationales Gericht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht zur Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens verpflichtet sei, wenn die aufgeworfene Frage materiell identisch sei mit einer Frage, die bereits Gegenstand einer Vorabentscheidung in einem gleich gelagerten Fall gewesen sei, oder wenn eine Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliege, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst worden sei, gleichviel, in welcher Art von Verfahren diese Rechtsprechung ergangen sei, und selbst dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch seien. Außerdem habe die Auslegung durch den Gerichtshof Ex-tunc-Wirkung in dem Sinne, dass die nationalen Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden seien, anwenden könnten und müssten. 26 Aus dem Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157), gehe eindeutig hervor, dass § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen, auf dessen Grundlage der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bescheid erlassen worden sei, gegen das Unionsrecht verstoße und dass dies auch im Ausgangsrechtsstreit festgestellt werden könne. 27 Im Unterschied zum Sachverhalt des Urteils vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157), habe Grossmania gegen die Löschung ihrer Nießbrauchsrechte jedoch keinen Rechtsbehelf eingelegt. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob die Erkenntnisse aus diesem Urteil auf den Ausgangsrechtsstreit Anwendung finden könnten, und insbesondere, ob es § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen wegen seiner Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht unangewendet lassen und die Beklagte des Ausgangsverfahrens dazu verpflichten könne, die Nießbrauchsrechte von Grossmania wieder eintragen zu lassen, auch angesichts des zwischenzeitlichen Inkrafttretens von § 108 Abs. 4 und 5. 28 Unter diesen Umständen hat das Győri Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Győr) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass dann, wenn der Gerichtshof in seiner Entscheidung über ein Vorabentscheidungsverfahren festgestellt hat, dass eine mitgliedstaatliche Rechtsvorschrift gegen das Unionsrecht verstößt, diese mitgliedstaatliche Rechtsvorschrift auch in späteren Verwaltungs- und Gerichtsverfahren nicht angewandt werden kann, unabhängig davon, dass der dem späteren Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt und der Sachverhalt, der dem früheren Vorabentscheidungsverfahren zugrunde lag, nicht vollkommen identisch sind? Zur Vorlagefrage 29 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 26. Oktober 2021, PL Holdings, C‑109/20, EU:C:2021:875, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Insoweit ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen erstens, dass die Frage des vorlegenden Gerichts, ob es verpflichtet ist, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die es für unvereinbar mit dem Unionsrecht hält, wie es vom Gerichtshof in einem Urteil im Wege der Vorabentscheidung ausgelegt worden ist, im vorliegenden Fall dem Urteil vom 6. März 2018,SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157), zu Art. 63 AEUV, im Kontext eines Rechtsstreits steht, der zwar einen Antrag auf Aufhebung eines Bescheids über die Ablehnung der Wiedereintragung von Nießbrauchsrechten zum Gegenstand hat, die nach derselben nationalen Regelung, um die es in den Rechtssachen geht, die zu diesem Urteil geführt haben, kraft Gesetzes erloschen und im Grundbuch gelöscht worden sind, sich von diesen Rechtssachen aber dadurch unterscheidet, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens im Gegensatz zu den in diesen Rechtssachen betroffenen Personen gegen die Löschung ihrer Nießbrauchsrechte innerhalb der gesetzlichen Fristen keinen Rechtsbehelf eingelegt hat. 31 Zweitens fragt sich das vorlegende Gericht, ob es, da es im ungarischen Recht keine Rechtsgrundlage für eine Entschädigung von Grossmania für den durch das Erlöschen kraft Gesetzes und die Löschung ihrer Nießbrauchsrechte erlittenen Schaden gebe, die Beklagte des Ausgangsverfahrens dazu verpflichten könne, diese Rechte auf einen entsprechenden Antrag dieser Gesellschaft wieder eintragen zu lassen. 32 Unter diesen Umständen ist die Frage des vorlegenden Gerichts dahin zu verstehen, dass mit ihr geklärt werden soll, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das mit einer Klage gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein Antrag auf Wiedereintragung von kraft Gesetzes erloschenen Nießbrauchsrechten abgelehnt wird, die gemäß einer nationalen Regelung im Grundbuch gelöscht wurden, die unvereinbar ist mit Art. 63 AEUV, wie er durch den Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsurteil ausgelegt worden ist, verpflichtet ist, zum einen diese Regelung unangewendet zu lassen und zum anderen die zuständige Verwaltungsbehörde zur Wiedereintragung dieser Nießbrauchsrechte zu verpflichten, obwohl die Löschung der Rechte nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen gerichtlich angefochten wurde. 33 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen zwar lediglich auf das Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157), Bezug genommen hat, die nationale Regelung, die in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, und in der Rechtssache des Ausgangsverfahrens in Rede stand bzw. steht, aber auch zu dem Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn (Nießbrauch an landwirtschaftlichen Flächen) (C‑235/17, EU:C:2019:432), Anlass gegeben hat, das in einem Verfahren über eine von der Kommission gemäß Art. 258 AEUV erhobene Vertragsverletzungsklage ergangen ist. 34 Mit diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass Ungarn durch den Erlass von § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen und das damit ex lege eintretende Erlöschen der Nießbrauchsrechte, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar an land- und forstwirtschaftlichen Flächen in Ungarn innehaben, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 63 AEUV in Verbindung mit Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen hat. 35 Nach Art. 260 Abs. 1 AEUV hat, wenn der Gerichtshof feststellt, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtungen aus den Verträgen verstoßen hat, dieser Staat die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergebenden Maßnahmen zu ergreifen, dessen Rechtskraft sich auf Tatsachen- und Rechtsfragen erstreckt, die tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand der betreffenden gerichtlichen Entscheidung waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2013, Kommission/Spanien, C‑529/09, EU:C:2013:31, Rn. 65 und 66). 36 So sind die an der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt beteiligten Behörden des betreffenden Mitgliedstaats zwar verpflichtet, die nationalen Bestimmungen, die Gegenstand eines Vertragsverletzungsurteils waren, so zu ändern, dass sie den Anforderungen des Unionsrechts entsprechen, doch haben die Gerichte dieses Mitgliedstaats ihrerseits die Pflicht, bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben die Beachtung des Urteils sicherzustellen, was insbesondere bedeutet, dass der nationale Richter aufgrund der verbindlichen Wirkung, die diesem Urteil zukommt, gegebenenfalls den darin festgelegten rechtlichen Kriterien Rechnung zu tragen hat, um die Tragweite der von ihm anzuwendenden Vorschriften des Unionsrechts zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 1982, Waterkeyn u. a., 314/81 bis 316/81 und 83/82, EU:C:1982:430, Rn. 14 und 15). 37 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen noch immer in Kraft war, als der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Bescheid über die Wiedereintragung der Nießbrauchsrechte erlassen wurde, wobei sich die zuständigen nationalen Behörden zur Rechtfertigung dieses Bescheids auf diese nationale Bestimmung beriefen. Somit hatten zu diesem Zeitpunkt die an der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt beteiligten ungarischen Behörden die Maßnahmen, die das in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführte Vertragsverletzungsurteil impliziert, nicht getroffen. 38 Gleichwohl ist das vorlegende Gericht ungeachtet des Umstands, dass keine solchen Maßnahmen ergriffen wurden, verpflichtet, alle Maßnahmen zu ergreifen, um im Einklang mit den Erkenntnissen des Vertragsverletzungsurteils die volle Geltung des Unionsrechts zu erleichtern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Januar 1993, Kommission/Italien, C‑101/91, EU:C:1993:16, Rn. 24, und vom 18. Januar 2022, Thelen Technopark Berlin, C‑261/20, EU:C:2022:33, Rn. 39). 39 Im vorliegenden Fall ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157), auf das sich das vorlegende Gericht bezieht, für Recht erkannt hat, dass Art. 63 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach in der Vergangenheit bestellte Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen, deren Inhaber keine nahen Angehörigen des Eigentümers dieser Flächen sind, kraft Gesetzes erlöschen und infolgedessen im Grundbuch gelöscht werden. 40 Der Gerichtshof hat nämlich zunächst in den Rn. 62 bis 64 dieses Urteils ausgeführt, dass die betreffende nationale Regelung dadurch, dass sie das Erlöschen von Nießbrauchsrechten an landwirtschaftlichen Flächen durch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten als Ungarn kraft Gesetzes vorsieht, schon wegen ihres Gegenstands und allein aufgrund dieses Umstands das Recht der Betroffenen auf den in Art. 63 AEUV garantierten freien Kapitalverkehr beschränkt, wobei diese Regelung ihnen sowohl die Möglichkeit nimmt, ihr Nießbrauchsrecht weiterhin auszuüben, indem sie u. a. daran gehindert werden, die betreffenden Flächen zu nutzen und zu bewirtschaften oder zu verpachten und dadurch Gewinn zu erzielen, als auch die Möglichkeit, dieses Recht zu veräußern. Sodann hat der Gerichtshof in Rn. 65 dieses Urteils weiter ausgeführt, dass diese Regelung geeignet ist, Gebietsfremde von künftigen Investitionen in Ungarn abzuhalten. Schließlich hat der Gerichtshof in den Rn. 24, 94 und 107 dieses Urteils festgestellt, dass diese Beschränkung des freien Kapitalverkehrs nicht mit den von Ungarn angeführten Gesichtspunkten gerechtfertigt werden kann. 41 Was zweitens die Frage betrifft, ob eine solche Auslegung von Art. 63 AEUV in einem Vorabentscheidungsurteil nach Art. 267 AEUV für das vorlegende Gericht die Verpflichtung impliziert, die fragliche nationale Regelung unangewendet zu lassen, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs durch die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erforderlichenfalls erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Bedeutung diese Bestimmung ab ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre (Urteil vom 7. August 2018, Hochtief, C‑300/17, EU:C:2018:635, Rn. 55). Eine Vorabentscheidung ist, mit anderen Worten, nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur (Urteil vom 28. Januar 2015, Starjakob, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 63). 42 Geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine eindeutige Antwort auf eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts hervor, muss der nationale Richter somit alles Erforderliche tun, damit diese Auslegung umgesetzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 42). 43 Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, außerdem verpflichtet, dann, wenn es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – Bestimmung des nationalen Rechts, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und 61). 44 Zu Art. 63 AEUV, auf den sich das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bezieht, ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass dieser Artikel unmittelbare Wirkung hat, so dass er vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden und zur Unanwendbarkeit der ihm zuwiderlaufenden nationalen Vorschriften führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2017, The Trustees of the BT Pension Scheme, C‑628/15, EU:C:2017:687, Rn. 49). 45 Da im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung mit Art. 63 AEUV unvereinbar ist, wie sich aus dem Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157), ergibt, ist das vorlegende Gericht, bei dem eine Klage auf Aufhebung eines u. a. auf diese Regelung gestützten Bescheids anhängig ist, verpflichtet, die volle Wirksamkeit von Art. 63 AEUV dadurch zu gewährleisten, dass es diese nationale Regelung für die Zwecke der Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits unangewendet lässt. 46 Es ist hinzuzufügen, dass den nationalen Verwaltungsbehörden, die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens mit einem Antrag auf Wiedereintragung ihrer Nießbrauchsrechte in das Grundbuch befasst wurden, dieselbe Verpflichtung oblag (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung); diese haben indes unter Missachtung dieser Verpflichtung die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung weiterhin angewandt und daher diesen Antrag zurückgewiesen. 47 Was drittens den Umstand betrifft, dass Grossmania gegen die Löschung ihrer Nießbrauchsrechte keinen Rechtsbehelf innerhalb der dafür vorgesehenen Fristen eingelegt hat, ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht nicht erläutert hat, inwiefern ein solcher Umstand geeignet ist, eine Schwierigkeit für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits aufzuwerfen. In diesem Zusammenhang hat das vorlegende Gericht nämlich nur angegeben, dass die zuständige nationale Behörde ihre Ablehnung der Wiedereintragung der Nießbrauchsrechte der Klägerin des Ausgangsverfahrens darauf gestützt habe, dass § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen und § 37 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über landwirtschaftliche Flächen noch in Kraft seien. Die ungarische Regierung hat jedoch in ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof darauf hingewiesen, dass nach nationalem Recht die Löschung mangels Anfechtung bestandskräftig geworden sei und einer Wiedereintragung der Nießbrauchsrechte in das Grundbuch entgegenstehe. 48 Zwar ist es aufgrund der Zusammenarbeit nach Art. 267 AEUV nicht Sache des Gerichtshofs, die Richtigkeit des rechtlichen und tatsächlichen Rahmens zu prüfen, den das nationale Gericht in eigener Verantwortung festlegt, doch ist es im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen, dass sich die Zweifel des vorlegenden Gerichts daraus ergeben können, dass es durch die Endgültigkeit der Löschung der Nießbrauchsrechte daran gehindert ist, für die Zwecke des Ausgangsrechtsstreits alle Konsequenzen zu ziehen, die sich aus der festgestellten Rechtswidrigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung ergeben. 49 Sollte sich diese Annahme als begründet erweisen, und um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist darauf hinzuweisen, dass es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats ist, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der Rechtsbehelfe, die zum Schutz der Rechte der Bürger bestimmt sind, festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2021, Konsul Rzeczypospolitej Polskiej w N., C‑949/19, EU:C:2021:186, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Was die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes betrifft, ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im ungarischen Recht die Möglichkeit, eine bestandskräftig gewordene Löschung von Nießbrauchsrechten im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, mit der ein Antrag auf Wiedereintragung dieser Rechte abgelehnt wird, anzufechten, nicht unterschiedlich ist, je nachdem, ob diese Maßnahme gegen das nationale Recht oder das Unionsrecht verstößt. 51 Was den Effektivitätsgrundsatz betrifft, ist nach der Rechtsprechung jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (Urteil vom 20. Mai 2021, X [LPG-Tankfahrzeuge], C‑120/19, EU:C:2021:398, Rn. 72). 52 Der Gerichtshof hat bereits anerkannt, dass die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen eingetreten ist, zur Rechtssicherheit beiträgt und das Unionsrecht daher nicht verlangt, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (Urteil vom 12. Februar 2008, Kempter, C‑2/06, EU:C:2008:78, Rn. 37). Die Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit erlaubt es somit, zu verhindern, dass Handlungen der Verwaltung, die Rechtswirkungen entfalten, unbegrenzt in Frage gestellt werden (Urteil vom 19. September 2006, i‑21 Germany und Arcor, C‑392/04 und C‑422/04, EU:C:2006:586, Rn. 51). 53 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die Beschwerdefrist gegen eine Entscheidung der für das Grundbuch zuständigen nationalen Behörde 15 Tage ab deren Zustellung und dass im Fall der Zurückweisung dieser Beschwerde die Klagefrist 30 Tage ab Zustellung dieser Zurückweisung beträgt. Solche Fristen scheinen grundsätzlich ausreichend zu sein, um den Betroffenen die Anfechtung einer solchen Entscheidung zu ermöglichen. 54 Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass besondere Umstände geeignet sein können, eine nationale Verwaltungsbehörde nach den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsätzen der Effektivität und der loyalen Zusammenarbeit zu verpflichten, eine bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung zu überprüfen. In diesem Zusammenhang sind die Besonderheiten der in Rede stehenden Situationen und Interessen zu berücksichtigen, um einen Ausgleich zwischen dem Erfordernis der Rechtssicherheit und dem der Rechtmäßigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht zu finden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Incyte, C‑492/16, EU:C:2017:995, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Im vorliegenden Fall wurden die Nießbrauchsrechte von Grossmania auf der Grundlage einer nationalen Regelung im Grundbuch gelöscht, die, wie in Rn. 40 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, dadurch, dass sie das Erlöschen kraft Gesetzes von Nießbrauchsrechten an landwirtschaftlichen Flächen durch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten als Ungarn vorsieht, schon wegen ihres Gegenstands und allein aufgrund dieses Umstands das Recht der Betroffenen auf den in Art. 63 AEUV garantierten freien Kapitalverkehr beschränkt, ohne dass diese Beschränkung durch irgendeinen Gesichtspunkt gerechtfertigt werden könnte. 56 Außerdem verletzt diese nationale Regelung, wie sich aus dem Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn (Nießbrauch an landwirtschaftlichen Flächen) (C‑235/17, EU:C:2019:432), insbesondere dessen Rn. 81, 86, 124, 125 und 129 ergibt, auch das in Art. 17 Abs. 1 der Charta garantierte Eigentumsrecht, da sie den Betroffenen per definitionem zwangsweise, vollständig und endgültig ihre bestehenden Nießbrauchsrechte entzieht, ohne dass sie durch einen Grund des öffentlichen Interesses gerechtfertigt wäre, und im Übrigen auch ohne dass sie mit einer Regelung für eine rechtzeitige angemessene Entschädigung einherginge. 57 Daraus folgt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung ebenso wie die sie umsetzenden Entscheidungen eine offensichtliche und schwerwiegende Verletzung sowohl der in Art. 63 AEUV vorgesehenen Grundfreiheit als auch des durch Art. 17 Abs. 1 der Charta garantierten Eigentumsrechts darstellt. Dieser Verstoß scheint im Übrigen große Auswirkungen gehabt zu haben, da, wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge – gestützt auf Angaben, die die ungarische Regierung in den Rechtssachen gemacht hat, in denen das Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 71), ergangen ist – ausgeführt hat, mehr als 5000 Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten als Ungarn von der Aufhebung ihrer Nießbrauchsrechte betroffen waren. 58 Unter diesen Umständen muss dem Erfordernis der Rechtmäßigkeit nach dem Unionsrecht angesichts der weitreichenden negativen Folgen, die durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung und die im Rahmen ihrer Umsetzung erfolgte Löschung der Nießbrauchsrechte verursacht wurden, besondere Bedeutung beigemessen werden. 59 In Bezug auf das Erfordernis der Rechtssicherheit ist hinzuzufügen, dass § 108 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen für die von ihm erfassten Nießbrauchsrechte das Erlöschen dieser Rechte „kraft Gesetzes“ am 1. Mai 2014 vorsah und diese anschließend gemäß § 94 des Grundbuchgesetzes durch eine zu diesem Zweck erlassene Entscheidung im Grundbuch gelöscht wurden. 60 Ein solches Erlöschen der Nießbrauchsrechte „kraft Gesetzes“ entfaltet aber schon aufgrund seiner Natur seine Wirkungen unabhängig von den Entscheidungen über die Löschung, die später nach § 94 des Grundbuchgesetzes ergehen. 61 Auch wenn die Löschung der Nießbrauchsrechte, wie die ungarische Regierung in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, ein gegenüber dem Erlöschen dieser Rechte kraft Gesetzes selbständiges Ereignis darstellen sollte, kann die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung daher dadurch, dass sie die Modalitäten eines solchen Erlöschens auf diese Weise festlegt, zu Verwirrung hinsichtlich der Frage führen, ob die Inhaber von Nießbrauchsrechten, die kraft Gesetzes erloschen sind, die nachfolgenden Löschungsentscheidungen anfechten müssen, um ihre Nießbrauchsrechte zu wahren. 62 Sollte sich bestätigen, dass es nach ungarischem Recht nicht möglich ist, im Rahmen einer Klage gegen die Ablehnung eines Antrags auf Wiedereintragung von Nießbrauchsrechten bei einem Gericht die zwischenzeitlich bestandskräftig gewordene Löschung dieser Rechte anzufechten, kann diese Unmöglichkeit daher vernünftigerweise nicht mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden und müsste somit von diesem Gericht als Verstoß gegen die sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV ergebenden Grundsätze der Effektivität und der loyalen Zusammenarbeit außer Acht gelassen werden. 63 Was viertens die Frage betrifft, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die zuständigen Behörden, wenn sie die nationale Regelung unangewendet lassen, unter allen Umständen verpflichtet sind, die betreffenden Nießbrauchsrechte wieder eintragen zu lassen, oder ob diese rechtswidrige Löschung auf andere Weise behoben werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben (Urteil vom 25. Juni 2020, A u. a. [Windkraftanlagen in Aalter und Nevele], C‑24/19, EU:C:2020:503, Rn. 83). 64 Daher sind die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats aufgrund eines auf ein Vorabentscheidungsersuchen ergangenen Urteils, aus dem sich die Unvereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht ergibt, nicht nur verpflichtet, solche Rechtsvorschriften gemäß der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung unangewendet zu lassen, sondern auch, alle anderen allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Beachtung des Unionsrechts in ihrem Hoheitsgebiet zu sichern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2007, Jonkman u. a., C‑231/06 bis C‑233/06, EU:C:2007:373, Rn. 38). 65 Mangels spezieller unionsrechtlicher Vorschriften über die Modalitäten, nach denen die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen Art. 63 AEUV unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens zu beheben sind, können solche Maßnahmen u. a. darin bestehen, rechtswidrig aufgehobene Nießbrauchsrechte wieder in das Grundbuch einzutragen, da eine solche Wiedereintragung das Mittel ist, das am ehesten geeignet ist, zumindest mit Wirkung für die Zukunft die rechtliche und tatsächliche Lage wiederherzustellen, in der sich der Betroffene ohne die rechtswidrige Aufhebung seiner Rechte befunden hätte. 66 Jedoch können, wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge im Wesentlichen auch ausgeführt hat, in bestimmten Fällen objektive und legitime Hindernisse, insbesondere rechtlicher Art, einer solchen Maßnahme entgegenstehen, beispielsweise wenn nach der Aufhebung der Nießbrauchsrechte ein neuer Eigentümer die Flächen, auf denen die betreffenden Rechte lasteten, gutgläubig erworben hat oder wenn diese Flächen Gegenstand einer Umstrukturierung waren. 67 Im vorliegenden Fall wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, im Hinblick auf die zum Zeitpunkt der Entscheidung bestehende Rechts- und Sachlage zu prüfen, ob gegenüber der zuständigen Behörde angeordnet werden muss, die Wiedereintragung der Nießbrauchsrechte, deren Inhaber Grossmania war, zu veranlassen. 68 Nur wenn sich eine solche Wiedereintragung tatsächlich als unmöglich erweist, wäre es zur Behebung der rechtswidrigen Folgen des Verstoßes gegen das Unionsrecht erforderlich, den ehemaligen Inhabern der aufgehobenen Nießbrauchsrechte einen Anspruch auf eine finanzielle oder sonstige Entschädigung zu gewähren, deren Wert geeignet wäre, den durch die Aufhebung dieser Rechte entstandenen wirtschaftlichen Verlust finanziell auszugleichen. 69 Unabhängig von den in den Rn. 65 und 68 des vorliegenden Urteils genannten Maßnahmen zur Beseitigung der rechtswidrigen Folgen des Verstoßes gegen Art. 63 AEUV setzt die volle Wirksamkeit des Unionsrechts außerdem voraus, dass Einzelne, die durch einen Verstoß gegen dieses Recht geschädigt wurden, nach dem Grundsatz der Haftung des Staates für die durch einen solchen Verstoß verursachten Schäden auch einen Entschädigungsanspruch haben, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt die Verleihung von Rechten an die Geschädigten, der Verstoß gegen diese Norm ist hinreichend qualifiziert, und zwischen diesem Verstoß und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 51, sowie vom 24. März 2009, Danske Slagterier, C‑445/06, EU:C:2009:178, Rn. 20). 70 Zunächst ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass Art. 63 AEUV die Verleihung von Rechten an die Einzelnen bezweckt, da er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens den Inhabern von Nießbrauchsrechten das Recht gewährt, dass ihnen diese Rechte nicht unter Verstoß gegen diesen Artikel entzogen werden (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2017, The Trustees of the BT Pension Scheme, C‑628/15, EU:C:2017:687, Rn. 48). Auch Art. 17 der Charta stellt eine Rechtsnorm dar, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen (Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauch an landwirtschaftlichen Flächen], C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 68). 71 Sodann ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Verstoß gegen das Unionsrecht offenkundig qualifiziert, wenn er trotz des Erlasses eines Urteils, in dem der zur Last gelegte Verstoß festgestellt wird, eines Urteils im Vorabentscheidungsverfahren oder aber einer gefestigten einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, aus denen sich die Pflichtwidrigkeit des fraglichen Verhaltens ergibt, fortbestanden hat (Urteil vom 30. Mai 2017, Safa Nicu Sepahan/Rat, C‑45/15 P, EU:C:2017:402, Rn. 31). Dies ist hier, wie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der Fall. 72 Schließlich scheint im Licht der Urteile vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C-113/16, EU:C:2018:157), und vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauch an landwirtschaftlichen Flächen] (C‑235/17, EU:C:2019:432), ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß gegen Art. 63 AEUV und den Schäden, die Grossmania infolge dieses Verstoßes erlitten hat, zu bestehen; es ist Sache des vorlegenden Gerichts oder gegebenenfalls des nach ungarischem Recht hierfür zuständigen Gerichts, dies zu prüfen. 73 Was fünftens und letztens den vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand des Inkrafttretens von § 108 Abs. 4 und 5 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht weder erläutert, inwiefern diese neuen Bestimmungen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich sein sollen, noch angibt, ob sie im gegenwärtigen Stadium des Verfahrens anwendbar sind. Die ungarische Regierung hat diese Anwendbarkeit in Abrede gestellt, da diese in jedem Fall das Vorliegen einer Entscheidung über die Wiedereintragung der Nießbrauchsrechte von Grossmania voraussetzen würde, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht erfolgt ist. 74 Unter diesen Umständen genügt der Hinweis, dass auch § 108 Abs. 4 und 5 des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen den in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführten Effektivitätsgrundsatz beachten muss, also die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren darf, und mit den Grundfreiheiten, insbesondere der in Art. 63 AEUV vorgesehenen Kapitalverkehrsfreiheit, vereinbar sein muss. 75 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 267 AEUV, dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das mit einer Klage gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein Antrag auf Wiedereintragung von Nießbrauchsrechten abgelehnt wird, die kraft Gesetzes erloschen und aufgrund einer mit Art. 63 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsurteil unvereinbaren nationalen Regelung im Grundbuch gelöscht worden sind, verpflichtet ist, – diese Regelung unangewendet zu lassen und, – sofern keine objektiven und legitimen Hindernisse, insbesondere rechtlicher Art, bestehen, der zuständigen Verwaltungsbehörde gegenüber anzuordnen, die Nießbrauchsrechte wieder einzutragen, auch wenn die Löschung dieser Rechte nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen gerichtlich angefochten wurde und folglich nach nationalem Recht bestandskräftig geworden ist. Kosten 76 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: Das Unionsrecht, insbesondere Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 267 AEUV, ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das mit einer Klage gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein Antrag auf Wiedereintragung von Nießbrauchsrechten abgelehnt wird, die kraft Gesetzes erloschen und aufgrund einer mit Art. 63 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsurteil unvereinbaren nationalen Regelung im Grundbuch gelöscht worden sind, verpflichtet ist, – diese Regelung unangewendet zu lassen und, – sofern keine objektiven und legitimen Hindernisse, insbesondere rechtlicher Art, bestehen, der zuständigen Verwaltungsbehörde gegenüber anzuordnen, die Nießbrauchsrechte wieder einzutragen, auch wenn die Löschung dieser Rechte nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen gerichtlich angefochten wurde und folglich nach nationalem Recht bestandskräftig geworden ist. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 24. Februar 2022.#SC Cridar Cons SRL gegen Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Cluj und Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca.#Vorabentscheidungsersuchen der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167 und 168 – Recht auf Vorsteuerabzug – Versagung – Steuerbetrug – Beweiserhebung – Aussetzung der Entscheidung über einen Steuerbescheid, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, bis zum Abschluss eines Strafverfahrens – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Recht auf eine gute Verwaltung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-582/20.
62020CJ0582
ECLI:EU:C:2022:114
2022-02-24T00:00:00
Pitruzzella, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62020CJ0582 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) 24. Februar 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167 und 168 – Recht auf Vorsteuerabzug – Versagung – Steuerbetrug – Beweiserhebung – Aussetzung der Entscheidung über einen Steuerbescheid, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, bis zum Abschluss eines Strafverfahrens – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Recht auf eine gute Verwaltung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ In der Rechtssache C‑582/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) mit Entscheidung vom 23. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 5. November 2020, in dem Verfahren SC Cridar Cons SRL gegen Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Cluj, Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter), M. Ilešič, D. Gratsias und Z. Csehi, Generalanwalt: G. Pitruzzella, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der SC Cridar Cons SRL, vertreten durch C. F. Costaş, S. I. Puţ und A. Tomuţa, Avocați, – der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, R. I. Haţieganu und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und A. Armenia als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der SC Cridar Cons SRL (im Folgenden: Cridar) einerseits und der Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Cluj (Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Cluj, Rumänien) (im Folgenden: AJFP Cluj) und der Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Cluj-Napoca, Rumänien) (im Folgenden: DGRFP Cluj-Napoca) andererseits wegen einer Entscheidung, mit der die Entscheidung über einen Einspruch gegen einen Steuerbescheid, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, bis zum Abschluss eines Strafverfahrens ausgesetzt wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt: „Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“ 4 Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt: „Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen: a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden; …“ Rumänisches Recht Steuerverfahrensordnung 5 Nach Art. 118 Abs. 3 der Legea nr. 207/2015 privind Codul de procedură fiscală (Gesetz Nr. 207/2015 über die Steuerverfahrensordnung) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Steuerverfahrensordnung) „[wird] [d]ie Steuerprüfung … für eine Art von Steueranspruch und für einen Besteuerungszeitraum jeweils nur einmal durchgeführt“. 6 Art. 128 („Erneute Steuerprüfung“) der Steuerverfahrensordnung bestimmt in Abs. 1: „Abweichend von Art. 118 Abs. 3 kann der Leiter der Steuerprüfungsbehörde beschließen, bestimmte Arten von Steueransprüchen in einem bestimmten Besteuerungszeitraum erneut zu überprüfen, wenn sich neue Tatsachen ergeben haben, von denen die Steuerprüfungsbehörde zum Zeitpunkt der Steuerprüfung keine Kenntnis hatte und die sich auf die Ergebnisse der Steuerprüfung auswirken.“ 7 Art. 131 („Ergebnis der Steuerprüfung“) der Steuerverfahrensordnung bestimmt: „(1)   Das Ergebnis der Steuerprüfung wird schriftlich mitgeteilt, und zwar in einem Prüfungsbericht, in dem dargestellt wird, welche Feststellungen die Steuerbehörde in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht getroffen hat und welche steuerlichen Folgen sich daraus ergeben. … (4)   Der Prüfungsbericht bildet die Grundlage für den Erlass a) des Steuerbescheids über die Nacherhebung oder Erstattung von Steuer, je nachdem ob die Steuerbemessungsgrundlage nach oben oder unten berichtigt wird; …“ 8 Art. 132 („Abgabe an die Strafverfolgungsbehörden“) der Steuerverfahrensordnung bestimmt in Abs. 1: „Die Steuerprüfungsbehörde hat die Sache an das zuständige Gericht abzugeben, wenn sie bei der Steuerprüfung Taten feststellt, die nach dem Strafgesetzbuch strafbar sein könnten.“ 9 Art. 268 („Statthaftigkeit des Einspruchs“) der Steuerverfahrensordnung bestimmt in Abs. 1: „Gegen einen Bescheid über einen Steueranspruch oder gegen einen anderen Steuerverwaltungsakt ist der Einspruch gemäß diesem Titel statthaft. Es handelt sich dabei um einen außergerichtlichen Rechtsbehelf, der die Person, die sich durch einen Steuerverwaltungsakt beschwert fühlt, nicht daran hindert, Klage zu erheben.“ 10 Art. 277 („Aussetzung der Entscheidung über den Einspruch“) der Steuerverfahrensordnung bestimmt: „(1)   Die Behörde, die über den Einspruch zu entscheiden hat, kann die Entscheidung mit begründetem Beschluss aussetzen, wenn a) die Behörde, die die Prüfung durchgeführt hat, die Sache an die zuständigen Behörden abgegeben hat, weil Anhaltspunkte dafür bestehen, dass im Hinblick auf die bei der Feststellung der Besteuerungsgrundlage herangezogenen Beweise eine Straftat begangen worden ist, die sich, wenn sie festgestellt würde, maßgeblich auf die Entscheidung über den Einspruch auswirken würde; … (4)   Die rechtskräftige Entscheidung des Strafgerichts über vermögensrechtliche Ansprüche bindet die Behörde, die über den Einspruch zu entscheiden hat, hinsichtlich des vermögensrechtlichen Anspruchs, den der Staat im Strafverfahren geltend gemacht hat.“ 11 Art. 278 („Aussetzung der Vollziehung des Steuerverwaltungsakts“) der Steuerverfahrensordnung bestimmt: „(1)   Durch Einlegung des Einspruchs wird die Vollziehung des Steuerverwaltungsakts nicht gehemmt. (2)   Die Bestimmungen dieses Artikels lassen das Recht des Einspruchsführers unberührt, gemäß der [Legea contenciosului administrativ nr. 554/2004 (Gesetz Nr. 554/2004 über das Verwaltungsgerichtsverfahren)] die Aussetzung der Vollziehung des Steuerverwaltungsakts zu beantragen … …“ 12 Art. 281 („Mitteilung der Entscheidung und Rechtsbehelf“) der Steuerverfahrensordnung bestimmt in Abs. 2: „Der Einspruchsführer und Personen, die dem Einspruchsverfahren beigetreten sind, können gegen die Einspruchsentscheidung und die Steuerverwaltungsakte, auf die sich diese bezieht, beim zuständigen Verwaltungsgericht Klage erheben …“ 13 Art. 350 („Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden“) der Steuerverfahrensordnung bestimmt in den Abs. 2 und 3: „(2)   Nach der Einleitung eines Strafverfahrens kann die [Agenţiei Naţionale de Administrare Fiscală (ANAF, Nationale Agentur für Finanzverwaltung, Rumänien)] auf Vorschlag des Staatsanwalts in begründeten Fällen damit betraut werden, gezielte Steuerprüfungen durchzuführen. (3)   Das Ergebnis der Prüfungen gemäß den Abs. 1 und 2 wird in Protokollen festgehalten, die Beweismittel darstellen. Die Protokolle stellen keinen Bescheid über einen Steueranspruch im Sinne dieses Gesetzes dar.“ 14 Mit Urteil Nr. 72 vom 29. Januar 2019 hat die Curtea Constituţională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) festgestellt, dass Art. 350 Abs. 3 der Steuerverfahrensordnung insoweit verfassungswidrig ist, als darin der Ausdruck „die Beweismittel darstellen“ verwendet wird. Verwaltungsgerichtsordnung 15 Das Gesetz Nr. 554/2004 über das Verwaltungsgerichtsverfahren in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Verwaltungsgerichtsordnung) enthält einen Art. 2 Abs. 1 mit folgenden Begriffsbestimmungen: „Im Sinne dieses Gesetzes bezeichnet der Ausdruck … ş) ‚unmittelbar drohender Schaden‘: einen zukünftigen materiellen Schaden, der vorhersehbar ist, oder gegebenenfalls die vorhersehbare schwere Beeinträchtigung des Funktionierens einer Behörde oder eines öffentlichen Dienstes; t) ‚begründeten Fälle‘: die tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die geeignet sind, ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes aufkommen zu lassen; …“ 16 Art. 14 („Aussetzung der Vollziehung des Verwaltungsakts“) der Verwaltungsgerichtsordnung bestimmt in Abs. 1: „In begründeten Fällen kann die beschwerte Person nach Anrufung … der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, oder der höheren Behörde beim zuständigen Gericht beantragen, die Vollziehung des einseitigen Verwaltungsakts bis zur Entscheidung in der Sache auszusetzen, um einen unmittelbar drohenden Schaden abzuwenden. Wird von der beschwerten Person nicht innerhalb von 60 Tagen Klage auf Nichtigerklärung des Verwaltungsakts erhoben, entfällt die aufschiebende Wirkung von Rechts wegen ohne weiteres Zutun.“ 17 Art. 15 („Antrag auf Aussetzung der Vollziehung im gerichtlichen Verfahren“) der Verwaltungsgerichtsordnung bestimmt: „(1)   Die Aussetzung der Vollziehung des einseitigen Verwaltungsakts kann vom Kläger aus den in Art. 14 genannten Gründen gestellt werden; die Antragsschrift ist bei dem Gericht einzureichen, das für die vollständige oder teilweise Nichtigerklärung des angefochtenen Verwaltungsakts zuständig ist. In diesem Fall kann das Gericht die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen, rechtskräftigen Entscheidung der Rechtssache aussetzen. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung kann mit der Klage eingereicht werden oder, bis über diese in der Hauptsache entschieden worden ist, mit gesondertem Schriftsatz. … (4)   Wird der Klage in der Hauptsache stattgegeben, wird eine gemäß Art. 14 angeordnete Aussetzung der Vollziehung von Rechts wegen bis zur endgültigen, rechtskräftigen Entscheidung verlängert, auch wenn der Kläger die Aussetzung der Vollziehung des Verwaltungsakts nicht gemäß Abs. 1 beantragt hat.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 18 Bei Cridar, einer Gesellschaft, die im Bereich des Straßen- und Autobahnbaus tätig ist, wurde eine Steuerprüfung durchgeführt. Sie bezog sich auf die Mehrwertsteuer und den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 30. April 2014. Die Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Bistriţa-Năsăud (Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Bistrița-Năsăud, Rumänien) stellte dabei fest, dass Cridar für die gebuchten Umsätze ein Recht auf Vorsteuerabzug habe. 19 Anfang 2015 ermittelte der Parchetul de pe lângă Curtea de Apel Cluj (Staatsanwaltschaft beim Berufungsgericht Cluj, Rumänien) (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) in der Strafsache Nr. 363/P/2015, in der mehreren Personen, u. a. dem Geschäftsführer von Cridar, Steuerbetrug zur Last gelegt wurde. Zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt im Jahr 2016 ersuchte die Staatsanwaltschaft die DGRFP Cluj-Napoca darum, bei Cridar erneut eine Steuerprüfung durchzuführen, weil es Beweise dafür gebe, dass diese Gesellschaft im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 31. Dezember 2015 bei mehreren anderen Gesellschaften fiktive Erwerbe getätigt habe. Die DGRFP Cluj-Napoca betraute die AJFP Cluj mit dieser erneuten Prüfung. Diese wurde vom 4. bis zum 17. Oktober 2016 durchgeführt und bezog sich lediglich auf den Zeitraum, der Gegenstand der in der vorstehenden Randnummer genannten Steuerprüfung war. 20 In ihrem Prüfungsbericht vom 3. November 2016 und in ihrem Steuerbescheid vom selben Tag versagte die AJFP Cluj Cridar für sämtliche Erwerbe, die diese bei den fünf von der Staatsanwaltschaft genannten Gesellschaften getätigt hatte (im Folgenden: streitige Erwerbe), abweichend von den 2014 getroffenen Feststellungen das Recht auf Vorsteuerabzug und erhob bei Cridar Steuern in Höhe von 2103272 rumänischen Leu (RON) (etwa 425000 Euro) nach (Mehrwertsteuer und Körperschaftsteuer). Darüber hinaus nahm die AJFP Cluj gemäß Art. 128 der Steuerverfahrensordnung auch den Steuerbescheid für das Jahr 2014 zurück und berichtigte, was die Mehrwertsteuer anging, sämtliche Ergebnisse der früheren Steuerprüfung. Der neue Steuerbescheid beruhte auf einer Reihe von Unregelmäßigkeiten, die oberhalb in der Lieferkette, auf der Ebene der fünf Lieferanten von Cridar und von deren Lieferanten, festgestellt worden waren und aufgrund derer die AJFP Cluj zu dem Schluss gelangte, dass der begründete Verdacht bestehe, dass eine künstliche Situation geschaffen worden sei, damit Cridar fiktiv ihre Ausgaben erhöhe und die entsprechenden Beträge als Vorsteuer abziehe, ohne dass reale wirtschaftliche Vorgänge existierten. 21 Gleich nach dem Erlass dieser Rechtsakte leiteten die Steuerbehörden die Ermittlungsakte betreffend diese Taten des Steuerbetrugs in Bezug auf die geprüften Umsätze an die Staatsanwaltschaft weiter. Wegen dieser Taten waren bereits strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet worden (Strafsache Nr. 363/P/2015). 22 Am 11. November 2016 legte Cridar bei der DGRFP Cluj-Napoca gegen den Steuerbescheid vom 3. November 2016 Einspruch ein und beantragte gemäß Art. 14 der Verwaltungsgerichtsordnung die Aussetzung von dessen Vollziehung. Die Curtea de Apel Cluj (Berufungsgericht Cluj, Rumänien) gab diesem Antrag 2016 mit einer Entscheidung statt, mit der die Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids bis zu einer Sachentscheidung ausgesetzt wurde. Diese Entscheidung ist rechtskräftig. 23 Mit Bescheid vom 16. März 2017, mit dem über den in der vorstehenden Randnummer genannten Einspruch entschieden wurde, wies die DGRFP Cluj-Napoca die verfahrensrechtlichen Rügen, die Cridar erhoben hatte, zurück, setzte die Entscheidung über die Begründetheit des Einspruchs aber gemäß Art. 277 Abs. 1 Buchst. a der Steuerverfahrensordnung aus. Zur Begründung führte sie aus, dass die Behörde, die über den Einspruch zu entscheiden habe, solange das Strafverfahren nicht durch eine Entscheidung beendet sei, mit der der Verdacht, den die Prüfungsbehörden hinsichtlich der Realität der streitigen Erwerbe geäußert hätten, bestätigt oder entkräftet werde, außerstande sei, in der Sache zu entscheiden. 24 Cridar erhob am 29. Juni 2017 bei der Curtea de Apel Cluj (Berufungsgericht Cluj) Klage. Sie beantragte, den Bescheid der DGRFP Cluj-Napoca vom 16. März 2017 aus verfahrensrechtlichen Gründen für nichtig zu erklären, hilfsweise, den Bescheid für nichtig zu erklären und der DGRFP Cluj-Napoca aufzugeben, in der Sache über den Einspruch zu entscheiden. Cridar beantragte ferner, die Vollziehung des Steuerbescheids gemäß Art. 15 der Verwaltungsgerichtsordnung bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Strafverfahrens auszusetzen. 25 Die Curtea de Apel Cluj (Berufungsgericht Cluj) wies die Klage mit Urteil vom 29. September 2017 ab. Zur Begründung führte sie insbesondere aus, dass die DGRFP Cluj-Napoca hinsichtlich der Frage, ob es zweckmäßig sei, die Entscheidung über den Einspruch auszusetzen, um zu verhindern, dass zu ein und demselben rechtlichen Sachverhalt widersprüchliche Entscheidungen ergingen, über ein Ermessen verfüge. Die Entscheidung dieser Behörde, die Entscheidung über den Einspruch auszusetzen, bis im Strafverfahren darüber entschieden worden sei, ob die streitigen Erwerbe real gewesen seien, sei daher rechtmäßig. Der Antrag, die Vollziehung des Steuerbescheids auszusetzen, bis im Strafverfahren eine rechtskräftige Entscheidung ergangen sei, wurde von der Curtea de Apel Cluj (Berufungsgericht Cluj) mit der Begründung abgelehnt, dass anhand der geltend gemachten Rechtswidrigkeitsgründe nicht offensichtlich sei, dass der Steuerbescheid rechtswidrig wäre, und dass nicht dargetan worden sei, dass unmittelbar ein Schaden drohe. Die Entscheidung, mit der dem gemäß Art. 14 der Verwaltungsgerichtsordnung gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung stattgegeben worden sei (siehe oben, Rn. 22), habe für die Entscheidung über einen vergleichbaren Antrag, der gemäß Art. 15 der Verwaltungsgerichtsordnung gestellt werde, wegen des Unterschieds, der zwischen diesen beiden Verfahren hinsichtlich der zeitlichen Wirkungen bestehe, keine Bindungswirkung. 26 Gegen dieses Urteil legte Cridar am 11. Oktober 2017 bei der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde ein. Mit ihrer Kassationsbeschwerde macht Cridar insbesondere geltend, dass die DGRFP Cluj-Napoca in dem Bescheid vom 16. März 2017, mit dem über ihren Einspruch entschieden worden sei, abweichend von den im Rahmen der zweiten Steuerprüfung getroffenen Feststellungen ausgeführt habe, dass lediglich Anhaltspunkte dafür gefunden worden seien, dass die streitigen Erwerbe möglicherweise fiktiv gewesen seien, und dass über die Frage, ob diese fiktiv gewesen seien oder nicht, erst mit der endgültigen Entscheidung im Strafverfahren entschieden werde. Wegen dieser widersprüchlichen Auffassungen hinsichtlich der erhobenen Beweise, ihres rechtlichen Werts und ihrer Eignung, nachzuweisen, dass Umsätze fiktiv oder real seien, stecke der Steuerpflichtige in der Zwickmühle. Er habe keinerlei Möglichkeit, sein Recht auf Vorsteuerabzug auszuüben. Mit der nationalen Regelung sei offenbar eine zusätzliche Voraussetzung für die Anerkennung des Rechts auf Vorsteuerabzug eingeführt worden, nämlich, dass im Strafverfahren bestätigt werde, dass die betreffenden Umsätze real gewesen seien. Eine solche Voraussetzung ergebe sich weder aus den einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts noch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs. 27 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es, da die materielle Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids vom 3. November 2016 nicht Gegenstand des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sei, nicht darüber befinden könne, ob die Umstände, die in dem Bescheid genannt würden, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs genügten, um das Recht auf Vorsteuerabzug versagen zu können. 28 Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass Cridar derzeit keine gerichtliche Entscheidung über die Begründetheit ihres Einspruchs erlangen könne, da ein Steuerbescheid nach der nationalen Rechtsprechung gemäß Art. 281 der Steuerverfahrensordnung nur dann vor Gericht angefochten werden könne, wenn mit ihm gleichzeitig die Entscheidung angefochten werde, mit der über die Begründetheit des Einspruchs entschieden worden sei. Im vorliegenden Fall habe die Steuerbehörde, die die Entscheidung vom 16. März 2017 erlassen habe, aber lediglich das Verfahren ausgesetzt. Nach Art. 278 Abs. 1 der Steuerverfahrensordnung habe der Einspruch keine aufschiebende Wirkung. Dies gelte auch für die Zeit, in der die Entscheidung über ihn ausgesetzt sei. Im Übrigen habe ein Steuerbescheid immer zur Folge, dass die Steuerlast auf den Steuerpflichtigen übertragen werde. 29 Das vorlegende Gericht fragt sich deshalb, ob es gegen den in der Mehrwertsteuerrichtlinie verbürgten Grundsatz der Steuerneutralität verstoße, dass die Steuerbehörde in einem ersten Schritt einen Steuerbescheid erlasse, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug mit sofortiger Wirkung versagt werde, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt nicht über sämtliche objektiven Informationen über die Beteiligung des Steuerpflichtigen an einem Mehrwertsteuerbetrug verfüge, und in einem zweiten Schritt die Entscheidung über den gegen den Steuerbescheid eingelegten Einspruch ausgesetzt werde, bis der Sachverhalt in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, in dem die Beteiligung des Steuerpflichtigen an dem Steuerbetrug festgestellt werden solle, aufgeklärt worden sei. Es fragt sich ferner, ob eine solche Vorgehensweise insoweit mit dem in Art. 47 der Charta verbürgten Recht auf ein faires Verfahren vereinbar sei, als der Steuerbescheid in der Zeit, in der die Entscheidung über den gegen ihn erhobenen Einspruch ausgesetzt sei, vollziehbar bleibe, ohne dass der Steuerpflichtige den Steuerbescheid vor Gericht anfechten könne, da dies den Erlass einer Entscheidung, mit der über die Begründetheit des Einspruchs entschieden worden sei, voraussetze. Es könne dabei einen Unterschied machen, ob die Vollziehung der angefochtenen Bescheide unter den Voraussetzungen der Art. 14 und 15 der Verwaltungsgerichtsordnung ausgesetzt worden sei, so dass die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug vorläufig keine Wirkung entfalte. 30 Die Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind die Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die es den Steuerbehörden, nachdem sie einen Steuerbescheid erlassen haben, mit dem die Anerkennung des Rechts auf Vorsteuerabzug abgelehnt wird, erlauben, die Entscheidung über den gegen den Steuerbescheid eingelegten Einspruch bis zum Abschluss eines Strafverfahrens auszusetzen, das zusätzliche objektive Anhaltspunkte für die Beteiligung des Steuerpflichtigen an dem in Rede stehenden Steuerbetrug liefern könnte? 2. Könnte die Antwort des Gerichtshofs auf die vorstehende Frage anders ausfallen, wenn dem Steuerpflichtigen während der Aussetzung der Entscheidung über den Einspruch vorläufige Maßnahmen gewährt würden, mit denen die Wirkungen der Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug ausgesetzt werden? Zu den Vorlagefragen 31 Es bietet sich an, die beiden Vorlagefragen zusammen zu prüfen. Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den nationalen Steuerbehörden erlaubt, die Entscheidung über einen Einspruch gegen einen Steuerbescheid, mit dem einem Steuerpflichtigen wegen seiner Beteiligung an einem Steuerbetrug das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, bis zum Abschluss eines Strafverfahrens, das zusätzliche objektive Informationen über die Beteiligung an dem Steuerbetrug liefern könnte, auszusetzen, und ob es insoweit erheblich ist, dass der Steuerpflichtige für die Zeit, in der das Verfahren ausgesetzt ist, eine Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheids erwirken kann. 32 Hierzu ist als Erstes festzustellen, dass das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist. Wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, ist das in den Art. 167 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden, sofern die materiellen wie auch formalen Anforderungen oder Bedingungen, denen dieses Recht unterliegt, von den Steuerpflichtigen, die es ausüben wollen, eingehalten werden (Urteile vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 31). 33 Allerdings ist die Bekämpfung von Betrug, Steuerhinterziehung und etwaigen Missbräuchen ein Ziel, das mit der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird, und der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist. Daher haben die nationalen Behörden und Gerichte das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (Urteile vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 45). 34 Dies ist nicht nur der Fall, wenn der Steuerpflichtige selbst einen Betrug begeht, sondern auch, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen war. Das Recht auf Vorsteuerabzug kann daher nur unter der Voraussetzung versagt werden, dass aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit dem Erwerb dieser Gegenstände oder der Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen an einem Umsatz beteiligt hat, der in eine vom Lieferer bzw. Leistenden oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 46). 35 Da die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug eine Ausnahme von dem Grundprinzip ist, das dieses Recht darstellt, obliegt es den Steuerbehörden, die objektiven Umstände rechtlich hinreichend nachzuweisen, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige selbst einen Mehrwertsteuerbetrug begangen hat oder wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in einen Betrug einbezogen war (Urteile vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 50). 36 Da das Unionsrecht keine Regeln über die Modalitäten der Beweiserhebung beim Mehrwertsteuerbetrug vorsieht, müssen die betreffenden objektiven Umstände von der Steuerverwaltung gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts ermittelt werden. Diese Regeln dürfen jedoch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen und müssen die durch das Unionsrecht, insbesondere die Charta, garantierten Rechte beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 4. Juni 2020, C. F. [Steuerprüfung], C‑430/19, EU:C:2020:429, Rn. 45). 37 Vor diesem Hintergrund und vorbehaltlich dieser Voraussetzungen hat der Gerichtshof in dem Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832), in Rn. 68 entschieden, dass das Unionsrecht dem, dass die Steuerbehörde im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens zur Feststellung einer missbräuchlichen Praxis im Bereich der Mehrwertsteuer Beweise verwenden darf, die im Rahmen eines parallel geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens gegen den Steuerpflichtigen erlangt wurden, nicht entgegensteht, sofern die durch das Unionsrecht, insbesondere die Charta, garantierten Rechte beachtet werden. Unter dieser Voraussetzung muss sich die nationale Steuerbehörde bei der Feststellung eines Mehrwertsteuerbetrugs auch auf Beweise stützen können, die in nicht abgeschlossenen Strafverfahren, die nicht gegen den Steuerpflichtigen geführt werden, oder in konnexen Verwaltungsverfahren, an denen der Steuerpflichtige nicht beteiligt war, erlangt wurden, wie der Gerichtshof in Rn. 38 des Urteils vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary (C‑189/18, EU:C:2019:861), im Wesentlichen entschieden hat. 38 Unter der Voraussetzung, dass die durch das Unionsrecht, insbesondere die Charta, garantierten Rechte beachtet werden, steht das Unionsrecht demnach grundsätzlich auch nicht dem entgegen, dass die Steuerbehörden im Rahmen der Prüfung eines Einspruchs gegen einen Steuerbescheid, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, die Entscheidung über den Einspruch aussetzen, um weitere objektive Beweise dafür zu erlangen, dass der Steuerpflichtige an dem Steuerbetrug beteiligt war, wegen dessen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde. Denn, da das Unionsrecht unter der genannten Voraussetzung nicht dem entgegensteht, dass die Steuerbehörde in einem Verwaltungsverfahren zur Feststellung eines Betrugs oder eines Missbrauchs im Bereich der Mehrwertsteuer Beweise verwertet, die in einem Strafverfahren erlangt wurden, kann es unter derselben Voraussetzung grundsätzlich auch nicht dem entgegenstehen, dass ein solches Verwaltungsverfahren – auch im Stadium der Prüfung des Einspruchs gegen den Steuerbescheid, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde – ausgesetzt wird, insbesondere um zu vermeiden, dass einander widersprechende Entscheidungen ergehen, die geeignet sind, die Rechtssicherheit zu beeinträchtigen, oder – wie im Ausgangsrechtsstreit – um die Erhebung etwaiger weiterer Beweise zu ermöglichen, die dann bei der Prüfung des Einspruchs herangezogen werden könnten. 39 Da in solchen Fällen bereits ein Steuerbescheid ergangen ist, mit dem dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, und da dieses Recht ein Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems durch die Mitgliedstaaten geltenden Grundsätze, im Besonderen jene der steuerlichen Neutralität und der Rechtssicherheit, bei Bestehen von nicht untermauerten bloßen Zweifeln der nationalen Steuerverwaltung an der tatsächlichen Durchführung der der Ausstellung einer Steuerrechnung zugrunde liegenden Umsätze einer Verweigerung des Vorsteuerabzugs gegenüber dem steuerpflichtigen Empfänger dieser Rechnung entgegenstehen, wenn er neben dieser Rechnung keine anderen Nachweise für das tatsächliche Vorliegen der getätigten Umsätze vorlegen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Oktober 2015, PPUH Stehcemp, C‑277/14, EU:C:2015:719, Rn. 50, und vom 4. Juni 2020, C. F. [Steuerprüfung], C‑430/19, EU:C:2020:429, Rn. 44 und 49). Das Recht auf Vorsteuerabzug kann nicht auf der Grundlage von Vermutungen versagt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht in seiner ersten Frage ausdrücklich darauf hin, dass die Aussetzung des Verfahrens, um die es im Ausgangsverfahren geht, angeordnet worden sei, weil das Strafverfahren, bis zu dessen Abschluss das Verfahren ausgesetzt worden sei, möglicherweise „weitere“ objektive Beweise für die Beteiligung des Steuerpflichtigen an dem Steuerbetrug liefern werde, wegen dessen das Recht auf Vorsteuerabzug im Steuerbescheid versagt worden sei. 41 Da die Vorlagefragen auf dieser tatsächlichen Annahme beruhen – die das vorlegende Gericht gleichwohl zu überprüfen haben wird – und der Gerichtshof diese Annahme wegen der klaren Aufgabentrennung, die zwischen ihm und den nationalen Gerichten im Verfahren gemäß Art. 267 AEUV besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Oktober 2014, Traum, C‑492/13, EU:C:2014:2267, Rn. 19, und vom 9. September 2021, Real Vida Seguros, C‑449/20, EU:C:2021:721, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung), nicht in Frage stellen kann, ist, um dem vorlegenden Gericht eine vollständige Antwort zu geben, davon auszugehen, dass die Annahme zutrifft, und mit der Prüfung fortzufahren. 42 Daher ist, da es im Ausgangsverfahren nicht nur um die Modalitäten der Beweiserhebung durch die nationalen Steuerbehörden, sondern auch um die Aussetzung der Entscheidung über einen Einspruch geht, im Hinblick auf die Autonomie, über die die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer Verwaltungsverfahren verfügen, als Zweites festzustellen, dass die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Steuerpflichtigen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, mangels einer einschlägigen Unionsregelung Sache der Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats sind; sie dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige innerstaatliche Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 28 und 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Was den Äquivalenzgrundsatz angeht, ist im vorliegenden Fall festzustellen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht ersichtlich ist, dass Art. 277 Abs. 1 Buchst. a der Steuerverfahrensordnung, auf dessen Grundlage im vorliegenden Fall das Verfahren ausgesetzt worden ist, nur speziell für Prüfungen der Verpflichtungen im Bereich der Mehrwertsteuer gelten würde, womit – vorbehaltlich der Überprüfungen, die das vorlegende Gericht insoweit vorzunehmen haben wird – ein Verstoß gegen diesen Grundsatz ausscheidet (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 30). 44 Was den Effektivitätsgrundsatz angeht, ist nicht ersichtlich, dass die Aussetzung der Entscheidung über einen Einspruch gegen einen Steuerbescheid, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, als solche die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte im Verwaltungsverfahren praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren würde. 45 Als Drittes ist im Hinblick auf die oben in Rn. 38 angestellten Erwägungen zum einen festzustellen, dass die aus dem Recht auf eine gute Verwaltung, das einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts widerspiegelt, folgenden Anforderungen, insbesondere das Recht jeder Person, dass ihre Angelegenheiten unparteiisch und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden, im Rahmen eines Steuerprüfungsverfahrens, mit dem ein Mitgliedstaat das Unionsrecht durchführt, Anwendung finden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Mai 2020, Agrobet CZ, C‑446/18, EU:C:2020:369, Rn. 43 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 21. Oktober 2021, CHEP Equipment Pooling, C‑396/20, EU:C:2021:867, Rn. 48). 46 Da es in einem Rechtsstreit wie dem, der Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, letztlich darum geht, wie die Steuerverwaltung ihre Kontrollbefugnisse ausübt, um ihre sich aus der Anwendung des Unionsrechts ergebende Verpflichtung zu erfüllen, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und Betrug zu bekämpfen, stellt das Verfahren, in dem der Einspruch gegen einen Steuerbescheid geprüft wird, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, eine Durchführung des Unionsrechts durch den betreffenden Mitgliedstaat dar, so dass in ihm das Recht auf eine gute Verwaltung beachtet werden muss (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Wenn ihr das Unionsrecht nicht entgegenstehen soll, darf eine Aussetzung des Verfahrens wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, mithin auch nicht das Recht auf eine gute Verwaltung verletzten, insbesondere nicht zu einer übermäßig langen Verzögerung des Einspruchsverfahrens führen. 48 Zum anderen ist festzustellen, dass die durch die Charta garantierten Rechte auch auf einen Rechtsstreit wie den des Ausgangsverfahrens Anwendung finden. Die Aussetzung des Verfahrens, die vor dem vorlegenden Gericht angefochten wird, ist nämlich Teil eines Verwaltungsverfahrens, in dem einem Steuerpflichtigen wegen seiner Beteiligung an einem Steuerbetrug, mit dem gegen die Grundsätze verstoßen wird, die für das vom Unionsgesetzgeber geschaffene gemeinsame Mehrwertsteuersystem gelten, das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, und stellt damit eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Das vorlegende Gericht hat insoweit Fragen zur Auslegung von Art. 47 der Charta, nach dem jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in ihm vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, als Cridar, solange die Entscheidung über den Einspruch gegen den Steuerbescheid, mit dem ihr das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, ausgesetzt ist, keine Klage erheben kann. Klage kann nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften nämlich erst erhoben werden, nachdem eine Entscheidung über die Begründetheit des Einspruchs ergangen ist. 50 Zwar hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes mehrere Elemente umfasst, zu denen u. a. das Recht auf Zugang zu den Gerichten gehört (Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horaţiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht aber ebenfalls hervor, dass das Recht auf Zugang zu den Gerichten kein absolutes Recht ist und daher verhältnismäßigen, einem legitimen Zweck dienenden und dieses Recht nicht in seinem Wesensgehalt antastenden Beschränkungen unterworfen sein kann (Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horaţiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass Cridar, solange die Entscheidung über ihren Einspruch ausgesetzt ist, in der Tat daran gehindert ist, gegen den Steuerbescheid, mit dem ihr das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, Klage zu erheben. Wie bereits ausgeführt, wird mit der Aussetzung der Entscheidung über den Einspruch aber ein legitimes Ziel verfolgt (siehe oben, Rn. 38) und ist Cridar nicht unangemessen lang an der Erhebung einer Klage gehindert (siehe oben, Rn. 45 bis 47). Ferner ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass im Ausgangsverfahren unstreitig ist, dass Cridar gegen die Entscheidung, mit der über die Begründetheit ihres Einspruchs entschieden werden wird, Klage erheben können wird. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Recht eines Steuerpflichtigen wie Cridar auf Zugang zu den Gerichten, wie es durch Art. 47 der Charta garantiert wird, durch eine solche Aussetzung der Entscheidung über einen Einspruch unverhältnismäßig beeinträchtigt würde. 52 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist für die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle ferner erforderlich, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann, entweder durch die Lektüre der Entscheidung selbst oder durch eine auf seinen Antrag hin erfolgte Mitteilung dieser Gründe, unbeschadet der Befugnis des zuständigen Gerichts, von der betreffenden Behörde die Übermittlung dieser Gründe zu verlangen, um es ihm zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, das zuständige Gericht anzurufen, und um dieses vollständig in die Lage zu versetzen, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der fraglichen nationalen Entscheidung auszuüben (Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken, C‑225/19 und C‑226/19, EU:C:2020:951, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 53 Wenn eine Aussetzung der Entscheidung über einen Einspruch gegen einen Steuerbescheid, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, mit Art. 47 der Charta in Einklang stehen soll, muss die Entscheidung, mit der die Aussetzung verfügt wird, daher zudem in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begründet sein, nicht nur, damit der Steuerpflichtige erfährt, aus welchen Gründen angenommen wird, dass die Aussetzung des Verfahrens erforderlich ist, um zweckmäßig über seinen Einspruch entscheiden zu können, und er seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen verteidigen kann, sondern auch, um den Richter, der über eine Klage gegen die Entscheidung, das Verfahren auszusetzen, zu entscheiden hat, vollständig in die Lage zu versetzen, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung auszuüben. 54 Im Übrigen ergibt sich die Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen, wenn sie das Unionsrecht durchführt, bereits aus dem Recht auf eine gute Verwaltung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken, C‑225/19 und C‑226/19, EU:C:2020:951, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich am Ende herausstellt, dass dem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug unter Verstoß gegen das Unionsrecht versagt worden ist, ist als Viertes noch darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte darstellt, die dem Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind daher grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Abgaben zu erstatten. Dem Antrag auf Erstattung zu viel entrichteter Mehrwertsteuer liegt der Anspruch auf Rückzahlung rechtsgrundlos gezahlter Beträge zugrunde, der die Folgen der Unvereinbarkeit der Abgabe mit dem Unionsrecht dadurch beheben soll, dass die mit der Abgabe zu Unrecht auferlegte wirtschaftliche Belastung des Wirtschaftsteilnehmers, der sie letztlich tatsächlich getragen hat, neutralisiert wird (Urteile vom 14. Juni 2017, Compass Contract Services, C‑38/16, EU:C:2017:454, Rn. 29 und 30 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 2. Juli 2020, Terracult, C‑835/18, EU:C:2020:520, Rn. 24). 56 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Unternehmer durch die Abzugsregelung vollständig von der im Rahmen all seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden soll. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet folglich die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten im Prinzip selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteile vom 14. Februar 1985, Rompelman, 268/83, EU:C:1985:74, Rn. 19, und vom 11. November 2021, Ferimet, C‑281/20, EU:C:2021:910, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). 57 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Einzelheiten der Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses zwar über einen gewissen Spielraum verfügen, dass diese Einzelheiten aber den Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems nicht dadurch beeinträchtigen dürfen, dass der Steuerpflichtige ganz oder teilweise mit dieser Steuer belastet wird. Insbesondere müssen diese Einzelheiten es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus dem Vorsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, was impliziert, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt und dass dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung auf keinen Fall ein finanzielles Risiko entstehen darf (Urteile vom 6. Juli 2017, Glencore Agriculture Hungary, C‑254/16, EU:C:2017:522, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 37 und 38). 58 Der Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems verlangt, dass die finanziellen Verluste, die dem Steuerpflichtigen, wenn ihm der Mehrwertsteuerüberschuss nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, durch die fehlende Verfügbarkeit der fraglichen Geldbeträge entstehen, durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juli 2017, Glencore Agriculture Hungary, C‑254/16, EU:C:2017:522, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 12. Mai 2021, technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 59 Diese Grundsätze sind entsprechend auch in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens anwendbar, da die unrechtmäßige Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug durch einen sofort vollziehbaren Steuerbescheid ebenfalls bewirkt, dass dem Steuerpflichtigen der Betrag, der der Vorsteuer entspricht, deren Abzug unter Verstoß gegen das Unionsrecht versagt wurde, nicht zur Verfügung steht. 60 Wenn eine Aussetzung der Entscheidung über einen Einspruch gegen einen Steuerbescheid, mit dem das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, in Einklang mit dem Unionsrecht stehen soll, muss die einschlägige nationale Regelung daher für den Fall, dass sich herausstellen sollte, dass der Vorsteuerabzug unter Verstoß gegen das Unionsrecht versagt worden ist, vorsehen, dass der Steuerpflichtige den entsprechenden Betrag in angemessener Frist erstattet verlangen kann, gegebenenfalls nebst Verzugszinsen. 61 Als Fünftes ist schließlich festzustellen, dass es, sofern die sich aus den vorstehenden Erwägungen ergebenden Anforderungen eingehalten werden, nicht erforderlich ist, dass während der Dauer der Aussetzung der Entscheidung über den Einspruch stets auch die Vollziehung des Steuerbescheids, gegen den der Einspruch eingelegt wurde, ausgesetzt wird. Es genügt, wenn die einschlägige nationale Regelung vorsieht, dass es im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes möglich ist, die Vollziehung bei begründeten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids auszusetzen, wenn dies erforderlich ist, um eine schwere, nicht wiedergutzumachende Beeinträchtigung der Interessen des Steuerpflichtigen zu verhindern. 62 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, die es den nationalen Steuerbehörden erlaubt, die Entscheidung über einen Einspruch gegen einen Steuerbescheid, mit dem einem Steuerpflichtigen wegen seiner Beteiligung an einem Steuerbetrug das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, auszusetzen, um zusätzliche objektive Informationen über die Beteiligung an dem Steuerbetrug zu erlangen, nicht entgegenstehen, sofern erstens die Aussetzung nicht zu einer übermäßig langen Verzögerung des Einspruchsverfahrens führt, zweitens die Entscheidung, mit der die Aussetzung verfügt wird, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begründet ist und einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden kann und drittens der Steuerpflichtige, falls sich herausstellen sollte, dass der Vorsteuerabzug unter Verstoß gegen das Unionsrecht versagt worden ist, den entsprechenden Betrag in angemessener Frist erstattet verlangen kann, gegebenenfalls nebst Verzugszinsen. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht erforderlich, dass während der Dauer der Aussetzung der Entscheidung über den Einspruch auch die Vollziehung des Steuerbescheids, gegen den der Einspruch eingelegt wurde, ausgesetzt wird, es sei denn, dies ist bei begründeten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids erforderlich, um eine schwere, nicht wiedergutzumachende Beeinträchtigung der Interessen des Steuerpflichtigen zu verhindern. Kosten 63 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, die es den nationalen Steuerbehörden erlaubt, die Entscheidung über einen Einspruch gegen einen Steuerbescheid, mit dem einem Steuerpflichtigen wegen seiner Beteiligung an einem Steuerbetrug das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, auszusetzen, um zusätzliche objektive Informationen über die Beteiligung an dem Steuerbetrug zu erlangen, nicht entgegenstehen, sofern erstens die Aussetzung nicht zu einer übermäßig langen Verzögerung des Einspruchsverfahrens führt, zweitens die Entscheidung, mit der die Aussetzung verfügt wird, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht begründet ist und einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden kann und drittens der Steuerpflichtige, falls sich herausstellen sollte, dass der Vorsteuerabzug unter Verstoß gegen das Unionsrecht versagt worden ist, den entsprechenden Betrag in angemessener Frist erstattet verlangen kann, gegebenenfalls nebst Verzugszinsen. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht erforderlich, dass während der Dauer der Aussetzung der Entscheidung über den Einspruch auch die Vollziehung des Steuerbescheids, gegen den der Einspruch eingelegt wurde, ausgesetzt wird, es sei denn, dies ist bei begründeten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids erforderlich, um eine schwere, nicht wiedergutzumachende Beeinträchtigung der Interessen des Steuerpflichtigen zu verhindern. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 24. Februar 2022.#PJ gegen Agenzia delle dogane e dei monopoli - Ufficio dei monopoli per la Toscana und Ministero dell'Economia e delle Finanze.#Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Richtlinie 2014/40/EU – Art. 23 Abs. 3 – Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation zur Eindämmung des Tabakkonsums – Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige – Sanktionssystem – Wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen – Verpflichtung für die Verkäufer von Tabakerzeugnissen, bei deren Verkauf das Alter des Käufers zu überprüfen – Bußgeld – Betrieb einer Tabakverkaufsstelle – Aussetzung der Betriebslizenz für einen Zeitraum von 15 Tagen – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Vorsorgeprinzip.#Rechtssache C-452/20.
62020CJ0452
ECLI:EU:C:2022:111
2022-02-24T00:00:00
Gerichtshof, Szpunar
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62020CJ0452 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 24. Februar 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Richtlinie 2014/40/EU – Art. 23 Abs. 3 – Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation zur Eindämmung des Tabakkonsums – Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige – Sanktionssystem – Wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen – Verpflichtung für die Verkäufer von Tabakerzeugnissen, bei deren Verkauf das Alter des Käufers zu überprüfen – Bußgeld – Betrieb einer Tabakverkaufsstelle – Aussetzung der Betriebslizenz für einen Zeitraum von 15 Tagen – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Vorsorgeprinzip“ In der Rechtssache C‑452/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 5. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 23. September 2020, in dem Verfahren PJ gegen Agenzia delle dogane e dei monopoli – Ufficio dei monopoli per la Toscana, Ministero dell’Economia e delle Finanze erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), der Richterin I. Ziemele sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von PJ, vertreten durch A. Celotto, Avvocato, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Collabolletta, Avvocato dello Stato, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér, G. Koós und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Hödlmayr und A. Spina als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Oktober 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Vorsorgeprinzips, des Art. 5 EUV sowie der Erwägungsgründe 8, 21 und 60, des Art. 1 und des Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. 2014, L 127, S. 1, berichtigt in ABl. 2015, L 150, S. 24). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen PJ und der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli – Ufficio dei monopoli per la Toscana (Zoll- und Monopolagentur – Monopolagentur für die Toskana, Italien) (im Folgenden: Zollagentur) sowie dem Ministero dell’economia e delle finanze (Wirtschafts- und Finanzminister, Italien) über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Zollagentur, mit der diese gegen PJ ein Bußgeld und eine zusätzliche Verwaltungssanktion verhängt hat, die in der 15-tägigen Aussetzung seiner Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle bestand. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 Das am 21. Mai 2003 in Genf unterzeichnete Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Eindämmung des Tabakkonsums (im Folgenden: FCTC) wurde mit dem Beschluss 2004/513/EG des Rates vom 2. Juni 2004 (ABl. 2004, L 213, S. 8) im Namen der Europäischen Union genehmigt. Nach der Präambel des FCTC erkennen die Vertragsstaaten des Rahmenübereinkommens an, dass „wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig bewiesen haben, dass Tabakkonsum und Passivrauchen zu Tod, Krankheit und Invalidität führen und dass tabakbedingte Krankheiten zeitlich verzögert nach dem Rauchen und anderen Formen des Gebrauchs von Tabakerzeugnissen auftreten“. 4 Art. 16 Abs. 1 und 6 FCTC sieht vor: „(1)   Jede Vertragspartei beschließt wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen auf der geeigneten staatlichen Ebene und führt solche Maßnahmen durch, um den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Personen unter dem durch internes oder innerstaatliches Recht festgelegten Alter oder unter einem Alter von 18 Jahren zu verhindern. Diese Maßnahmen können Folgendes umfassen: a) Vorschriften, dass alle Verkäufer von Tabakerzeugnissen in ihrer Verkaufsstelle einen klaren und deutlich sichtbaren Hinweis auf das Verbot der Abgabe von Tabakerzeugnissen an Minderjährige anbringen und im Zweifelsfall verlangen, dass jeder Käufer von Tabakerzeugnissen in geeigneter Form nachweist, dass er volljährig ist; b) Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen in einer Art und Weise, bei der sie direkt zugänglich sind, zum Beispiel in Warenregalen; c) Verbot der Herstellung und des Verkaufs von Süßigkeiten, Snacks, Spielzeug oder sonstigen Gegenständen in der Form von Tabakerzeugnissen, die Minderjährige ansprechen, und d) Sicherstellung, dass Zigarettenautomaten in ihrem Hoheitsbereich für Minderjährige nicht zugänglich sind und nicht für den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige werben. … (6)   Jede Vertragspartei beschließt wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen, einschließlich Strafen gegen Verkäufer und Händler, und führt solche Maßnahmen durch, um die Einhaltung der in den Absätzen 1 bis 5 enthaltenen Verpflichtungen sicherzustellen.“ Unionsrecht 5 In den Erwägungsgründen 7, 8, 21, 48 und 60 der Richtlinie 2014/40 heißt es: „(7) Gesetzliche Maßnahmen auf Unionsebene sind außerdem notwendig, um das [FCTC] vom Mai 2003 umzusetzen, dessen Bestimmungen für die Union und ihre Mitgliedstaaten bindend sind. Besonders relevant sind die FCTC‑Regelung bezüglich der Inhaltsstoffe von Tabakerzeugnissen, der Bekanntgabe von Angaben über Tabakerzeugnisse, Verpackung und Etikettierung von Tabakerzeugnissen, Tabakwerbung, Förderung des Tabakverkaufs und Tabaksponsoring und dem unerlaubten Handel mit Tabakerzeugnissen. Die Vertragsparteien des FCTC, einschließlich der Union und ihrer Mitgliedstaaten, haben im Verlauf mehrerer Konferenzen einvernehmlich Leitlinien für die Umsetzung einiger FCTC‑Artikel angenommen. (8) Gemäß Artikel 114 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) soll im Gesundheitsbereich bei Gesetzgebungsvorschlägen von einem hohen Schutzniveau ausgegangen werden, wobei insbesondere alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen zu berücksichtigen sind. Tabakerzeugnisse sind keine gewöhnlichen Erzeugnisse, und angesichts der besonders schädlichen Wirkungen von Tabakerzeugnissen auf die menschliche Gesundheit sollte dem Gesundheitsschutz große Bedeutung beigemessen werden, insbesondere um die Verbreitung des Rauchens bei jungen Menschen zu senken. … (21) Im Einklang mit dem Zweck dieser Richtlinie, nämlich das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern – ausgehend von einem hohen Gesundheitsschutzniveau besonders für junge Menschen –, und im Einklang mit der Empfehlung 2003/54/EG des Rates [vom 2. Dezember 2002 zur Prävention des Rauchens und für Maßnahmen zur gezielteren Eindämmung des Tabakkonsums (ABl. 2003, L 22, S. 31)] sollten die Mitgliedstaaten dazu angehalten werden, den Verkauf dieser Erzeugnisse an Kinder und Jugendliche zu verhindern, indem sie geeignete Maßnahmen zur Festlegung und Durchsetzung von Altersgrenzen erlassen. … (48) Ferner werden mit dieser Richtlinie weder die Vorschriften über rauchfreie Zonen oder heimische Verkaufsmodalitäten oder heimischer Werbung oder ‚brand-stretching‘ (Verwendung von Tabak-Markennamen bei anderen tabakfremden Produkten oder Dienstleistungen) harmonisiert noch wird mit ihr eine Altersgrenze für elektronische Zigaretten oder Nachfüllbehälter eingeführt. In jedem Fall sollte die Aufmachung elektronischer Zigaretten oder Nachfüllbehälter und die Werbung dafür nicht zur Förderung des Tabakkonsums oder zu Verwechslungen mit Tabakerzeugnissen führen. Den Mitgliedstaaten steht es frei, diese Angelegenheiten in den Grenzen ihrer eigenen Zuständigkeit zu regeln, und sie werden dazu ermutigt, dies zu tun. … (60) Da die Ziele dieser Richtlinie, nämlich die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen, von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 EUV verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Verwirklichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus …“ 6 Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt: „Ziel dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für a) die Inhaltsstoffe und Emissionen von Tabakerzeugnissen und die damit verbundenen Meldepflichten, einschließlich der Emissionshöchstwerte von Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid von Zigaretten; b) bestimmte Aspekte der Kennzeichnung und Verpackung von Tabakerzeugnissen, unter anderem die gesundheitsbezogenen Warnhinweise, die auf den Packungen und den Außenverpackungen von Tabakerzeugnissen erscheinen müssen, sowie die Rückverfolgbarkeit und die Sicherheitsmerkmale, die für Tabakerzeugnisse angewendet werden, um ihre Übereinstimmung mit dieser Richtlinie zu gewährleisten; c) das Verbot des Inverkehrbringens von Tabak zum oralen Gebrauch; d) den grenzüberschreitenden Verkauf von Tabakerzeugnissen im Fernabsatz; e) die Pflicht zur Meldung neuartiger Tabakerzeugnisse; f) das Inverkehrbringen und die Kennzeichnung bestimmter Erzeugnisse, die mit Tabakerzeugnissen verwandt sind, nämlich elektronische Zigaretten und Nachfüllbehälter sowie pflanzliche Raucherzeugnisse, damit – ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen – das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse erleichtert wird und die Verpflichtungen der Union im Rahmen des [FCTC] eingehalten werden.“ 7 Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten legen für Verstöße gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften Sanktionen fest und treffen die zur Anwendung dieser Sanktionen erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Verwaltungssanktionen finanzieller Art, die für vorsätzliche Verstöße verhängt werden, dürfen so gestaltet sein, dass sie den durch den Verstoß angestrebten wirtschaftlichen Vorteil aufheben.“ Italienisches Recht 8 Art. 25 Abs. 2 des Regio decreto n. 2316 – Approvazione del testo unico delle leggi sulla protezione ed assistenza della maternità ed infanzia (Königliche Verordnung Nr. 2316 – Billigung der kodifizierten Fassung der Vorschriften über den Schutz und die Unterstützung von Müttern und Kindern) vom 24. Dezember 1934 (GURI Nr. 47 vom 25. Februar 1935, S. 811), ersetzt durch Art. 24 Abs. 3 des Decreto legislativo n. 6 – Recepimento della direttiva 2014/40/UE sul ravvicinamento delle disposizioni legislative, regolamentari e amministrative degli Stati membri relative alla lavorazione, alla presentazione e alla vendita dei prodotti del tabacco e dei prodotti correlati e che abroga la direttiva 2001/37/CE (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 6 zur Umsetzung der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG) vom 12. Januar 2016 (GURI Nr. 13 vom 18. Januar 2016, S. 102) (im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 6/2016), bestimmt: „Wer Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten, Nikotin enthaltende Nachfüllbehälter oder neuartige Tabakerzeugnisse verkauft, ist verpflichtet, beim Kauf die Vorlage eines Identitätsnachweises vom Käufer zu verlangen, es sei denn, dass dieser ersichtlich volljährig ist. Wer Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten, Nikotin enthaltende Nachfüllbehälter oder neuartige Tabakerzeugnisse an Minderjährige unter 18 Jahren verkauft oder abgibt, gegen den wird ein Bußgeld in Höhe von 500,00 Euro bis 3000,00 Euro sowie eine 15-tägige Aussetzung der Lizenz zur Ausübung der Tätigkeit verhängt. Bei mehr als einmaliger Übertretung wird ein Bußgeld in Höhe von 1000,00 Euro bis 8000,00 Euro verhängt und die Lizenz zur Ausübung der Tätigkeit widerrufen.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 9 PJ ist Inhaber einer Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle, mit der ihm der Verkauf von Tabakerzeugnissen gestattet wird, die in Italien einem staatlichen Monopol unterliegen. 10 Im Februar 2016 stellt die Zollagentur bei einer Kontrolle fest, dass PJ Zigaretten an einen Minderjährigen verkauft hatte. 11 In Anwendung von Art. 24 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 6/2016 verhängte die Zollagentur gegen PJ ein Bußgeld in Höhe von 1000 Euro sowie eine zusätzliche Verwaltungssanktion, die in der 15-tägigen Aussetzung seiner Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle bestand. 12 PJ beglich das gegen ihn verhängte Bußgeld. Die zusätzliche Verwaltungssanktion, mit der seine Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle ausgesetzt worden war, focht er hingegen beim Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana (Verwaltungsgericht der Region Toskana, Italien) an. Das Gericht wies die Klage von PJ mit einem Urteil vom 27. November 2018 ab. 13 PJ legte gegen das Urteil des Tribunale Amministrativo Regionale per la Toscana (Verwaltungsgericht der Region Toskana) Berufung beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, ein. Er machte geltend, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung mit der Richtlinie 2014/40 unvereinbar sei, u. a., weil die Aussetzung seiner Lizenz unangemessen und unverhältnismäßig sei, da diese Sanktion aufgrund eines einzigen und erstmaligen Verstoßes gegen ihn verhängt worden sei. Die Regelung räume mithin dem Vorsorgeprinzip Vorrang ein, um das Recht von Minderjährigen auf Gesundheit zu gewährleisten, was zu einem Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz führe. 14 Hierzu geht das vorlegende Gericht davon aus, dass bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sanktionen der Vorrang zu berücksichtigen ist, den die Richtlinie 2014/40 dem Schutz der Gesundheit junger Menschen einräume. 15 Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Interesse am Schutz der Gesundheit junger Menschen und dem Recht der Wirtschaftsteilnehmer auf Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit durch den Verkauf von Tabakerzeugnissen überlasse es Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 den Mitgliedstaaten, Sanktionsregelungen festzulegen, die darauf abzielten, das Ziel eines Verbots des Tabakkonsums durch Minderjährige zu erreichen. Die Bestimmung sehe zwar vor, dass finanzielle Sanktionen so gestaltet sein dürften, dass sie den durch den Verstoß angestrebten wirtschaftlichen Vorteil aufhöben, der Unionsgesetzgeber habe aber nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, andere Verwaltungssanktionen als finanzielle zu verhängen. 16 In diesem Zusammenhang ist das Gericht der Auffassung, dass der italienische Gesetzgeber mit der Aussetzung der Betriebslizenz, die Wirtschaftsteilnehmern den Verkauf von Tabakerzeugnissen gestatte, im Einklang mit den Anforderungen der Richtlinie 2014/40 dem Schutz der menschlichen Gesundheit den Vorrang gegenüber dem Recht von Unternehmern auf Verkauf von Tabakerzeugnissen eingeräumt habe. Die aufgrund dieser Aussetzung erlittenen finanziellen Verluste der Unternehmer seien daher gerechtfertigt und angemessen. 17 Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Verstößt Art. 25 Abs. 2 der Königlichen Verordnung Nr. 2316 vom 24. Dezember 1934, ersetzt durch Art. 24 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 6/2016 – insoweit, als er festlegt „[w]er Tabakerzeugnisse, elektronische Zigaretten, Nikotin enthaltende Nachfüllbehälter oder neuartige Tabakerzeugnisse an Minderjährige unter 18 Jahren verkauft oder abgibt, gegen den wird ein Bußgeld in Höhe von 500,00 Euro bis 3000,00 Euro sowie die 15-tägige Aussetzung der Lizenz zur Ausübung der Tätigkeit verhängt“ –, gegen die unionsrechtlichen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Vorsorge, wie sie sich aus Art. 5 EUV, Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 sowie aus den Erwägungsgründen 21 und 60 dieser Richtlinie ergeben, indem er dem Vorsorgeprinzip Vorrang einräumt, ohne es durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abzumildern, und auf diese Weise unverhältnismäßig die Interessen der Wirtschaftsteilnehmer zugunsten des Schutzes des Rechts auf Gesundheit opfert und so keinen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Grundrechten gewährleistet, noch dazu mit einer Sanktion, die unter Verstoß gegen den achten Erwägungsgrund der Richtlinie nicht wirksam das Ziel verfolgt, die Verbreitung des Rauchens bei jungen Menschen einzuschränken? Zur Vorlagefrage Vorbemerkungen 18 Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es ist nämlich seine Aufgabe, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die staatlichen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den ihm von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social [Rentenzulage für Mütter], C‑450/18, EU:C:2019:1075, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). 19 Auch wenn das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache seine Fragen formal auf die Auslegung von Art. 5 EUV einerseits und der Bestimmungen der Richtlinie 2014/40 andererseits beschränkt hat, hindert dies den Gerichtshof nicht daran, ihm alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, Instituto Nacional de la Seguridad Social [Rentenzulage für Mütter], C‑450/18, EU:C:2019:1075, Rn. 26). 20 Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, stellte die Zollagentur bei einer Kontrolle fest, dass PJ unter Verstoß gegen das Verbot, Tabakerzeugnisse an Minderjährige zu verkaufen, Zigaretten an einen Minderjährigen verkauft hatte. Die Zollagentur verhängte gegen PJ folglich auf Grundlage des nationalen Rechts eine Verwaltungssanktion finanzieller Art und eine zusätzliche Verwaltungssanktion, die in der Aussetzung seiner Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle für eine Dauer von 15 Tagen bestand. 21 In diesem Zusammenhang ist erstens zur Anwendbarkeit von Art. 5 EUV auf den vorliegenden Fall festzustellen, dass das vorlegende Gericht – wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt – unter Bezugnahme auf diesen Artikel konkret die Frage nach der Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aufwirft, wie er in Art. 5 Abs. 4 EUV vorgesehen ist. 22 Diese Bestimmung bezieht sich auf das Handeln der Unionsorgane. Gemäß Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 EUV gehen die Maßnahmen der Union nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit inhaltlich und formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus. Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 2 EUV betrifft die Organe der Union, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzuwenden haben, wenn sie in Ausübung einer Zuständigkeit tätig werden (Beschluss vom 13. Februar 2020, МАK ТURS, C‑376/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:99, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung). 23 Im vorliegenden Fall befindet sich die nationale Bestimmung im Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 6/2016, das vom italienischen Gesetzgeber erlassen wurde und die Verhängung von Verwaltungssanktionen bei Verstößen gegen das Verbot betrifft, in Italien Tabakerzeugnisse an Minderjährige zu verkaufen. Unter diesen Umständen ist Art. 5 Abs. 4 EUV auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht anwendbar. 24 Was zweitens die Anwendbarkeit der Richtlinie 2014/40 und ihres Art. 23 Abs. 3 betrifft, ist im vorliegenden Fall als Erstes darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut des 21. Erwägungsgrundes der Richtlinie im Einklang mit deren Zweck – nämlich das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse ausgehend von einem hohen Gesundheitsschutzniveau besonders für junge Menschen zu erleichtern – und im Einklang mit der Empfehlung 2003/54 dazu angehalten werden sollten, den Verkauf dieser Erzeugnisse an Kinder und Jugendliche zu verhindern, indem sie geeignete Maßnahmen zur Festlegung und Durchsetzung von Altersgrenzen erlassen. 25 Wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat sich diese Ermutigung in der Richtlinie 2014/40 allerdings nicht in einer Bestimmung niedergeschlagen, mit der eine Verpflichtung zum Erlass von Maßnahmen auferlegt würde, mit denen der Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige verboten wird. 26 Aus dem 48. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt sich nämlich, dass mit ihr die heimischen Verkaufsmodalitäten nicht harmonisiert werden. In diesem Erwägungsgrund ist weiterhin vorgesehen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, diese Angelegenheiten in den Grenzen ihrer eigenen Zuständigkeit zu regeln, und sie dazu ermutigt werden, dies zu tun. 27 Unter diesen Umständen ist mit dem Generalanwalt in Nr. 45 seiner Schlussanträge davon auszugehen, dass mit der Richtlinie 2014/40 keine Harmonisierung derjenigen Aspekte des Verkaufs vorgenommen wurde, die den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige betreffen. 28 Folglich sind im vorliegenden Fall weder Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 noch diese Richtlinie anwendbar. 29 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass das FCTC mit dem Beschluss 2004/513 im Namen der Union genehmigt wurde. 30 Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass eine von der Union geschlossene internationale Übereinkunft ab ihrem Inkrafttreten fester Bestandteil des Unionsrechts ist (Urteil vom 6. Oktober 2020, Kommission/Ungarn [Hochschulausbildung], C‑66/18, EU:C:2020:792, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich ist das FCTC, wie der Generalanwalt der Sache nach in Nr. 55 seiner Schlussanträge festgestellt hat, fester Bestandteil des Unionsrechts. 31 Nach Art. 16 Abs. 1 („Verkauf an und durch Minderjährige“) des Rahmenabkommens beschließt jede Vertragspartei dieses Abkommens wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen auf staatlicher Ebene und führt solche Maßnahmen durch, um den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Personen unter dem durch internes oder innerstaatliches Recht festgelegten Alter oder unter einem Alter von 18 Jahren zu verhindern. Gemäß Art. 16 Abs. 6 beschließt jede Vertragspartei wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen, einschließlich Strafen gegen Verkäufer und Händler, und führt solche Maßnahmen durch, um die Einhaltung der in Art. 16 Abs. 1 bis 5 des Rahmenabkommens enthaltenen Verpflichtungen sicherzustellen. 32 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende grundsätzlich anhand der in Art. 16 FCTC aufgestellten Anforderungen zu beurteilen ist. 33 Wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, muss die Umsetzung des FCTC, da es ein fester Bestandteil des Unionsrechts ist, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts beachten. 34 Viertens und letztens ist zur Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips im vorliegenden Fall darauf hinzuweisen, dass dieses Prinzip bedeutet, dass bei Unsicherheiten hinsichtlich des Vorliegens oder des Umfangs von Risiken Schutzmaßnahmen getroffen werden können, ohne dass abgewartet werden müsste, dass das Bestehen und die Schwere dieser Risiken vollständig dargelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Mai 2021, Bayer CropScience und Bayer/Kommission, C‑499/18 P, EU:C:2021:367, Rn. 80). Hierzu genügt der Hinweis, dass zum einen keiner der Verfahrensbeteiligten die Risiken in Verbindung mit dem Konsum von Rauchtabakerzeugnissen leugnet und sich zum anderen der Präambel des FCTC entnehmen lässt, dass wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig bewiesen haben, dass Tabakkonsum und Passivrauchen zu Tod, Krankheit und Invalidität führen und dass tabakbedingte Krankheiten zeitlich verzögert nach dem Rauchen und anderen Formen des Gebrauchs von Tabakerzeugnissen auftreten. Das Vorsorgeprinzip ist folglich, wie der Generalanwalt in Nr. 65 seiner Schlussanträge festgestellt hat, auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation nicht anwendbar. 35 Unter diesen Umständen ist die Vorlagefrage so zu verstehen, dass mit ihr im Wesentlichen geklärt werden soll, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer nationalen Regelung entgegensteht, die bei einem ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds eine 15-tägige Aussetzung der Betriebslizenz vorsieht, mit der dem Wirtschaftsteilnehmer, der gegen dieses Verbot verstoßen hat, der Verkauf solcher Waren gestattet wird. Antwort des Gerichtshofs 36 Nach ständiger Rechtsprechung können die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, die Sanktionen wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, ECOTEX BULGARIA, C‑544/19, EU:C:2021:803, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung). 37 Insbesondere dürfen die administrativen oder repressiven Maßnahmen, die nach den nationalen Rechtsvorschriften gestattet sind, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 2016, EL-EM-2001, C‑501/14, EU:C:2016:777, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss vom 12. Juli 2018, Pinzaru und Cirstinoiu, C‑707/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:574, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen und müssen die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Oktober 2016, EL-EM-2001, C‑501/14, EU:C:2016:777, Rn. 39, sowie vom 6. Mai 2021, Bayer CropScience und Bayer/Kommission, C‑499/18 P, EU:C:2021:367, Rn. 166). 39 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Härte der Sanktionen der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen muss, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt (Beschluss vom 12. Juli 2018, Pinzaru und Cirstinoiu, C‑707/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:574, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist, zu beurteilen, ob im vorliegenden Fall gemessen an dem begangenen Verstoß die Aussetzung der Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle zusätzlich zu dem verhängten Bußgeld verhältnismäßig zur Erreichung des mit dem Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige verfolgten legitimen Ziels ist, nämlich der Schutz der menschlichen Gesundheit und die Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen; der Gerichtshof kann dem vorlegenden Gericht aber gleichwohl alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die ihm die Feststellung ermöglichen können, ob dies der Fall ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2021, K. M. [Gegen den Kapitän eines Schiffs verhängte Sanktionen], C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 39). 41 Im vorliegenden Fall lässt sich Art. 24 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 6/2016 entnehmen, dass der italienische Gesetzgeber beim ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige eine Kumulierung von Sanktionen vorgesehen hat, nämlich zum einen die Verhängung einer finanziellen Sanktion und zum anderen die 15-tägige Aussetzung der Lizenz des Zuwiderhandelnden zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle. 42 Zu dieser Kumulierung von Sanktionen merkt die italienische Regierung an, dass die Wiederverkäufer von Tabakerzeugnissen unter Geltung des vorherigen Sanktionssystems, in der nur rein finanzielle Sanktionen vorgesehen gewesen seien, aus wirtschaftlichen Erwägungen das Risiko eingegangen seien, für einen Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs dieser Erzeugnisse an Minderjährige mit einer Sanktion belegt zu werden. Die bloße Verhängung eines Bußgelds habe es daher nicht ermöglicht, den Tabakkonsum bei jungen Menschen zu verringern. 43 Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit, zusätzlich zu einem Bußgeld andere, nicht finanzielle administrative Sanktionen zu verhängen, wie die Aussetzung der Lizenz eines Wirtschaftsteilnehmers, der gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige verstoßen hat, in Art. 16 Abs. 6 FCTC nicht ausgeschlossen wird. 44 Zweitens ist davon auszugehen, dass eine solche Sanktion unter gleichzeitiger Wahrung des allgemeinen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur dann eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, wenn den Zuwiderhandelnden die wirtschaftlichen Vorteile aus Verstößen im Zusammenhang mit dem Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige wirksam entzogen werden und die Sanktionen so beschaffen sind, dass ein der Schwere des Verstoßes angemessenes Ergebnis erzielt werden kann, um wirksam von weiteren Verstößen dieser Art abzuschrecken. 45 Unter diesen Umständen kann ein Sanktionssystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das über die Verhängung eines Bußgelds hinaus als zusätzliche Verwaltungssanktion die Aussetzung der Lizenz des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle vorsieht, die wirtschaftlichen Erwägungen, die Wiederverkäufer von Tabakerzeugnissen veranlassen könnten, trotz des entsprechenden Verbots Tabakerzeugnisse an Minderjährige zu verkaufen, offensichtlich stark relativieren oder sogar hinfällig machen. 46 Damit sind die vom italienischen Gesetzgeber vorgesehenen Sanktionen offenkundig so gestaltet, dass sie zum einen den wirtschaftlichen Vorteil aus dem Verstoß aufheben und zum anderen die Wirtschaftsteilnehmer dazu anhalten, die Maßnahmen zu beachten, die den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige verbieten. 47 Ein Sanktionssystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende ist somit offensichtlich geeignet, das im FCTC genannte Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und der Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen zu erreichen. 48 Was die Frage betrifft, ob die Härte der durch die nationale Regelung vorgesehenen Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreitet, was zur Erreichung der mit den fraglichen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele erforderlich ist, sind in einem ersten Schritt die etwaigen Auswirkungen der Aussetzung der Lizenz des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle auf dessen legitimes Recht zur Ausübung einer unternehmerischen Tätigkeit zu prüfen. 49 Wie aus Art. 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Art. 9 AEUV, Art. 114 Abs. 3 AEUV und Art. 168 Abs. 1 AEUV hervorgeht, ist bei der Festlegung und Durchführung der Politik und der Maßnahmen der Union einem hohen Niveau des Gesundheitsschutzes Rechnung zu tragen (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 157). 50 Nach ständiger Rechtsprechung ist dem Schutz der Gesundheit gegenüber wirtschaftlichen Erwägungen vorrangige Bedeutung beizumessen, die negative wirtschaftliche Folgen selbst beträchtlichen Ausmaßes rechtfertigen kann (Urteil vom 22. November 2018, Swedish Match, C‑151/17, EU:C:2018:938, Rn. 54). 51 Somit ist mit dem Generalanwalt in Nr. 75 seiner Schlussanträge davon auszugehen, dass die vorübergehende Aussetzung der Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle bei einem ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige grundsätzlich nicht als unverhältnismäßiger Eingriff in das legitime Recht von Wirtschaftsteilnehmern, ihre unternehmerische Tätigkeit auszuüben, angesehen werden kann. 52 In einem zweiten Schritt ist zu den Modalitäten der Festlegung der Sanktionen im vorliegenden Fall erstens darauf hinzuweisen, dass in Art. 24 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 6/2016 zwar eine 15-tägige Aussetzung der Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle vorgesehen ist. Dort ist allerdings auch vorgesehen, dass diese Aussetzung im Fall des erstmaligen Verstoßes gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige mit einem Bußgeld einhergeht, das je nach Schwere des Verstoßes variiert, was eine gewisse Abstufung und Progression bei der Festlegung der Sanktionen erkennen lässt, die verhängt werden können. 53 Diese Bestimmung sieht nämlich offensichtlich Modalitäten für die Festsetzung der Bußgelder vor, die deren Festlegung unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ermöglichen, u. a. der Schwere des rechtswidrigen Verhaltens des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers. 54 Unter diesen Umständen wird, wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, das Gleichgewicht zwischen der Härte der Sanktionen und der Schwere des betreffenden Verstoßes offensichtlich durch das Bußgeld gewährleistet, das zusammen mit der Aussetzung der Lizenz des Zuwiderhandelnden zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle verhängt wird und je nach Schwere des Verstoßes variiert. Im vorliegenden Fall lag der Betrag des gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens verhängten Bußgelds bei 1000 Euro und damit im unteren Bereich der für einen erstmaligen Verstoß vorgesehenen Beträge. 55 Zweitens ist anzumerken, dass die Aussetzung der Betriebslizenz nur für eine Dauer von 15 Tagen vorgesehen ist. 56 Die zusätzliche Sanktion stellt in ihrem Zusammenhang gesehen eine Maßnahme dar, die im Fall eines erstmaligen Verstoßes gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige insbesondere darauf abzielt, den von Wiederverkäufern dieser Erzeugnisse begangenen Verstoß zu bestrafen und sie von einem erneuten Verstoß gegen dieses Verbot abzuhalten, indem sie die wirtschaftlichen Erwägungen, die diese Wiederverkäufer veranlassen könnten, trotz des Verbots solche Verkäufe vorzunehmen, hinfällig macht, ohne aber zu einem Widerruf der Lizenz zu führen, da dieser – wie sich aus Art. 24 Abs. 3 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 6/2016 ergibt – nur bei mehr als einmaliger Übertretung vorgesehen ist. 57 Vor diesem Hintergrund ist unter Berücksichtigung der Schwere des Verstoßes und unter Vorbehalt der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen nicht erkennbar, dass ein Sanktionssystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende – das, um den Zuwiderhandelnden die wirtschaftlichen Vorteile aus dem Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige zu entziehen und sie von einem Verstoß gegen dieses Verbot abzuhalten, beim ersten Verstoß zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds eine 15-tägige Aussetzung der Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle vorsieht – über die Grenzen dessen hinausgeht, was erforderlich ist, um das Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und insbesondere der Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen zu erreichen. 58 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die bei einem ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds eine 15-tägige Aussetzung der Betriebslizenz vorsieht, mit der dem Wirtschaftsteilnehmer, der gegen dieses Verbot verstoßen hat, der Verkauf solcher Waren gestattet wird, soweit eine solche Regelung nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was geeignet und erforderlich ist, um das Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und insbesondere der Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen zu erreichen. Kosten 59 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die bei einem ersten Verstoß gegen das Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige zusätzlich zur Verhängung eines Bußgelds eine 15‑tägige Aussetzung der Betriebslizenz vorsieht, mit der dem Wirtschaftsteilnehmer, der gegen dieses Verbot verstoßen hat, der Verkauf solcher Waren gestattet wird, soweit eine solche Regelung nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was geeignet und erforderlich ist, um das Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und insbesondere der Verminderung der Verbreitung des Tabakkonsums bei jungen Menschen zu erreichen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. Februar 2022.#Stichting Rookpreventie Jeugd u. a. gegen Staatssecretaris van Volksgezondheid, Welzijn en Sport.#Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Rotterdam.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2014/40/EU – Herstellung, Aufmachung und Verkauf von Tabakerzeugnissen – Erzeugnisse, die die Emissionshöchstwerte nicht einhalten – Verbot des Inverkehrbringens – Messverfahren – Zigaretten mit kleinen Belüftungslöchern im Filter – Messung der Emissionen auf der Grundlage von ISO-Normen – Normen, die nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden – Vereinbarkeit mit den in Art. 297 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Veröffentlichungserfordernissen in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit – Vereinbarkeit mit dem Transparenzgrundsatz.#Rechtssache C-160/20.
62020CJ0160
ECLI:EU:C:2022:101
2022-02-22T00:00:00
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62020CJ0160 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 22. Februar 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2014/40/EU – Herstellung, Aufmachung und Verkauf von Tabakerzeugnissen – Erzeugnisse, die die Emissionshöchstwerte nicht einhalten – Verbot des Inverkehrbringens – Messverfahren – Zigaretten mit kleinen Belüftungslöchern im Filter – Messung der Emissionen auf der Grundlage von ISO-Normen – Normen, die nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden – Vereinbarkeit mit den in Art. 297 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Veröffentlichungserfordernissen in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit – Vereinbarkeit mit dem Transparenzgrundsatz“ In der Rechtssache C‑160/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Rotterdam (Gericht Rotterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 20. März 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 24. März 2020, in dem Verfahren Stichting Rookpreventie Jeugd, Stichting Inspire2live, Rode Kruis Ziekenhuis BV, Stichting ClaudicatioNet, Nederlandse Vereniging voor Kindergeneeskunde, Nederlandse Vereniging voor Verzekeringsgeneeskunde, Accare, Stichting Universitaire en Algemene Kinder- en Jeugdpsychiatrie Noord-Nederland, Vereniging Praktijkhoudende Huisartsen, Nederlandse Vereniging van Artsen voor Longziekten en Tuberculose, Nederlandse Federatie van Kankerpatiëntenorganisaties, Nederlandse Vereniging Arbeids- en Bedrijfsgeneeskunde, Nederlandse Vereniging voor Cardiologie, Koepel van Artsen Maatschappij en Gezondheid, Koninklijke Nederlandse Maatschappij tot bevordering der Tandheelkunde, College van Burgemeester en Wethouders van Amsterdam gegen Staatssecretaris van Volksgezondheid, Welzijn en Sport, Beteiligte: Vereniging Nederlandse Sigaretten- en Kerftabakfabrikanten (VSK), erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, S. Rodin (Berichterstatter), I. Jarukaitis und J. Passer, der Richter J.‑C. Bonichot, M. Safjan, F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters A. Kumin, Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Stichting Rookpreventie Jeugd, der Stichting Inspire2live, der Rode Kruis Ziekenhuis BV, der Stichting ClaudicatioNet, der Nederlandse Vereniging voor Kindergeneeskunde, der Nederlandse Vereniging voor Verzekeringsgeneeskunde, von Accare, Stichting Universitaire en Algemene Kinder- en Jeugdpsychiatrie Noord-Nederland, der Vereniging Praktijkhoudende Huisartsen, der Nederlandse Vereniging van Artsen voor Longziekten en Tuberculose, der Nederlandse Federatie van Kankerpatiëntenorganisaties, der Nederlandse Vereniging Arbeids- en Bedrijfsgeneeskunde, der Nederlandse Vereniging voor Cardiologie, der Koepel van Artsen Maatschappij en Gezondheid, der Koninklijke Nederlandse Maatschappij tot bevordering der Tandheelkunde, des College van Burgemeester en Wethouders van Amsterdam, vertreten durch A. van den Biesen, Advocaat, – der Vereniging Nederlandse Sigaretten- en Kerftabakfabrikanten (VSK), vertreten durch W. Knibbeler, B. Verheijen und P. D. van den Berg, Advocaten, – der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte, – des Europäischen Parlaments, vertreten durch L. Visaggio, R. van de Westelaken und W. D. Kuzmienko als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch S. Emmerechts, Á. de Elera-San Miguel Hurtado und P. Plaza García als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Rubene, S. Delaude, F. Thiran und H. Kranenborg als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Juli 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit und die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. 2014, L 127, S. 1). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Stichting Rookpreventie Jeugd (Stiftung zur Prävention des Rauchens bei Jugendlichen, Niederlande) und 14 weiteren Einrichtungen auf der einen und dem Staatssecretaris van Volksgezondheid, Welzijn en Sport (Staatssekretär für öffentliche Gesundheit, Wohlfahrt und Sport, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) auf der anderen Seite über das Verfahren zur Messung der Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionswerte von Zigaretten. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 Das am 21. Mai 2003 in Genf geschlossene Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (Framework Convention on Tobacco Control, im Folgenden FCTC), zu dessen Vertragsparteien die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten gehören, trat am 27. Februar 2005 in Kraft. Art. 5 Abs. 3 des FCTC bestimmt: „Bei der Festlegung und Durchführung ihrer gesundheitspolitischen Maßnahmen in Bezug auf die Eindämmung des Tabakgebrauchs schützen die Vertragsparteien diese Maßnahmen in Übereinstimmung mit innerstaatlichem Recht vor den kommerziellen und sonstigen berechtigten Interessen der Tabakindustrie.“ 4 In Art. 7 des FCTC heißt es: „… Die Konferenz der Vertragsparteien schlägt geeignete Leitlinien für die Durchführung [der] Artikel [8 bis 13 des FCTC] vor.“ 5 Die Art. 8 bis 13 des FCTC beziehen sich auf Maßnahmen zur Verminderung der Nachfrage nach Tabak. Sie betreffen den Schutz vor Passivrauchen, die Regelung bezüglich der Inhaltsstoffe von Tabakerzeugnissen, die Regelung bezüglich der Bekanntgabe von Angaben über Tabakerzeugnisse, die Verpackung und Etikettierung von Tabakerzeugnissen, die Aufklärung und Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit in Fragen der Eindämmung des Tabakgebrauchs bzw. das umfassende Verbot der Tabakwerbung, der Förderung des Tabakverkaufs und des Tabaksponsorings. 6 Art. 9 des FCTC sieht vor: „Die Konferenz der Vertragsparteien schlägt in Abstimmung mit zuständigen internationalen Stellen Leitlinien für die Prüfung und Messung der Inhaltsstoffe und Emissionen von Tabakerzeugnissen sowie für die Regelung bezüglich dieser Inhaltsstoffe und Emissionen vor. Jede Vertragspartei beschließt nach Genehmigung durch die zuständigen nationalen Behörden wirksame gesetzgeberische, vollziehende und administrative oder sonstige Maßnahmen für diese Prüfung und Messung und für diese Regelung und führt solche Maßnahmen durch.“ Unionsrecht Verordnung (EU) Nr. 216/2013 7 Die Verordnung (EU) Nr. 216/2013 des Rates vom 7. März 2013 über die elektronische Veröffentlichung des Amtsblatts der Europäischen Union (ABl. 2013, L 69, S. 1) sieht in ihren Erwägungsgründen 5 und 6 vor: „(5) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat [im Urteil vom 11. Dezember 2007, Skoma-Lux (C‑161/06, EU:C:2007:773)] ausgeführt, dass Rechtsakte der Union gegenüber Einzelnen nicht durchsetzbar sind, wenn sie nicht ordnungsgemäß im Amtsblatt veröffentlicht wurden, und dass ihre Online-Veröffentlichung ohne eine entsprechende Regelung im Unionsrecht der ordnungsgemäßen Veröffentlichung im Amtsblatt nicht gleichgestellt werden kann. (6) Wenn die Veröffentlichung in der elektronischen Ausgabe des Amtsblatts einer ordnungsgemäßen Veröffentlichung gleichkäme, könnte schneller und kostengünstiger auf das Unionsrecht zugegriffen werden. Die Bürger sollten jedoch weiterhin die Möglichkeit haben, eine gedruckte Fassung des Amtsblatts vom Amt für Veröffentlichungen zu erhalten.“ 8 Art. 1 dieser Verordnung bestimmt: „(1)   Das Amtsblatt wird gemäß dieser Verordnung in elektronischer Form in den Amtssprachen der Organe der Europäischen Union veröffentlicht. (2)   Unbeschadet des Artikels 3 besitzt nur das in elektronischer Form veröffentlichte Amtsblatt (im Folgenden ‚elektronische Ausgabe des Amtsblatts‘) Echtheit und entfaltet Rechtswirkungen.“ Richtlinie 2014/40 9 Die Erwägungsgründe 7, 8 und 11 der Richtlinie 2014/40 lauten: „(7) Gesetzliche Maßnahmen auf Unionsebene sind außerdem notwendig, um das WHO-Rahmenübereinkommen zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (Framework Convention on Tobacco Control, … ‚FCTC‘) vom Mai 2003 umzusetzen, dessen Bestimmungen für die Union und ihre Mitgliedstaaten bindend sind. Besonders relevant sind die FCTC‑Regelung bezüglich der Inhaltsstoffe von Tabakerzeugnissen, der Bekanntgabe von Angaben über Tabakerzeugnisse, Verpackung und Etikettierung von Tabakerzeugnissen, Tabakwerbung, Förderung des Tabakverkaufs und Tabaksponsoring und dem unerlaubten Handel mit Tabakerzeugnissen. Die Vertragsparteien des FCTC, einschließlich der Union und ihrer Mitgliedstaaten, haben im Verlauf mehrerer Konferenzen einvernehmlich Leitlinien für die Umsetzung einiger FCTC‑Artikel angenommen. (8) Gemäß Artikel 114 Absatz 3 [AEUV] soll im Gesundheitsbereich bei Gesetzgebungsvorschlägen von einem hohen Schutzniveau ausgegangen werden, wobei insbesondere alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen zu berücksichtigen sind. Tabakerzeugnisse sind keine gewöhnlichen Erzeugnisse, und angesichts der besonders schädlichen Wirkungen von Tabakerzeugnissen auf die menschliche Gesundheit sollte dem Gesundheitsschutz große Bedeutung beigemessen werden, insbesondere um die Verbreitung des Rauchens bei jungen Menschen zu senken. … (11) Die Messung der Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalte von Zigaretten sollte gemäß den einschlägigen, international anerkannten ISO-Normen erfolgen. Durch die Beauftragung unabhängiger Labore, einschließlich staatlicher Labore, sollte verhindert werden, dass die Tabakindustrie die Überprüfung der Messungen dieser Gehalte beeinflussen kann. …“ 10 Art. 1 dieser Richtlinie sieht vor: „Ziel dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für a) die Inhaltsstoffe und Emissionen von Tabakerzeugnissen und die damit verbundenen Meldepflichten, einschließlich der Emissionshöchstwerte von Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid von Zigaretten; … damit – ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen – das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse erleichtert wird und die Verpflichtungen der Union im Rahmen des WHO-Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (Framework Convention on Tobacco Control, … ‚FCTC‘) eingehalten werden.“ 11 Art. 2 der Richtlinie bestimmt: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … 21. ‚Emissionen‘ Stoffe, die freigesetzt werden, wenn ein Tabakerzeugnis oder ein verwandtes Erzeugnis bestimmungsgemäß verwendet wird, etwa Stoffe im Rauch oder Stoffe, die während der Verwendung rauchloser Tabakerzeugnisse freigesetzt werden; …“ 12 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie lautet: „Bei Zigaretten, die in den Mitgliedstaaten hergestellt oder in Verkehr gebracht werden, dürfen folgende erlaubte Emissionswerte (im Folgenden ‚Emissionshöchstwerte‘) nicht überschritten werden: a) 10 mg Teer je Zigarette; b) 1 mg Nikotin je Zigarette; c) 10 mg Kohlenmonoxid je Zigarette.“ 13 Art. 4 der Richtlinie 2014/40 sieht vor: „(1)   Die Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionen von Zigaretten werden nach der ISO-Norm 4387 für Teer, ISO-Norm 10315 für Nikotin bzw. ISO-Norm 8454 für Kohlenmonoxid gemessen. Die Genauigkeit der Messungen zu Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid wird nach der ISO-Norm 8243 bestimmt. (2)   Die Messungen nach Absatz 1 werden von Laboren überprüft, die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zugelassen und von ihnen überwacht werden. Diese Labore dürfen nicht im Besitz der Tabakindustrie sein oder unter ihrer direkten oder indirekten Kontrolle stehen. … (3)   Der [Europäischen] Kommission wird die Befugnis übertragen, gemäß Artikel 27 delegierte Rechtsakte zu erlassen, um die Verfahren zur Messung der Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionen anzupassen, wenn dies aufgrund wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen oder international vereinbarter Normen erforderlich ist. (4)   Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission etwaige Messverfahren mit, die sie für Emissionen von Zigaretten – mit Ausnahme der Emissionen nach Absatz 3 – und für Emissionen von Tabakerzeugnissen mit Ausnahme von Zigaretten verwenden. …“ 14 Art. 24 dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten dürfen vorbehaltlich der Absätze 2 und 3 dieses Artikels das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen oder verwandten Erzeugnissen, die dieser Richtlinie entsprechen, nicht aus Gründen untersagen oder beschränken, die in dieser Richtlinie geregelte Gesichtspunkte betreffen. (2)   Von dieser Richtlinie bleibt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, für alle in ihrem Gebiet in Verkehr gebrachten Erzeugnisse weitere Anforderungen betreffend die Vereinheitlichung der Verpackungen von Tabakerzeugnissen beizubehalten oder einzuführen, wenn dies zum Schutz der öffentlichen Gesundheit unter Berücksichtigung des hohen mit dieser Richtlinie erzielten Schutzes der menschlichen Gesundheit gerechtfertigt ist. Diese Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein und dürfen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Diese Maßnahmen sind der Kommission zusammen mit den Gründen für ihre Beibehaltung oder ihren Erlass mitzuteilen. (3)   Ein Mitgliedstaat kann ferner eine bestimmte Kategorie von Tabakerzeugnissen oder verwandten Erzeugnissen verbieten, wenn dies durch die spezifischen Gegebenheiten in dem betreffenden Mitgliedstaat und zum Schutz der öffentlichen Gesundheit unter Berücksichtigung des hohen mit dieser Richtlinie erzielten Schutzes der menschlichen Gesundheit gerechtfertigt ist. Solche nationalen Vorschriften sind der Kommission zusammen mit den Gründen für ihren Erlass mitzuteilen. Die Kommission hat nach Eingang einer Mitteilung nach diesem Absatz sechs Monate Zeit, um die nationalen Vorschriften zu billigen oder abzulehnen; hierzu prüft sie unter Berücksichtigung des hohen mit dieser Richtlinie erzielten Schutzes der menschlichen Gesundheit, ob die Vorschriften berechtigt und notwendig sind, ob sie in einem angemessenen Verhältnis zu ihrem Ziel stehen und ob sie ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen. Trifft die Kommission innerhalb des Zeitraums von sechs Monaten keine Entscheidung, so gelten die nationalen Vorschriften als gebilligt.“ Niederländisches Recht 15 Nach Art. 17a Abs. 4 der Tabaks- en rookwarenwet (Gesetz über Tabak und Tabakerzeugnisse), mit dem Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 umgesetzt wurde, kann der Staatssekretär bestimmte Kategorien von Tabakerzeugnissen, die im Übrigen den gesetzlichen oder in Anwendung des Gesetzes festgelegten Anforderungen genügen, aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit durch Ministerialverordnung verbieten. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 16 Mit Schreiben vom 31. Juli und 2. August 2018 forderten die Kläger des Ausgangsverfahrens die Nederlandse Voedsel- en Warenautoriteit (Niederländische Behörde für Lebensmittel- und Produktsicherheit, im Folgenden: NVWA) auf, dafür Sorge zu tragen, dass die den Verbrauchern in den Niederlanden angebotenen Filterzigaretten bei bestimmungsgemäßer Verwendung die in Art. 3 der Richtlinie 2014/40 festgelegten Emissionshöchstwerte für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid einhalten. Sie beantragten außerdem, die NVWA solle gegenüber den Herstellern, Importeuren und Vertreibern von Tabakerzeugnissen durch eine Verwaltungszwangsmaßnahme anordnen, Filterzigaretten, die diese Emissionshöchstwerte nicht einhalten, vom Markt zu nehmen. 17 Dieser Antrag auf Erlass einer Anordnung stützt sich auf eine Studie des Rijksinstituut voor Volksgezondheid en Milieu (Nationales Institut für öffentliche Gesundheit und Umwelt, Niederlande) (im Folgenden: RIVM) vom 13. Juni 2018, aus der hervorgehe, dass bei Anwendung des Messverfahrens „Canadian Intense“ anstatt des in Art. 4 der Richtlinie 2014/40 vorgeschriebenen Verfahrens alle in den Niederlanden verkauften Filterzigaretten die in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Emissionshöchstwerte für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid erheblich überschritten. Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind der Ansicht, dass das in Art. 4 der Richtlinie vorgesehene Messverfahren die Art und Weise nicht berücksichtige, in der ein Zigarettenfilter verwendet werde, nämlich, dass die Finger und die Lippen des Rauchers die Mikroperforationen des Filters verschlössen. Aufgrund dieser Mikroperforationen des Filters werde saubere Luft durch den Filter gesaugt, so dass die Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidmengen durch Vermischung mit Luft verringert würden. So würden die an Zigaretten verschiedener Marken mit belüftetem Filter vorgenommenen Messungen zwei- bis mehr als zwanzigmal niedrigere Emissionen ergeben als mit bedecktem Filter. Bei bestimmungsgemäßer Verwendung der Zigaretten würden diese Mikroperforationen nämlich weitgehend durch die Finger und die Lippen des Rauchers verschlossen, so dass der Raucher Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidmengen einatme, die deutlich über den in Art. 3 der Richtlinie 2014/40 festgelegten Emissionshöchstwerten lägen. 18 Am 20. September 2018 lehnte die NVWA den Antrag auf Erlass einer Anordnung ab. 19 Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten beim Staatssekretär Beschwerde gegen den Bescheid vom 20. September 2018 ein. Mit Bescheid vom 31. Januar 2019 wies der Staatssekretär die Beschwerde als unbegründet zurück, soweit sie von der Stichting Rookpreventie Jeugd eingelegt worden war, und als unzulässig, soweit sie von den übrigen Klägern des Ausgangsverfahrens eingelegt worden war. 20 Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben daraufhin beim vorlegenden Gericht Klage gegen den Bescheid vom 31. Januar 2019. Die Vereniging Nederlandse Sigaretten- en Kerftabakfabrikanten (VSK) (Vereinigung niederländischer Zigaretten- und Tabakfabrikanten) stellte einen Antrag auf Zulassung als Streithelferin, dem stattgegeben wurde. 21 Vor dem vorlegenden Gericht machen die Kläger des Ausgangsverfahrens geltend, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 nicht die Anwendung eines bestimmten Verfahrens zur Messung der Emissionswerte vorschreibe und dass die ISO-Normen, auf deren Grundlage die Messungen durchgeführt werden müssten, keine allgemein anzuwendenden Bestimmungen darstellten. Sie bringen vor, dass aus verschiedenen Studien, nämlich der Studie des RIVM vom 13. Juni 2018 und der im Journal of the National Cancer Institute am 22. Mai 2017 veröffentlichten Studie „Cigarette Filter Ventilation and its Relationship to Increasing Rates of Lung Adenocarcinoma“ („Die Belüftung von Zigarettenfiltern und ihr Zusammenhang mit steigenden Raten von Lungenadenokarzinomen“) sowie aus Schreiben des Staatssekretärs an die Kommission hervorgehe, dass das Messverfahren „Canadian Intense“ dasjenige sei, das zur Bestimmung der genauen Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidwerte, die von einer Filterzigarette bei bestimmungsgemäßer Verwendung freigesetzt würden, angewandt werden müsste. 22 Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 eine Messung der von Zigaretten freigesetzten Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidmengen auf der Grundlage von ISO-Normen vorsehe, die für die Öffentlichkeit nicht frei zugänglich seien und nur gegen Entgelt eingesehen werden könnten, obwohl der den Bürgern durch Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 gewährte Schutz auf diesen Normen beruhe. Dieses Gericht fragt sich daher, ob eine solche Art der Regelung mit der Regelung der Publizität der Gesetzgebungsakte der Union und dem Transparenzgrundsatz vereinbar ist. 23 Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass in jeder der in Art. 4 der Richtlinie 2014/40 genannten ISO-Normen hinsichtlich der Messung des maßgeblichen Emissionswerts auf die ISO-Norm 3308 verwiesen werde. Diese Norm betreffe jedoch die Verwendung einer Rauchmaschine. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass sich aus dieser Norm selbst ergebe, dass die Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionswerte nicht allein mit dem vorgeschriebenen Verfahren gemessen und überprüft werden dürften, sondern auch mit anderen Mitteln und mit unterschiedlichen Intensitäten mechanischen Rauchens gemessen und überprüft werden könnten oder müssten. 24 Drittens hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 vorgesehenen Mess- und Validierungsverfahren mit dem Ziel dieser Richtlinie, wie es sich aus ihren Erwägungsgründen ergibt, vereinbar sind und ob die in Art. 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Emissionswerte nur auf der Grundlage des Verfahrens ISO 3308 gemessen werden können. Zum einen weist dieses Gericht darauf hin, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens, ohne dass ihnen insoweit widersprochen worden wäre, die Auffassung verträten, dass diese Messverfahren unter Beteiligung der Tabakindustrie festgelegt worden seien. Zum anderen führt es aus, dass die Nichtbeachtung der Obergrenze für Stoffe, die bei bestimmungsgemäßer Verwendung von Filterzigaretten freigesetzt würden, das im achten Erwägungsgrund der Richtlinie dargelegte Ziel, im Gesundheitsbereich ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten, ernsthaft gefährden würde. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 möglicherweise gegen Art. 114 Abs. 3 AEUV, das FCTC sowie gegen die Art. 24 und 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstößt. 25 Viertens möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2014/40 in dem Fall, dass ihr Art. 4 Abs. 1 u. a. gegen Art. 297 Abs. 1 AEUV, die Verordnung Nr. 216/2013 und den Transparenzgrundsatz verstoßen sollte, insgesamt keine Wirkung entfaltet oder nur, was ihren Art. 4 Abs. 1 anbelangt. Außerdem möchte es wissen, welches alternative Verfahren angewandt werden kann oder muss, und ob der Gerichtshof befugt ist, ein solches vorzuschreiben oder, weniger weitgehend, es dem Unionsgesetzgeber oder den Mitgliedstaaten zu überlassen, eine neue Regelung in diesem Bereich zu erlassen. Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Staatssekretär nach der niederländischen Rechtsvorschrift, mit der Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 umgesetzt worden sei, bestimmte Kategorien von Tabakerzeugnissen, die den gesetzlichen oder in Anwendung des Gesetzes festgelegten Anforderungen genügten, aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit durch Ministerialverordnung verbieten könne. 26 Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Rotterdam (Gericht Rotterdam, Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist die Ausgestaltung des in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 geregelten Messverfahrens auf der Grundlage nicht frei zugänglicher ISO-Normen mit Art. 297 Abs. 1 AEUV (und der Verordnung Nr. 216/2013) und dem zugrunde liegenden Transparenzgrundsatz vereinbar? 2. Sind die ISO-Normen 4387, 10315, 8454 und 8243, auf die Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 verweist, dahin auszulegen und so anzuwenden, dass im Rahmen der Auslegung und Anwendung dieser Bestimmung die Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionen nicht nur nach dem vorgeschriebenen Verfahren gemessen (und überprüft) werden müssen, sondern auch auf andere Weise und mit anderer Intensität gemessen (und überprüft) werden können bzw. müssen? 3. a) Verstößt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 gegen die Vorgaben dieser Richtlinie und ihren Art. 4 Abs. 2 sowie Art. 5 Abs. 3 des FCTC, weil die Tabakindustrie bei der Festlegung der in dem genannten Art. 4 Abs. 1 genannten ISO-Normen eine Rolle gespielt hat? b) Verstößt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 gegen die Vorgaben dieser Richtlinie, Art. 114 Abs. 3 AEUV, den Zweck des FCTC sowie die Art. 24 und 35 der Charta, weil mit dem darin vorgeschriebenen Messverfahren die Emissionen von Filterzigaretten bei bestimmungsgemäßer Verwendung aus dem Grund nicht gemessen werden, dass bei diesem Verfahren die Wirkungen von kleinen Belüftungslöchern im Filter nicht berücksichtigt werden, die bei bestimmungsgemäßer Verwendung großenteils durch die Lippen und die Finger des Rauchers verdeckt werden? 4. a) Welches alternative Messverfahren (und Überprüfungsverfahren) kann bzw. muss angewandt werden, wenn der Gerichtshof: – Frage 1 verneint; – Frage 2 bejaht; – Frage 3a und/oder Frage 3b bejaht? b) Falls der Gerichtshof Frage 4a nicht beantworten kann: Liegt eine Situation im Sinne von Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 vor, wenn vorübergehend kein Messverfahren vorhanden sein sollte? Zu den Vorlagefragen Zu Frage 2 27 Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen ist, dass er vorsieht, dass die in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Emissionshöchstwerte für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid von Zigaretten, die in den Mitgliedstaaten in Verkehr gebracht oder hergestellt werden sollen, in Anwendung der Messverfahren zu messen sind, die sich aus den ISO-Normen 4387, 10315, 8454 und 8243 ergeben, auf die der genannte Art. 4 Abs. 1 verweist. 28 Zunächst ist festzustellen, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 die Emissionshöchstwerte für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid von Zigaretten, die in den Mitgliedstaaten in Verkehr gebracht oder hergestellt werden sollen, festlegt. Nach Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie werden die Emissionen dieser Stoffe nach der ISO-Norm 4387 für Teer, der ISO-Norm 10315 für Nikotin bzw. der ISO-Norm 8454 für Kohlenmonoxid gemessen, wobei die Genauigkeit dieser Messungen nach der ISO‑Norm 8243 bestimmt wird. 29 Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung von Unionsvorschriften nicht nur ihr Wortlaut entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (Urteil vom 14. Oktober 2021, Dyrektor Z. Oddziału Regionalnego Agencji Restrukturyzacji i Modernizacji Rolnictwa, C‑373/20, EU:C:2021:850, Rn. 36). 30 Zunächst ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2014/40, insbesondere aus dem in dieser Bestimmung verwendeten Ausdruck „werden … gemessen“, dass diese Bestimmung für die Zwecke der Messung der Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionen zwingend auf die ISO-Normen 4387, 10315 bzw. 8454 verweist und darin keine anderen Messverfahren erwähnt sind. Ebenfalls mit einer zwingenden Formulierung wird in Unterabs. 2 dieses Art. 4 Abs. 1 klargestellt, dass die Genauigkeit dieser Messungen nach der ISO-Norm 8243 bestimmt wird. 31 Was sodann den Kontext dieser Bestimmung betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Abs. 4 des genannten Art. 4 verpflichtet sind, der Kommission etwaige alternative Messverfahren mitzuteilen, die sie für Emissionen von Zigaretten – mit Ausnahme der Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionen – und für Emissionen von Tabakerzeugnissen mit Ausnahme von Zigaretten verwenden. Weder aus Art. 4 der Richtlinie 2014/40 noch aus irgendeiner anderen Bestimmung dieser Richtlinie geht hervor, dass die Mitgliedstaaten einer Mitteilungspflicht unterlägen, wenn sie andere als die in den ISO-Normen 4387, 10315 und 8454 vorgesehenen Messverfahren für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid, die von Zigaretten freigesetzt werden, oder andere als die in der ISO-Norm 8243 vorgesehenen Verfahren zur Überprüfung der Genauigkeit der Messungen dieser Stoffe anwenden. Da im elften Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgehoben wird, dass die Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalte von Zigaretten gemäß diesen international anerkannten Normen zu messen sind, ist davon auszugehen, dass der Kontext, in den sich Art. 4 Abs. 1 der genannten Richtlinie einfügt, dafürspricht, dass diese Bestimmung die ausschließliche Anwendung der genannten Normen verpflichtend vorschreibt. 32 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2014/40 ein zweifaches Ziel verfolgt wird, nämlich ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern (Urteil vom 22. November 2018, Swedish Match, C‑151/17, EU:C:2018:938, Rn. 40). Unbeschadet der Prüfung von Frage 3b, die im Wesentlichen die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie im Hinblick auf das u. a. in Art. 114 Abs. 3 AEUV vorgesehene Erfordernis eines hohen Schutzniveaus für die menschliche Gesundheit betrifft, entspricht aber der Umstand, dass nur die in den in diesem Art. 4 Abs. 1 genannten ISO-Normen vorgesehenen Verfahren zur Messung des Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionswerts von Zigaretten angewandt werden, diesem Ziel des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts, da er gewährleistet, dass der Zugang von Zigaretten zum Unionsmarkt und ihre Herstellung in der Union nicht aufgrund der Anwendung unterschiedlicher Verfahren zur Messung der Werte dieser Stoffe in den Mitgliedstaaten verhindert werden. 33 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen ist, dass er vorsieht, dass die in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Emissionshöchstwerte für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid von Zigaretten, die in den Mitgliedstaaten in Verkehr gebracht oder hergestellt werden sollen, in Anwendung der Messverfahren zu messen sind, die sich aus den ISO-Normen 4387, 10315, 8454 und 8243 ergeben, auf die der genannte Art. 4 Abs. 1 verweist. Zu Frage 1 34 Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Transparenzgrundsatz, die Verordnung Nr. 216/2013 und Art. 297 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit gültig ist. 35 Was erstens die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Transparenzgrundsatz anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz, der untrennbar mit dem Grundsatz der Offenheit verbunden ist, in Art. 1 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 3 EUV, in Art. 15 Abs. 1 und Art. 298 Abs. 1 AEUV sowie in Art. 42 der Charta verankert ist. Er ermöglicht eine bessere Beteiligung der Bürger am Entscheidungsprozess und gewährleistet eine größere Legitimität, Effizienz und Verantwortung der Verwaltung gegenüber dem Bürger in einem demokratischen System (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2003, Interporc/Kommission, C‑41/00 P, EU:C:2003:125, Rn. 39, und vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 68, sowie Beschluss vom 14. Mai 2019, Ungarn/Parlament, C‑650/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:438, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Insbesondere sieht Art. 15 Abs. 1 AEUV vor, dass die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter weitestgehender Beachtung des Grundsatzes der Offenheit handeln, um eine verantwortungsvolle Verwaltung zu fördern und die Beteiligung der Zivilgesellschaft sicherzustellen. Zu diesem Zweck garantiert Art. 15 Abs. 3 Unterabs. 1 AEUV ein Recht auf Zugang zu Dokumenten, das außerdem in Art. 42 der Charta verankert ist; dieses Recht wurde u. a. durch die Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. 2001, L 145, S. 43) umgesetzt. 37 Hierzu ist festzustellen, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 zwar auf ISO-Normen verweist, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden sind. Jedoch sieht diese Bestimmung selbst keine Beschränkung des Zugangs zu diesen Normen vor, und zwar auch nicht, indem sie diesen Zugang von der Stellung eines Antrags nach der Verordnung Nr. 1049/2001 abhängig machen würde. Sie kann daher nicht als im Hinblick auf den Transparenzgrundsatz, wie er sich aus den in Rn. 35 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen des Primärrechts der Union ergibt, ungültig angesehen werden. 38 Was zweitens die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf die Verordnung Nr. 216/2013 betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass die materielle Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts nicht anhand eines anderen Unionsrechtsakts derselben normativen Ebene geprüft werden kann, sofern er nicht in Anwendung des letztgenannten Rechtsakts erlassen wurde oder in einem dieser beiden Rechtsakte ausdrücklich vorgesehen ist, dass der eine Vorrang gegenüber dem anderen hat (Urteil vom 8. Dezember 2020, Ungarn/Parlament und Rat, C‑620/18, EU:C:2020:1001, Rn. 119). Die Richtlinie 2014/40 wurde aber nicht in Anwendung der Verordnung Nr. 216/2013 erlassen, und Letztere enthält keine Bestimmung, die ausdrücklich ihren Vorrang gegenüber dieser Richtlinie vorsähe. Jedenfalls enthält Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung, da er sich darauf beschränkt, vorzusehen, dass das Amtsblatt der Europäischen Union in elektronischer Form in den Amtssprachen der Organe der Union veröffentlicht wird, keine Vorschrift bezüglich des Inhalts der Rechtsakte der Union, die wie die Richtlinie 2014/40 veröffentlicht werden müssen. 39 Was drittens die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf Art. 297 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich bereits aus dem Wortlaut der letztgenannten Bestimmung ergibt, dass Gesetzgebungsakte erst in Kraft treten und deshalb Rechtswirkungen entfalten können, nachdem sie im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Dezember 2007, Skoma-Lux, C‑161/06, EU:C:2007:773, Rn. 33, und vom 10. März 2009, Heinrich, C‑345/06, EU:C:2009:140, Rn. 42). 40 Von den Unionsorganen erlassene Rechtsakte dürfen natürlichen und juristischen Personen in einem Mitgliedstaat somit nicht entgegengehalten werden, bevor diese die Möglichkeit hatten, von dem entsprechenden Rechtsakt durch eine ordnungsgemäße Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union Kenntnis zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Dezember 2007, Skoma-Lux, C‑161/06, EU:C:2007:773, Rn. 37, und vom 10. März 2009, Heinrich, C‑345/06, EU:C:2009:140, Rn. 43). 41 Dieses Veröffentlichungserfordernis folgt aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit, der verlangt, dass eine Unionsregelung es den Betroffenen ermöglichen muss, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen. Denn die Einzelnen müssen ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen können (vgl. u. a. Urteil vom 10. März 2009, Heinrich, C‑345/06, EU:C:2009:140, Rn. 44). 42 Das Gleiche gilt, wenn eine Unionsregelung wie die Richtlinie 2014/40 die Mitgliedstaaten verpflichtet, zu ihrer Durchführung Maßnahmen zu erlassen, mit denen den Einzelnen Verpflichtungen auferlegt werden. Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten zur Durchführung des Unionsrechts erlassen, müssen nämlich die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts wahren. Nationale Maßnahmen, die in Durchführung einer Unionsregelung den Einzelnen Pflichten auferlegen, müssen daher nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit veröffentlicht werden, damit die Betroffenen davon Kenntnis nehmen können. In einem solchen Fall müssen sich die Betroffenen auch über die Quelle der ihnen Pflichten auferlegenden nationalen Maßnahmen unterrichten können, da die Mitgliedstaaten diese Maßnahmen in Erfüllung einer unionsrechtlichen Verpflichtung erlassen haben (Urteil vom 10. März 2009, Heinrich, C‑345/06, EU:C:2009:140, Rn. 45 und 46). 43 Allerdings bedeutet nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand, dass in einer Bestimmung keine konkrete Methode oder Verfahrensweise vorgeschrieben wird, noch nicht, dass sie gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt (Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 101). Es ist somit nicht erforderlich, dass ein Gesetzgebungsakt selbst Angaben technischer Natur enthält, da der Unionsgesetzgeber einen allgemeinen Rechtsrahmen schaffen kann, der gegebenenfalls später konkretisiert wird (Urteil vom 30. Januar 2019, Planta Tabak, C‑220/17, EU:C:2019:76, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Entsprechend und unter Berücksichtigung des weiten Ermessens, über das der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten verfügt, wenn seine Tätigkeit politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen erfordert und wenn er komplexe Beurteilungen und Prüfungen vornehmen muss (Urteil vom 30. Januar 2019, Planta Tabak, C‑220/17, EU:C:2019:76, Rn. 44), steht es dem Unionsgesetzgeber frei, in den von ihm erlassenen Rechtsakten auf technische Normen zu verweisen, die von einer Normungsorganisation wie der Internationalen Organisation für Normung (ISO) festgelegt wurden. 45 Es ist jedoch klarzustellen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass der Verweis auf solche Normen klar, bestimmt und in seinen Auswirkungen vorhersehbar ist, damit sich die Betroffenen bei unter das Unionsrecht fallenden Tatbeständen und Rechtsbeziehungen orientieren können (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 148 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Im vorliegenden Fall ist zum einen festzustellen, dass der Verweis in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 auf die ISO-Normen diesem Erfordernis entspricht, und zum anderen steht fest, dass diese Richtlinie gemäß Art. 297 Abs. 1 AEUV im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde. Unter diesen Umständen kann in Anbetracht der Ausführungen in den Rn. 43 und 44 des vorliegenden Urteils der bloße Umstand, dass der genannte Art. 4 Abs. 1 auf ISO-Normen verweist, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht veröffentlicht worden sind, die Gültigkeit dieser Bestimmung im Hinblick auf Art. 297 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht in Frage stellen. 47 Folglich hat die Prüfung von Frage 1 des vorlegenden Gerichts nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Transparenzgrundsatz, die Verordnung Nr. 216/2013 und Art. 297 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit beeinträchtigen könnte. 48 Allerdings ist in Anbetracht der Zweifel des vorlegenden Gerichts, die der Frage 1 zugrunde liegen und in Rn. 22 des vorliegenden Urteils zusammenfassend dargestellt worden sind, noch darauf hinzuweisen, dass gemäß dem Grundsatz der Rechtssicherheit, wie er in den Rn. 41, 42 und 45 des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist, technische Normen, die von einer Normungsorganisation wie der ISO festgelegt und durch einen Gesetzgebungsakt der Union für verbindlich erklärt werden, den Einzelnen grundsätzlich nur dann entgegengehalten werden können, wenn sie selbst im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht worden sind. 49 Waren diese Normen Gegenstand von Anpassungen durch eine solche Organisation, so hat dieser Grundsatz auch zur Folge, dass den Einzelnen grundsätzlich nur die Fassung dieser Normen entgegengehalten werden kann, die veröffentlicht worden ist. 50 Im vorliegenden Fall dürfen Unternehmen, wie sich aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 ergibt, Zigaretten, deren Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionswerte die in der erstgenannten Bestimmung festgelegten Höchstwerte – gemessen nach den Verfahren, die in den ISO-Normen vorgesehen sind, auf die sich die zweitgenannte Bestimmung bezieht – überschreiten, weder in den Mitgliedstaaten in Verkehr bringen noch herstellen. Unter diesen Umständen ist Art. 4 Abs. 1 der genannten Richtlinie so zu verstehen, dass er diesen Unternehmen eine Verpflichtung auferlegt. 51 Da die Normen, auf die Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 verweist, nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden, sind die Einzelnen jedoch entgegen der in den Rn. 41, 42 und 45 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung grundsätzlich nicht in der Lage, von den Verfahren zur Messung der für Zigaretten geltenden Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionswerte Kenntnis zu nehmen. 52 Allerdings sind die Besonderheiten des durch die ISO geschaffenen Systems zu berücksichtigen, das aus einem Netz nationaler Normungsorganisationen besteht und es diesen nationalen Organisationen ermöglicht, auf Antrag Zugang zur offiziellen und authentischen Fassung der von der ISO festgelegten Normen zu gewähren. Wenn Unternehmen Zugang zur offiziellen und authentischen Fassung der in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 genannten Normen haben, können ihnen diese Normen und damit der Verweis auf diese in dieser Bestimmung somit entgegengehalten werden. 53 Nach alledem ist festzustellen, dass die Prüfung von Frage 1 nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Transparenzgrundsatz, die Verordnung Nr. 216/2013 und Art. 297 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit beeinträchtigen könnte. Zu Frage 3a 54 Mit Frage 3a möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf die Grundprinzipien dieser Richtlinie, Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie und Art. 5 Abs. 3 des FCTC gültig ist, weil die Tabakindustrie an der Festlegung der Normen, auf die Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 verweist, beteiligt war. 55 Zunächst ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht nicht die Grundprinzipien der Richtlinie 2014/40 darlegt, anhand deren die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie zu prüfen sein soll. 56 Außerdem ist festzustellen, dass Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2014/40 die Überprüfung der Messungen der Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionen durch Labore verlangt, die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zugelassen und von ihnen überwacht werden und die nicht im Besitz der Tabakindustrie sein oder unter ihrer direkten oder indirekten Kontrolle stehen dürfen. Diese Bestimmung betrifft somit nicht die eigentliche Ausarbeitung der ISO-Normen, auf die Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 verweist. 57 Die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 ist daher allein anhand von Art. 5 Abs. 3 des FCTC zu prüfen, weil die Tabakindustrie an der Festlegung der fraglichen Normen bei der ISO beteiligt war. 58 Art. 5 Abs. 3 des FCTC sieht vor, dass die Vertragsparteien dieses Übereinkommens bei der Festlegung und Durchführung ihrer gesundheitspolitischen Maßnahmen in Bezug auf die Eindämmung des Tabakgebrauchs diese Maßnahmen in Übereinstimmung mit innerstaatlichem Recht vor den Interessen der Tabakindustrie schützen. 59 Bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich, dass sie nicht jegliche Beteiligung der Tabakindustrie an der Festlegung und Anwendung der Vorschriften zur Eindämmung des Tabakgebrauchs verbietet, sondern lediglich verhindern soll, dass die Maßnahmen der Vertragsparteien gegen den Gebrauch von Tabak durch Interessen dieser Industrie beeinflusst werden. 60 Diese Auslegung von Art. 5 Abs. 3 des FCTC wird durch die Leitlinien zur Umsetzung dieser Bestimmung bestätigt, die zwar selbst nicht rechtsverbindlich sind, aber gemäß den Art. 7 und 9 des FCTC bezwecken, die Vertragsparteien bei der Umsetzung der verbindlichen Vorschriften dieses Übereinkommens zu unterstützen. Diese Leitlinien wurden von der Union und ihren Mitgliedstaaten einvernehmlich angenommen, wie im siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/40 ausgeführt (Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 111 und 112). 61 In den genannten Leitlinien wird nämlich empfohlen, die Interaktion mit der Tabakindustrie zu begrenzen und transparent zu gestalten und Interessenkonflikte für Beamte oder Angestellte jeder Vertragspartei des FCTC zu vermeiden. 62 Folglich kann die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 des FCTC nicht allein aus dem vom vorlegenden Gericht dargelegten Grund in Frage gestellt werden, dass die Tabakindustrie an der Festlegung der fraglichen Normen bei der ISO beteiligt war. 63 Nach alledem ist festzustellen, dass die Prüfung von Frage 3a nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 des FCTC beeinträchtigen könnte. Zu Frage 3b 64 Mit Frage 3b möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf die Grundprinzipien dieser Richtlinie, auf Art. 114 Abs. 3 AEUV, auf das FCTC sowie auf die Art. 24 und 35 der Charta gültig ist, aufgrund dessen, dass wissenschaftliche Studien belegen würden, dass die Messverfahren, auf die Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie verweist, nicht den Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalt von Zigaretten widerspiegeln würden, der von den Rauchern tatsächlich inhaliert wird. 65 Zunächst ist auf die Feststellung in Rn. 55 des vorliegenden Urteils hinzuweisen, wonach das vorlegende Gericht nicht die Grundprinzipien darlegt, anhand deren die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 zu prüfen sein soll. 66 Zur Begründung der in Rn. 64 des vorliegenden Urteils genannten Frage führt das vorlegende Gericht verschiedene Dokumente an, die von der Stichting Rookpreventie Jeugd im Ausgangsverfahren vorgelegt wurden und in Rn. 21 des vorliegenden Urteils genannt sind. 67 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Gültigkeit eines Unionsrechtsakts aber gemessen an den Informationen, über die der Unionsgesetzgeber zum Zeitpunkt des Erlasses der betreffenden Regelung verfügte, zu beurteilen (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 80). 68 Da die in Rn. 21 des vorliegenden Urteils angeführten Studien und sonstigen Dokumente sämtlich nach dem 3. April 2014, dem Tag des Erlasses der Richtlinie 2014/40, erstellt wurden, können sie für die Zwecke der Beurteilung der Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht berücksichtigt werden. 69 Die Prüfung von Frage 3b hat folglich nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf Art. 114 Abs. 3 AEUV, das FCTC sowie die Art. 24 und 35 der Charta beeinträchtigen könnte. Zu Frage 4a 70 Mit Frage 4a möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 den Einzelnen nicht entgegengehalten werden kann, wissen, welches Verfahren zur Messung der Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionen von Zigaretten angewandt werden kann, um die Einhaltung der in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Emissionshöchstwerte zu überprüfen. 71 Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem es um die Weigerung der NVWA geht, gegenüber den Herstellern, Importeuren und Vertreibern von Tabakerzeugnissen durch eine Verwaltungszwangsmaßnahme anzuordnen, den Verbrauchern in den Niederlanden angebotene Filterzigaretten, die bei bestimmungsgemäßer Verwendung nicht die in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 festgelegten Emissionswerte einhalten, vom Markt zu nehmen. 72 Hierzu ist festzustellen, dass Zigaretten, die in der Union in Verkehr gebracht oder hergestellt werden sollen, die Emissionshöchstwerte für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid einhalten müssen, die in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 festgelegt sind. 73 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40, da er auf ISO-Normen verweist, die nicht im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurden, den Einzelnen grundsätzlich nicht entgegengehalten werden kann. 74 Daher ist es Sache des vorlegenden Gerichts, für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu beurteilen, ob die Verfahren, die tatsächlich zur Messung der Emissionswerte der genannten Stoffe angewandt wurden, mit der Richtlinie 2014/40 in Einklang stehen, ohne deren Art. 4 Abs. 1 zu berücksichtigen. 75 Hierzu ist erstens festzustellen, dass aus Art. 2 Nr. 21 dieser Richtlinie hervorgeht, dass der Ausdruck „Emissionen“„Stoffe [bezeichnet], die freigesetzt werden, wenn ein Tabakerzeugnis oder ein verwandtes Erzeugnis bestimmungsgemäß verwendet wird, etwa Stoffe im Rauch oder Stoffe, die während der Verwendung rauchloser Tabakerzeugnisse freigesetzt werden“. 76 Zweitens werden nach Art. 4 Abs. 2 der genannten Richtlinie die Messungen der Teer‑, Nikotin- und Kohlenmonoxidemissionswerte von Laboren überprüft, die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zugelassen und von ihnen überwacht werden. Diese Labore dürfen nicht im Besitz der Tabakindustrie sein oder unter ihrer direkten oder indirekten Kontrolle stehen. 77 Drittens sind nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40, wenn die Kommission die Verfahren zur Messung der genannten Emissionswerte anpasst, wissenschaftliche und technische Entwicklungen oder international vereinbarte Normen zu berücksichtigen. 78 Viertens muss jedes Verfahren zur Messung der in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Emissionshöchstwerte dem in Art. 1 der Richtlinie zum Ausdruck kommenden Ziel der Richtlinie, einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen, zu gewährleisten, wirksam entsprechen. 79 Daher ist auf Frage 4a zu antworten, dass in dem Fall, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 den Einzelnen nicht entgegengehalten werden kann, das für die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie angewandte Verfahren im Hinblick auf wissenschaftliche und technische Entwicklungen oder international vereinbarte Normen geeignet sein muss, die Werte der Emissionen zu messen, die freigesetzt werden, wenn eine Zigarette bestimmungsgemäß verwendet wird, und dabei ein hoher Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen, zugrunde gelegt werden muss, wobei die Genauigkeit der mit diesem Verfahren erzielten Messungen von den in Art. 4 Abs. 2 der genannten Richtlinie angeführten Laboren, die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zugelassen und überwacht werden, überprüft werden muss. Zu Frage 4b 80 Mit Frage 4b möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist. 81 Nach Art. 17a Abs. 4 des Gesetzes über Tabak und Tabakerzeugnisse, mit dem Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 umgesetzt wurde, kann der Staatssekretär bestimmte Kategorien von Tabakerzeugnissen, die den gesetzlichen oder in Anwendung des Gesetzes festgelegten Anforderungen genügen, aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit durch Ministerialverordnung verbieten. 82 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs streitet eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 20. Dezember 2017, Erzeugerorganisation Tiefkühlgemüse, C‑516/16, EU:C:2017:1011, Rn. 80). 83 Die dem Gerichtshof vorliegenden Akten enthalten jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Ausgangsrechtsstreit auch nur teilweise die Möglichkeit betrifft, über die der Staatssekretär nach Art. 17a Abs. 4 des Gesetzes über Tabak und Tabakerzeugnisse, mit dem Art. 24 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 umgesetzt wurde, verfügt. 84 Daraus folgt, dass eine Beantwortung von Frage 4b unter diesen Umständen offensichtlich darauf hinausliefe, dass der Gerichtshof unter Missachtung der ihm im Rahmen der mit Art. 267 AEUV eingeführten Zusammenarbeit der Gerichte zugewiesenen Aufgabe ein Gutachten zu einer hypothetischen Frage abgäbe (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Dezember 2017, Erzeugerorganisation Tiefkühlgemüse, C‑516/16, EU:C:2017:1011, Rn. 82). 85 Folglich ist Frage 4b unzulässig. Kosten 86 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG ist dahin auszulegen, dass er vorsieht, dass die in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Emissionshöchstwerte für Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid von Zigaretten, die in den Mitgliedstaaten in Verkehr gebracht oder hergestellt werden sollen, in Anwendung der Messverfahren zu messen sind, die sich aus den ISO-Normen 4387, 10315, 8454 und 8243 ergeben, auf die der genannte Art. 4 Abs. 1 verweist. 2. Die Prüfung von Frage 1 hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf den Transparenzgrundsatz, die Verordnung (EU) Nr. 216/2013 des Rates vom 7. März 2013 über die elektronische Veröffentlichung des Amtsblatts der Europäischen Union und Art. 297 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit beeinträchtigen könnte. 3. Die Prüfung von Frage 3a hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 des Rahmenübereinkommens der Weltgesundheitsorganisation zur Eindämmung des Tabakgebrauchs beeinträchtigen könnte. 4. Die Prüfung von Frage 3b hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 im Hinblick auf Art. 114 Abs. 3 AEUV, das Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation zur Eindämmung des Tabakgebrauchs sowie die Art. 24 und 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beeinträchtigen könnte. 5. In dem Fall, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 den Einzelnen nicht entgegengehalten werden kann, muss das für die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie angewandte Verfahren im Hinblick auf wissenschaftliche und technische Entwicklungen oder international vereinbarte Normen geeignet sein, die Werte der Emissionen zu messen, die freigesetzt werden, wenn eine Zigarette bestimmungsgemäß verwendet wird, und dabei muss ein hoher Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen, zugrunde gelegt werden, wobei die Genauigkeit der mit diesem Verfahren erzielten Messungen von den in Art. 4 Abs. 2 der genannten Richtlinie angeführten Laboren, die von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zugelassen und überwacht werden, überprüft werden muss. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 11. November 2021.#Strafverfahren gegen Ivan Gavanozow.#Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2014/41/EU – Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen – Art. 14 – Rechtsbehelfe – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Fehlen von Rechtsbehelfen im Anordnungsmitgliedstaat – Anordnung von Durchsuchungen, Beschlagnahmen und einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz.#Rechtssache C-852/19.
62019CJ0852
ECLI:EU:C:2021:902
2021-11-11T00:00:00
Gerichtshof, Bobek
62019CJ0852 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 11. November 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2014/41/EU – Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen – Art. 14 – Rechtsbehelfe – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Fehlen von Rechtsbehelfen im Anordnungsmitgliedstaat – Anordnung von Durchsuchungen, Beschlagnahmen und einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz“ In der Rechtssache C‑852/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 7. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 21. November 2019, in dem Strafverfahren gegen Ivan Gavanozov erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter J.‑C. Bonichot und M. Safjan, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte, – der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier, A. Daniel und N. Vincent als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Giordano, avvocato dello Stato, – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch I. Zaloguin und R. Troosters, dann durch I. Zaloguin und M. Wasmeier als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. April 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1) sowie der Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Ivan Gavanozov, der angeklagt wird, Rädelsführer einer kriminellen Vereinigung zu sein und Steuerstraftaten begangen zu haben. Rechtlicher Rahmen Richtlinie 2014/41 3 In den Erwägungsgründen 2, 6, 18, 19 und 22 der Richtlinie 2014/41 heißt es: „(2) Nach Artikel 82 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen, der seit der Tagung des Europäischen Rates vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere allgemein als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union bezeichnet wird. … (6) In dem vom Europäischen Rat vom 10./11. Dezember 2009 angenommenen Stockholmer Programm hat der Europäische Rat die Auffassung vertreten, dass die Einrichtung eines umfassenden Systems für die Beweiserhebung in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung basiert, weiter verfolgt werden sollte. Dem Europäischen Rat zufolge stellten die bestehenden Rechtsinstrumente auf diesem Gebiet eine lückenhafte Regelung dar und bedurfte es eines neuen Ansatzes, der auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht, aber auch der Flexibilität des traditionellen Systems der Rechtshilfe Rechnung trägt. Der Europäische Rat hat daher ein umfassendes System gefordert, das sämtliche bestehenden Instrumente in diesem Bereich ersetzen soll, unter anderem auch den Rahmenbeschluss 2008/978/JI, und das so weit wie möglich alle Arten von Beweismitteln erfasst, Vollstreckungsfristen enthält und das die Versagungsgründe so weit wie möglich beschränkt. … (18) Wie andere Rechtsakte, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhen, berührt auch diese Richtlinie nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und der Charta [der Grundrechte der Europäischen Union]. Um dies deutlich zu machen, wurde eine spezifische Bestimmung in den Text aufgenommen. (19) Die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der Union beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten. Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar. Wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme einen Verstoß gegen ein Grundrecht der betreffenden Person zur Folge hätte und der Vollstreckungsstaat seine Verpflichtungen zum Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte nicht achten würde, so sollte die Vollstreckung der EEA verweigert werden. … (22) Die Rechtsbehelfe gegen eine EEA sollten zumindest den Rechtsbehelfen gleichwertig sein, die in einem innerstaatlichen Fall gegen die betreffende Ermittlungsmaßnahme zur Verfügung stehen. Die Mitgliedstaaten sollten gemäß ihrem nationalen Recht die Anwendbarkeit dieser Rechtsbehelfe sicherstellen, auch indem sie alle Betroffenen rechtzeitig über die Möglichkeiten und Modalitäten zur Einlegung der Rechtsbehelfe belehren. In Fällen, in denen Einwände gegen die EEA von einem Beteiligten im Vollstreckungsstaat in Bezug auf die Sachgründe für den Erlass der EEA geltend gemacht werden, ist es angebracht, dass Informationen über diese Einwände an die Anordnungsbehörde übermittelt werden und der Beteiligte entsprechend unterrichtet wird.“ 4 In Art. 1 dieser Richtlinie heißt es: „(1)   Eine Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden ‚EEA‘) ist eine gerichtliche Entscheidung, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats (‚Anordnungsstaat‘) zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat (‚Vollstreckungsstaat‘) zur Erlangung von Beweisen gemäß dieser Richtlinie erlassen oder validiert wird. … (2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jede EEA nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß dieser Richtlinie. … (4)   Diese Richtlinie berührt nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der Rechtsgrundsätze, die in Artikel 6 EUV verankert sind, einschließlich der Verteidigungsrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren geführt wird; die Verpflichtungen der Justizbehörden in dieser Hinsicht bleiben unberührt.“ 5 Art. 4 der Richtlinie bestimmt: „Eine EEA kann erlassen werden: a) in Bezug auf Strafverfahren, die eine Justizbehörde wegen einer nach dem nationalen Recht des Anordnungsstaats strafbaren Handlung eingeleitet hat oder mit denen sie befasst werden kann; …“ 6 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor: „Die Anordnungsbehörde darf nur dann eine EEA erlassen, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: a) Der Erlass der EEA ist für die Zwecke der Verfahren nach Artikel 4 unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig und b) die in der EEA angegebene(n) Ermittlungsmaßnahme(n) hätte(n) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen angeordnet werden können.“ 7 Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 bestimmt: „Die Vollstreckungsbehörde erkennt eine nach dieser Richtlinie übermittelte EEA ohne jede weitere Formalität an und gewährleistet deren Vollstreckung in derselben Weise und unter denselben Modalitäten, als wäre die betreffende Ermittlungsmaßnahme von einer Behörde des Vollstreckungsstaats angeordnet worden, es sei denn, die Vollstreckungsbehörde beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung oder einen der Gründe für den Aufschub der Vollstreckung nach dieser Richtlinie geltend zu machen.“ 8 In Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es: „Unbeschadet des Artikels 1 Absatz 4 kann die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA im Vollstreckungsstaat versagt werden, wenn … f) berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme mit den Verpflichtungen des Vollstreckungsstaats nach Artikel 6 EUV und der Charta unvereinbar wäre; …“ 9 Art. 14 der Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass gegen die in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen. (2)   Die sachlichen Gründe für den Erlass der EEA können nur durch eine Klage im Anordnungsstaat angefochten werden; dies lässt die Garantien der Grundrechte im Vollstreckungsstaat unberührt. (3)   Wird das Erfordernis der Gewährleistung der Vertraulichkeit einer Ermittlung nach Artikel 19 Absatz 1 dadurch nicht untergraben, so ergreifen die Anordnungsbehörde und die Vollstreckungsbehörde die geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Informationen über die nach nationalem Recht bestehenden Möglichkeiten zur Einlegung der Rechtsbehelfe bereitgestellt werden, sobald diese anwendbar werden, und zwar so rechtzeitig, dass die Rechtsbehelfe effektiv wahrgenommen werden können. (4)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs mit denen identisch sind, die in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen zur Verfügung stehen, und so angewendet werden, dass gewährleistet ist, dass die betroffenen Parteien diese Rechtsbehelfe wirksam ausüben können. …“ 10 Art. 24 der Richtlinie sieht vor: „(1)   Befindet sich eine Person im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats und soll diese Person als Zeuge oder Sachverständiger von den zuständigen Behörden des Anordnungsstaats vernommen werden, so kann die Anordnungsbehörde eine EEA erlassen, um den Zeugen oder Sachverständigen per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung nach Maßgabe der Absätze 5 bis 7 zu vernehmen. … (7)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in Fällen, in denen die Person gemäß diesem Artikel in seinem Hoheitsgebiet vernommen wird und trotz Aussagepflicht die Aussage verweigert oder falsch aussagt, sein nationales Recht genauso gilt, als wäre die Vernehmung in einem nationalen Verfahren erfolgt.“ Bulgarisches Recht 11 Art. 107 Abs. 2 des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, DV Nr. 86 vom 28. Oktober 2005) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NPK) bestimmt: „Das Gericht erhebt auf Antrag der Verfahrensbeteiligten oder von Amts wegen Beweise, wenn dies für die Ermittlung der objektiven Wahrheit erforderlich ist.“ 12 Art. 117 NPK lautet: „Durch Zeugenaussagen können alle Tatsachen, die ein Zeuge wahrgenommen hat und die zur Ermittlung der objektiven Wahrheit beitragen können, festgestellt werden.“ 13 Art. 161 Abs. 3 NPK bestimmt: „Im Gerichtsverfahren werden die Durchsuchung und die Beschlagnahme auf Entscheidung des Gerichts durchgeführt, bei dem die Sache anhängig ist.“ 14 Art. 341 Abs. 3 NPK lautet: „Alle übrigen Beschlüsse und Anordnungen unterliegen keiner vom Urteil gesonderten Überprüfung durch das Berufungsgericht.“ 15 Art. 6 Abs. 1 des Zakon za evropeyskata zapoved za razsledvane (Gesetz über die EEA, DV Nr. 16 vom 20. Februar 2018) sieht vor: „Die zuständige Behörde gemäß Art. 5 Abs. 1 erlässt nach einer Einzelfallprüfung eine EEA, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind: 1. Der Erlass einer EEA ist im Hinblick auf den Zweck des Strafverfahrens erforderlich und angemessen; dabei werden die Rechte des Beschuldigten oder Angeklagten berücksichtigt. 2. Die Ermittlungs- und sonstigen prozessualen Maßnahmen, zu deren Vornahme die EEA erlassen wird, können unter denselben Bedingungen durchgeführt werden wie nach bulgarischem Recht in einem derartigen Fall.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 16 Herr Gavanozov wird in Bulgarien wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, die zur Begehung von Steuerstraftaten gegründet wurde, strafrechtlich verfolgt. 17 Insbesondere wird er verdächtigt, über Scheinfirmen Zucker mit Herkunft aus anderen Mitgliedstaaten nach Bulgarien eingeführt zu haben, indem er sich u. a. von einer in der Tschechischen Republik ansässigen Gesellschaft, die durch Herrn Y vertreten wird, beliefern ließ, und in der Folge diesen Zucker auf dem bulgarischen Markt verkauft zu haben, ohne Mehrwertsteuer zu entrichten oder zu berechnen, indem er unrichtige Unterlagen vorlegte, laut denen dieser Zucker nach Rumänien ausgeführt wurde. 18 In diesem Zusammenhang entschied der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) am 11. Mai 2017, eine EEA zu erlassen, damit die tschechischen Behörden Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowohl in den Geschäftsräumen der genannten in der Tschechischen Republik ansässigen Gesellschaft als auch in der Wohnung von Herrn Y und eine Vernehmung von Herrn Y als Zeugen per Videokonferenz vornähmen. 19 Im Anschluss an diese Anordnung und unter Hinweis auf Schwierigkeiten bei der Vervollständigung von Abschnitt J („Rechtsbehelfe“) des Formblatts in Anhang A der Richtlinie 2014/41 ersuchte dieses Gericht den Gerichtshof um Auslegung mehrerer Bestimmungen dieser Richtlinie. 20 Insbesondere im Hinblick auf die Antwort des vorlegenden Gerichts auf ein Auskunftsersuchen, das der Gerichtshof an dieses gerichtet hatte, hat der Gerichtshof in Rn. 38 des Urteils vom 24. Oktober 2019, Gavanozov (C‑324/17, EU:C:2019:892), entschieden, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Abschnitt J des Formblatts in Anhang A dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Justizbehörde eines Mitgliedstaats beim Erlass einer EEA in diesem Abschnitt nicht die Rechtsbehelfe beschreiben muss, die gegebenenfalls in ihrem Mitgliedstaat gegen den Erlass einer solchen Anordnung vorgesehen sind. 21 In seiner Vorlageentscheidung stellt der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) fest, dass das bulgarische Strafrecht weder einen Rechtsbehelf gegen Anordnungen zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen oder Zeugenvernehmungen noch gegen den Erlass einer EEA vorsehe. 22 In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, ob das bulgarische Recht gegen das Unionsrecht verstößt und ob es in einem solchen Fall eine EEA erlassen kann, die solche Ermittlungsmaßnahmen zum Gegenstand hat. 23 Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist eine nationale Regelung, die keine Rechtsbehelfe gegen den Erlass einer EEA zur Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen, zur Beschlagnahme bestimmter Gegenstände und zur Vernehmung eines Zeugen vorsieht, mit Art. 14 Abs. 1 bis 4, Art. 1 Abs. 4 und den Erwägungsgründen 18 und 22 der Richtlinie 2014/41 sowie den Art. 47 und 7 der Charta in Verbindung mit den Art. 13 und 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) vereinbar? 2. Kann unter diesen Umständen eine EEA erlassen werden? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 24 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 2014/41 im Licht ihrer Erwägungsgründe 18 und 22 sowie die Art. 7 und 47 der Charta in Verbindung mit den Art. 8 und 13 EMRK dahin auszulegen sind, dass sie den Rechtsvorschriften eines Anordnungsmitgliedstaats einer EEA entgegenstehen, die keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie Zeugenvernahmen per Videokonferenz vorsehen. 25 Gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass gegen die in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen. 26 Zwar sieht diese Bestimmung im Licht des 22. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie die allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, dafür zu sorgen, dass gegen die in der EEA genannten Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die zumindest den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 60), sie verlangt von den Mitgliedstaaten aber nicht, weitere Rechtsbehelfe zusätzlich zu jenen vorzusehen, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen. 27 Ein solches Erfordernis ergibt sich auch nicht aus dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie, der lediglich klarstellt, dass die sachlichen Gründe für den Erlass einer EEA nur durch eine Klage im Anordnungsstaat angefochten werden können. 28 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten haben, dass das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt ist, das in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankert ist, der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt (Urteil vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände]), C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29 Da das Verfahren des Erlasses und der Vollstreckung einer EEA durch die Richtlinie 2014/41 geregelt wird, stellt es eine solche Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar, die zur Anwendbarkeit von Art. 47 der Charta führt (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Nach Art. 47 Abs. 1 der Charta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. 31 Als Erstes ist hinsichtlich des Erlasses einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen festzustellen, dass solche Maßnahmen Eingriffe in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht jeder Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation darstellen. Außerdem können die Beschlagnahmen gegen Art. 17 Abs. 1 der Charta verstoßen, der das Recht jeder Person anerkennt, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. 32 Jeder Person, die sich auf den Schutz berufen möchte, den ihr diese Bestimmungen im Rahmen eines Verfahrens im Zusammenhang mit einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen gewähren, ist daher das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuzuerkennen. 33 Dieses Recht setzt notwendigerweise voraus, dass die von solchen Ermittlungsmaßnahmen betroffenen Personen über angemessene Rechtsbehelfe verfügen, die es ihnen ermöglichen, zum einen die Ordnungsmäßigkeit und die Erforderlichkeit dieser Maßnahmen anzufechten und zum anderen eine angemessene Wiedergutmachung zu verlangen, wenn diese Maßnahmen rechtswidrig angeordnet oder durchgeführt worden sind. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung die hierzu erforderlichen Rechtsbehelfe vorzusehen. 34 Diese Auslegung von Art. 47 der Charta entspricht zudem der Auslegung von Art. 13 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR. Aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich nämlich, dass nach Art. 13 EMRK, der im Wesentlichen Art. 47 Abs. 1 der Charta entspricht, Personen, die von Durchsuchungen und Beschlagnahmen betroffen sind, Zugang zu einem Verfahren haben müssen, das es ihnen ermöglicht, die Ordnungsmäßigkeit und die Erforderlichkeit der Durchsuchungen und Beschlagnahmen anzufechten und eine angemessene Wiedergutmachung zu erlangen, wenn diese Maßnahmen rechtswidrig angeordnet oder durchgeführt worden sind (vgl. in diesem Sinne EGMR, 22. Mai 2008, Iliya Stefanov/Bulgarien, CE:ECHR:2008:0522JUD006575501, § 59, EGMR, 31. März 2016, Stoyanov u. a./Bulgarien, CE:ECHR:2016:0331JUD005538810, §§ 152 bis 154, und EGMR, 19. Januar 2017, Posevini/Bulgarien, CE:ECHR:2017:0119JUD006363814, §§ 84 bis 86). 35 Im Übrigen impliziert das Recht der betroffenen Person, die Ordnungsmäßigkeit und die Erforderlichkeit dieser Maßnahmen anzufechten, dass diese Person über einen Rechtsbehelf verfügen muss, der gegen die EEA gerichtet ist, mit der die Durchführung dieser Maßnahmen angeordnet wird. 36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 die EEA als eine gerichtliche Entscheidung definiert, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat zur Erlangung von Beweisen gemäß dieser Richtlinie erlassen oder validiert wird. 37 Gemäß Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie vollstrecken die Mitgliedstaaten jede EEA nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß dieser Richtlinie. 38 Zudem geht aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 hervor, dass die Vollstreckungsbehörde eine nach dieser Richtlinie übermittelte EEA ohne jede weitere Formalität anerkennt und deren Vollstreckung in derselben Weise und unter denselben Modalitäten gewährleistet, als wäre die betreffende Ermittlungsmaßnahme von einer Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats angeordnet worden, es sei denn, die Vollstreckungsbehörde beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung oder einen der Gründe für den Aufschub der Vollstreckung nach dieser Richtlinie geltend zu machen. 39 Daraus folgt, dass die Ermittlungsmaßnahmen im Rahmen eines Verfahrens im Zusammenhang mit einer EEA von der zuständigen Behörde des Anordnungsmitgliedstaats angeordnet und von den zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats durchgeführt werden, die grundsätzlich verpflichtet sind, eine nach der Richtlinie 2014/41 übermittelte EEA ohne jede weitere Formalität anzuerkennen. 40 Außerdem können nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2014/41 die sachlichen Gründe für den Erlass einer EEA nur durch eine Klage im Anordnungsstaat angefochten werden. 41 Damit Personen, die von der Vollstreckung einer EEA, die von einer Justizbehörde des Anordnungsmitgliedstaats zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen erlassen oder validiert wurde, betroffen sind, ihr in Art. 47 der Charta garantiertes Recht sachgerecht ausüben können, obliegt es daher diesem Mitgliedstaat, dafür zu sorgen, dass diese Personen über einen Rechtsbehelf vor einem Gericht desselben Mitgliedstaats verfügen, der es ihnen ermöglicht, die Erforderlichkeit und die Ordnungsmäßigkeit dieser Anordnung, zumindest im Hinblick auf die sachlichen Gründe für den Erlass einer solchen EEA, anzufechten. 42 Was als Zweites den Erlass einer EEA zur Durchführung einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 die anordnende Justizbehörde, wenn eine Person, die sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats befindet, von den zuständigen Behörden des Anordnungsmitgliedstaats als Zeuge oder Sachverständiger zu vernehmen ist, eine EEA erlassen kann, um gemäß Art. 24 Abs. 5 bis 7 dieser Richtlinie den Zeugen oder Sachverständigen per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung zu vernehmen. 43 Gemäß Art. 24 Abs. 7 dieser Richtlinie trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in Fällen, in denen die Person gemäß diesem Artikel in seinem Hoheitsgebiet vernommen wird und trotz Aussagepflicht die Aussage verweigert oder falsch aussagt, sein nationales Recht genauso gilt, als wäre die Vernehmung in einem nationalen Verfahren erfolgt. 44 Daher kann die Weigerung, im Rahmen der Vollstreckung einer EEA, welche die Durchführung einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zum Gegenstand hat, auf der Grundlage der im Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats hierfür vorgesehenen Normen erhebliche Folgen für die betroffene Person haben. Insbesondere könnte diese Person gezwungen sein, zu der Vernehmung zu erscheinen, und unter Androhung von Sanktionen dazu verpflichtet werden, die in diesem Rahmen gestellten Fragen zu beantworten. 45 Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar (Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Der Gerichtshof hat klargestellt, dass dieser Schutz von jeder Person als durch das Recht der Union garantiertes Recht im Sinne von Art. 47 Abs. 1 der Charta geltend gemacht werden kann, um einen sie beschwerenden Rechtsakt wie eine Anordnung zur Übermittlung von Informationen oder eine wegen Nichtbeachtung dieser Anordnung verhängte Sanktion gerichtlich anzufechten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburger Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Daher ist davon auszugehen, dass die Vollstreckung einer EEA zur Durchführung einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz die betroffene Person beschweren kann und dass sie daher gemäß Art. 47 der Charta über einen Rechtsbehelf gegen eine solche Anordnung verfügen muss. 48 Die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats sind jedoch nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2014/41 für die Prüfung der sachlichen Gründe einer EEA, mit der die Durchführung einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz angeordnet wird, nicht zuständig. 49 Daher obliegt es dem Anordnungsmitgliedstaat, dafür zu sorgen, dass jede Person, die verpflichtet wurde, zu einer Vernehmung zu erscheinen, um als Zeuge vernommen zu werden oder Fragen zu beantworten, die ihr bei einer solchen Vernehmung im Rahmen der Vollstreckung einer EEA gestellt wurden, über einen Rechtsbehelf vor einem Gericht dieses Mitgliedstaats verfügt, der es ihr ermöglicht, zumindest die sachlichen Gründe für den Erlass einer solchen EEA anzufechten. 50 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 14 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit deren Art. 24 Abs. 7 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er den Rechtsvorschriften eines Anordnungsmitgliedstaats einer EEA entgegensteht, die keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz vorsehen. Zur zweiten Frage 51 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 2014/41 im Licht ihrer Erwägungsgründe 18 und 22 sowie die Art. 7 und 47 der Charta in Verbindung mit den Art. 8 und 13 EMRK dahin auszulegen sind, dass sie dem Erlass einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz durch die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer solchen EEA vorsehen. 52 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 macht den Erlass einer EEA von der Erfüllung zweier Bedingungen abhängig. Zum einen muss der Erlass der EEA für die Zwecke der Verfahren nach Art. 4 dieser Richtlinie unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig sein. Zum anderen muss/müssen die in der EEA angegebene(n) Ermittlungsmaßnahme(n) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen angeordnet werden können. 53 Zwar erwähnt diese Bestimmung nicht, dass bei Erlass einer EEA die Rechte von Personen berücksichtigt werden, die von den in dieser Anordnung genannten Ermittlungsmaßnahmen betroffen sind und bei denen es sich nicht um die verdächtige oder beschuldigte Person handelt. 54 Es geht jedoch insbesondere aus den Erwägungsgründen 2, 6 und 19 der Richtlinie 2014/41 hervor, dass die EEA ein Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen im Sinne von Art. 82 Abs. 1 AEUV ist, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen beruht. Dieser Grundsatz, der den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bildet, beruht seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der widerlegbaren Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 40). 55 Im Rahmen eines Verfahrens im Zusammenhang mit einer EEA ist jedoch für die Gewährleistung dieser Rechte somit in erster Linie der Anordnungsmitgliedstaat verantwortlich, von dem angenommen werden kann, dass er das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachtet (vgl. entsprechend Urteil vom 23. Januar 2018, Piotrowski, C‑367/16, EU:C:2018:27, Rn. 50). 56 Ist es jedoch unmöglich, im Anordnungsmitgliedstaat die Erforderlichkeit und die Ordnungsmäßigkeit einer EEA, welche die Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zum Gegenstand hat, zumindest im Hinblick auf die sachlichen Gründe für den Erlass einer solchen EEA anzufechten, stellt dies jedoch eine Verletzung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf dar, die dazu führen kann, dass die gegenseitige Anerkennung nicht erfolgen und diesem Mitgliedstaat nicht zugutekommen kann. 57 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass es den Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit obliegt, in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet insbesondere für die Anwendung und die Wahrung des Unionsrechts zu sorgen und zu diesem Zweck alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Unionsorgane ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Daher obliegt es im Hinblick insbesondere auf die wesentliche Rolle des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in dem durch die Richtlinie 2014/41 geschaffenen System dem Anordnungsmitgliedstaat, die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen die Vollstreckungsbehörde ihre Rechtshilfe im Einklang mit dem Unionsrecht sachgerecht leisten kann. 59 Außerdem beruht die Richtlinie 2014/41, wie sich aus Rn. 43 des vorliegenden Urteils ergibt, auf dem Grundsatz der Vollstreckung der Europäischen Ermittlungsanordnungen. Ihr Art. 11 Abs. 1 Buchst. f erlaubt es den Vollstreckungsbehörden, ausnahmsweise nach einer Einzelfallprüfung von diesem Grundsatz abzuweichen, wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer EEA mit den insbesondere in der Charta verbürgten Grundrechten unvereinbar wäre. Bei Fehlen jeglichen Rechtsbehelfs im Anordnungsstaat würde diese Bestimmung jedoch systematisch zur Anwendung kommen. Eine solche Folge liefe sowohl der allgemeinen Systematik der Richtlinie 2014/41 als auch dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zuwider. 60 Daher ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 81 bis 84 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Erlass einer EEA, bei der berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung zu einem Verstoß gegen Art. 47 der Charta führen würde und deren Vollstreckung daher vom Vollstreckungsmitgliedstaat gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. f dieser Richtlinie versagt werden müsste, nicht mit den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit vereinbar. 61 Wie sich aus der Prüfung der ersten Frage ergibt, kann die Vollstreckung einer EEA, welche die Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zum Gegenstand hat und deren Ordnungsmäßigkeit nicht vor einem Gericht des Anordnungsmitgliedstaats angefochten werden kann, eine Verletzung des in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf darstellen. 62 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass er es der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats verwehrt, eine EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zu erlassen, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer solchen EEA vorsehen. Kosten 63 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 14 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen in Verbindung mit deren Art. 24 Abs. 7 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er den Rechtsvorschriften eines Anordnungsmitgliedstaats einer EEA entgegensteht, die keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz vorsehen. 2. Art. 6 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin auszulegen, dass er es der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats verwehrt, eine EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zu erlassen, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer solchen EEA vorsehen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 9. November 2021.#LW gegen Bundesrepublik Deutschland.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 3 und 23 – Günstigere Normen, die von den Mitgliedstaaten beibehalten oder erlassen werden können, um den Anspruch auf Asyl oder subsidiären Schutz auf die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu erstrecken – Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung von einem Elternteil an sein minderjähriges Kind – Wahrung des Familienverbands – Wohl des Kindes.#Rechtssache C-91/20.
62020CJ0091
ECLI:EU:C:2021:898
2021-11-09T00:00:00
Richard de la Tour, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62020CJ0091 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 9. November 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 3 und 23 – Günstigere Normen, die von den Mitgliedstaaten beibehalten oder erlassen werden können, um den Anspruch auf Asyl oder subsidiären Schutz auf die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu erstrecken – Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung von einem Elternteil an sein minderjähriges Kind – Wahrung des Familienverbands – Wohl des Kindes“ In der Rechtssache C‑91/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 18. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Februar 2020, in dem Verfahren LW gegen Bundesrepublik Deutschland erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, N. Jääskinen und J. Passer, der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), J.‑C. Bonichot, A. Kumin und N. Wahl, Generalanwalt: J. Richard de la Tour, Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Februar 2021, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von LW, vertreten durch Rechtsanwalt F. Schleicher, – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte, – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und A. Azema als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Mai 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 und Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LW und der Bundesrepublik Deutschland wegen eines Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt), mit dem ihr das Asylrecht versagt wurde. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 In Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) (im Folgenden: Genfer Konvention) heißt es: „Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck ‚Flüchtling‘ auf jede Person Anwendung: … 2. die … aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will. Für den Fall, dass eine Person mehr als eine Staatsangehörigkeit hat, bezieht sich der Ausdruck ‚das Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt‘ auf jedes der Länder, dessen Staatsangehörigkeit diese Person hat. Als des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie hat, beraubt, gilt nicht eine Person, die ohne einen stichhaltigen, auf eine begründete Befürchtung gestützten Grund den Schutz eines der Länder nicht in Anspruch genommen hat, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt.“ Unionsrecht 4 Mit der Richtlinie 2011/95 wurde die „Neufassung“ der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) vorgenommen. 5 In den Erwägungsgründen 4, 12, 14, 16, 18, 19, 36 und 38 der Richtlinie 2011/95 heißt es: „(4) Die Genfer [Konvention] und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar. … (12) Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird. … (14) Die Mitgliedstaaten sollten die Befugnis haben, günstigere Regelungen als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Normen für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die um internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat ersuchen, einzuführen oder beizubehalten, wenn ein solcher Antrag als mit der Begründung gestellt verstanden wird, dass der Betreffende entweder ein Flüchtling im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A der Genfer Konvention oder eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz ist. … (16) Diese Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze. Sie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Artikel 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern, und sollte daher entsprechend umgesetzt werden. … (18) Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem [am 20. November 1989 in New York geschlossenen] Übereinkommen der Vereinten Nationen … über die Rechte des Kindes [(United Nations Treaty Series, Bd. 1577, S. 3)] vorrangig das ‚Wohl des Kindes‘ berücksichtigen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands … Rechnung tragen. (19) Der Begriff ‚Familienangehörige‘ muss ausgeweitet werden, wobei … das Wohl des Kindes besonders zu berücksichtigen ist. … (36) Familienangehörige sind aufgrund der alleinigen Tatsache, dass sie mit dem Flüchtling verwandt sind, in der Regel gefährdet, in einer Art und Weise verfolgt zu werden, dass ein Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gegeben sein kann. … (38) Bei der Gewährung der Ansprüche auf die Leistungen gemäß dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten dem Wohl des Kindes sowie den besonderen Umständen der Abhängigkeit der nahen Angehörigen, die sich bereits in dem Mitgliedstaat aufhalten und die nicht Familienmitglieder der Person sind, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, von dieser Person Rechnung tragen. Unter außergewöhnlichen Umständen, wenn es sich bei dem nahen Angehörigen der Person, die Anspruch auf internationalen Schutz hat, um eine verheiratete minderjährige Person handelt, die nicht von ihrem Ehepartner begleitet wird, kann es als dem Wohl der minderjährigen Person dienlich angesehen werden, wenn diese in ihrer ursprünglichen Familie lebt.“ 6 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … d) ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet; … j) ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat: – der Ehegatte der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, oder ihr nicht verheirateter Partner, der mit ihr eine dauerhafte Beziehung führt …; – die minderjährigen Kinder des unter dem ersten Gedankenstrich genannten Paares oder der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt; – der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist …; k) ‚Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren; … n) ‚Herkunftsland‘ das Land oder die Länder der Staatsangehörigkeit oder – bei Staatenlosen – des früheren gewöhnlichen Aufenthalts.“ 7 Art. 3 („Günstigere Normen“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“ 8 Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 sieht vor: „Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist: … e) die Frage, ob vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen könnte.“ 9 Art. 12 („Ausschluss“) der Richtlinie 2011/95 lautet: „(1)   Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er a) den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des [Flüchtlingshilfswerks] der Vereinten Nationen [(UNHCR)] gemäß Artikel 1 Abschnitt D der Genfer [Konvention] genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie; b) von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat. (2)   Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er a) ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen; b) eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, das heißt vor dem Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; insbesondere grausame Handlungen können als schwere nichtpolitische Straftaten eingestuft werden, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt werden; c) sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und in den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, zuwiderlaufen. (3)   Absatz 2 findet auf Personen Anwendung, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.“ 10 Art. 23 („Wahrung des Familienverbands“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. (2)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist. (3)   Die Absätze 1 und 2 finden keine Anwendung, wenn der Familienangehörige aufgrund der Kapitel III und V von der Gewährung internationalen Schutzes ausgeschlossen ist oder ausgeschlossen wäre. (4)   Unbeschadet der Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten aus Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung die dort aufgeführten Leistungen verweigern, einschränken oder entziehen. (5)   Die Mitgliedstaaten können entscheiden, dass dieser Artikel auch für andere enge Verwandte gilt, die zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftslandes innerhalb des Familienverbands lebten und zu diesem Zeitpunkt vollständig oder größtenteils von der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, abhängig waren.“ Deutsches Recht 11 § 3 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1992 (BGBl. 1992 I S. 1126), wie es am 2. September 2008 (BGBl. 2008 I S. 1798) bekannt gemacht wurde, bestimmt in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: AsylG): „Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne [der Genfer Konvention], wenn er sich 1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe 2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will … …“ 12 § 26 Abs. 2 AsylG sieht vor: „Ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten wird auf Antrag als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.“ 13 § 26 Abs. 4 AsylG schließt von der Anwendung von § 26 u. a. Personen aus, die unter einen der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 fallen. 14 § 26 Abs. 5 AsylG bestimmt: „Auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten sind die Absätze 1 bis 4 entsprechend anzuwenden. An die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz. …“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 15 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens wurde 2017 in Deutschland als Kind einer tunesischen Mutter und eines syrischen Vaters geboren. 16 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens besitzt die tunesische Staatsangehörigkeit. Es ist nicht erwiesen, ob sie auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzt. 17 Im Oktober 2015 erkannte das Bundesamt dem Vater der Klägerin des Ausgangsverfahrens die Flüchtlingseigenschaft zu. Der Antrag auf internationalen Schutz, den die in Libyen geborene Mutter der Klägerin des Ausgangsverfahrens gestellt hatte, die erklärt hatte, bis zu ihrer Ausreise aus diesem Staat dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt gehabt zu haben, blieb erfolglos. 18 Mit Bescheid vom 15. September 2017 lehnte das Bundesamt den im Namen der Klägerin des Ausgangsverfahrens nach ihrer Geburt gestellten Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ ab. 19 Mit Urteil vom 17. Januar 2019 hob das Verwaltungsgericht Cottbus (Deutschland) diesen Bescheid insoweit auf, als darin der Asylantrag der Klägerin des Ausgangsverfahrens als „offensichtlich unbegründet“ statt als „unbegründet“ abgelehnt worden war, und wies die Klage im Übrigen ab. Das Verwaltungsgericht befand, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle, da sie in Tunesien, ihrem – jedenfalls einen – Heimatstaat, keine begründete Furcht vor Verfolgung haben müsse. Ferner habe die Klägerin auch nicht in Anknüpfung an die Flüchtlingseigenschaft, die ihrem Vater in Deutschland zuerkannt worden sei, Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz aus § 26 Abs. 2 und 5 AsylG. Denn es widerspreche dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Schutzes, diesen Schutz auf Personen zu erstrecken, die als Angehörige eines schutzfähigen Staates von der Kategorie schutzbedürftiger Personen ausgeschlossen seien. 20 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Bundesverwaltungsgericht (Deutschland), Revision eingelegt. 21 Im Rahmen der Revision macht die Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend, dass minderjährigen Kindern von Eltern mit unterschiedlicher nationaler Herkunft der Familienflüchtlingsstatus nach § 26 Abs. 2 in Verbindung mit § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG auch für den Fall zuzuerkennen sei, dass nur einem Elternteil die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes stehe dem nicht entgegen. Art. 3 der Richtlinie 2011/95 gestatte es einem Mitgliedstaat, in Fällen, in denen einem Angehörigen einer Familie internationaler Schutz gewährt werde, die Erstreckung dieses Schutzes auf andere Angehörige dieser Familie vorzusehen, sofern diese nicht unter einen der in Art. 12 der Richtlinie genannten Ausschlussgründe fielen und sofern ihre Situation wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweise. Im Rahmen dieser Gesetzgebung seien der Minderjährigenschutz und das Kindeswohl in besonderer Weise zu berücksichtigen. 22 Das vorlegende Gericht führt aus, die Klägerin des Ausgangsverfahrens habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus eigenem Recht. Aus Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 Abs. 2 der Genfer Konvention, in dem der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes zum Ausdruck komme, folge nämlich, dass Personen, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten besäßen, die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden könne, wenn sie den Schutz eines der Länder ihrer Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmen könnten. In diesem Sinne sei auch Art. 2 Buchst. d und n der Richtlinie 2011/95 auszulegen: Nur wer schutzlos sei, weil er keinen wirksamen Schutz durch ein Herkunftsland im Sinne des Art. 2 Buchst. n der Richtlinie genieße, sei Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens könne aber in Tunesien, einem Land ihrer Staatsangehörigkeit, effektiven Schutz erlangen. 23 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erfülle jedoch die im deutschen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für minderjährige ledige Kinder eines als Flüchtling anerkannten Elternteils. Denn nach § 26 Abs. 2 AsylG in Verbindung mit § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG sei zum Schutz der Familie im Asylverfahren die abgeleitete Flüchtlingseigenschaft auch einem Kind zuzuerkennen, das in Deutschland geboren worden sei und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitze, in dessen Hoheitsgebiet es nicht verfolgt werde. 24 Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob eine solche Auslegung des deutschen Rechts mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar ist. 25 Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er der Vorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der dem minderjährigen ledigen Kind einer Person, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, eine von dieser abgeleitete Flüchtlingseigenschaft (sogenannter Familienflüchtlingsschutz) auch für den Fall zuzuerkennen ist, dass dieses Kind – über den anderen Elternteil – jedenfalls auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes besitzt, das nicht mit dem Herkunftsland des Flüchtlings identisch ist und dessen Schutz es in Anspruch nehmen kann? 2. Ist Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die Einschränkung, wonach ein Anspruch der Familienangehörigen auf die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen nur zu gewähren ist, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist, es verbietet, dem minderjährigen Kind unter den in der ersten Frage beschriebenen Umständen die von dem anerkannten Flüchtling abgeleitete Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen? 3. Ist für die Beantwortung der ersten und der zweiten Frage von Bedeutung, ob es für das Kind und seine Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt in dem Land zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit das Kind und seine Mutter besitzen, dessen Schutz diese in Anspruch nehmen können und das nicht mit dem Herkunftsland des Flüchtlings (Vaters) identisch ist, oder genügt es, dass die Familieneinheit im Bundesgebiet auf der Grundlage aufenthaltsrechtlicher Regelungen gewahrt bleiben kann? Zu den Vorlagefragen 26 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 3 und 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen sind, dass sie einen Mitgliedstaat daran hindern, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem minderjährigen ledigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem in Anwendung der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen, und zwar auch in dem Fall, dass dieses Kind im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geboren worden ist und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines anderen Drittstaats besitzt, in dessen Hoheitsgebiet es nicht Gefahr laufen würde, verfolgt zu werden. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht auch wissen, ob es für die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung ist, ob es dem Kind und seinen Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt im zuletzt genannten Drittstaat zu nehmen. 27 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 im Licht ihrer allgemeinen Systematik und ihres Zwecks in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention und einschlägigen anderen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt, auszulegen sind. Diese Auslegung muss zudem, wie dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie zu entnehmen ist, die Achtung der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) anerkannten Rechte gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 39). 28 Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist als Erstes festzustellen, dass ein Kind, das sich in einer Situation wie der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils beschriebenen befindet, nicht die Voraussetzungen erfüllt, um selbst die Flüchtlingseigenschaft in Anwendung der mit der Richtlinie 2011/95 geschaffenen Regelung zuerkannt zu bekommen. 29 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 der Ausdruck „Flüchtling“ u. a. einen „Drittstaatsangehörigen [bezeichnet], der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will“. 30 Aus dieser Definition folgt, dass die Flüchtlingseigenschaft das Vorliegen zweier Voraussetzungen erfordert, die auf das Engste miteinander verbunden sind und zum einen die Furcht vor Verfolgung und zum anderen den fehlenden Schutz vor Verfolgungshandlungen durch den Drittstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2021, Secretary of State for the Home Department, C‑255/19, EU:C:2021:36, Rn. 56). 31 Diese Definition übernimmt im Wesentlichen die Definition in Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Konvention. Dort heißt es: „Für den Fall, dass eine Person mehr als eine Staatsangehörigkeit hat, bezieht sich der Ausdruck ‚das Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt,‘ auf jedes der Länder, dessen Staatsangehörigkeit diese Person hat. Als des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie hat, beraubt, gilt nicht eine Person, die ohne einen stichhaltigen, auf eine begründete Befürchtung gestützten Grund den Schutz eines der Länder nicht in Anspruch genommen hat, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt.“ 32 Zwar ist diese Klarstellung, die Ausdruck des Grundsatzes der Subsidiarität des internationalen Schutzes ist, nicht ausdrücklich in die Richtlinie 2011/95 aufgenommen worden, doch ergibt sich aus Art. 2 Buchst. n der Richtlinie, dass jedes Land, dessen Staatsangehörigkeit ein Antragsteller gegebenenfalls besitzt, als sein „Herkunftsland“ im Sinne dieser Richtlinie anzusehen ist. 33 Somit ergibt sich aus Art. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. n der Richtlinie 2011/95, dass ein Antragsteller, der die Staatsangehörigkeit mehrerer Drittstaaten besitzt, nur dann als schutzlos angesehen wird, wenn er den Schutz keiner dieser Staaten in Anspruch nehmen kann oder aus Furcht vor Verfolgung nicht in Anspruch nehmen will. Diese Auslegung wird im Übrigen durch Art. 4 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie bestätigt, wonach zu den bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zu berücksichtigenden Gesichtspunkten die Frage gehört, ob vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen könnte. 34 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens in Tunesien, einem Drittstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie über ihre Mutter besitze, effektiven Schutz erlangen könne. Insoweit lägen keine Erkenntnisse vor, dass die Tunesische Republik nicht bereit und in der Lage wäre, der Klägerin des Ausgangsverfahrens den erforderlichen Schutz vor Verfolgung und vor Abschiebung nach Syrien, dem Herkunftsland ihres von den deutschen Behörden als Flüchtling anerkannten Vaters, oder in einen anderen Drittstaat zu gewähren. 35 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in Anwendung der mit der Richtlinie 2011/95 geschaffenen Regelung einem Antrag auf internationalen Schutz aus eigenem Recht nicht allein deshalb stattgegeben werden kann, weil ein Familienangehöriger des Antragstellers die begründete Furcht vor Verfolgung hat oder tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, wenn erwiesen ist, dass der Antragsteller trotz seiner Bindung zu diesem Familienangehörigen und der besonderen Verwundbarkeit – die, wie im 36. Erwägungsgrund der Richtlinie ausgeführt, in der Regel daraus folgt – nicht selbst von Verfolgung und einem ernsthaften Schaden bedroht ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 50). 36 Als Zweites ist festzustellen, dass die Richtlinie 2011/95 eine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft oder dieses Status erfüllen, kraft Ableitung von einer Person, der diese Eigenschaft oder dieser Status zuerkannt worden ist, nicht vorsieht. Aus Art. 23 der Richtlinie geht nämlich hervor, dass diese den Mitgliedstaaten nur aufgibt, ihr nationales Recht so anzupassen, dass diese Familienangehörigen gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf bestimmte Leistungen haben, die der Wahrung des Familienverbands dienen, wie z. B. die Ausstellung eines Aufenthaltstitels und der Zugang zu Beschäftigung oder Bildung, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung dieser Familienangehörigen vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 68). 37 Ferner ergibt sich aus Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95, der für die Zwecke der Richtlinie den Begriff „Familienangehörige“ definiert, in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie, dass sich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Anspruch auf diese Leistungen vorzusehen, nicht auf Kinder einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, erstreckt, die im Aufnahmemitgliedstaat einer Familie geboren wurden, die dort gegründet worden ist. 38 Als Drittes ist zur Klärung der Frage, ob ein Mitgliedstaat einem Kind, das sich in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden befindet, zum Zweck der Wahrung des Familienverbands gleichwohl die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuerkennen kann, darauf hinzuweisen, dass Art. 3 der Richtlinie 2011/95 es den Mitgliedstaaten gestattet, „günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes [zu] erlassen oder [beizubehalten], sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind“. 39 Der Gerichtshof hat festgestellt, dass sich aus diesem Wortlaut in Verbindung mit dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ergibt, dass die in Art. 3 dieser Richtlinie erwähnten günstigeren Normen z. B. die Lockerung der Voraussetzungen vorsehen können, unter denen ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus erhalten kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 70). 40 Was die in diesem Art. 3 enthaltene Klarstellung anbelangt, dass jede günstigere Norm mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar sein muss, hat der Gerichtshof entschieden, dass damit gemeint ist, dass diese Norm die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährden darf. Insbesondere sind Normen verboten, die die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkennen sollen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen (Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Die auf der Grundlage des nationalen Rechts erfolgende automatische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Familienangehörige einer Person, der diese Eigenschaft gemäß der mit der Richtlinie 2011/95 geschaffenen Regelung zuerkannt wurde, weist jedoch nicht von vornherein keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes auf (Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 72). 42 Denn zum einen haben die Verfasser der Genfer Konvention in der Schlussakte der Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen und staatenlosen Personen vom 25. Juli 1951, die den Text der Genfer Konvention ausgearbeitet hat, betont, dass „die Einheit der Familie … ein für den Flüchtling unentbehrliches Recht darstellt“, und den Unterzeichnerstaaten empfohlen, „die Maßnahmen zu ergreifen, die zum Schutze der Familie des Flüchtlings notwendig sind, besonders im Hinblick darauf, … sicherzustellen, dass die Einheit der Familie des Flüchtlings aufrechterhalten wird“, und dadurch einen engen Zusammenhang zwischen diesen Maßnahmen und dem Zweck des internationalen Schutzes hergestellt. Das Bestehen dieses Zusammenhangs wurde zudem von den Organen des UNHCR wiederholt bestätigt. 43 Zum anderen wird in der Richtlinie 2011/95 selbst das Bestehen dieses Zusammenhangs anerkannt, da in ihrem Art. 23 Abs. 1 allgemein die Pflicht für die Mitgliedstaaten vorgesehen ist, dafür Sorge zu tragen, dass der Familienverband der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, aufrechterhalten werden kann. 44 Folglich ist festzustellen, dass ein Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes vorliegt, wenn die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung von einer als Flüchtling anerkannten Person automatisch auf das minderjährige Kind unabhängig davon erstreckt wird, ob dieses Kind selbst die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft erfüllt, und zwar auch dann, wenn es im Aufnahmemitgliedstaat geboren worden ist, wie dies in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmung vorgesehen ist, die – wie das vorlegende Gericht ausführt – das Ziel des Schutzes der Familie und der Wahrung des Familienverbands international Schutzberechtigter verfolgt. 45 Gleichwohl kann es Situationen geben, in denen eine solche automatische Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft zur Wahrung des Familienverbands auf das minderjährige Kind kraft Ableitung von einer Person, der diese Eigenschaft zuerkannt worden ist, trotz des Bestehens dieses Zusammenhangs mit der Richtlinie 2011/95 unvereinbar wäre. 46 Denn zum einen läuft es in Anbetracht des den Ausschlussgründen der Richtlinie 2011/95 zugrunde liegenden Zwecks, der darin liegt, die Glaubwürdigkeit des durch die Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention vorgesehenen Schutzsystems zu erhalten, dem in Art. 3 der Richtlinie niedergelegten Vorbehalt zuwider, dass ein Mitgliedstaat Bestimmungen erlässt oder beibehält, die die Rechtsstellung des Flüchtlings einer Person gewähren, die hiervon nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie ausgeschlossen ist (Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 115). 47 Wie das vorlegende Gericht hervorhebt, schließt § 26 Abs. 4 AsylG aber solche Personen vom Anspruch auf die sich aus einer Anwendung von § 26 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 5 ergebende Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft aus. 48 Zum anderen ergibt sich aus Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, dass der Unionsgesetzgeber ausschließen wollte, dass die der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, gewährten Leistungen auf einen Familienangehörigen dieser Person erstreckt werden, wenn dies mit der persönlichen Rechtsstellung des betreffenden Familienangehörigen unvereinbar wäre. 49 Aus der Entstehungsgeschichte der genannten Bestimmung und des Umfangs des in ihr vorgesehenen Vorbehalts ergibt sich, dass der Vorbehalt auch dann greift, wenn ein Mitgliedstaat beschließt, sich nicht auf die Erstreckung der Leistungen zu beschränken, sondern gemäß Art. 3 der Richtlinie 2011/95 günstigere Normen erlassen möchte, nach denen der Status einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, automatisch auf ihre Familienangehörigen erstreckt wird, unabhängig davon, ob sie selbst die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Status erfüllen. 50 Der nunmehr in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 enthaltene Vorbehalt war nämlich ein Vorschlag des Europäischen Parlaments im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens, das zur Verabschiedung der Richtlinie 2004/83 geführt hat, deren „Neufassung“ die Richtlinie 2011/95 darstellt und deren Art. 23 dem gleichen Artikel der Richtlinie 2011/95 weitgehend entspricht. Dieser Vorschlag nahm auf den Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften Bezug, der die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsah, dafür Sorge zu tragen, „dass begleitende Familienangehörige Anspruch auf denselben Status wie die internationalen Schutz beantragende Person haben“. Das Parlament hatte vorgeschlagen, diese Verpflichtung auf die Familienangehörigen, die sich der Antrag stellenden Person später anschließen, zu erstrecken, es aber für angebracht gehalten, diesen Vorbehalt einzufügen, um zu berücksichtigen, dass die Familienangehörigen „unter Umständen einen eigenständigen und anderen Rechtsstatus [als der Antragsteller haben], der unter Umständen nicht mit dem internationalen Schutzstatus vereinbar ist“ (vgl. den Bericht des Europäischen Parlaments vom 8. Oktober 2002 über den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen [KOM(2001) 510 – A 5‑0333/2002 final, Änderungsantrag 22 (ABl. 2002, C 51 E, S. 325)]). 51 Der Unionsgesetzgeber hat diese Verpflichtung letztlich nicht festgelegt. Er behielt jedoch den Vorbehalt der Vereinbarkeit bei und beschränkte sich darauf, den Mitgliedstaaten in Art. 23 Abs. 1 und 2 der Richtlinien 2004/83 und 2011/95 vorzuschreiben, dafür Sorge zu tragen, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann und die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf bestimmte Leistungen haben. 52 Aus der Entstehungsgeschichte dieses Art. 23 ergibt sich somit, dass ein Mitgliedstaat, der in Ausübung der in Art. 3 der genannten Richtlinien erteilten Befugnis günstigere Normen erlassen oder beibehalten möchte, wonach der einem solchen Berechtigten gewährte Status automatisch auf seine Familienangehörigen – unabhängig davon, ob sie selbst die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Status erfüllen – erstreckt wird, bei der Anwendung dieser Normen auf die Einhaltung des in Art. 23 Abs. 2 genannten Vorbehalts zu achten hat. 53 Der Umfang dieses Vorbehalts ist im Hinblick auf das Ziel von Art. 23 der Richtlinie 2011/95, die Wahrung des Familienverbands der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu gewährleisten, und den spezifischen Kontext, in den sich dieser Vorbehalt einfügt, zu bestimmen. 54 Insoweit ist festzustellen, dass es mit der persönlichen Rechtsstellung des Kindes des international Schutzberechtigten, das selbst nicht die Voraussetzungen dieses Schutzes erfüllt, insbesondere unvereinbar wäre, die in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen oder die Rechtsstellung des Schutzberechtigten auf dieses Kind zu erstrecken, wenn es die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats oder eine andere Staatsangehörigkeit besitzt, die ihm unter Berücksichtigung aller Merkmale seiner persönlichen Rechtsstellung einen Anspruch auf eine bessere Behandlung in diesem Mitgliedstaat als die sich aus dieser Erstreckung ergebende Behandlung gibt. 55 Diese Auslegung des Vorbehalts in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 trägt dem Wohl des Kindes, unter dessen Berücksichtigung diese Vorschrift auszulegen und anzuwenden ist, in vollem Umfang Rechnung. Im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie wird ausdrücklich hervorgehoben, dass sie die in der Charta verankerten Grundrechte achtet und darauf abzielt, die Anwendung u. a. des durch Art. 7 der Charta verbürgten Rechts auf Achtung des Familienlebens und der in Art. 24 der Charta anerkannten Rechte des Kindes fördern soll, zu denen in Art. 24 Abs. 2 der Charta die Pflicht zur Berücksichtigung des Wohles des Kindes gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C‑768/19, EU:C:2021:709, Rn. 36 bis 38). 56 Diese Auslegung entspricht im Übrigen der Auslegung, die das UNHCR vorgeschlagen hat, dessen Dokumente angesichts der Rolle, die ihm durch die Genfer Konvention übertragen worden ist, besonders relevant sind (Urteil vom 23. Mai 2019, Bilali, C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 57). 57 So hatte das UNHCR in seinen Anmerkungen zur Richtlinie 2004/83 im Hinblick auf deren Art. 23 Abs. 1 und 2 ausgeführt, dass „[nach seiner Ansicht] Familienangehörigen dieselbe Rechtsstellung wie dem Hauptantragsteller zu gewähren [ist] (abgeleitete Rechtsstellung)“, und Folgendes festgestellt: „Der Grundsatz der Einheit der Familie ergibt sich aus der Schlussakte der Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und Staatenlosen sowie aus den Menschenrechten. Die meisten Mitgliedstaaten [der Europäischen Union] sehen für Familienangehörige von Flüchtlingen eine abgeleitete Rechtsstellung vor. Die Erfahrung [des UNHCR] zeigt auch, dass dies im Allgemeinen die praktischste Vorgehensweise ist. Allerdings gibt es Situationen, in denen diesem Grundsatz der abgeleiteten Rechtsstellung nicht zu folgen ist, nämlich wenn Familienmitglieder selbst Asyl beantragen wollen oder die Gewährung der abgeleiteten Rechtsstellung mit ihrer persönlichen Rechtsstellung unvereinbar wäre, etwa weil sie Staatsangehörige des Aufnahmelandes sind oder weil sie aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit Anspruch auf eine bessere Behandlung haben.“ 58 Vorbehaltlich der Überprüfungen, die das vorlegende Gericht vorzunehmen hat, ist jedoch nicht ersichtlich, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens aufgrund ihrer tunesischen Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals ihrer persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in Deutschland hätte als die Behandlung, die sich aus der kraft Ableitung vorgenommenen Erstreckung der ihrem Vater zuerkannten Flüchtlingseigenschaft ergibt, die in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmung vorgesehen ist. 59 Schließlich ist noch festzustellen, dass die Vereinbarkeit einer günstigeren nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden oder ihrer Anwendung auf eine Situation wie die der Klägerin des Ausgangsverfahrens mit der Richtlinie 2011/95 und insbesondere mit dem Vorbehalt in ihrem Art. 23 Abs. 2 nicht davon abhängt, ob es ihr und ihren Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt in Tunesien zu nehmen. 60 Wie der Generalanwalt in Nr. 93 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist es nämlich Sinn und Zweck von Art. 23 der Richtlinie 2011/95, der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, den Genuss der ihr durch diesen Schutz verliehenen Rechte zu ermöglichen und dabei zugleich ihren Familienverband im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu wahren. Dass für die Familie der Klägerin des Ausgangsverfahrens eine Möglichkeit besteht, ihren Aufenthalt in Tunesien zu nehmen, kann daher nicht Grundlage dafür sein, den Vorbehalt in Art. 23 Abs. 2 so zu verstehen, dass er es ausschließt, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da eine solche Auslegung bedeuten würde, dass ihr Vater auf das ihm in Deutschland gewährte Recht auf Asyl verzichtet. 61 Zudem lässt sich unter diesen Umständen mit der Anwendung von Rechtsvorschriften, nach denen Angehörige der Familie einer Person, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, als Flüchtlinge anerkannt werden können, obgleich für diese Familie die Möglichkeit besteht, ihren Aufenthalt in einem Drittstaat zu nehmen, die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils getroffene Feststellung, dass solchen Rechtsvorschriften nicht jeder Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes fehlt, nicht in Frage stellen. 62 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 3 und 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen sind, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem minderjährigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem in Anwendung der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen, und zwar auch in dem Fall, dass dieses Kind im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geboren worden ist und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines anderen Drittstaats besitzt, in dem es nicht Gefahr laufen würde, verfolgt zu werden, sofern dieses Kind nicht unter einen der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie fällt und es aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals seiner persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in dem genannten Mitgliedstaat hätte als die Behandlung, die sich aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt. Insoweit ist es nicht von Bedeutung, ob es dem Kind und seinen Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt in diesem anderen Drittstaat zu nehmen. Kosten 63 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Die Art. 3 und 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sind dahin auszulegen, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem minderjährigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem in Anwendung der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen, und zwar auch in dem Fall, dass dieses Kind im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geboren worden ist und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines anderen Drittstaats besitzt, in dem es nicht Gefahr laufen würde, verfolgt zu werden, sofern dieses Kind nicht unter einen der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie fällt und es aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals seiner persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in dem genannten Mitgliedstaat hätte als die Behandlung, die sich aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt. Insoweit ist es nicht von Bedeutung, ob es dem Kind und seinen Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt in diesem anderen Drittstaat zu nehmen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 21. Oktober 2021.#TC und UB gegen Komisia za zashtita ot diskriminatsia und VA.#Vorabentscheidungsersuchen des Varhoven administrativen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78/EG – Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung – Art. 2 Abs. 2 Buchst. a – Art. 4 Abs. 1 – Art. 5 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 21 und 26 – Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – Aufgaben eines Schöffen in einem Strafverfahren – An Blindheit leidende Person – Vollständiger Ausschluss von der Teilnahme an Strafsachen.#Rechtssache C-824/19.
62019CJ0824
ECLI:EU:C:2021:862
2021-10-21T00:00:00
Gerichtshof, Saugmandsgaard Øe
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0824 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 21. Oktober 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78/EG – Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung – Art. 2 Abs. 2 Buchst. a – Art. 4 Abs. 1 – Art. 5 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 21 und 26 – Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – Aufgaben eines Schöffen in einem Strafverfahren – An Blindheit leidende Person – Vollständiger Ausschluss von der Teilnahme an Strafsachen“ In der Rechtssache C‑824/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 31. Oktober 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 12. November 2019, in dem Verfahren TC, UB gegen Komisia za zashtita ot diskriminatsia, VA, Beteiligte: Varhovna administrativna prokuratura, erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Arabadjiev in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter T. von Danwitz (Berichterstatter), P. G. Xuereb und A. Kumin, Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von VA, die sich selbst vertritt, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, A. Pimenta, M. J. Marques und P. Barros da Costa als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und N. Nikolova als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. April 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 2 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das durch den Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 (ABl. 2010, L 23, S. 35, im Folgenden: VN‑Übereinkommen) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde, sowie von Art. 2 Abs. 1 bis 3 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TC und UB auf der einen und der Komisia za zashtita ot diskriminatsia (Kommission für den Schutz vor Diskriminierung, Bulgarien) und VA auf der anderen Seite wegen der Entscheidung dieser Kommission, gegen TC als Präsident eines Gerichts und UB als Richterin einer Strafkammer Geldbußen wegen Diskriminierung von VA, einer Schöffin dieser Strafkammer, zu verhängen. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 Art. 1 des VN-Übereinkommens lautet: „Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ 4 Art. 5 („Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung“) des VN‑Übereinkommens bestimmt: „(1)   Die Vertragsstaaten anerkennen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben. (2)   Die Vertragsstaaten verbieten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen. (3)   Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten. (4)   Besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens.“ 5 Art. 27 („Arbeit und Beschäftigung“) des VN-Übereinkommens sieht in seinem Abs. 1 vor: „Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird. Die Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit, einschließlich für Menschen, die während der Beschäftigung eine Behinderung erwerben, durch geeignete Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um unter anderem a) Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit einer Beschäftigung gleich welcher Art, einschließlich der Auswahl‑, Einstellungs- und Beschäftigungsbedingungen, der Weiterbeschäftigung, des beruflichen Aufstiegs sowie sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen, zu verbieten; …“ Unionsrecht 6 In den Erwägungsgründen 16, 20, 21 und 23 der Richtlinie 2000/78 heißt es: „(16) Maßnahmen, die darauf abstellen, den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz Rechnung zu tragen, spielen eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Diskriminierungen wegen einer Behinderung. … (20) Es sollten geeignete Maßnahmen vorgesehen werden, d. h. wirksame und praktikable Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, z. B. durch eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen. (21) Bei der Prüfung der Frage, ob diese Maßnahmen zu übermäßigen Belastungen führen, sollten insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle und sonstige Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden. … (23) Unter sehr begrenzten Bedingungen kann eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein, wenn ein Merkmal, das mit der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, dem Alter oder der sexuellen Ausrichtung zusammenhängt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Diese Bedingungen sollten in die Informationen aufgenommen werden, die die Mitgliedstaaten der Kommission übermitteln.“ 7 Art. 1 („Zweck“) der Richtlinie 2000/78 lautet: „Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“ 8 Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) der Richtlinie 2000/78 bestimmt: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. (2)   Im Sinne des Absatzes 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; …“ 9 Art. 3 („Geltungsbereich“) der Richtlinie 2000/78 bestimmt in seinem Abs. 1: „Im Rahmen der auf die [Europäische Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf a) die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs; … c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts; …“ 10 Art. 4 („Berufliche Anforderungen“) Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 sieht vor: „Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“ 11 Art. 5 („Angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“) der Richtlinie 2000/78 bestimmt: „Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaats ausreichend kompensiert wird.“ Bulgarisches Recht 12 Art. 6 der Verfassung der Republik Bulgarien (DV Nr. 56 vom 13. Juli 1991) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt: „(1)   Alle Menschen werden frei und gleich hinsichtlich ihrer Würde und ihrer Rechte geboren. (2)   Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich. Unzulässig sind jegliche Beschränkungen der Rechte oder auf Rasse, Staatsangehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Herkunft, Religion, Bildung, Überzeugung, politische Zugehörigkeit, persönliche oder gesellschaftliche Stellung oder Vermögenslage gegründete Privilegien.“ 13 Art. 48 dieser Verfassung sieht vor: „(1)   Die Bürger haben ein Recht auf Arbeit. Der Staat bemüht sich um die Schaffung von Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Rechts. (2)   Der Staat schafft Voraussetzungen für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit für Menschen mit physischen und psychischen Behinderungen. …“ 14 Nach Art. 4 Abs. 1 des Zakon za zashtita ot diskriminatsia (Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung, DV Nr. 86 vom 30. September 2003) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung) ist jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung u. a. wegen einer Behinderung verboten. 15 Art. 7 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung bestimmt: „Eine Diskriminierung liegt nicht vor, … 2.   wenn eine Person aufgrund eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 4 Abs. 1 des Gesetzes genannten Gründe steht, ungleich behandelt wird, sofern dieses Merkmal aufgrund der Art eines bestimmten Berufs oder einer bestimmten Tätigkeit oder der Bedingungen seiner/ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, das Ziel rechtmäßig ist und die Anforderung nicht über das zur Erreichung des Ziels erforderliche Maß hinausgeht“. 16 Art. 66 des Zakon za sadebnata vlast (DV Nr. 64 vom 7. August 2007) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gerichtsverfassungsgesetz) sieht vor, dass der Spruchkörper des in erster Instanz zuständigen Gerichts in den gesetzlich vorgesehenen Fällen auch „sadebni zasedateli“ (Schöffen) umfasst, die die gleichen Rechte und Pflichten wie Richter haben. 17 Art. 67 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes bestimmt: „Zum Schöffen kann jeder bulgarische Staatsbürger gewählt werden, der rechtsfähig ist und 1. zwischen 21 und 68 Jahre alt ist; 2. eine aktuelle Adresse in einer dem betreffenden Gerichtsbezirk zugehörigen Gemeinde hat; 3. zumindest über einen Sekundarschulabschluss verfügt; 4. nicht wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt worden ist, selbst im Fall einer Rehabilitation; 5. an keiner psychischen Erkrankung leidet.“ 18 Art. 8 Abs. 1 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, DV Nr. 86 vom 28. Oktober 2005) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Strafprozessordnung) bestimmt: „In den in der vorliegenden Strafprozessordnung vorgesehenen Fällen und gemäß den in ihr festgelegten Modalitäten wirken im Rahmen der Spruchkörper der Gerichte Schöffen mit.“ 19 Art. 13 der Strafprozessordnung sieht in Abs. 1 vor, dass das Gericht, die Staatsanwaltschaft und die Ermittlungsbehörden im Rahmen ihrer Zuständigkeit verpflichtet sind, alle Maßnahmen zu treffen, um die objektive Wahrheit zu ermitteln, und in Abs. 2, dass die objektive Wahrheit nach den Modalitäten und mit den Mitteln festzustellen ist, die in dieser Strafprozessordnung vorgesehen sind. 20 Nach Art. 14 Abs. 1 der Strafprozessordnung entscheiden das Gericht, die Staatsanwaltschaft und die Ermittlungsbehörden auf der Grundlage ihrer eigenen persönlichen Überzeugung, wobei sie sich auf eine objektive, umfassende und vollständige Prüfung aller Umstände des Einzelfalls stützen und sich von den gesetzlichen Bestimmungen leiten lassen. 21 Art. 18 der Strafprozessordnung sieht vor, dass das Gericht, die Staatsanwaltschaft und die Ermittlungsbehörden ihre Entscheidungen auf Beweismittel stützen, die sie selbst erhoben und gewürdigt haben, sofern diese Strafprozessordnung nichts anderes bestimmt. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 22 VA ist aufgrund des Verlusts des Sehvermögens dauerhaft eingeschränkt arbeitsfähig, wie ein im Jahr 1976 erstelltes Gutachten belegt. Sie hat das Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen und die juristische Eignungsprüfung 1977 erfolgreich bestanden. Danach arbeitete sie für einen Blindenverein und in der Europäischen Blindenunion. 23 Im Jahr 2014 wurde VA im Rahmen eines vom Stadtrat von Sofia durchgeführten Verfahrens vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) als Schöffin zugelassen. Sie wurde durch Auslosung zusammen mit drei weiteren Schöffen der Sechsten Strafkammer des Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien) zugewiesen, in der die Richterin UB saß. Am 25. März 2015 wurde sie bei diesem Gericht als Schöffin vereidigt. 24 Im Zeitraum vom 25. März 2015 bis zum 9. August 2016 nahm VA an keiner einzigen mündlichen Verhandlung in Strafverfahren teil. Im Mai 2015 beantragte sie beim Präsidenten des Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia), nämlich TC, einem anderen Richter zugewiesen zu werden, erhielt jedoch keine Antwort. 25 Am 24. September 2015 reichte VA bei der Kommission für den Schutz vor Diskriminierung eine Beschwerde ein, mit der sie geltend machte, dass sie zum einen von der Richterin UB wegen ihrer Behinderung benachteiligt worden sei, weil die Richterin ihr die Teilnahme an keinem Strafprozess erlaubt habe, und zum anderen von dem Präsidenten des Gerichts, TC, der ihrem Antrag nicht nachgekommen sei, einem anderen Richter zugewiesen zu werden, um ihr Recht wahrnehmen zu können, als Schöffin zu arbeiten. In ihrer Antwort beriefen TC und UB sich insbesondere auf die Art der Pflichten eines Schöffen, auf das Erfordernis, über spezifische körperliche Eigenschaften zu verfügen, und auf das Bestehen eines gesetzlichen Zwecks, nämlich die Beachtung der Grundsätze der Strafprozessordnung, der die unterschiedliche Behandlung von VA wegen eines mit der Behinderung zusammenhängenden Merkmals gemäß Art. 7 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung rechtfertige. 26 Mit Entscheidung vom 6. März 2017 stellte die Kommission für den Schutz vor Diskriminierung nach Anhörung von TC und UB fest, dass sie VA insbesondere im Sinne von Art. 4 des Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung wegen ihrer Behinderung diskriminiert hätten, und verhängte gegen die beiden jeweils eine Geldbuße von 250 bzw. 500 bulgarischen Lewa (BGN) (etwa 130 bzw. 260 Euro). 27 TC und UB fochten beide diese Entscheidung vor dem Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) an. Das Gericht wies die Klagen ab. Es stellte u. a. fest, dass die Einführung von grundsätzlichen Beschränkungen eines bestimmten Berufs oder einer bestimmten Tätigkeit wie der eines Schöffen mit der Begründung, dass die betreffende Behinderung die vollwertige Ausübung dieses Berufs oder dieser Tätigkeit unmöglich mache, rechtswidrig sei. Die Strafprozessordnung verlange zwar, dass ein solcher Schöffe die strafprozessualen Grundsätze über die Unmittelbarkeit, die Feststellung der objektiven Wahrheit und die Bildung der eigenen persönlichen Überzeugung durch den zuständigen Spruchkörper beachte. Die Annahme, dass das Vorhandensein einer Behinderung es einer Person in jedem Fall unmöglich mache, diese Grundsätze einzuhalten, stelle jedoch eine Diskriminierung dar. Dafür spreche auch der Umstand, dass VA seit dem 9. August 2016, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Gesetzesreform zur Einführung der elektronischen Zuweisung von Schöffen, an einer Reihe von mündlichen Verhandlungen in Strafverfahren teilgenommen habe. 28 TC und UB legten gegen die Entscheidungen des Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia) jeweils Kassationsbeschwerde beim Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) ein. TC stützt sein Rechtsmittel darauf, dass das erstinstanzliche Gericht Art. 7 Abs. 1 Nr. 2 des Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung, der das Vorliegen einer wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung betreffe, hätte anwenden müssen. Die Aufgaben eines Schöffen könnten naturgemäß nicht von Personen wahrgenommen werden, deren Behinderung einen Verstoß gegen die in der Strafprozessordnung verankerten Grundsätze zur Folge habe. UB ihrerseits trägt vor, das erstinstanzliche Gericht habe dem Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung zu Unrecht Vorrang vor der höherrangigen Strafprozessordnung und den darin verankerten Grundsätzen eingeräumt, zu deren Beachtung sie als Strafrichterin bei der Prüfung der beim Gericht anhängig gemachten Rechtssachen verpflichtet sei; ebenso sei sie verpflichtet, sicherzustellen, dass alle Mitglieder des Spruchkörpers die zu den Akten gereichten Beweise gleich behandelten und das Verhalten der Parteien unmittelbar beurteilten. 29 In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass unter Berücksichtigung der Vorschriften über das Strafverfahren nicht eindeutig feststehe, dass die Ungleichbehandlung bei der Ausübung der Tätigkeit eines Schöffen durch eine Person wie VA, die an einer Behinderung wie einer Erblindung leide, nach den Bestimmungen des VN‑Übereinkommens, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und der Richtlinie 2000/78 rechtmäßig sei. 30 Unter diesen Umständen hat der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1 Führt die Auslegung von Art. 5 Abs. 2 des VN‑Übereinkommens und von Art. 2 Abs. 1, 2 und 3 sowie Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 zu dem Schluss, dass es zulässig ist, dass eine Person ohne Sehvermögen als Schöffe (sadeben zasedatel) tätig sein und an Strafverfahren teilnehmen kann, oder: 2. Bezieht sich die hier in Rede stehende Behinderung einer dauerhaft erblindeten Person auf ein persönliches Merkmal, das eine wesentliche und entscheidende Anforderung an die Tätigkeit eines Schöffen (sadeben zasedatel) darstellt, so dass das Vorliegen einer solchen Behinderung eine Ungleichbehandlung rechtfertigt und keine Diskriminierung aufgrund des Merkmals „Behinderung“ begründet? Zu den Vorlagefragen 31 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht in seiner Fragestellung zwar nicht auf die Bestimmungen der Charta Bezug genommen hat, dass es sich aber, wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, fragt, ob der Ausschluss einer an Blindheit leidenden Person wie VA von der Ausübung der Aufgaben einer Schöffin in einem Strafverfahren mit der Richtlinie 2000/78 und mit dem VN‑Übereinkommen vereinbar ist. 32 Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie in dem von ihr erfassten Bereich das nunmehr in Art. 21 der Charta niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot konkretisiert (Urteil vom 26. Januar 2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie, C‑16/19, EU:C:2021:64, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). 33 Zudem sieht Art. 26 der Charta vor, dass die Union den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft anerkennt und achtet. 34 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, ob Art. 2 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 im Licht der Art. 21 und 26 der Charta sowie des VN‑Übereinkommens dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass eine an Blindheit leidende Person von jeder Möglichkeit ausgeschlossen wird, die Aufgaben eines Schöffen in einem Strafverfahren auszuüben. 35 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass sich sowohl aus dem Titel und den Erwägungsgründen als auch aus dem Inhalt und der Zielsetzung der Richtlinie 2000/78 ergibt, dass diese einen allgemeinen Rahmen schaffen soll, der gewährleistet, dass jeder „in Beschäftigung und Beruf“ gleich behandelt wird, indem sie dem Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen aus einem der in ihrem Art. 1 genannten Gründe bietet, zu denen die Behinderung zählt (Urteil vom 15. Juli 2021, Tartu Vangla, C‑795/19, EU:C:2021:606, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Wie sich aus Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und c der Richtlinie 2000/78 ergibt, gilt diese im Rahmen der auf die Union übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, u. a. in Bezug auf die Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit sowie die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen. 37 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht zunächst hervor, dass die Aufgaben eines Schöffen eine entgeltliche berufliche Tätigkeit darstellen, sodann, dass VA für die Wahrnehmung dieser Aufgaben ausgewählt und der Strafkammer eines Gerichts zugewiesen wurde, und schließlich, dass sie in der Zeit vom 25. März 2015 bis zum 9. August 2016 in der Praxis diese Aufgaben nicht ausüben durfte und damit keinen Zugang zu einer solchen Beschäftigung haben konnte. 38 Folglich geht es in einer solchen Situation sowohl um die Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 als auch um die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie genannten Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen. 39 Im Übrigen steht fest, dass VA an einer „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 leidet, da sie an einem dauerhaften Verlust des Sehvermögens leidet, wobei der Begriff „Behinderung“ nach ständiger Rechtsprechung dahin zu verstehen ist, dass er eine Einschränkung der Fähigkeiten erfasst, die u. a. auf langfristige physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die den Betreffenden in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben unter Gleichstellung mit den übrigen Arbeitnehmern hindern können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. September 2019, Nobel Plastiques Ibérica, C‑397/18, EU:C:2019:703, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Daher fällt eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Geltungsbereich dieser Richtlinie. 41 Was erstens das Vorliegen einer Ungleichbehandlung wegen einer Behinderung anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 im Sinne dieser Richtlinie „Gleichbehandlungsgrundsatz“ bedeutet, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Art. 1 der Richtlinie genannten Gründe geben darf. Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Art. 1 genannten Gründe, zu denen die Behinderung zählt, in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. 42 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen, dass VA vom 25. März 2015 bis zum 9. August 2016 wegen ihrer Blindheit nicht erlaubt wurde, an Sitzungen der Kammer, der sie zugewiesen war, teilzunehmen. Sie scheint somit aufgrund der bei ihr vorliegenden Behinderung eine weniger günstige Behandlung erfahren zu haben als die anderen dieser Kammer zugewiesenen Schöffen, die sich in einer vergleichbaren Situation befanden, aber nicht an Blindheit litten. Dies stellt eine unmittelbar auf der Behinderung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dar. 43 Was zweitens die Frage betrifft, ob eine solche Ungleichbehandlung auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut dieser Bestimmung die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 dieser Richtlinie genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. 44 Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass nicht der Grund, auf den die Ungleichbehandlung gestützt ist, sondern ein mit diesem Grund im Zusammenhang stehendes Merkmal eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellen muss (Urteil vom 15. November 2016, Salaberria Sorondo, C‑258/15, EU:C:2016:873, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). 45 Soweit er es ermöglicht, vom Diskriminierungsverbot abzuweichen, ist Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie im Licht ihres 23. Erwägungsgrundes, der auf „sehr [begrenzte] Bedingungen“ Bezug nimmt, unter denen eine solche Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein kann, eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Tartu Vangla, C‑795/19, EU:C:2021:606, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Hinsichtlich des Zwecks, der zur Rechtfertigung der Benachteiligung von VA aufgrund ihrer Behinderung geltend gemacht wird, machen TC und UB geltend, der Ausschluss von VA von der Teilnahme an den mündlichen Verhandlungen der Strafkammer, der sie bis August 2016 zugewiesen gewesen sei, habe sicherstellen sollen, dass die Grundsätze der Strafprozessordnung, namentlich der Grundsatz der Unmittelbarkeit und die unmittelbare Beweiswürdigung aus den Art. 14 und 18 dieser Strafprozessordnung, eingehalten würden, um die objektive Wahrheit festzustellen. 47 TC und UB tragen nämlich vor, dass die Aufgaben eines Schöffen von Menschen mit einer Behinderung wie einer Erblindung nicht wahrgenommen werden könnten. Die Ausübung dieser Aufgaben erfordere grundsätzlich den Besitz besonderer körperlicher Fähigkeiten wie das Sehvermögen. 48 Zwar sieht das Gerichtsverfassungsgesetz in seinem Art. 67 Abs. 1 vor, dass ein Schöffe u. a. rechtsfähig sein muss und an keiner psychischen Erkrankung leiden darf, doch schreibt dieses Gesetz nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen keine Anforderungen in Bezug auf die körperlichen Fähigkeiten eines Schöffen vor und sieht auch keinen Ausschlussgrund aufgrund einer körperlichen Behinderung wie einer Erblindung vor. 49 Aus diesen Angaben ergibt sich, dass eine elektronische Zuweisung der Schöffen ab dem 9. August 2016 nach dem Inkrafttreten einer Gesetzesreform eingeführt wurde, so dass VA von diesem Zeitpunkt an an einer Reihe von mündlichen Verhandlungen in Strafverfahren teilgenommen hat. Die elektronische Zuweisung von Schöffen, die in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften vorgesehen ist, scheint somit unabhängig von Erwägungen zur Person des Schöffen und zu den von ihm zu behandelnden Rechtssachen zu erfolgen; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. 50 Allerdings kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Vorhandensein besonderer körperlicher Fähigkeiten als eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 in Bezug auf die Ausübung bestimmter Berufe wie dem von Feuerwehrleuten oder Polizeibeamten angesehen werden. Ebenso kann die Tatsache, dass das Hörvermögen eine von einer nationalen Regelung festgelegte Mindesthörschwelle erreichen muss, als eine solche Anforderung für die Ausübung des Berufs des Strafvollzugsbeamten angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Tartu Vangla, C‑795/19, EU:C:2021:606, Rn. 40 und 41). 51 Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass das Sehvermögen eine wesentliche Funktion für das Führen von Kraftfahrzeugen erfüllt, so dass eine vom Unionsgesetzgeber für die Ausübung des Berufs des Kraftfahrers aufgestellte Mindestsehschärfe im Hinblick auf das Ziel, die Sicherheit im Straßenverkehr zu gewährleisten, mit dem Unionsrecht vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2014, Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 54 und 72). 52 Ebenso kann aufgrund der Art der Aufgaben des Schöffen in einem Strafverfahren und der Voraussetzungen für ihre Ausübung, die in bestimmten Fällen die Prüfung und Würdigung visueller Beweise implizieren können, das Sehvermögen ebenfalls als eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 für die Ausübung des Berufs des Schöffen in einem solchen Verfahren angesehen werden, sofern die Prüfungen und die Würdigung dieser Beweise nicht mittels medizinisch-technischer Hilfsmittel vorgenommen werden können. 53 Im Übrigen kann das von TC und UB angeführte Ziel, sicherzustellen, dass die Grundsätze des Strafverfahrens, zu denen die Grundsätze der Unmittelbarkeit und der unmittelbaren Beweiswürdigung zählen, uneingeschränkt beachtet werden, ein legitimes Ziel im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 darstellen. 54 Folglich ist zu prüfen, ob die gegen VA im Ausgangsverfahren verfügte Maßnahme, die darin besteht, sie vollständig von der Ausübung der Aufgaben eines Schöffen in einem Strafverfahren auszuschließen, zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Bei der Verhältnismäßigkeit ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber nach Art. 5 der Richtlinie 2000/78 im Licht ihrer Erwägungsgründe 20 und 21 verpflichtet ist, die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs und den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Tartu Vangla, C‑795/19, EU:C:2021:606, Rn. 42 und 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Zur Geeignetheit dieser Maßnahme ist festzustellen, dass eine solche Maßnahme zwar zur Einhaltung der Vorschriften der Strafprozessordnung in Bezug auf den Grundsatz der Unmittelbarkeit und die unmittelbare Beweiswürdigung beiträgt. 56 Zur Erforderlichkeit dieser Maßnahme ist jedoch festzustellen, dass VA von der Teilnahme an den von der Strafkammer behandelten Rechtssachen, der sie zugewiesen war, uneingeschränkt ausgeschlossen wurde, ohne dass ihre individuelle Fähigkeit, ihre Aufgaben zu erfüllen, beurteilt wurde und ohne dass geprüft wurde, ob sich etwaige Schwierigkeiten, die möglicherweise aufgetreten wären, hätten ausräumen lassen. 57 Im Übrigen ist der Arbeitgeber, wie in Rn. 54 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verpflichtet, für Menschen mit Behinderung nach Maßgabe des im konkreten Fall Erforderlichen angemessene Vorkehrungen zu treffen. Nach dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 spielen nämlich Maßnahmen, die darauf abstellen, den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung am Arbeitsplatz Rechnung zu tragen, eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Diskriminierungen wegen einer Behinderung. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff „angemessene Vorkehrungen“ in einem weiten Sinne dahin zu verstehen ist, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasst, die die volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behindern. Zudem enthält der 20. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hierzu eine Liste angemessener Vorkehrungen materieller, organisatorischer oder edukativer Art, die nicht abschließend ist (Urteil vom 15. Juli 2021, Tartu Vangla, C‑795/19, EU:C:2021:606, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Diese Pflicht ist im Licht von Art. 26 der Charta zu sehen, der den Grundsatz der Integration von Menschen mit Behinderung zum Ausdruck bringt, damit ihnen Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft zugutekommen. 59 Eine solche Pflicht ist auch im VN-Übereinkommen verankert, deren Bestimmungen zur Auslegung der Richtlinie 2000/78 herangezogen werden können, so dass diese nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen auszulegen ist (Urteil vom 15. Juli 2021, Tartu Vangla, C‑795/19, EU:C:2021:606, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Das VN-Übereinkommen sieht in Art. 5 Abs. 3 vor, dass die Vertragsstaaten zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung alle geeigneten Schritte unternehmen, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten. 61 Im Übrigen verfolgt Art. 5 Abs. 3 des VN-Übereinkommens ein Ziel der Inklusion, wenn er die Förderung der Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung und die Beseitigung von Diskriminierung vorsieht, wie dies auch Art. 27 dieses Übereinkommens belegt, der ihnen gleichberechtigt mit anderen das Recht auf Arbeit zuerkennt, insbesondere das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird. 62 Im vorliegenden Fall ist VA, wie sich aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen ergibt, von jeglicher Teilnahme an Rechtssachen in Strafverfahren ausgeschlossen worden, ohne Unterscheidung nach den betreffenden Rechtssachen und ohne dass geprüft wurde, ob ihr angemessene Vorkehrungen wie eine materielle, persönliche oder organisatorische Unterstützung angeboten werden konnten. 63 Vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht zeigt sich somit, dass diese Maßnahme über das hinausgeht, was erforderlich ist, zumal sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, dass VA nach Einführung der elektronischen Zuweisung von Schöffen im August 2016 in dieser Eigenschaft an der Entscheidung zahlreicher Rechtssachen in Strafverfahren beteiligt war. Wie sowohl die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen als auch der Generalanwalt in Nr. 100 seiner Schlussanträge ausgeführt haben, kann dieser Umstand darauf hindeuten, dass sie in der Lage ist, die Aufgaben einer Schöffin unter vollständiger Beachtung der strafverfahrensrechtlichen Vorschriften wahrzunehmen. 64 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 im Licht der Art. 21 und 26 der Charta sowie des VN‑Übereinkommens dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass eine an Blindheit leidende Person von jeder Möglichkeit ausgeschlossen wird, die Aufgaben eines Schöffen in einem Strafverfahren auszuüben. Kosten 65 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist im Licht der Art. 21 und 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie des durch den Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigten Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass eine an Blindheit leidende Person von jeder Möglichkeit ausgeschlossen wird, die Aufgaben eines Schöffen in einem Strafverfahren auszuüben. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 14. Oktober 2021.#MT gegen Landespolizeidirektion Steiermark.#Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Dienstleistungsfreiheit – Art. 56 AEUV – Glücksspiel – Zugänglichmachen von verbotenen Ausspielungen – Sanktionen – Verhältnismäßigkeit – Mindestgeldstrafen – Kumulierung – Fehlende Höchstgrenze – Ersatzfreiheitsstrafe – Proportionaler Beitrag zu den Kosten des Verfahrens – Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-231/20.
62020CJ0231
ECLI:EU:C:2021:845
2021-10-14T00:00:00
Szpunar, Gerichtshof
62020CJ0231 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 14. Oktober 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Dienstleistungsverkehr – Art. 56 AEUV – Glücksspiel – Zugänglichmachen von verbotenen Ausspielungen – Sanktionen – Verhältnismäßigkeit – Mindestgeldstrafen – Kumulation – Fehlende Höchstgrenze – Ersatzfreiheitsstrafe – Proportionaler Beitrag zu den Kosten des Verfahrens – Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ In der Rechtssache C‑231/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 27. April 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juni 2020, in dem Verfahren MT gegen Landespolizeidirektion Steiermark erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Arabadjiev in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin) sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von MT, vertreten durch die Rechtsanwälte P. Ruth und D. Pinzger, – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch und J. Schmoll als Bevollmächtigte, – der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vlaemminck, advocaat, und M. Thibault, avocate, – der ungarischen Regierung, vertreten durch B. R. Kissné, M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte, – der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, A. Silva Coelho und L. Inez Fernandes als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, L. Malferrari und L. Armati als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 56 AEUV und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MT und der Landespolizeidirektion Steiermark (Österreich) über Sanktionen, die gegen MT wegen unternehmerischer Zugänglichmachung verbotener Ausspielungen verhängt wurden. Rechtlicher Rahmen GSpG 3 Das Glücksspielgesetz (Bundesgesetz zur Regelung des Glücksspielwesens) vom 28. November 1989 (BGBl. Nr. 620/1989) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: GSpG) bestimmt in seinem § 2 („Ausspielungen“): „(1)   Ausspielungen sind Glücksspiele, 1. die ein Unternehmer veranstaltet, organisiert, anbietet oder zugänglich macht und 2. bei denen Spieler oder andere eine vermögenswerte Leistung in Zusammenhang mit der Teilnahme am Glücksspiel erbringen (Einsatz) und 3. bei denen vom Unternehmer, von Spielern oder von anderen eine vermögenswerte Leistung in Aussicht gestellt wird (Gewinn). … (4)   Verbotene Ausspielungen sind Ausspielungen, für die eine Konzession oder Bewilligung nach diesem Bundesgesetz nicht erteilt wurde und die nicht vom Glücksspielmonopol des Bundes gemäß § 4 ausgenommen sind. …“ 4 § 52 GSpG („Verwaltungsstrafbestimmungen“) bestimmt: „(1)   Es begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Behörde in den Fällen der Z 1 mit einer Geldstrafe von bis zu 60000 Euro und in den Fällen der Z 2 bis 11 mit bis zu 22000 Euro zu bestrafen, 1. wer zur Teilnahme vom Inland aus verbotene Ausspielungen im Sinne des § 2 Abs. 4 veranstaltet, organisiert oder unternehmerisch zugänglich macht oder sich als Unternehmer im Sinne des § 2 Abs. 2 daran beteiligt; … (2)   Bei Übertretung des Abs. 1 Z 1 mit bis zu drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen ist für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe in der Höhe von 1000 Euro bis zu 10000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 3000 Euro bis zu 30000 Euro, bei Übertretung mit mehr als drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe von 3000 Euro bis zu 30000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 6000 Euro bis zu 60000 Euro zu verhängen.“ VStG 5 In § 9 („Besondere Fälle der Verantwortlichkeit“) des Verwaltungsstrafgesetzes (BGBl. Nr. 52/1991) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: VStG) heißt es: „(1)   Für die Einhaltung der Verwaltungsvorschriften durch juristische Personen … ist, sofern die Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmen und soweit nicht verantwortliche Beauftragte (Abs. 2) bestellt sind, strafrechtlich verantwortlich, wer zur Vertretung nach außen berufen ist. … (7)   Juristische Personen … sowie die in Abs. 3 genannten natürlichen Personen haften für die über die zur Vertretung nach außen Berufenen oder über einen verantwortlichen Beauftragten verhängten Geldstrafen, sonstige in Geld bemessene Unrechtsfolgen und die Verfahrenskosten zur ungeteilten Hand.“ 6 § 16 VStG („Ersatzfreiheitsstrafe“) sieht vor: „(1)   Wird eine Geldstrafe verhängt, so ist zugleich für den Fall ihrer Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe festzusetzen. (2)   Die Ersatzfreiheitsstrafe darf das Höchstmaß der für die Verwaltungsübertretung angedrohten Freiheitsstrafe und, wenn keine Freiheitsstrafe angedroht und nicht anderes bestimmt ist, zwei Wochen nicht übersteigen. Eine Ersatzfreiheitsstrafe von mehr als sechs Wochen ist nicht zulässig. Sie ist ohne Bedachtnahme auf § 12 nach den Regeln der Strafbemessung festzusetzen. …“ 7 In § 19 VStG („Strafbemessung“) heißt es: „(1)   Grundlage für die Bemessung der Strafe sind die Bedeutung des strafrechtlich geschützten Rechtsgutes und die Intensität seiner Beeinträchtigung durch die Tat. …“ 8 § 20 VStG („Außerordentliche Milderung der Strafe“) bestimmt: „Überwiegen die Milderungsgründe die Erschwerungsgründe beträchtlich oder ist der Beschuldigte ein Jugendlicher, so kann die Mindeststrafe bis zur Hälfte unterschritten werden.“ 9 § 64 VStG („Kosten des Strafverfahrens“) sieht vor: „(1)   In jedem Straferkenntnis ist auszusprechen, dass der Bestrafte einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens zu leisten hat. (2)   Dieser Beitrag ist für das Verfahren erster Instanz mit 10 % der verhängten Strafe, mindestens jedoch mit 10 Euro zu bemessen; bei Freiheitsstrafen ist zur Berechnung der Kosten ein Tag Freiheitsstrafe gleich 100 Euro anzurechnen. … …“ Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz 10 § 38 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (BGBl. I Nr. 33/2013) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht die Anwendung der Bestimmungen u. a. des VStG auf das Verfahren über Beschwerden in Verwaltungsstrafsachen vor. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 11 Vom 30. April bis zum 3. Mai 2016 machte die von MT vertretene Gesellschaft zehn Glücksspielautomaten unternehmerisch in einem bestimmten Lokal zugänglich. Die in Rede stehende Veranstalterin der Glücksspiele ist eine Gesellschaft mit Sitz in der Slowakei. 12 Mit Straferkenntnis wurde der Revisionswerber des Ausgangsverfahrens gemäß § 9 VStG als für die von dieser Gesellschaft begangenen Übertretungen des § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG verantwortlich befunden. Nach § 52 Abs. 2 VStG verhängte die Verwaltungsstrafbehörde gegen ihn pro Übertretung eine Verwaltungsstrafe in Höhe von 10000 Euro und nach § 16 VStG, der nach § 38 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung auf das Verfahren über Beschwerden in Verwaltungsstrafsachen anwendbar ist, eine Ersatzfreiheitsstrafe von drei Tagen, d. h. insgesamt – für zehn Glückspielautomaten – eine Geldstrafe von 100000 Euro und eine Ersatzfreiheitsstrafe von 30 Tagen. Außerdem schrieb sie ihm gemäß § 64 Abs. 2 VStG die Zahlung eines Beitrags zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 10000 Euro vor. 13 Gegen dieses Straferkenntnis wurde Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) erhoben, die abgewiesen wurde. 14 Der Revisionswerber des Ausgangsverfahrens legte gegen dieses Erkenntnis beim Verwaltungsgerichtshof (Österreich) eine erste Revision ein. Letzterer bestätigte dieses Erkenntnis hinsichtlich des Schuldspruchs, hob es aber hinsichtlich des Strafausspruchs auf. 15 Nach Zurückverweisung der Sache setzte das Landesverwaltungsgericht Steiermark für jede Übertretung die verhängte Geldstrafe auf 4000 Euro herab und legte eine Ersatzfreiheitsstrafe von einem Tag fest, d. h. insgesamt für die zehn Glücksspielautomaten eine Geldstrafe von 40000 Euro und eine Ersatzfreiheitsstrafe von zehn Tagen. Außerdem schrieb es einen Beitrag zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 4000 Euro vor. 16 Der Revisionswerber des Ausgangsverfahrens erhob gegen diese Strafbemessung erneut Revision an das vorlegende Gericht. 17 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass im Rahmen des bei ihm anhängigen Revisionsverfahrens das Landesverwaltungsgericht Steiermark in erster Instanz die Beeinträchtigung des freien Dienstleistungsverkehrs durch die in Rede stehende Monopolregelung geprüft habe, indem es eine umfassende Beurteilung anhand der vom Gerichtshof aufgestellten Kriterien vorgenommen habe und zu dem Ergebnis gelangt sei, dass die Bestimmungen des GSpG, nach denen die Veranstaltung von Automatenglücksspielen ohne die erforderliche Konzession strafbar sei, nicht gegen das Unionsrecht verstießen. 18 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass seine Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Sanktion davon abhänge, ob die Bestimmungen des GSpG in Verbindung mit denen des VStG, die vom Landesverwaltungsgericht Steiermark für die Strafbemessung anzuwenden seien, mit Art. 56 AEUV und gegebenenfalls mit Art. 49 Abs. 3 der Charta vereinbar seien. 19 Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Hat das nationale Gericht in einem Strafverfahren, das zum Schutz einer Monopolregelung geführt wird, die von ihm anzuwendende Strafsanktionsnorm im Licht der Dienstleistungsfreiheit zu prüfen, wenn es bereits zuvor die Monopolregelung entsprechend den Vorgaben des Gerichtshofs geprüft hat und diese Prüfung ergeben hat, dass die Monopolregelung gerechtfertigt ist? 2. Für den Fall der Bejahung der ersten Frage: a) Ist Art. 56 AEUV dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG zwingend die Verhängung einer Geldstrafe pro Glücksspielautomat ohne absolute Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen vorsieht? b) Ist Art. 56 AEUV dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Verhängung einer Mindeststrafe in der Höhe von 3000 Euro pro Glücksspielautomat zwingend vorsieht? c) Ist Art. 56 AEUV dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe pro Glücksspielautomat ohne absolute Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen vorsieht? d) Ist Art. 56 AEUV dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche im Fall der Bestrafung wegen des unternehmerischen Zugänglichmachens verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Vorschreibung eines Beitrags zu den Kosten des Strafverfahrens in der Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen vorsieht? 3. Für den Fall der Verneinung der ersten Frage: a) Ist Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG zwingend die Verhängung einer Geldstrafe pro Glücksspielautomat ohne absolute Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen vorsieht? b) Ist Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Verhängung einer Mindeststrafe in der Höhe von 3000 Euro pro Glücksspielautomat zwingend vorsieht? c) Ist Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche für das unternehmerische Zugänglichmachen verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe pro Glücksspielautomat ohne absolute Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen vorsieht? d) Ist Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche im Fall der Bestrafung wegen des unternehmerischen Zugänglichmachens verbotener Ausspielungen nach dem GSpG die Vorschreibung eines Beitrags zu den Kosten des Strafverfahrens in der Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen vorsieht? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage Zur Zulässigkeit 20 Der Revisionswerber des Ausgangsverfahrens macht geltend, die erste Frage sei hypothetisch, da das vorlegende Gericht im Rahmen des Ausgangsverfahrens entgegen dem, was der Wortlaut dieser Frage nahelege, die fragliche Monopolregelung nicht selbst anhand der vom Gerichtshof aufgestellten Kriterien geprüft habe. 21 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der mit Art. 267 AEUV eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Betreffen die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteile vom 13. November 2018, Čepelnik, C‑33/17, EU:C:2018:896, Rn. 20, und vom 2. April 2020, Coty Germany, C‑567/18, EU:C:2020:267, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). 22 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 13. November 2018, Čepelnik, C‑33/17, EU:C:2018:896, Rn. 21, und vom 2. April 2020, Coty Germany, C‑567/18, EU:C:2020:267, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). 23 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht, wie in Rn. 17 des vorliegenden Urteils ausgeführt, darauf hin, dass das Landesverwaltungsgericht Steiermark im ersten Rechtszug die Vereinbarkeit der Bestimmungen des GSpG, die die Strafbarkeit der Veranstaltung von Automatenglücksspielen ohne die erforderliche Konzession vorsehen, mit dem Unionsrecht geprüft habe. In Anbetracht dieser Feststellung, die der Gerichtshof im Rahmen eines auf Art. 267 AEUV gestützten Verfahrens nicht in Frage zu stellen hat, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es im Rahmen seiner Prüfung der Rechtmäßigkeit der dem Revisionswerber des Ausgangsverfahrens in Anwendung der Bestimmungen des GSpG in Verbindung mit jenen des VStG auferlegten Sanktion diese Sanktion speziell anhand von Art. 56 AEUV zu prüfen hat. Es lässt sich daher nicht bestreiten, dass die Vereinbarkeit der vom vorlegenden Gericht zu treffenden Entscheidung mit dem Unionsrecht von der Beantwortung der Vorlagefrage abhängt, die somit keinen hypothetischen Charakter hat. 24 Folglich ist die erste Frage zulässig. Zur Beantwortung der Frage 25 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, das mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer wegen Verstoßes gegen das Glücksspielmonopol verhängten Sanktion befasst ist, in einem Verfahren über die Verhängung von Sanktionen wegen eines solchen Verstoßes speziell prüfen muss, ob die in der anwendbaren Regelung vorgesehenen Sanktionen mit Art. 56 AEUV vereinbar sind, wenn bereits entschieden wurde, dass die Einführung eines solchen Monopolsystems mit dieser Bestimmung vereinbar ist. 26 Die österreichische und die belgische Regierung sowie im Wesentlichen auch die ungarische Regierung tragen vor, dass die nationalen Sanktionsvorschriften, mit denen die Einhaltung des Monopols sichergestellt werden solle, nicht gesondert im Hinblick auf Art. 56 AEUV geprüft zu werden brauchten, da diese grundsätzlich bereits im Rahmen der Gesamtwürdigung der Umstände des Erlasses und der Durchführung der in Rede stehenden beschränkenden Regelung geprüft worden seien. Dagegen machen die portugiesische Regierung, die Europäische Kommission und im Wesentlichen auch MT geltend, dass solche Regeln gesondert anhand dieser Bestimmung und insbesondere des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu prüfen seien. 27 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf Regelungen eines Mitgliedstaats, die die Ausübung einer Tätigkeit im Glücksspielsektor in diesem Staat u. a. von der Verpflichtung, sich eine Konzession und eine polizeiliche Genehmigung zu verschaffen, abhängig machen und die strafrechtliche Sanktionen für den Fall vorsehen, dass die fraglichen Rechtsvorschriften nicht eingehalten werden, bereits entschieden hat, dass gesondert für jede mit den nationalen Rechtsvorschriften auferlegte Beschränkung, darunter auch für die in diesen Vorschriften vorgesehenen Sanktionen, namentlich zu prüfen ist, ob die Beschränkung geeignet ist, die Verwirklichung des von dem fraglichen Mitgliedstaat geltend gemachten Ziels oder der von ihm geltend gemachten Ziele zu gewährleisten, und ob sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels oder dieser Ziele erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2007, Placanica u. a., C‑338/04, C‑359/04 und C‑360/04, EU:C:2007:133, Rn. 40 und 49). Auf dieses Erfordernis hat der Gerichtshof in der Folge wiederholt hingewiesen (Urteile vom 8. September 2010, Stoß u. a., C‑316/07, C‑358/07 bis C‑360/07, C‑409/07 und C‑410/07, EU:C:2010:504, Rn. 93, vom 28. Februar 2018, Sporting Odds, C‑3/17, EU:C:2018:130, Rn. 22, sowie Beschluss vom 18. Mai 2021, Fluctus u. a., C‑920/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:395, Rn. 29). 28 Daher hat das nationale Gericht, das mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer wegen Verstoßes gegen das Glückspielmonopol verhängten Sanktion befasst ist, speziell zu prüfen, ob diese Beschränkung mit Art. 56 AEUV vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a., C‑64/18, C‑140/18, C‑146/18 und C‑148/18, EU:C:2019:723, Rn. 33), auch wenn bereits entschieden wurde, dass die übrigen Beschränkungen im Zusammenhang mit der Errichtung dieses Monopols mit dieser Bestimmung vereinbar sind. 29 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht zwar hervor, dass das nationale Gericht im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit einer beschränkenden Regelung mit Art. 56 AEUV eine Gesamtwürdigung nicht nur der Umstände vornehmen muss, unter denen diese Regelung erlassen worden ist, sondern auch jener, unter denen sie durchgeführt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Juni 2016, Admiral Casinos & Entertainment, C‑464/15, EU:C:2016:500, Rn. 31, sowie vom 14. Juni 2017, Online Games u. a., C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung), was zwangsläufig das speziell in dieser Regelung vorgesehene Sanktionssystem einschließt, auf dessen Grundlage die Sanktionsentscheidung erlassen wurde. 30 Das vorlegende Gericht hat hierzu ausgeführt, dass das Landesverwaltungsgericht Steiermark im Rahmen des Ausgangsverfahrens in Anbetracht der vom Gerichtshof aufgestellten Kriterien der Ansicht gewesen sei, dass die Bestimmungen des GSpG, nach denen die Veranstaltung von Automatenglücksspielen ohne erforderliche Konzession strafbar ist, nicht unionsrechtswidrig seien. 31 Die österreichische Regierung hat ihrerseits darauf hingewiesen, dass das Ergebnis, zu dem das Landesverwaltungsgericht Steiermark gelangt sei, der ständigen Judikatur der österreichischen Höchstgerichte entspreche, die im Rahmen einer solchen Prüfung systematisch die der effizienten Bekämpfung des illegalen Glückspiels dienenden Strafbestimmungen des § 52 GSpG berücksichtigt hätten. 32 Zum einen hat das vorlegende Gericht jedoch nicht angegeben, ob sich diese Beurteilung speziell auf diese Bestimmung bezogen hat. Zum anderen ergibt sich jedenfalls aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die gegen den Revisionswerber des Ausgangsverfahrens verhängten Sanktionen nicht nur auf der Grundlage von § 52 GSpG, sondern auch auf der Grundlage der im Verwaltungsstreitverfahren anwendbaren §§ 16 und 64 VStG festgesetzt wurden, die gleichzeitig mit jedem Straferkenntnis die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe und die Vorschreibung eines Beitrags zu den Kosten des Verwaltungsstrafverfahrens vorsehen. 33 Zu dem Umstand, dass sie nicht im GSpG, sondern in den allgemeinen Bestimmungen des VStG vorgesehen sind, ist darauf hinzuweisen, dass solche Sanktionen in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der konkreten Methoden für deren Bestimmung mit dem Unionsrecht vereinbar sein und die durch dieses Recht garantierten Grundfreiheiten beachten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2007, Placanica u. a., C‑338/04, C‑359/04 und C‑360/04, EU:C:2007:133, Rn. 68, vom 20. Dezember 2017, Global Starnet, C‑322/16, EU:C:2017:985, Rn. 61, sowie vom 11. Februar 2021, K. M. [Gegen den Kapitän eines Schiffs verhängte Sanktionen], C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34 Daher ist das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sanktionssystem im Hinblick auf Art. 56 AEUV gesondert zu prüfen. 35 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht, das mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer wegen Verstoßes gegen das Glücksspielmonopol verhängten Sanktion befasst ist, in einem Verfahren über die Verhängung von Sanktionen wegen eines solchen Verstoßes speziell prüfen muss, ob die in der anwendbaren Regelung vorgesehenen Sanktionen unter Berücksichtigung der konkreten Methoden für deren Bestimmung mit Art. 56 AEUV vereinbar sind. Zur zweiten Frage 36 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die im Fall der unternehmerischen Zugänglichmachung verbotener Ausspielungen Folgendes zwingend vorsieht: – die Festsetzung einer Mindestgeldstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen; – die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtdauer der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen, und – einen Beitrag zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen. 37 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Festlegung von Sanktionen im Bereich der Glücksspiele zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, dass aber das Unionsrecht dieser Zuständigkeit nach ständiger Rechtsprechung Schranken setzt, da solche Regelungen die durch das Unionsrecht garantierten Grundfreiheiten nicht beschränken dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Juli 2010, Sjöberg und Gerdin, C‑447/08 und C‑448/08, EU:C:2010:415, Rn. 49, sowie vom 19. November 2020, ZW, C‑454/19, EU:C:2020:947, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind alle Maßnahmen, die die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs untersagen, behindern oder weniger attraktiv machen, als Beschränkungen dieser Freiheit zu verstehen (Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a., C‑64/18, C‑140/18, C‑146/18 und C‑148/18, EU:C:2019:723, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Insoweit ist eine nationale Regelung wie die des Ausgangsverfahrens, die vorsieht, dass im Fall der Nichteinhaltung von Verpflichtungen, die für sich genommen den freien Dienstleistungsverkehr beschränken, gegen den Erbringer von Dienstleistungen Sanktionen verhängt werden, geeignet, die Ausübung dieser Freiheit weniger attraktiv zu machen, und stellt somit eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a., C‑64/18, C‑140/18, C‑146/18 und C‑148/18, EU:C:2019:723, Rn. 33 und 34). 40 Gleichwohl können nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, zulässig sein, wenn sie zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, wenn sie geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a., C‑64/18, C‑140/18, C‑146/18 und C‑148/18, EU:C:2019:723, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Der Gerichtshof hat im Übrigen klargestellt, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, die Ziele ihrer Politik auf dem Gebiet der Glücksspiele festzulegen und gegebenenfalls das angestrebte Schutzniveau genau zu bestimmen. Jedoch müssen die von ihnen vorgeschriebenen Beschränkungen den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit genügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juli 2010, Sjöberg und Gerdin, C‑447/08 und C‑448/08, EU:C:2010:415, Rn. 39). 42 Zudem ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wenn sich ein Mitgliedstaat auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses beruft, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, diese im Unionsrecht vorgesehene Rechtfertigung im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere der nunmehr durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen. Die vorgesehenen Ausnahmen können daher für die betreffende nationale Regelung nur dann gelten, wenn sie im Einklang mit den Grundrechten steht, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat (Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a., C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Hierzu ist erstens festzustellen, dass – soweit das Unionsrecht die Mitgliedstaaten ermächtigt, von Art. 56 AEUV abzuweichen und Beschränkungen für die Erbringung von Glücksspieldienstleistungen aufzuerlegen, und sofern diese Beschränkungen zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechen, sie geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, – davon auszugehen ist, dass die Verhängung von verwaltungsrechtlichen oder strafrechtlichen Sanktionen zur Durchsetzung dieser Beschränkungen denselben zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entspricht wie die genannten Beschränkungen. 44 Zweitens ist festzustellen, dass die Verhängung von verwaltungsrechtlichen oder strafrechtlichen Sanktionen wegen Verstoßes gegen eine die Erbringung von Glücksspieldienstleistungen beschränkende Regelung grundsätzlich die Einhaltung dieser Regelung zu gewährleisten vermag und daher geeignet ist, die Erreichung des hiermit verfolgten Ziels zu gewährleisten. 45 Außerdem muss drittens die Härte der verhängten Sanktionen der Schwere der mit ihnen geahndeten Taten entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2020, OPR-Finance, C‑679/18, EU:C:2020:167, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung), wobei sich eine solche Anforderung insbesondere aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 55). 46 Was als Erstes die Verhängung einer Mindestgeldstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten betrifft, ist nicht ersichtlich, dass eine solche Sanktion für sich genommen im Hinblick auf die Schwere der fraglichen Taten unverhältnismäßig wäre, da, wie die österreichische Regierung ausführt, von illegalem Automatenglücksspiel, das sich behördlichen Kontrollen naturgemäß entzieht und in welchem Bereich die zum Spielerschutz getroffenen gesetzlichen Vorkehrungen nicht überprüft werden können, eine besonders hohe Sozialschädlichkeit ausgehen kann, wobei der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen hat, dass die Ausspielungen zu Ausgaben verleiten, die schädliche persönliche und soziale Folgen haben können (Urteil vom 24. März 1994, Schindler, C‑275/92, EU:C:1994:119, Rn. 60, vgl. ebenfalls in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2007, Placanica u. a., C‑338/04, C‑359/04 und C‑360/04, EU:C:2007:133, Rn. 47, vom 3. Juni 2010, Sporting Exchange, C‑203/08, EU:C:2010:307, Rn. 27, sowie vom 15. September 2011, Dickinger und Ömer, C‑347/09, EU:C:2011:582, Rn. 45). 47 Was die Höhe dieser Mindestgeldstrafe angeht, ist es Sache des nationalen Gerichts, bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Sanktion das Verhältnis zwischen der Höhe der möglichen Geldstrafe und dem wirtschaftlichen Gewinn aus der begangenen Tat zu berücksichtigen, um die Verantwortlichen von der Begehung einer solchen Tat abzuschrecken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Februar 2021, K. M. [Gegen den Kapitän eines Schiffs verhängte Sanktionen], C‑77/20, EU:C:2021:112, Rn. 49). Es muss sich jedoch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vergewissern, dass der auf diese Weise festgesetzte Mindestbetrag nicht außer Verhältnis zu diesem Vorteil steht. 48 Zu dem Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung keine Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen vorsieht, ist festzustellen, dass zwar die Festsetzung einer Mindestgeldstrafe in Verbindung mit der Kumulation von Geldstrafen ohne Höchstgrenze, wenn die Tat mehrere nicht bewilligte Glücksspielautomaten betrifft, zur Verhängung finanzieller Sanktionen in erheblicher Höhe führen kann. 49 Wie jedoch sowohl das vorlegende Gericht, das sich auf die Erläuterungen zur Regierungsvorlage stützt, mit der die in § 52 Abs. 2 GSpG genannten Strafhöhen eingeführt wurden, als auch die österreichische und die belgische Regierung sowie die Kommission ausgeführt haben, ermöglicht es eine solche Maßnahme u. a., dem durch die geahndeten Taten erzielbaren wirtschaftlichen Nutzen zu begegnen und so das illegale Angebot zunehmend unattraktiv zu machen, so dass sie als solche nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. Es ist jedoch auch Sache des nationalen Gerichts, sich zu vergewissern, dass die Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen nicht außer Verhältnis zu diesem Vorteil steht. 50 Was als Zweites die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe betrifft, ist ebenfalls nicht ersichtlich, dass die Verhängung einer solchen Sanktion an sich im Hinblick auf Art und Schwere der in Rede stehenden Taten unverhältnismäßig wäre, da sie, wie die österreichische Regierung ausführt, gewährleisten soll, dass diese Taten im Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe wirksam geahndet werden können. 51 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Verhängung einer solchen Sanktion in jedem Einzelfall durch stichhaltige Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein muss (vgl. in diesem Sinne EGMR, 19. Januar 2021, Lacatus/Schweiz, CE:ECHR:2021:0119JUD001406515, § 110), da diese angesichts der daraus resultierenden Folgen für die betroffene Person besonders schwerwiegend ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2019, Maksimovic u. a., C‑64/18, C‑140/18, C‑146/18 und C‑148/18, EU:C:2019:723, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 52 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Ersatzfreiheitsstrafe bei Verwaltungsübertretungen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden pro Übertretung höchstens zwei Wochen betragen darf. 53 Insoweit ist festzustellen, dass – wenn jeder Glücksspielautomat oder Eingriffsgegenstand die Verhängung einer solchen Ersatzfreiheitsstrafe nach sich ziehen kann und die anwendbare Regelung keine Höchstgrenze der Gesamtdauer der zulässigen Ersatzfreiheitsstrafen vorsieht – die Kumulation solcher Sanktionen zur Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe von erheblicher Dauer führen kann, die möglicherweise nicht der Schwere der festgestellten Übertretungen entspricht, für die die geltende Regelung nur Geldstrafen vorsieht. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob dies im Hinblick auf die Dauer der tatsächlich verhängten Ersatzfreiheitsstrafe der Fall ist. 54 In diesem Zusammenhang hat die österreichische Regierung ausgeführt, dass eine allgemeine Untergrenze für Ersatzfreiheitsstrafen nicht bestehe, da eine solche Strafe der verhängten Geldstrafe entsprechen müsse. 55 Ein solcher Umstand kann jedoch nicht ausschlaggebend sein, da eine Ersatzfreiheitsstrafe nicht allein dadurch im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stehen kann, dass mitgliedstaatliche Behörden sie nach freiem Ermessen herabsetzen können (vgl. entsprechend Urteil vom 3. März 2020, Google Ireland, C‑482/18, EU:C:2020:141, Rn. 53). 56 Was als Drittes die Vorschreibung eines Beitrags zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Gerichtsgebühren grundsätzlich zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Gerichtssystems beitragen, da sie eine Finanzierungsquelle für die gerichtliche Tätigkeit der Mitgliedstaaten darstellen (Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci, C‑206/15, EU:C:2016:499, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Vorschreibung eines solchen Beitrags an sich gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt. 57 Es ist indes Sache des vorlegenden Gerichts, sich zu vergewissern, dass ein solcher Beitrag zu den Kosten, da er auf der Grundlage eines Prozentsatzes der Höhe der verhängten Geldstrafe vorgeschrieben wird, bei der konkreten Festsetzung seiner Höhe und angesichts der fehlenden Höchstgrenze dieser Geldstrafe im Hinblick auf die tatsächlichen Kosten eines solchen Verfahrens weder überhöht ist noch das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf Zugang zu den Gerichten verletzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2012, Otis u. a., C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 48). 58 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die im Fall der unternehmerischen Zugänglichmachung verbotener Ausspielungen Folgendes zwingend vorsieht: – die Festsetzung einer Mindestgeldstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen, sofern der Gesamtbetrag der verhängten Geldstrafen nicht außer Verhältnis zu dem durch die geahndeten Taten erzielbaren wirtschaftlichen Vorteil steht; – die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtdauer der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen, sofern die Dauer der tatsächlich verhängten Ersatzfreiheitsstrafe im Hinblick auf die Schwere der festgestellten Taten nicht übermäßig lang ist, und – einen Beitrag zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen, sofern dieser Beitrag im Hinblick auf die tatsächlichen Kosten eines solchen Verfahrens weder überhöht ist noch das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf Zugang zu den Gerichten verletzt. Zur dritten Frage 59 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten. Kosten 60 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, das mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer wegen Verstoßes gegen das Glücksspielmonopol verhängten Sanktion befasst ist, in einem Verfahren über die Verhängung von Sanktionen wegen eines solchen Verstoßes speziell prüfen muss, ob die in der anwendbaren Regelung vorgesehenen Sanktionen unter Berücksichtigung der konkreten Methoden für deren Bestimmung mit Art. 56 AEUV vereinbar sind. 2. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die im Fall der unternehmerischen Zugänglichmachung verbotener Ausspielungen Folgendes zwingend vorsieht: – die Festsetzung einer Mindestgeldstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtsumme der verhängten Geldstrafen, sofern der Gesamtbetrag der verhängten Geldstrafen nicht außer Verhältnis zu dem durch die geahndeten Taten erzielbaren wirtschaftlichen Vorteil steht; – die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe für jeden nicht bewilligten Glücksspielautomaten ohne Höchstgrenze der Gesamtdauer der verhängten Ersatzfreiheitsstrafen, sofern die Dauer der tatsächlich verhängten Ersatzfreiheitsstrafe im Hinblick auf die Schwere der festgestellten Taten nicht übermäßig lang ist, und – einen Beitrag zu den Kosten des Verfahrens in Höhe von 10 % der verhängten Geldstrafen, sofern dieser Beitrag im Hinblick auf die tatsächlichen Kosten eines solchen Verfahrens weder überhöht ist noch das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf Zugang zu den Gerichten verletzt. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 9. September 2021.#Bundesrepublik Deutschland gegen SE.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich – Begriff ‚Familienangehöriger‘ – Volljähriger, der aufgrund seiner familiären Bindung zu einem Minderjährigen, dem bereits subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, internationalen Schutz beantragt – Für die Beurteilung der Minderjährigkeit maßgebender Zeitpunkt.#Rechtssache C-768/19.
62019CJ0768
ECLI:EU:C:2021:709
2021-09-09T00:00:00
Gerichtshof, Hogan
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62019CJ0768 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 9. September 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich – Begriff ‚Familienangehöriger‘ – Volljähriger, der aufgrund seiner familiären Bindung zu einem Minderjährigen, dem bereits subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, internationalen Schutz beantragt – Für die Beurteilung der Minderjährigkeit maßgebender Zeitpunkt“ In der Rechtssache C‑768/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 15. August 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Oktober 2019, in dem Verfahren Bundesrepublik Deutschland gegen SE, Beteiligter: Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht, erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter N. Wahl und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters J. Passer, Generalanwalt: G. Hogan, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch A. Schumacher als Bevollmächtigte, – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte, – der ungarischen Regierung, vertreten durch K. Szíjjártó und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, M. Condou-Durande, K. Kaiser und C. Ladenburger als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. März 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9). 2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen SE, einem afghanischen Staatsangehörigen, und der Bundesrepublik Deutschland wegen der Weigerung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland), ihm die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinem Sohn zuzuerkennen. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2011/95 3 In den Erwägungsgründen 12, 16, 18, 19 und 38 der Richtlinie 2011/95 heißt es: „(12) Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird. … (16) Diese Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze. Sie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Artikel 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern, und sollte daher entsprechend umgesetzt werden. … (18) Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem [am 20. November 1989 in New York geschlossenen] Übereinkommen der Vereinten Nationen … über die Rechte des Kindes [(United Nations Treaty Series, Bd. 1577, S. 3)] vorrangig das ‚Wohl des Kindes‘ berücksichtigen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen, Sicherheitsaspekten sowie dem Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife Rechnung tragen. (19) Der Begriff ‚Familienangehörige‘ muss ausgeweitet werden, wobei den unterschiedlichen besonderen Umständen der Abhängigkeit Rechnung zu tragen und das Wohl des Kindes besonders zu berücksichtigen ist. … (38) Bei der Gewährung der Ansprüche auf die Leistungen gemäß dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten dem Wohl des Kindes sowie den besonderen Umständen der Abhängigkeit der nahen Angehörigen, die sich bereits in dem Mitgliedstaat aufhalten und die nicht Familienmitglieder der Person sind, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, von dieser Person Rechnung tragen. …“ 4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … j) ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat: … – der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist; k) ‚Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren; …“ 5 Art. 3 („Günstigere Normen“) der Richtlinie 2011/95 lautet: „Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“ 6 Art. 20 Abs. 2 und 5 der Richtlinie 2011/95 lautet: „(2)   Sofern nichts anderes bestimmt wird, gilt dieses Kapitel sowohl für Flüchtlinge als auch für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz. … (5)   Bei der Umsetzung der Minderjährige berührenden Bestimmungen dieses Kapitels berücksichtigen die Mitgliedstaaten vorrangig das Wohl des Kindes.“ 7 Art. 23 („Wahrung des Familienverbands“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. (2)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist. (3)   Die Absätze 1 und 2 finden keine Anwendung, wenn der Familienangehörige aufgrund der Kapitel III und V von der Gewährung internationalen Schutzes ausgeschlossen ist oder ausgeschlossen wäre. …“ 8 Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 lautet: „So bald wie möglich nach Zuerkennung des internationalen Schutzes stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, und ihren Familienangehörigen einen verlängerbaren Aufenthaltstitel aus, der mindestens ein Jahr und im Fall der Verlängerung mindestens zwei Jahre gültig sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.“ Richtlinie 2013/32/EU Art. 6 („Zugang zum Verfahren“) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) sieht vor: „(1) Stellt eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, so erfolgt die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung. Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind, so gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Registrierung spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgt. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese anderen Behörden, bei denen wahrscheinlich Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden, wie Polizei, Grenzschutz, Einwanderungsbehörden und Personal von Gewahrsamseinrichtungen, über die einschlägigen Informationen verfügen und ihr Personal das erforderliche, seinen Aufgaben und Zuständigkeiten entsprechende Schulungsniveau und Anweisungen erhält, um die Antragsteller darüber zu informieren, wo und wie Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden können. (2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Stellt der Antragsteller keinen förmlichen Antrag, so können die Mitgliedstaaten Artikel 28 entsprechend anwenden. (3) Unbeschadet des Absatzes 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden. (4) Ungeachtet des Absatzes 3 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz als förmlich gestellt, sobald den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist. …“ Deutsches Recht 9 Die Richtlinie 2011/95 wurde durch das Asylgesetz (BGBl. 2008 I, S. 1798, im Folgenden: AsylG) in deutsches Recht umgesetzt. 10 Das AsylG unterscheidet zwischen einem formlosen Asylantrag (Asylgesuch, § 13 Abs. 1 AsylG) und einem förmlichen Asylantrag (§ 14 Abs. 1 AsylG). 11 § 13 Abs. 1 AsylG bestimmt: „Ein Asylantrag liegt vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Absatz 1 droht.“ 12 § 14 Abs. 1 AsylG sieht vor: „Der Asylantrag ist bei der Außenstelle des Bundesamtes zu stellen, die der für die Aufnahme des Ausländers zuständigen Aufnahmeeinrichtung zugeordnet ist. …“ 13 In § 26 AsylG heißt es: „… (2)   Ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten wird auf Antrag als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist. (3)   Die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie [2011/95] werden auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn 1. die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist, 2. die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie [2011/95] schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird, 3. sie vor der Anerkennung des Asylberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben, 4. die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und 5. sie die Personensorge für den Asylberechtigten innehaben. Für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten gilt Satz 1 Nummer 1 bis 4 entsprechend. … (5)   Auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten sind die Absätze 1 bis 4 entsprechend anzuwenden. An die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz. Der subsidiäre Schutz als Familienangehöriger wird nicht gewährt, wenn ein Ausschlussgrund nach § 4 Absatz 2 vorliegt.“ 14 § 77 Abs. 1 AsylG bestimmt: „In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. …“ Sachverhalt und Vorlagefragen 15 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass der am 20. April 1998 geborene Sohn des Klägers des Ausgangsverfahrens im Laufe des Jahres 2012 nach Deutschland einreiste und am 21. August 2012 dort einen Asylantrag stellte. Am 13. Mai 2016, d. h., als dieses Kind bereits 18 Jahre alt war, lehnte die Bundesbehörde für Migration und Flüchtlinge seinen Asylantrag ab, erkannte ihm aber den subsidiären Schutzstatus zu. 16 Der Kläger des Ausgangsverfahrens reiste im Januar 2016 nach Deutschland ein. Er beantragte im darauffolgenden Monat Asyl und stellte am 21. April 2016 einen förmlichen Antrag auf internationalen Schutz. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag des Klägers des Ausgangsverfahrens ab, verweigerte ihm die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie des subsidiären Schutzstatus und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorlägen. 17 Mit Entscheidung vom 23. Mai 2018 gab das Verwaltungsgericht (Deutschland) seiner Klage gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge statt und verpflichtete die Bundesrepublik Deutschland, ihm auf der Grundlage von § 26 Abs. 3 Unterabs. 1 und Abs. 5 AsylG den subsidiären Schutzstatus als Elternteil eines nicht verheirateten Minderjährigen, dem dieser Schutz zuerkannt worden ist, zu gewähren. Das Verwaltungsgericht führte aus, der Sohn des Klägers des Ausgangsverfahrens sei zu dem insoweit maßgebenden Zeitpunkt der Stellung seines Asylantrags minderjährig gewesen. In diesem Zusammenhang sei ein Asylantrag als gestellt zu betrachten, sobald der Antragsteller in Deutschland erstmals um Asyl nachsuche und die zuständige Behörde davon Kenntnis erlange. 18 Die Bundesrepublik Deutschland legte gegen diesen Bescheid beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) Sprungrevision ein, mit der sie einen Verstoß gegen § 26 Abs. 3 Unterabs. 1 AsylG rügte. Maßgebend für die Entscheidung über den Asylantrag des Klägers des Ausgangsverfahrens sei gemäß § 77 Abs. 1 AsylG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht oder – in Ermangelung einer solchen – im Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt werde. Da der Sohn des Klägers des Ausgangsverfahrens zu dem gemäß dieser Bestimmung maßgebenden Zeitpunkt nicht mehr minderjährig gewesen sei, könne sich der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht auf § 26 Abs. 3 AsylG berufen, der auf Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 verweise. Nur im Fall eines bei der Zuerkennung seines eigenen subsidiären Schutzstatus durch die zuständige Behörde noch Minderjährigen könnten gemäß Art. 2 Buchst. j Rechte zugunsten seiner Eltern entstehen. Dies werde durch den Zweck von § 26 Abs. 3 AsylG – den Schutz der Interessen des Minderjährigen – bestätigt, der mit Eintritt der Volljährigkeit gegenstandslos werde. Selbst wenn die Voraussetzungen dafür, den Eltern eines Minderjährigen das abgeleitete Asylrecht zuzuerkennen, anhand des Zeitpunkts der Asylantragstellung des betreffenden Elternteils zu beurteilen sein sollten, komme es jedenfalls auf den Zeitpunkt der förmlichen Stellung des Asylantrags gemäß § 14 AsylG an und nicht auf den Zeitpunkt, zu dem im Sinne von § 13 AsylG erstmals formlos um Asyl nachgesucht werde. 19 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass dem Antrag des Klägers des Ausgangsverfahrens auf subsidiären Schutz als Familienangehöriger eines international Schutzbedürftigen hätte stattgegeben werden müssen, wenn sein Sohn „minderjährig“ im Sinne von Art. 2 Buchst. k der Richtlinie 2011/95 gewesen wäre und er zu dem für die Sachverhaltswürdigung maßgebenden Zeitpunkt die elterliche Sorge wahrgenommen hätte. Gemäß Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 zähle zu den „Familienangehörigen“ des minderjährigen und nicht verheirateten international Schutzbedürftigen u. a. dessen Vater, sofern sich dieser im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz im Hoheitsgebiet desselben Mitgliedstaats aufhalte und die Familie des Betroffenen bereits im Herkunftsland bestanden habe. Dem Wortlaut dieser Bestimmung sei jedoch nicht eindeutig zu entnehmen, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit des international Schutzbedürftigen abzustellen sei und ob gegebenenfalls die Eigenschaft des Vaters dieses Minderjährigen als Familienangehöriger auch nach dessen Volljährigkeit fortbestehe. 20 Zur Bestimmung dieses Zeitpunkts führt das vorlegende Gericht aus, in der Rechtssache, in der das Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), ergangen sei, habe der Gerichtshof festgestellt, dass eine nationale Regelung, die das Recht auf Familienzusammenführung davon abhängig mache, zu welchem Zeitpunkt die zuständige nationale Behörde förmlich über die Anerkennung des Betroffenen als Flüchtling entscheide, geeignet sei, einem erheblichen Teil der Flüchtlinge, die ihren Antrag auf internationalen Schutz als unbegleitete Minderjährige gestellt hätten, die Ausübung dieses Rechts zu verwehren. Die Erwägungen des Gerichtshofs in dieser Rechtssache könnten im vorliegenden Fall jedoch keine Anwendung finden, da das Kind des Klägers des Ausgangsverfahrens, anders als in jener Rechtssache, keinen Anspruch auf Asyl, sondern auf den subsidiären Schutzstatus habe, dessen Zuerkennung im Gegensatz zum Flüchtlingsstatus einer förmlichen Entscheidung bedürfe. 21 Zudem stelle sich in diesem Zusammenhang gegebenenfalls die Frage, ob für die Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden sei, das formlose Asylgesuch oder der förmlich gestellte Asylantrag maßgebend sei. 22 Darüber hinaus bestünden Zweifel daran, welche Bedeutung einer tatsächlichen Wiederaufnahme des Familienlebens des Kindes und des betreffenden Elternteils im Sinne von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Aufnahmemitgliedstaat und der früheren Existenz eines solchen Familienlebens im Herkunftsland sowie der Absicht des Klägers des Ausgangsverfahrens zukämen, die elterliche Sorge im Aufnahmemitgliedstaat tatsächlich wahrzunehmen. 23 Schließlich sei fraglich, ob ein Asylantragsteller mit dem Eintritt der Volljährigkeit des Schutzberechtigten die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinne von Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 verliere, da diese Eigenschaft an den begrenzten Zeitraum der Minderjährigkeit des Schutzberechtigten anzuknüpfen scheine. 24 Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist bei einem Asylantragsteller, der vor Eintritt der Volljährigkeit seines Kindes, mit dem im Herkunftsstaat eine Familie bestanden hat und dem auf einen vor Eintritt der Volljährigkeit gestellten Schutzantrag nach Eintritt der Volljährigkeit der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist (nachfolgend: Schutzberechtigter), in den Aufnahmemitgliedstaat des Schutzberechtigten eingereist ist und dort ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat (nachfolgend: Asylantragsteller), bei einer nationalen Regelung, die für die Gewährung eines vom Schutzberechtigten abgeleiteten Anspruchs auf Zuerkennung subsidiären Schutzes Bezug auf Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 nimmt, für die Frage, ob der Schutzberechtigte „minderjährig“ im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich dieser Richtlinie ist, auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag des Asylantragstellers oder aber auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen, etwa den Zeitpunkt, in dem a) dem Schutzberechtigten der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, b) der Asylantragsteller seinen Asylantrag gestellt hat, c) der Asylantragsteller in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist ist oder d) der Schutzberechtigte seinen Asylantrag gestellt hat? 2. Für den Fall, a) dass der Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich ist: Ist insoweit auf das schriftlich, mündlich oder auf andere Weise geäußerte Schutzersuchen, das der für den Asylantrag zuständigen nationalen Behörde bekannt geworden ist (Asylgesuch), oder auf den förmlich gestellten Antrag auf internationalen Schutz abzustellen? b) dass der Zeitpunkt der Einreise des Asylantragstellers oder der Zeitpunkt der Stellung des Asylantrages durch diesen maßgeblich ist: Kommt es auch darauf an, ob zu diesem Zeitpunkt über den Schutzantrag des zu einem späteren Zeitpunkt als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Schutzberechtigten noch nicht entschieden war? 3. a) Welche Anforderungen sind in der unter 1. beschriebenen Situation zu stellen, damit es sich bei dem Asylantragsteller um einen „Familienangehörigen“ (Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95) handelt, der sich „im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat“ aufhält, in dem sich die Person aufhält, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und mit dem die Familie „bereits im Herkunftsstaat“ bestanden hat? Setzt dies insbesondere voraus, dass das Familienleben zwischen dem Schutzberechtigten und dem Asylantragsteller im Sinne des Art. 7 der Charta der Grundrechte im Aufnahmemitgliedstaat wiederaufgenommen worden ist, oder genügt insoweit die bloße zeitgleiche Anwesenheit des Schutzberechtigten und des Asylantragstellers im Aufnahmemitgliedstaat? Ist ein Elternteil auch dann Familienangehöriger, wenn die Einreise nach den Umständen des Einzelfalles nicht darauf gerichtet war, die Verantwortlichkeit im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 für eine Person tatsächlich wahrzunehmen, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist und die noch minderjährig und nicht verheiratet ist? b) Soweit Frage 3. a) dahin zu beantworten ist, dass das Familienleben zwischen dem Schutzberechtigten und dem Asylantragsteller im Sinne des Art. 7 der Charta im Aufnahmemitgliedstaat wiederaufgenommen worden sein muss, kommt es darauf an, zu welchem Zeitpunkt die Wiederaufnahme erfolgt ist? Ist insoweit insbesondere darauf abzustellen, ob das Familienleben innerhalb einer bestimmten Frist nach Einreise des Asylantragstellers, im Zeitpunkt der Antragstellung des Asylantragstellers oder zu einem Zeitpunkt wiederhergestellt worden ist, zu dem der Schutzberechtigte noch minderjährig war? 4. Endet die Eigenschaft eines Asylantragstellers als Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 mit dem Eintritt der Volljährigkeit des Schutzberechtigten und einem damit verbundenen Wegfall der Verantwortlichkeit für eine Person, die minderjährig und nicht verheiratet ist? Sollte dies verneint werden: Besteht diese Eigenschaft als Familienangehöriger (und die damit verbundenen Rechte) über diesen Zeitpunkt hinaus zeitlich unbegrenzt fort oder entfällt sie nach einer bestimmten Frist (wenn ja: welcher?) oder bei Eintritt bestimmter Ereignisse (wenn ja: welcher?)? Verfahren vor dem Gerichtshof 25 Mit Entscheidung vom 26. Mai 2020 hat der Präsident des Gerichtshofs das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs bis zur Entscheidung in den Rechtssachen C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind), ausgesetzt. Das Urteil vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), ist in diesem Verfahren dem vorlegenden Gericht übermittelt worden, um in Erfahrung zu bringen, ob es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten will. Mit Beschluss vom 19. August 2020, der am 26. August 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle. Infolgedessen ist das vorliegende Verfahren auf Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 28. August 2020 fortgesetzt worden. 26 Am 10. November 2020 ist die deutsche Regierung aufgefordert worden, schriftlich darzulegen, welche Unterschiede, insbesondere in Bezug auf Verfahren, Fristen und Voraussetzungen, im deutschen Recht zwischen dem formlosen Asylgesuch im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylG und der förmlichen Beantragung von Asyl im Sinne von § 14 Abs. 1 AsylG bestehen. Am 14. Dezember 2020 hat die deutsche Regierung auf diese Frage geantwortet. 27 Am 10. November 2020 sind die Parteien und sonstigen Beteiligten gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union aufgefordert worden, zu den etwaigen Konsequenzen Stellung zu nehmen, die aus dem Urteil vom 16. Juli 2020, État belge (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577), für die Beantwortung insbesondere der ersten Vorlagefrage zu ziehen sind. Die ungarische Regierung und die Europäische Kommission haben hierzu Stellung genommen. Zu den Vorlagefragen Zur ersten und zur zweiten Frage 28 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, welcher Zeitpunkt in einer Situation, in der ein Asylantragsteller, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, in dem sich sein nicht verheiratetes minderjähriges Kind aufhält, und der aus dem subsidiären Schutzstatus, der diesem Kind zuerkannt worden ist, einen Anspruch auf Asyl gemäß den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats – wonach die unter Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 fallenden Personen einen solchen Anspruch haben – ableiten will, bei der Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz dafür maßgebend ist, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minderjährig“ im Sinne dieser Bestimmung ist. 29 Insbesondere möchte das vorlegende Gericht wissen, ob auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag des Asylantragstellers oder auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen ist. 30 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2011/95, die u. a. auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 2 Buchst. b AEUV erlassen wurde, insbesondere eine einheitliche Regelung für den subsidiären Schutz eingeführt werden soll. Aus dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie geht hierzu hervor, dass eines ihrer wesentlichen Ziele darin besteht, zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen (Urteil vom 23. Mai 2019, Bilali, C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31 In diesem Zusammenhang verpflichtet Art. 23 Abs. 1 und 2 der Richtlinie die Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass der Familienverband aufrechterhalten wird und dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des betreffenden Familienangehörigen vereinbar ist. 32 Zu den im Zusammenhang mit einem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhältigen Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, gehören, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat, gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für diese Person verantwortlich ist, wenn sie minderjährig und nicht verheiratet ist. 33 Hierzu ist festzustellen, dass ein Minderjähriger zwar nach Art. 2 Buchst. k der Richtlinie 2011/95 unter 18 Jahre alt sein muss; diese Bestimmung regelt aber weder, auf welchen Zeitpunkt bei der Beurteilung des Vorliegens dieser Voraussetzung abzustellen ist, noch verweist sie insoweit auf das Recht der Mitgliedstaaten. 34 Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Festlegung des maßgebenden Zeitpunkts für die Beurteilung, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minderjährig“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 ist, ein Ermessen eingeräumt hat. 35 Aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitssatzes folgt nämlich, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung insbesondere des Kontexts der Vorschrift und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Zudem achtet die Richtlinie 2011/95 gemäß ihrem 16. Erwägungsgrund die Grundrechte und die in der Charta verankerten Grundsätze und zielt darauf ab, die Anwendung u. a. der Art. 7 und 24 der Charta zu fördern. 37 Insbesondere wird in Art. 7 der Charta, in dem Rechte verankert sind, die den in Art. 8 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkannt. Art. 7 der Charta ist nach ständiger Rechtsprechung in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach ihrem Art. 24 Abs. 2 und unter Beachtung des in Art. 24 Abs. 3 niedergelegten Erfordernisses zu lesen, dass ein Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu beiden Elternteilen unterhält (Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Daraus folgt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 u. a. im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ausgelegt und angewandt werden müssen, wie sich im Übrigen auch aus den Erwägungsgründen 18, 19 und 38 sowie aus Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie ergibt, wonach bei ihrer Umsetzung durch die Mitgliedstaaten das Wohl des Kindes eine vorrangige, besonders zu berücksichtigende Erwägung darstellen muss, bei deren Beurteilung sie u. a. dem Grundsatz des Familienverbands sowie dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen gebührend Rechnung tragen müssen. 39 Wenn – wie insbesondere die deutsche Regierung vorschlägt – als der für die Frage, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minderjährig“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 ist, maßgebende Zeitpunkt der Zeitpunkt zugrunde gelegt würde, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Asylantrag des Elternteils, der aus dem seinem Kind zuerkannten subsidiären Schutzstatus ein Recht auf subsidiären Schutz ableiten will, entscheidet, wäre dies weder mit den Zielen der Richtlinie noch mit den Anforderungen vereinbar, die sich aus dem auf die Förderung des Familienlebens abzielenden Art. 7 der Charta und aus ihrem Art. 24 Abs. 2 ergeben; Letzterer verlangt nämlich, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, zu denen die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Anwendung der Richtlinie getroffenen Maßnahmen gehören, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 36). 40 Die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte hätten dann nämlich keine Veranlassung, die Anträge der Eltern Minderjähriger mit der Dringlichkeit, die geboten ist, um der Schutzbedürftigkeit der Minderjährigen Rechnung zu tragen, vorrangig zu bearbeiten und könnten somit in einer Weise handeln, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden würde (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Darüber hinaus würde eine solche Auslegung es auch nicht ermöglichen, im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, zu gewährleisten, da sie dazu führen würde, dass der Erfolg des Antrags auf internationalen Schutz hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, und insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, einen solchen Antrag abzulehnen, und nicht von Umständen, die in der Sphäre des Asylantragstellers liegen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Unter diesen Umständen ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 73 und 74 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, davon auszugehen, dass dann, wenn ein Asylantragsteller, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, in dem sich sein nicht verheiratetes minderjähriges Kind aufhält, aus dem subsidiären Schutzstatus, der diesem Kind zuerkannt worden ist, das Recht auf die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen und gegebenenfalls das Recht auf Asyl ableiten will, sofern dies im Einklang mit Art. 3 der Richtlinie im nationalen Recht vorgesehen ist, für die Beurteilung, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minderjährig“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 ist, bei der Entscheidung über den von ihrem Vater gestellten Asylantrag der Zeitpunkt der Stellung seines Antrags maßgebend ist. 43 Das Recht des Familienangehörigen auf diese Leistungen – gegebenenfalls einschließlich des Rechts auf Asyl, sofern dies im nationalen Recht vorgesehen ist – muss daher von dem betreffenden Elternteil geltend gemacht werden, wenn sein Kind als die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, noch minderjährig ist. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden haben muss und dass sich die betreffenden Familienangehörigen im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufgehalten haben müssen, bevor die Person volljährig geworden ist, was zugleich bedeutet, dass sie den Schutz vor Eintritt der Volljährigkeit beantragt hat. 44 Eine solche Auslegung steht sowohl mit den Zielen der Richtlinie 2011/95 im Einklang als auch mit den in der Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten, wonach, wie oben in den Rn. 36 bis 38 ausgeführt, das Wohl des Kindes eine vorrangige, von den Mitgliedstaaten besonders zu berücksichtigende Erwägung darstellen muss, bei deren Beurteilung sie u. a. dem Grundsatz des Familienverbands sowie dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen gebührend Rechnung tragen müssen. 45 Sofern der Zeitpunkt der Antragstellung durch den betreffenden Elternteil als maßgebend angesehen wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem dieser Elternteil formlos erstmals um Asyl nachgesucht und die zuständige Behörde davon Kenntnis erlangt hat, oder auf den Zeitpunkt, zu dem er förmlich einen Asylantrag gestellt hat. 46 Im vorliegenden Fall unterscheidet, wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, das anwendbare deutsche Recht zwischen einem formlosen Asylgesuch (§ 13 Abs. 1 AsylG) und der förmlichen Stellung von Asylanträgen (§ 14 Abs. 1 AsylG). Diese Unterscheidung spiegelt die in Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 vorgenommene Unterscheidung zwischen der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz und der förmlichen Stellung eines solchen Antrags wider. 47 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts für die Einreichung des Asylgesuchs im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylG keine bestimmte Form erforderlich ist und dass sie hauptsächlich von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Person, die internationalen Schutz beantragt, liegen, während die Stellung eines förmlichen Asylantrags im Sinne von § 14 Abs. 1 AsylG von der Erfüllung bestimmter Formalitäten durch die zuständige nationale Behörde abhängt. 48 Wie der Generalanwalt in Nr. 76 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Drittstaatsangehöriger die Eigenschaft einer Person, die internationalen Schutz beantragt, im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 ab dem Zeitpunkt erwirbt, zu dem er einen solchen Antrag „stellt“. Insoweit ist zwar die Registrierung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 dieser Richtlinie Sache des betreffenden Mitgliedstaats, und die förmliche Stellung des Antrags setzt gemäß Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie grundsätzlich voraus, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt, ein dafür vorgesehenes Formblatt ausfüllt, doch erfordert die „Stellung“ eines Antrags auf internationalen Schutz keine Verwaltungsformalität, da solche Formalitäten bei der „förmlichen Stellung“ des Antrags zu erfüllen sind (Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, die zur Entgegennahme eines Antrags auf internationalen Schutz berechtigt ist], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 92 und 93). 49 Folglich kann zum einen die Erlangung der Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt, weder von der förmlichen Stellung des Antrags noch von dessen Registrierung abhängig gemacht werden, und zum anderen reicht es aus, dass ein Drittstaatsangehöriger bei einer „anderen Behörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32 seine Absicht, internationalen Schutz zu beantragen, bekundet, um ihm die Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt, zu verleihen und damit die Frist von sechs Arbeitstagen in Gang zu setzen, innerhalb deren der betreffende Mitgliedstaat diesen Antrag registrieren muss (Urteil vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, die zur Entgegennahme eines Antrags auf internationalen Schutz berechtigt ist], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 94). 50 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass der Elternteil, der internationalen Schutz beantragt, im Januar 2016 nach Deutschland einreiste. Im darauffolgenden Monat ersuchte er um Asyl, und am 21. April 2016 stellte er einen förmlichen Asylantrag im Sinne von § 14 Abs. 1 AsylG. Die Bundesbehörde für Migration und Flüchtlinge lehnte seinen Asylantrag mit der Begründung ab, dass sein Sohn am 20. April 2016 volljährig geworden sei. 51 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass ein Asylantragsteller, der formlos sein Gesuch gestellt hat, als sein Sohn noch minderjährig im Sinne von Art. 2 Buchst. k der Richtlinie 2011/95 war, für die Zwecke dieser Bestimmung grundsätzlich als Familienangehöriger der Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, anzusehen ist. 52 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass in einer Situation, in der ein Asylantragsteller, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, in dem sich sein nicht verheiratetes minderjähriges Kind aufhält, und der aus dem subsidiären Schutzstatus, der diesem Kind zuerkannt worden ist, einen Anspruch auf Asyl gemäß den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats – wonach die unter Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 fallenden Personen einen solchen Anspruch haben – ableiten will, bei der Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz für die Frage, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minderjährig“ im Sinne dieser Bestimmung ist, auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der Antragsteller – gegebenenfalls formlos – seinen Asylantrag eingereicht hat. Zur dritten Frage 53 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem Art. 23 Abs. 2 und Art. 7 der Charta dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Familienangehöriger“ keine tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens zwischen dem Elternteil der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und seinem Kind verlangt. Das vorlegende Gericht möchte ferner wissen, ob ein Elternteil als „Familienangehöriger“ anzusehen ist, wenn die Einreise in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht darauf gerichtet war, für das betreffende Kind die elterliche Verantwortung im Sinne von Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 tatsächlich wahrzunehmen. 54 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass in Bezug auf den Vater eines Kindes, dem subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, der Begriff „Familienangehöriger“ in Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 nur von den drei dort genannten Voraussetzungen abhängt, und zwar, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat, dass sich die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten und dass die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, minderjährig und nicht verheiratet ist. Die tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats gehört dagegen nicht zu diesen Voraussetzungen. 55 Im Übrigen wird auch in Art. 23 der Richtlinie nicht auf eine tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens Bezug genommen. Nach ihrem Art. 23 Abs. 1 müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass der Familienverband aufrechterhalten wird, und nach ihrem Art. 23 Abs. 2 müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, grundsätzlich Anspruch auf die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie genannten Leistungen haben. 56 Desgleichen sieht Art. 7 der Charta lediglich das Recht jeder Person auf Achtung ihres Familienlebens vor und stellt – ebenso wie Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich und Art. 23 der Richtlinie 2011/95 – keine besonderen Anforderungen hinsichtlich der Modalitäten der Ausübung dieses Rechts oder der Intensität der betreffenden familiären Beziehungen. 57 Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass es für den Begriff „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 auf die tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens zwischen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und dem Elternteil ankommt, der aus dem seinem Kind zuerkannten subsidiären Schutzstatus einen Anspruch auf subsidiären Schutz herleiten will. 58 Mit anderen Worten stellt die tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens keine Voraussetzung für die Erlangung der Leistungen dar, die den Familienangehörigen der Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, gewährt werden. Somit schützen die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 und der Charta zwar das Recht auf ein Familienleben und fördern dessen Wahrung, doch überlassen sie es grundsätzlich den Inhabern dieses Rechts, darüber zu entscheiden, wie sie ihr Familienleben führen wollen, und stellen insbesondere keine Anforderungen an die Intensität ihrer familiären Beziehung. 59 Nach alledem ist auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem Art. 23 Abs. 2 und Art. 7 der Charta dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Familienangehöriger“ keine tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens zwischen dem Elternteil der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und seinem Kind verlangt. Zur vierten Frage 60 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Eigenschaft eines Elternteils als Familienangehöriger im Sinne dieser Bestimmung endet, wenn das Kind, dem der subsidiäre Schutz zuerkannt worden ist, volljährig wird und damit die elterliche Verantwortung für das Kind endet. Sofern dies verneint wird, möchte das vorlegende Gericht ferner wissen, ob die Eigenschaft dieses Elternteils als Familienangehöriger und die damit verbundenen Rechte über den Zeitpunkt, zu dem das betreffende Kind volljährig wird, hinaus unbegrenzt fortbestehen oder ob diese Rechte zu einem bestimmten Zeitpunkt oder unter bestimmten Voraussetzungen entfallen. 61 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem Art. 23 Abs. 2 der Vater oder die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der der internationale Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, nicht für unbegrenzte Zeit als Familienangehöriger im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 anzusehen ist und somit die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie genannten Leistungen, namentlich das Recht auf einen Aufenthaltstitel sowie auf Zugang zu einer Beschäftigung und zu Wohnraum, in Anspruch nehmen kann. 62 Außerdem sind die Mitgliedstaaten nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 verpflichtet, Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, und ihren Familienangehörigen so bald wie möglich nach Zuerkennung des internationalen Schutzes einen verlängerbaren Aufenthaltstitel auszustellen, der mindestens ein Jahr und im Fall der Verlängerung mindestens zwei Jahre gültig sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen. 63 Nach diesen Bestimmungen stellt die Gewährung internationalen Schutzes für einen Elternteil als „Familienangehöriger“ der Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 ein Recht dar, das sich zur Aufrechterhaltung des Familienverbands der Betroffenen aus dem seinem Kind verliehenen subsidiären Schutzstatus ableitet. Unter diesen Umständen kann der einem solchen Elternteil zuerkannte Schutz nicht unter allen Umständen allein wegen des Eintritts der Volljährigkeit des Kindes, dem subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, sofort enden, oder dies kann jedenfalls nicht dazu führen, dass dem betreffenden Elternteil der noch für gewisse Zeit gültige Aufenthaltstitel automatisch entzogen wird. 64 Wenn die „Familienangehörigen“ der Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt die Voraussetzungen dieser Definition erfüllt haben, muss das ihnen gewährte subjektive Recht auf die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie vorgesehenen Leistungen nämlich auch nach dem Eintritt der Volljährigkeit dieser Person während der Geltungsdauer des ihnen im Einklang mit Art. 24 der Richtlinie ausgestellten Aufenthaltstitels fortbestehen. 65 Insoweit können, wie die Kommission ausführt, die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Laufzeit des Aufenthaltstitels dem Umstand Rechnung tragen, dass die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, nach der Entstehung des subjektiven Rechts ihrer Familienangehörigen volljährig werden wird. Der Wortlaut von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 schließt es nämlich insbesondere nicht aus, zwischen der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels der Person, der dieser Schutz zuerkannt worden ist, und der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels ihrer Familienangehörigen zu differenzieren. Der Aufenthaltstitel der Familienangehörigen muss allerdings mindestens ein Jahr gültig sein. 66 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem Art. 23 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass die Rechte, über die die Familienangehörigen einer Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, aufgrund des ihrem Kind zustehenden subsidiären Schutzstatus verfügen, und insbesondere die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie genannten Leistungen nach Eintritt der Volljährigkeit der betreffenden Person für die Geltungsdauer des ihnen gemäß Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie erteilten Aufenthaltstitels fortbestehen. Kosten 67 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass in einer Situation, in der ein Asylantragsteller, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, in dem sich sein nicht verheiratetes minderjähriges Kind aufhält, und der aus dem subsidiären Schutzstatus, der diesem Kind zuerkannt worden ist, einen Anspruch auf Asyl gemäß den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats – wonach die unter Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 fallenden Personen einen solchen Anspruch haben – ableiten will, bei der Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz für die Frage, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minderjährig“ im Sinne dieser Bestimmung ist, auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der Antragsteller – gegebenenfalls formlos – seinen Asylantrag eingereicht hat. 2. Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem Art. 23 Abs. 2 und Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Familienangehöriger“ keine tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens zwischen dem Elternteil der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und seinem Kind verlangt. 3. Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem Art. 23 Abs. 2 ist dahin auszulegen, dass die Rechte, über die die Familienangehörigen einer Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, aufgrund des ihrem Kind zustehenden subsidiären Schutzstatus verfügen, und insbesondere die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie genannten Leistungen nach Eintritt der Volljährigkeit der betreffenden Person für die Geltungsdauer des ihnen gemäß Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie erteilten Aufenthaltstitels fortbestehen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 9. September 2021.#FN u. a. gegen Übernahmekommission.#Vorabentscheidungsersuchen der Bundesverwaltungsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gesellschaftsrecht – Übernahmeangebote – Richtlinie 2004/25/EG – Art. 5 – Pflichtangebot – Art. 4 – Aufsichtsstelle – Rechts- bzw. bestandskräftige Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Abgabe eines Übernahmeangebots festgestellt wird – Bindungswirkung dieser Entscheidung in einem späteren, von derselben Behörde eingeleiteten Verwaltungsstrafverfahren – Unionsrechtlicher Effektivitätsgrundsatz – Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts – Verteidigungsrechte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Aussageverweigerungsrecht – Unschuldsvermutung – Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht.#Rechtssache C-546/18.
62018CJ0546
ECLI:EU:C:2021:711
2021-09-09T00:00:00
Bobek, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62018CJ0546 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 9. September 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gesellschaftsrecht – Übernahmeangebote – Richtlinie 2004/25/EG – Art. 5 – Pflichtangebot – Art. 4 – Aufsichtsstelle – Rechts- bzw. bestandskräftige Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Abgabe eines Übernahmeangebots festgestellt wird – Bindungswirkung dieser Entscheidung in einem späteren, von derselben Behörde eingeleiteten Verwaltungsstrafverfahren – Unionsrechtlicher Effektivitätsgrundsatz – Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts – Verteidigungsrechte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Aussageverweigerungsrecht – Unschuldsvermutung – Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht“ In der Rechtssache C‑546/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Österreich) mit Entscheidung vom 16. August 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 23. August 2018, in dem Verfahren FN, GM, Adler Real Estate AG, HL, Petrus Advisers LLP gegen Übernahmekommission erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra (Berichterstatter), D. Šváby und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von GM, vertreten durch Rechtsanwälte M. Gall und W. Eigner, – der Adler Real Estate AG, vertreten durch Rechtsanwalt S. Hödl, – von HL, vertreten durch Rechtsanwalt C. Diregger, – der Übernahmekommission, vertreten durch M. Winner als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, H. Støvlbæk und H. Krämer als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. März 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 4 und 17 der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote (ABl. 2004, L 142, S. 12) in der durch die Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 (ABl. 2014, L 173, S. 190) geänderten Fassung im Licht des Effektivitätsgrundsatzes sowie die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FN, GM, der Adler Real Estate AG (im Folgenden: Adler), HL und Petrus Advisers LLP (im Folgenden: Petrus) auf der einen Seite und der Übernahmekommission (Österreich) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit der Sanktionen, die gegen FN, GM und HL wegen Verletzung der Verpflichtung zur Abgabe eines Übernahmeangebots verhängt wurden. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Die Erwägungsgründe 5, 7 und 8 der Richtlinie 2004/25 lauten: „(5) Jeder Mitgliedstaat sollte eine oder mehrere Stellen bestimmen, die die in dieser Richtlinie geregelten Aspekte von Übernahmeangeboten überwachen und sicherstellen, dass die Parteien des Angebots den gemäß dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften nachkommen. Alle diese Stellen sollten zusammenarbeiten. … (7) Stellen der freiwilligen Selbstkontrolle sollten die Aufsicht führen können. (8) Im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des … [R]echts [der Europäischen Union] und insbesondere dem Anspruch auf rechtliches Gehör sollten die Entscheidungen einer Aufsichtsstelle gegebenenfalls von einem unabhängigen Gericht überprüft werden können. Die Entscheidung darüber, ob Rechte vorzusehen sind, die in Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren gegen eine Aufsichtsstelle oder zwischen Parteien des Angebots geltend gemacht werden können, sollte jedoch den Mitgliedstaaten überlassen werden.“ 4 Art. 4 („Aufsichtsstelle und anwendbares Recht“) Abs. 1, 5 und 6 dieser Richtlinie sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten benennen eine Stelle oder mehrere Stellen, die für die Beaufsichtigung des Angebotsvorgangs zuständig sind, soweit er durch gemäß dieser Richtlinie erlassene oder eingeführte Vorschriften geregelt wird. Als Aufsichtsstelle muss entweder eine Behörde benannt werden oder aber eine Vereinigung oder eine private Einrichtung, die nach den nationalen Rechtsvorschriften oder von den Behörden, die dazu nach den nationalen Rechtsvorschriften ausdrücklich befugt sind, anerkannt ist. Die Mitgliedstaaten teilen der [Europäischen] Kommission die von ihnen benannten Aufsichtsstellen und gegebenenfalls jede besondere Aufgabenverteilung mit. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Aufsichtsstellen ihre Aufgaben unparteiisch und unabhängig von allen Parteien des Angebots erfüllen. … (5)   Die Aufsichtsstellen verfügen über alle zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Befugnisse; im Rahmen ihrer Aufgaben haben sie auch dafür Sorge zu tragen, dass die Parteien des Angebots die gemäß dieser Richtlinie erlassenen oder eingeführten Vorschriften einhalten. … (6)   Diese Richtlinie berührt weder die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Gerichte oder Behörden zu benennen, die für die Streitbeilegung und für Entscheidungen im Fall von Unregelmäßigkeiten im Verlauf des Angebotsverfahrens zuständig sind, noch die Befugnis der Mitgliedstaaten festzulegen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Parteien des Angebots Rechte im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren geltend machen können. Die Richtlinie berührt insbesondere nicht die etwaige Befugnis der Gerichte eines Mitgliedstaats, die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens abzulehnen sowie darüber zu entscheiden, ob durch ein solches Verfahren der Ausgang des Angebots beeinflusst wird. Diese Richtlinie berührt nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Rechtslage in Bezug auf die Haftung von Aufsichtsstellen oder im Hinblick auf Rechtsstreitigkeiten zwischen den Parteien des Angebots zu bestimmen.“ 5 Art. 5 („Schutz der Minderheitsaktionäre, Pflichtangebot und angemessener Preis“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt: „Hält eine natürliche oder juristische Person infolge ihres alleinigen Erwerbs oder des Erwerbs durch gemeinsam mit ihr handelnde Personen Wertpapiere einer Gesellschaft im Sinne des Artikels 1 Absatz 1, die ihr bei Hinzuzählung zu etwaigen von ihr bereits mittels solcher Wertpapiere gehaltenen Beteiligungen und den Beteiligungen der gemeinsam mit ihr handelnden Personen unmittelbar oder mittelbar einen bestimmten, die Kontrolle begründenden Anteil an den Stimmrechten dieser Gesellschaft verschaffen, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Person zum Schutz der Minderheitsaktionäre dieser Gesellschaft zur Abgabe eines Angebots verpflichtet ist. …“ 6 In Art. 17 („Sanktionen“) dieser Richtlinie heißt es: „Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um deren Durchsetzung zu gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. …“ Österreichisches Recht ÜbG 7 Die Richtlinie 2004/25 wurde durch das Bundesgesetz betreffend Übernahmeangebote (BGBl. I Nr. 127/1998, im Folgenden: ÜbG) in österreichisches Recht umgesetzt. 8 Der Begriff „gemeinsam vorgehende Rechtsträger“ wird in § 1 Z 6 ÜbG definiert als „natürliche oder juristische Personen, die mit dem Bieter auf der Grundlage einer Absprache zusammenarbeiten, um die Kontrolle über die Zielgesellschaft zu erlangen oder auszuüben, insbesondere durch Koordination der Stimmrechte, oder die aufgrund einer Absprache mit der Zielgesellschaft zusammenarbeiten, um den Erfolg des Übernahmeangebots zu verhindern. Hält ein Rechtsträger eine unmittelbare oder mittelbare kontrollierende Beteiligung (§ 22 Abs. 2 und 3) an einem oder mehreren anderen Rechtsträgern, so wird vermutet, dass alle diese Rechtsträger gemeinsam vorgehen; …“ 9 § 22 Abs. 1 ÜbG lautet: „Wer eine unmittelbare oder mittelbare kontrollierende Beteiligung an einer Zielgesellschaft erlangt, muss dies der Übernahmekommission unverzüglich mitteilen und innerhalb von 20 Börsetagen ab Kontrollerlangung ein den Bestimmungen dieses Bundesgesetzes entsprechendes Angebot für alle Beteiligungspapiere der Zielgesellschaft anzeigen.“ 10 Gemäß § 22a Z 1 ÜbG besteht die „Angebotspflicht nach § 22 Abs. 1 … auch, wenn … eine Gruppe gemeinsam vorgehender Rechtsträger begründet wird, die zusammen eine kontrollierende Beteiligung erlangen“. 11 § 23 („Hinzurechnung von Beteiligungen und Erstreckung der Bieterpflichten“) Abs. 1 ÜbG sieht vor, dass „[g]emeinsam vorgehenden Rechtsträgern“ im Sinne von § 1 Z 6 bei der Anwendung der §§ 22 bis 22b die von ihnen gehaltenen Beteiligungen wechselseitig zuzurechnen sind. 12 Nach § 28 Abs. 3 und 4 ÜbG ist die Übernahmekommission eine Kollegialbehörde, deren Mitglieder für jeweils fünf Jahre bestellt werden, wobei eine Wiederbestellung zulässig ist, und die in Ausübung ihres Amtes unabsetzbar und an keine Weisungen gebunden sind. § 28 Abs. 5 und 6 ÜbG regeln die Unvereinbarkeiten bei der Bestellung der Mitglieder der Übernahmekommission bzw. die vorzeitige Beendigung ihrer Funktion. 13 Nach § 30 Abs. 2 ÜbG ist das Verfahren vor der Übernahmekommission nach dem Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz (im Folgenden: AVG) zu führen. 14 § 33 („Besondere Vorschriften über das Pflichtangebot, die Preisbildung und zivilrechtliche Sanktionen“) Abs. 1 Z 2 ÜbG sieht vor, dass die Übernahmekommission „von Amts wegen oder auf Antrag einer Partei mit Wirkung für und gegen den Bieter, die gemeinsam mit ihm vorgehenden Rechtsträger (§ 1 Z 6), die Zielgesellschaft und die Inhaber von Beteiligungspapieren der Zielgesellschaft feststellen [kann], ob … ein Pflichtangebot zu Unrecht nicht gestellt oder nicht angeordnet wurde oder eine gebotene Mitteilung unterlassen wurde (§§ 22 bis 25)“. 15 Nach § 30a und § 35 Abs. 3 ÜbG kann gegen Bescheide der Übernahmekommission in Feststellungsverfahren der Oberste Gerichtshof (Österreich) als Rekursgericht angerufen werden, während gegen Bescheide der Übernahmekommission in Verwaltungsstrafsachen Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Österreich) erhoben werden kann. AVG 16 § 38 AVG lautet: „Sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, ist die Behörde berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. beim zuständigen Gericht bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 17 Mit Bescheid vom 22. November 2016 vertrat die Übernahmekommission, die gemäß Art. 4 der Richtlinie 2004/25 als die für die Beaufsichtigung des Angebotsvorgangs zuständige Stelle benannt worden ist, die Auffassung, dass Adler, Petrus und GM sowie zwei weitere Gesellschaften (Mountain Peak Trading Limited LLP und Westgrund AG) im Herbst 2015 im Sinne von § 1 Z 6 ÜbG „gemeinsam vorgegangen“ seien, um Conwert Immobilien SE (im Folgenden: Conwert) zum Abschluss einer Transaktion zu bewegen. Diese hätte zu einer tiefgreifenden Änderung der Unternehmensstruktur und folglich zu einem erheblichen Ausbau der Beteiligung ihres größten Aktionärs geführt. Nach Ansicht der Übernahmekommission waren die mit den Beteiligungen von Adler, Petrus und GM an Conwert verbundenen Stimmrechte ihnen nach § 23 ÜbG erstmals am 29. September 2015 – dem Zeitpunkt, zu dem die Absprache zur Durchführung der Transaktion teilweise umgesetzt worden sei – wechselseitig zuzurechnen. Zu diesem Zeitpunkt hätten diese Parteien 31,36 % der Stimmrechte an Conwert gehalten, was ihnen eine kontrollierende Beteiligung im Sinne von § 22 ÜbG verschafft habe. Die Übernahmekommission vertrat die Ansicht, dass ein solcher Erwerb die betreffenden Parteien dazu hätte veranlassen müssen, innerhalb von 20 Börsentagen ein Übernahmeangebot abzugeben. 18 Mit Beschluss vom 1. März 2017 wies der Oberste Gerichtshof den gegen den Bescheid vom 22. November 2016 erhobenen Rekurs ab, womit dieser Bescheid rechtskräftig wurde. 19 In der Folge leitete die Übernahmekommission Verwaltungsstrafverfahren gegen GM, HL (als Vorstandsmitglied von Adler im Tatzeitraum) und FN (als Direktor von Petrus im Tatzeitraum) ein. 20 Mit Erkenntnissen vom 29. Januar 2018 verhängte die Übernahmekommission Geldstrafen gegen GM, HL und FN und verpflichtete Adler und Petrus zur akzessorischen Haftung für die HL und FN auferlegten Geldstrafen. Diese Entscheidungen beruhen auf den Tatsachenfeststellungen im Bescheid vom 22. November 2016, insbesondere auf der Feststellung, dass die betreffenden Parteien aufgrund einer am 29. September 2015 getroffenen Absprache „gemeinsam vorgehende Rechtsträger“ im Sinne von § 1 Z 6 ÜbG gewesen seien. Indem sie es versäumt hätten, der Übernahmekommission innerhalb der vorgegebenen Frist ein Pflichtangebot anzuzeigen, hätten GM, HL und FN gegen § 22a Z 1 in Verbindung mit § 22 Abs. 1 ÜbG verstoßen. 21 Das Bundesverwaltungsgericht hält es für seine Entscheidung über die bei ihm anhängigen Beschwerden gegen die Straferkenntnisse der Übernahmekommission vom 29. Januar 2018 für erforderlich, seine Zweifel an der Vereinbarkeit der innerstaatlichen Verwaltungspraxis, auf die die Übernahmekommission ihre Erkenntnisse, mit denen Verwaltungsstrafen verhängt worden seien, gestützt habe, mit dem Unionsrecht auszuräumen. 22 Dieses Gericht weist darauf hin, dass nach österreichischem Recht, insbesondere nach § 38 AVG, ein Bescheid wie der vom 22. November 2016, mit dem ein Verstoß festgestellt worden sei, mit Eintritt der Rechtskraft nicht nur die Behörde, die ihn erlassen habe, sondern auch die anderen Verwaltungsbehörden und Gerichte, die in anderen Verfahren über dieselbe Sach- und Rechtslage zu entscheiden hätten, binde, sofern die betroffenen Parteien identisch seien. 23 In Bezug auf GM hält das vorlegende Gericht die Parteiidentität in dem dem Bescheid vom 22. November 2016 zugrunde liegenden Feststellungsverfahren und dem Verwaltungsstrafverfahren für gegeben. 24 In Bezug auf HL und FN hat das vorlegende Gericht jedoch Zweifel an der Identität der Parteien in diesen beiden Verfahren. HL und FN seien im Verfahren zur Feststellung des Verstoßes (im Folgenden auch: Feststellungsverfahren) nicht jeweils als „Partei“ in Erscheinung getreten, sondern hätten lediglich als Vertreter von Adler bzw. Petrus gehandelt. Die Rechtsstellung als „Partei“ habe sich für HL und FN (als natürliche Personen) lediglich im Verwaltungsstrafverfahren bestätigt. Dennoch habe die Übernahmekommission im Verwaltungsstrafverfahren dem Bescheid vom 22. November 2016 auch in Bezug auf HL und FN eine „erweiterte Bindungswirkung“ beigemessen. 25 Das vorlegende Gericht hält daher die Auffassung für möglich, dass der Bescheid vom 22. November 2016 angesichts seiner Rechtskraft Bindungswirkung für das spätere Verwaltungsstrafverfahren entfalte, und zwar sowohl dann, wenn die Parteien in beiden Verfahren identisch seien, als auch dann, wenn der natürlichen Person, gegen die das spätere Verwaltungsstrafverfahren eingeleitet worden sei, nicht die Stellung einer „Partei“ im Feststellungsverfahren zuerkannt worden sei, so dass sie sich nicht auf alle einer „Partei“ zustehenden Verfahrensrechte, einschließlich des Aussageverweigerungsrechts, habe berufen können, unbeschadet des Rechtswegs zum Obersten Gerichtshof, der es beiden Personengruppen ermögliche, eine Verletzung ihrer Verfahrensrechte im Feststellungsverfahren geltend zu machen. 26 Hierzu stellt das vorlegende Gericht klar, dass nach der nationalen Verfassungsrechtsprechung der Zugang zu einem unabhängigen Gericht, das über eine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht verfüge, im Fall der Übernahmekommission insofern sichergestellt sei, als diese eine unabhängige Behörde sei, die als Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten eingestuft werden könne. Folglich stehe die Beschränkung der Befugnis des Obersten Gerichtshofs hinsichtlich der Kontrolle des Feststellungsbescheids der Übernahmekommission auf Rechtsfragen im Einklang mit den Anforderungen von Art. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. 27 Da die Übernahmekommission jedoch sowohl im Feststellungsverfahren als auch im Verwaltungsstrafverfahren in Anwendung des Unionsrechts gehandelt habe, sei dieses Recht einschließlich der durch die Charta, insbesondere deren Art. 47, garantierten Grundrechte bei der Entscheidung über solche Rechtsstreitigkeiten zu berücksichtigen. 28 Für das vorlegende Gericht ist fraglich, ob eine innerstaatliche Praxis, nach der ein rechts- bzw. bestandskräftiger, ein Feststellungsverfahren abschließender Bescheid in einem späteren Verwaltungsstrafverfahren Bindungswirkung entfaltet, mit den unionsrechtlich garantierten Verteidigungsrechten vereinbar ist. Die Zweifel des vorlegenden Gerichts rühren daher, dass das von der Übernahmekommission geführte Feststellungsverfahren nicht strafrechtlicher Natur sei und folglich den betroffenen Parteien – selbst GM – nicht alle einem Strafverfahren eigene Garantien, darunter insbesondere die Unschuldsvermutung, zugutegekommen seien. Dem vorlegenden Gericht zufolge bestehen solche Zweifel erst recht in Bezug auf HL und FN, die an dem dem Verwaltungsstrafverfahren vorangegangenen Feststellungsverfahren nicht als Parteien beteiligt gewesen seien. 29 In diesem Zusammenhang fragt das vorlegende Gericht jedoch, ob der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz – der die Grundsätze der Bindungswirkung bestandskräftiger Verwaltungsentscheidungen und der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen umfasse, die zur Rechtssicherheit beitrügen – es dazu verpflichtet, die fraglichen Vorschriften auf Personen anzuwenden, die sich in der Lage von GM bzw. von HL und FN befinden. 30 Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Stehen die Art. 4 und 17 der Richtlinie 2004/25 – gelesen im Lichte des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes – einer Auslegung entgegen, nach der einer rechtskräftigen Entscheidung der Aufsichtsstelle gemäß Art. 4 der Richtlinie 2004/25, mit der ein Verstoß einer natürlichen Person gegen innerstaatliche Vorschriften, die in Umsetzung der Richtlinie 2004/25 ergangen sind, festgestellt wurde, im Rahmen eines von dieser Aufsichtsstelle anschließend geführten Verwaltungsstrafverfahrens gegen dieselbe Person keine Bindungswirkung zuerkannt wird, womit dieser Person neuerlich alle tatsächlichen und rechtlichen Einreden und Beweismittel zur Verfügung stehen, um die in der bereits rechtskräftigen Entscheidung festgestellte Rechtsverletzung zu bestreiten? 2. Stehen die Art. 4 und 17 der Richtlinie 2004/25 – gelesen im Lichte des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes – einer Auslegung entgegen, nach der einer rechtskräftigen Entscheidung der Aufsichtsstelle gemäß Art. 4 der Richtlinie 2004/25, mit der ein Verstoß einer juristischen Person gegen innerstaatliche Vorschriften, die in Umsetzung der Richtlinie 2004/25 ergangen sind, festgestellt wurde, im Rahmen eines von dieser Aufsichtsstelle anschließend geführten Verwaltungsstrafverfahrens gegen das vertretungsbefugte Organ dieser juristischen Person keine Bindungswirkung zuerkannt wird, womit dieser Person (dem Organ) alle tatsächlichen und rechtlichen Einreden und Beweismittel zur Verfügung stehen, um die in der bereits rechtskräftigen Entscheidung festgestellte Rechtsverletzung zu bestreiten? 3. Bei Verneinung der ersten Frage: Steht Art. 47 der Charta einer innerstaatlichen Praxis entgegen, nach der einer rechtskräftigen Entscheidung der Aufsichtsstelle gemäß Art. 4 der Richtlinie 2004/25, mit der ein Verstoß einer Person gegen innerstaatliche Vorschriften, die in Umsetzung der Richtlinie 2004/25 ergangen sind, festgestellt wurde, im Rahmen eines von dieser Aufsichtsstelle anschließend geführten Verwaltungsstrafverfahrens gegen dieselbe Person Bindungswirkung zukommt, so dass diese Person gehindert ist, die bereits rechtskräftig festgestellte Rechtsverletzung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu bestreiten? 4. Bei Verneinung der zweiten Frage: Steht Art. 47 der Charta einer innerstaatlichen Praxis entgegen, nach der einer rechtskräftigen Entscheidung der Aufsichtsstelle gemäß Art. 4 der Richtlinie 2004/25, mit der ein Verstoß einer juristischen Person gegen innerstaatliche Vorschriften, die in Umsetzung der Richtlinie 2004/25 ergangen sind, festgestellt wurde, im Rahmen eines von dieser Aufsichtsstelle anschließend geführten Verwaltungsstrafverfahrens gegen das vertretungsbefugte Organ dieser juristischen Person Bindungswirkung zuerkannt wird, so dass diese Person (das Organ) gehindert ist, die bereits rechtskräftig festgestellte Rechtsverletzung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu bestreiten? Zu den Vorlagefragen 31 Mit seinen vier Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 4 und 17 der Richtlinie 2004/25 im Licht der durch das Unionsrecht garantierten Verteidigungsrechte sowie der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der eine rechts- bzw. bestandskräftige Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieser Richtlinie festgestellt wurde, in einem späteren, wegen Verletzung dieser Bestimmungen geführten Verwaltungsstrafverfahren nicht nur hinsichtlich einer natürlichen Person Bindungswirkung entfaltet, die in beiden Verfahren Parteistellung hat, sondern auch hinsichtlich einer natürlichen Person, die im Feststellungsverfahren keine Parteistellung hatte, sondern nur als vertretungsbefugtes Organ einer juristischen Person auftrat, die in diesem Verfahren Parteistellung hatte. 32 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/25 im Licht ihres fünften Erwägungsgrundes verpflichtet sind, eine Stelle oder mehrere Stellen zu benennen, die für die Beaufsichtigung des Angebotsvorgangs zuständig sind, soweit er durch gemäß dieser Richtlinie erlassene oder eingeführte Vorschriften geregelt wird, und die in der Lage sind, ihre Aufgaben unparteiisch und unabhängig von allen Parteien des Angebots zu erfüllen. Aus dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie geht hervor, dass Stellen der freiwilligen Selbstkontrolle die Aufsicht führen können sollten. Außerdem verfügen die Aufsichtsstellen gemäß Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Richtlinie über alle zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Befugnisse. 33 Nach Art. 4 Abs. 6 der Richtlinie 2004/25 sind die Mitgliedstaaten insbesondere befugt, die Gerichte oder Behörden zu benennen, die für die Streitbeilegung und für Entscheidungen im Fall von Unregelmäßigkeiten im Verlauf des Angebotsverfahrens zuständig sind, sowie festzulegen, ob und unter welchen Voraussetzungen die Parteien des Angebots Rechte im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren geltend machen können. Diese Bestimmung ist im Licht des achten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2004/25 zu lesen, nach dem insbesondere im Einklang mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör die Entscheidungen einer Aufsichtsstelle gegebenenfalls von einem unabhängigen Gericht überprüft werden können sollten. 34 Nach Art. 17 der Richtlinie 2004/25 legen die Mitgliedstaaten die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um deren Durchsetzung zu gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. 35 Die Richtlinie 2004/25 enthält jedoch weder Vorschriften über die Struktur oder den Ablauf der Verfahren, die von den zuständigen Behörden im Fall von Verstößen gegen Vorschriften über Pflichtübernahmeangebote geführt werden, noch Vorschriften, die die Wirkungen regeln, die die gemäß dieser Richtlinie erlassenen rechts- bzw. bestandskräftigen Verwaltungsentscheidungen in späteren Verfahren entfalten. 36 Nach ständiger Rechtsprechung ist es dabei mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der Rechtsbehelfe, die zum Schutz der Rechte der Rechtsunterworfenen bestimmt sind, festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 10. März 2021, Konsul Rzeczypospolitej Polskiej w N., C‑949/19, EU:C:2021:186, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 37 Vorbehaltlich dieser beiden Grundsätze steht die Richtlinie 2004/25 als solche nicht dem entgegen, dass die Mitgliedstaaten ein Verwaltungsverfahren einrichten, mit dem die ordnungsgemäße Anwendung der materiell-rechtlichen Vorschriften dieser Richtlinie über Übernahmeangebote gewährleistet werden soll und das sich in zwei verschiedene Phasen gliedert, wobei die erste zu einer Verwaltungsentscheidung führt, mit der ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Abgabe eines Übernahmeangebots objektiv festgestellt werden soll, und die zweite zur Feststellung einer individuellen Verantwortlichkeit und zur Verhängung einer Verwaltungsstrafe wegen des begangenen Verstoßes führt. 38 Im Übrigen steht die Richtlinie einer Praxis der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, die rechts- bzw. bestandskräftigen Verwaltungsentscheidungen in späteren Verfahren Bindungswirkung verleiht, grundsätzlich nicht entgegen. Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass die Anerkennung der Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten ist, zur Rechtssicherheit beiträgt, die ein tragender Grundsatz des Unionsrechts ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz, C‑453/00, EU:C:2004:17, Rn. 24, sowie vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 45). 39 Außerdem kann, wie der Generalanwalt in Nr. 83 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die Anerkennung der Bindungswirkung einer rechts- bzw. bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung in späteren damit zusammenhängenden Verfahren dazu beitragen, die Effizienz der von den zuständigen Behörden geführten Verwaltungsverfahren, mit denen die Nichtbeachtung der unionsrechtlichen Vorschriften über Pflichtübernahmeangebote festgestellt und geahndet werden soll, und damit die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2004/25 zu gewährleisten. 40 Es muss jedoch sichergestellt werden, dass die den betroffenen Parteien durch das Unionsrecht, insbesondere durch die Charta, garantierten Rechte in den beiden in Rn. 37 des vorliegenden Urteils genannten Verfahrensphasen beachtet werden. Jedes innerstaatliche Verfahren, das im Rahmen der Richtlinie 2004/25 geführt wird, muss nämlich mit diesen Rechten vereinbar sein (vgl. entsprechend Urteile vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 66, und vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 47). 41 Der Anwendungsbereich der Charta ist, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union. Diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17 und 19, sowie vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78). 42 Dies ist bei einem Verfahren der Fall, das wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende nach den Bestimmungen des nationalen Rechts zur Umsetzung der Richtlinie 2004/25 geführt wird. 43 Zu den unionsrechtlich garantierten Rechten gehört erstens die Wahrung der Verteidigungsrechte, die nach ständiger Rechtsprechung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, zu dem das Recht auf Anhörung gehört und der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen. Nach diesem Grundsatz müssen bei Entscheidungen, die die Interessen ihrer Adressaten spürbar beeinträchtigen, diese Adressaten in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung sich zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen. Diese Verpflichtung besteht für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Maßnahmen treffen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbaren Unionsvorschriften ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Zweitens gehört zu den Garantien, die sich aus Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 der Charta ergeben, das Aussageverweigerungsrecht einer „angeklagten“ natürlichen Person im Sinne des zweitgenannten Artikels. Diese Bestimmungen sind in Verfahren anwendbar, die zur Verhängung von Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur führen können. Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur sind drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung des Verstoßes im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art des Verstoßes und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Februar 2021, Consob, C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 42). 45 Nach dieser Rechtsprechung gehört das Aussageverweigerungsrecht, das eine allgemein anerkannte Regel des Völkerrechts darstellt, zum Kern des Begriffs des fairen Verfahrens. Dieses Recht kann nicht auf Eingeständnisse von Fehlverhalten oder auf Bemerkungen, die unmittelbar die befragte Person belasten, beschränkt werden, sondern erstreckt sich auch auf Informationen über Tatsachenfragen, die später zur Untermauerung der Anklage verwendet werden und sich damit auf die Verurteilung dieser Person oder die gegen sie verhängte Sanktion auswirken können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Februar 2021, Consob, C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 38 bis 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Drittens ist der in Art. 48 der Charta niedergelegte Grundsatz der Unschuldsvermutung zu erwähnen. Dieser Grundsatz ist anwendbar, wenn es darum geht, die objektiven Tatbestandsmerkmale eines unionsrechtlich geregelten Verstoßes zu bestimmen, der zur Verhängung von Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck, C‑45/08, EU:C:2009:806, Rn. 42 und 44). 47 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kennt zwar jede Rechtsordnung Vermutungen tatsächlicher oder rechtlicher Art, jedoch verpflichtet Art. 48 der Charta die Mitgliedstaaten dazu, auf dem Gebiet des Strafrechts eine bestimmte Schwelle nicht zu überschreiten. Genauer gesagt verpflichtet der in dieser Bestimmung verankerte Grundsatz der Unschuldsvermutung die Mitgliedstaaten dazu, die in Strafgesetzen enthaltenen Vermutungen tatsächlicher oder rechtlicher Art angemessen einzugrenzen, wobei das Gewicht der betroffenen Belange zu berücksichtigen ist und die Verteidigungsrechte zu wahren sind (Urteil vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck, C‑45/08, EU:C:2009:806, Rn. 43). 48 Viertens sieht Art. 47 Abs. 1 der Charta, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf normiert, vor, dass jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen solchen Rechtsbehelf einzulegen. Nach Art. 47 Abs. 2 der Charta hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht in einem fairen Verfahren verhandelt wird. 49 Nach ständiger Rechtsprechung setzen die Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Gerichts voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Das Erfordernis der Unabhängigkeit, die dem Auftrag des Richters innewohnt, bedeutet vor allem, dass die betreffende Stelle gegenüber der Behörde, die die mit einem Rechtsbehelf angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat (Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 49, und vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 62), und umfasst zwei Aspekte. 51 Der erste Aspekt verlangt, dass eine solche Stelle vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteilens ihrer Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Rechtsstreite gefährden könnten (Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 51, und vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 125). 52 Der zweite Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 61). 53 Wenn eine in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallende Entscheidung von einer Behörde getroffen wurde, die diese Voraussetzungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht selbst erfüllt und daher nicht als Gericht im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Charta eingestuft werden kann, verlangt diese Bestimmung, dass die fragliche Entscheidung einer späteren Kontrolle durch ein Gericht unterliegen kann, das befugt sein muss, alle für den bei ihm anhängigen Rechtsstreit relevanten Sach- und Rechtsfragen zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 2012, Otis u. a., C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 46, 47 und 49, sowie vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 55). 54 Im Licht dieser Erwägungen ist zu beurteilen, ob diese unionsrechtlich garantierten Rechte es ausschließen, dass in einem wegen eines Verstoßes gegen die Richtlinie 2004/25 geführten Verwaltungsstrafverfahren einer in einem früheren Verfahren getroffenen rechts- bzw. bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung, mit der dieser Verstoß festgestellt geworden ist, eine Bindungswirkung zuerkannt wird. Bei dieser Beurteilung ist zwischen den beiden oben in Rn. 31 genannten Fällen zu unterscheiden, nämlich dem Fall, dass das Verwaltungsstrafverfahren Personen betrifft, die bereits Partei des Feststellungsverfahrens waren, das zum Erlass dieser Entscheidung geführt hat, und dem Fall, dass das Verwaltungsstrafverfahren natürliche Personen betrifft, die nicht Partei des Feststellungsverfahrens waren, sondern nur als vertretungsbefugtes Organ einer juristischen Person, die Partei dieses Verfahrens war, gehandelt haben. 55 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach den Angaben in der Vorlageentscheidung und den Antworten der Parteien des Ausgangsverfahrens auf eine Frage des Gerichtshofs die im österreichischen Recht vorgesehenen Verwaltungsgeldstrafen gegen Personen, die gegen die Bestimmungen des ÜbG zu Übernahmeangeboten verstoßen haben, von 5000 bis 50000 Euro reichen und im Fall der Uneinbringlichkeit zu einer Ersatzfreiheitsstrafe führen können. Diese Strafen sind auf den ersten Blick im Sinne der oben in Rn. 44 angeführten Rechtsprechung strafrechtlicher Natur. Vorbehaltlich einer endgültigen Beurteilung ihrer Natur durch das vorlegende Gericht sind somit das Aussageverweigerungsrecht und die Unschuldsvermutung, die in Art. 47 Abs. 2 bzw. Art. 48 der Charta garantiert werden, im Ausgangsverfahren anwendbar. 56 Was den ersten oben in Rn. 54 genannten Fall betrifft, steht es den Mitgliedstaaten zur Sicherstellung der Effizienz der von den zuständigen Behörden geführten Verwaltungsverfahren, mit denen die Nichtbeachtung der unionsrechtlichen Vorschriften über Pflichtübernahmeangebote festgestellt und geahndet werden soll, frei, einer Entscheidung, mit der ein Verstoß bestimmter Personen festgestellt wurde, eine Bindungswirkung für ein späteres Verfahren zuzuerkennen, das darauf gerichtet ist, gegen die nämlichen Personen wegen dieses Verstoßes eine Verwaltungsstrafe zu verhängen. Diese Verfahren müssen jedoch so ausgestaltet sein, dass die genannten Personen in dem Verfahren, das zum Erlass einer solchen Feststellungsentscheidung geführt hat, ihre Grundrechte geltend machen konnten. 57 Dies bedeutet insbesondere, dass diese Personen in der Lage gewesen sein müssen, in diesem Verfahren Folgendes konkret und wirksam geltend zu machen: zum einen die Verteidigungsrechte, einschließlich des Rechts auf Anhörung, und zum anderen das Aussageverweigerungsrecht und die Unschuldsvermutung in Bezug auf die Tatsachen, auf die später der Tatvorwurf gestützt wird und die somit Auswirkungen auf die Verurteilung oder die verhängte Sanktion haben werden. 58 Anders verhält es sich mit dem zweiten oben in Rn. 54 genannten Fall, auch wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehende natürliche Person, die an dem Verfahren, das zum Erlass der rechts- bzw. bestandskräftigen Feststellungsentscheidung geführt hat, nicht als Partei beteiligt war, an diesem Verfahren als vertretungsbefugtes Organ einer juristischen Person, gegen die sich dieses Verfahren richtete, teilnehmen konnte. 59 Die Verteidigungsrechte haben nämlich – wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – subjektiven Charakter, so dass die betroffenen Parteien selbst in der Lage sein müssen, sie wirksam auszuüben, unabhängig von der Art des Verfahrens, dem sie unterliegen. Dies gilt erst recht, wenn im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens, das zur persönlichen Haftung der Leiter oder der Organe einer Gesellschaft wegen eines dieser Gesellschaft zuzurechnenden Verstoßes gegen die Vorschriften über Übernahmeangebote und zur Verhängung strafrechtlicher Sanktionen gegen diese Leiter oder Organe führen kann, nicht ausgeschlossen werden kann, dass deren persönliche Interessen und die Interessen der Gesellschaft voneinander abweichen. 60 Daraus folgt, dass die Verwaltungsbehörde im Rahmen eines gegen eine natürliche Person gerichteten Verwaltungsstrafverfahrens die Bindungswirkung außer Acht lassen muss, die mit Beurteilungen verbunden ist, die in einer rechts- bzw. bestandskräftigen Entscheidung enthalten sind, mit der der dieser Person zur Last gelegte Verstoß festgestellt wird, ohne dass diese Person diese Beurteilungen in Wahrnehmung ihrer eigenen Verteidigungsrechte persönlich hätte anfechten können. 61 Ebenso läuft es in Anbetracht der oben in Rn. 45 angeführten Rechtsprechung dem Aussageverweigerungsrecht zuwider, wenn eine natürliche Person, die persönlich für einen Verstoß, der mit einer Verwaltungsstrafe geahndet werden kann, im Rahmen eines späteren Verwaltungsstrafverfahrens zur Verantwortung gezogen werden kann, dieses Recht nicht in Bezug auf Tatsachen geltend machen konnte, auf die später der Tatvorwurf gestützt wird und die somit Auswirkungen auf die Verurteilung oder die verhängte Sanktion haben werden. 62 Darüber hinaus steht die Unschuldsvermutung dem entgegen, dass eine natürliche Person im Rahmen eines Verwaltungsstrafverfahrens für einen Verstoß zur Verantwortung gezogen wird, der durch eine Entscheidung festgestellt worden ist, die am Ende eines Verfahrens, in dem diese Person nicht als Partei die Verteidigungsrechte und das Recht auf ein faires Verfahren geltend machen konnte, erlassen wurde und die rechts- bzw. bestandskräftig geworden ist, ohne dass diese Person sie anfechten konnte, und die von ihr nicht mehr vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht angefochten werden kann. 63 Was schließlich den Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Charta betrifft, geht aus der Vorlageentscheidung zwar hervor, dass die Übernahmekommission von der nationalen Verfassungsrechtsprechung als unabhängige, unparteiische und durch Gesetz im Voraus errichtete Behörde eingestuft wird, die selbst die Merkmale eines Gerichts im Sinne dieser Bestimmung aufweist, das zur Entscheidung sowohl in Sach- als auch in Rechtsfragen befugt ist. 64 In Anbetracht der Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte und in den Antworten auf eine Frage des Gerichtshofs – und vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Beurteilungen und Überprüfungen – ist jedoch nicht ersichtlich, dass die Übernahmekommission die oben in Rn. 52 genannten Garantien für die einem Gericht eigene Unparteilichkeit bietet. 65 Nach § 33 ÜbG ist die Übernahmekommission nämlich zuständig für die Durchführung von Untersuchungen, die einen möglichen Verstoß gegen die Verpflichtung zur Abgabe eines Übernahmeangebots zum Gegenstand haben, für die Einleitung von Feststellungsverfahren und Verwaltungsstrafverfahren sowie in diesem Rahmen für die Entscheidung über das Vorliegen eines Verstoßes und die Verhängung von Sanktionen. Bei der Anwendung des ÜbG verfügt die Übernahmekommission über weitreichende Befugnisse zur Tätigkeit von Amts wegen, zu denen auch die Befugnis gehört, die für die zu erlassende Entscheidung maßgeblichen Tatsachen nachzuweisen und festzustellen und alle insoweit erforderlichen Beweiserhebungen vorzunehmen. 66 Außerdem ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte nicht, dass innerhalb der Übernahmekommission eine funktionale Trennung zwischen den für Ermittlung und Tatvorwurf zuständigen Dienststellen einerseits und den mit der Entscheidung über das Vorliegen eines Verstoßes und der Verhängung von Sanktionen betrauten Dienststellen andererseits besteht. Im Übrigen hat die Übernahmekommission, wenn gegen die Entscheidungen, mit denen sie einen Verstoß festgestellt oder eine Sanktion verhängt hat, ein Rechtsbehelf erhoben wird, im Verfahren vor dem mit einem solchen Rechtsbehelf befassten nationalen Gericht Beklagteneigenschaft. 67 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 68 und 69 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, lassen diese Gesichtspunkte vorbehaltlich der insoweit dem vorlegenden Gericht zukommenden endgültigen Beurteilungen nicht den Schluss zu, dass die Übernahmekommission als ein unparteiischer Dritter handelt, der zwischen dem Beschuldigten auf der einen Seite und der für die Überwachung der Einhaltung der Pflichtangebotsregeln zuständigen Behörde auf der anderen Seite steht, und dass die Übernahmekommission damit die Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Charta erfüllt. 68 Folglich sollten die Entscheidungen der Übernahmekommission, um den Anforderungen der oben in Rn. 53 angeführten Rechtsprechung zu genügen, von einem nationalen Gericht überprüft werden können, das zu diesem Zweck zur Prüfung aller relevanten Sach- und Rechtsfragen befugt ist. 69 Insoweit ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass gegen eine Entscheidung, die die Übernahmekommission am Ende des Verfahrens zur Feststellung eines Verstoßes trifft, Rekurs an den Obersten Gerichtshof (Österreich) erhoben werden kann, in diesem Fall aber die von ihm vorgenommene Überprüfung auf Rechtsfragen beschränkt ist. Somit entfaltet eine solche Entscheidung, sobald sie rechtskräftig geworden ist, in allen späteren Verwaltungs- und Gerichtsverfahren im Fall der Identität der Parteien bzw. gegenüber jeder Person, die am vorangegangenen Verwaltungsverfahren als Vertreterin einer Partei teilgenommen hat, Bindungswirkung – sofern die Tatsachen- und die Rechtslage identisch sind –, ohne dass diese Entscheidung zuvor vor einem Gericht angefochten werden konnte, das zur Entscheidung sowohl in Sach- als auch in Rechtsfragen befugt war. 70 Ist die Befugnis des nationalen Gerichts, das mit der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen einer Verwaltungsbehörde zu Verstößen gegen die Vorschriften über Pflichtübernahmeangebote betraut ist, auf die Beurteilung von Rechtsfragen beschränkt, genügt dies indessen nicht den oben in Rn. 53 angeführten Anforderungen von Art. 47 Abs. 2 der Charta. Wenn daher die rechtskräftig gewordene Entscheidung, mit der ein Verstoß festgestellt wird, nicht der späteren Überprüfung durch ein zur Entscheidung in Rechts- und in Sachfragen befugtes Gericht unterzogen werden konnte, sollte die Verwaltungsbehörde, um den sich aus dieser Bestimmung der Charta ergebenden Anforderungen Rechnung zu tragen, im Rahmen eines späteren Verwaltungsstrafverfahrens eine Bindungswirkung der in dieser Entscheidung enthaltenen Beurteilungen außer Acht lassen. 71 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 4 und 17 der Richtlinie 2004/25 im Licht der durch das Unionsrecht garantierten Verteidigungsrechte, insbesondere des Rechts auf Anhörung, sowie der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der eine rechts- bzw. bestandskräftige Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen diese Richtlinie festgestellt wurde, in einem späteren wegen dieses Verstoßes geführten Verwaltungsstrafverfahren Bindungswirkung entfaltet, soweit die Parteien dieses Verfahrens im vorangegangenen Verfahren zur Feststellung dieses Verstoßes die Verteidigungsrechte, insbesondere das Recht auf Anhörung, nicht uneingeschränkt wahrnehmen konnten sowie das Aussageverweigerungsrecht und die Unschuldsvermutung nicht in Bezug auf Tatsachen geltend machen bzw. nutzen konnten, auf die später der Tatvorwurf gestützt wird, oder soweit ihnen gegen eine solche Entscheidung kein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem zur Entscheidung sowohl in Sach- als auch in Rechtsfragen befugten Gericht gewährt wird. Kosten 72 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: Die Art. 4 und 17 der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote in der durch die Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 geänderten Fassung sind im Licht der durch das Unionsrecht garantierten Verteidigungsrechte, insbesondere des Rechts auf Anhörung, sowie der Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der eine rechts- bzw. bestandskräftige Entscheidung, mit der ein Verstoß gegen diese Richtlinie festgestellt wurde, in einem späteren wegen dieses Verstoßes geführten Verwaltungsstrafverfahren Bindungswirkung entfaltet, soweit die Parteien dieses Verfahrens im vorangegangenen Verfahren zur Feststellung dieses Verstoßes die Verteidigungsrechte, insbesondere das Recht auf Anhörung, nicht uneingeschränkt wahrnehmen konnten sowie das Aussageverweigerungsrecht und die Unschuldsvermutung nicht in Bezug auf Tatsachen geltend machen bzw. nutzen konnten, auf die später der Tatvorwurf gestützt wird, oder soweit ihnen gegen eine solche Entscheidung kein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem sowohl in Sach- als auch in Rechtsfragen zuständigen Gericht gewährt wird. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 2. September 2021.#Europäische Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkt – Richtlinie 2009/72/EG – Art. 2 Nr. 21 – Art. 19 Abs. 3, 5 und 8 – Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b – Richtlinie 2009/73/EG – Art. 2 Nr. 20 – Art. 19 Abs. 3, 5 und 8 – Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b – Begriff ‚vertikal integriertes Unternehmen‘ – Wirksame Entflechtung des Netzbetriebs von der Erzeugung bzw. Gewinnung von Elektrizität und Erdgas sowie von der Versorgung damit – Unabhängiger Übertragungsnetzbetreiber bzw. Fernleitungsnetzbetreiber – Unabhängigkeit des Personals und der Unternehmensleitung dieses Betreibers – Karenzzeiten – Beteiligungen am Kapital des vertikal integrierten Unternehmens – Nationale Regulierungsbehörden – Unabhängigkeit – Ausschließliche Zuständigkeiten – Art. 45 AEUV – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 15 – Recht, zu arbeiten und einen Beruf auszuüben – Art. 17 – Eigentumsrecht – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen – Demokratieprinzip.#Rechtssache C-718/18.
62018CJ0718
ECLI:EU:C:2021:662
2021-09-02T00:00:00
Pitruzzella, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62018CJ0718 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 2. September 2021 (*1) „Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkt – Richtlinie 2009/72/EG – Art. 2 Nr. 21 – Art. 19 Abs. 3, 5 und 8 – Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b – Richtlinie 2009/73/EG – Art. 2 Nr. 20 – Art. 19 Abs. 3, 5 und 8 – Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b – Begriff ‚vertikal integriertes Unternehmen‘ – Wirksame Entflechtung des Netzbetriebs von der Erzeugung bzw. Gewinnung von Elektrizität und Erdgas sowie von der Versorgung damit – Unabhängiger Übertragungsnetzbetreiber bzw. Fernleitungsnetzbetreiber – Unabhängigkeit des Personals und der Unternehmensleitung dieses Betreibers – Karenzzeiten – Beteiligungen am Kapital des vertikal integrierten Unternehmens – Nationale Regulierungsbehörden – Unabhängigkeit – Ausschließliche Zuständigkeiten – Art. 45 AEUV – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 15 – Recht, zu arbeiten und einen Beruf auszuüben – Art. 17 – Eigentumsrecht – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen – Demokratieprinzip“ In der Rechtssache C‑718/18 betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 16. November 2018, Europäische Kommission, vertreten durch M. Noll-Ehlers und O. Beynet als Bevollmächtigte, Klägerin, gegen Bundesrepublik Deutschland, zunächst vertreten durch J. Möller und T. Henze als Bevollmächtigte, dann durch J. Möller und S. Eisenberg als Bevollmächtigte, Beklagte, unterstützt durch: Königreich Schweden, zunächst vertreten durch C. Meyer-Seitz, A. Falk, H. Shev, J. Lundberg und H. Eklinder als Bevollmächtigte, dann durch C. Meyer-Seitz, H. Shev und H. Eklinder als Bevollmächtigte, Streithelfer, erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer sowie der Richter N. Piçarra (Berichterstatter), D. Šváby und S. Rodin, Generalanwalt: G. Pitruzzella, Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Oktober 2020, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Januar 2021 folgendes Urteil 1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch, dass sie – Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG (ABl. 2009, L 211, S. 55, berichtigt im ABl. 2018, L 72, S. 42) sowie Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. 2009, L 211, S. 94), – Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinie 2009/72 und der Richtlinie 2009/73, – Art. 19 Abs. 5 der Richtlinie 2009/72 und der Richtlinie 2009/73 sowie – Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/72 sowie Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/73 nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, gegen ihre Verpflichtungen aus diesen Richtlinien verstoßen hat. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2009/72 2 In den Erwägungsgründen 1, 4, 9, 11, 12, 16, 24, 25, 33, 34 und 36 der Richtlinie 2009/72 heißt es: „(1) Der Elektrizitätsbinnenmarkt, der seit 1999 in der [Europäischen Union] schrittweise geschaffen wird, soll allen privaten und gewerblichen Verbrauchern in der Europäischen Union eine echte Wahl ermöglichen, neue Geschäftschancen für die Unternehmen eröffnen sowie den grenzüberschreitenden Handel fördern und auf diese Weise Effizienzgewinne, wettbewerbsfähige Preise und höhere Dienstleistungsstandards bewirken und zu mehr Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit beitragen. … (4) Derzeit gibt es jedoch Hindernisse für den Verkauf von Strom in der [Union] zu gleichen Bedingungen und ohne Diskriminierung oder Benachteiligung. Insbesondere gibt es noch nicht in allen Mitgliedstaaten einen nichtdiskriminierenden Netzzugang und eine gleichermaßen wirksame Regulierungsaufsicht. … (9) Ohne eine wirksame Trennung des Netzbetriebs von der Erzeugung und Versorgung (‚wirksame Entflechtung‘) besteht zwangsläufig die Gefahr einer Diskriminierung nicht nur in der Ausübung des Netzgeschäfts, sondern auch in Bezug auf die Schaffung von Anreizen für vertikal integrierte Unternehmen, ausreichend in ihre Netze zu investieren. … (11) Nur durch Beseitigung der für vertikal integrierte Unternehmen bestehenden Anreize, Wettbewerber in Bezug auf den Netzzugang und auf Investitionen zu diskriminieren, kann eine tatsächliche Entflechtung gewährleistet werden. Eine eigentumsrechtliche Entflechtung, die darin besteht, dass der Netzeigentümer als Netzbetreiber benannt wird und unabhängig von Versorgungs- und Erzeugungsinteressen ist, ist zweifellos ein wirksamer und stabiler Weg, um den inhärenten Interessenkonflikt zu lösen und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. … Im Rahmen der eigentumsrechtlichen Entflechtung sollten die Mitgliedstaaten daher dazu verpflichtet werden, zu gewährleisten, dass nicht ein und dieselbe(n) Person(en) die Kontrolle über ein Erzeugungs- oder Versorgungsunternehmen ausüben und gleichzeitig die Kontrolle über oder Rechte an einem Übertragungsnetzbetreiber oder einem Übertragungsnetz ausüben kann (können). Umgekehrt sollte die Kontrolle über ein Übertragungsnetz oder einen Übertragungsnetzbetreiber die Möglichkeit ausschließen, die Kontrolle über ein Erzeugungs- oder Versorgungsunternehmen oder Rechte an einem Erzeugungs- oder Versorgungsunternehmen auszuüben. Im Rahmen dieser Beschränkungen sollte ein Erzeugungs- oder Versorgungsunternehmen einen Minderheitsanteil an einem Übertragungsnetzbetreiber oder Übertragungsnetz halten dürfen. (12) Jedes Entflechtungssystem sollte die Interessenkonflikte zwischen Erzeugern, Lieferanten und Fernleitungs- bzw. Übertragungsnetzbetreibern wirksam lösen, um Anreize für die notwendigen Investitionen zu schaffen und den Zugang von Markteinsteigern durch einen transparenten und wirksamen Rechtsrahmen zu gewährleisten, und den nationalen Regulierungsbehörden keine zu schwerfälligen Regulierungsvorschriften auferlegen. … (16) Die Einrichtung eines Netzbetreibers oder eines Übertragungsnetzbetreibers, der unabhängig von Versorgungs- und Erzeugungsinteressen ist, sollte es vertikal integrierten Unternehmen ermöglichen, Eigentümer der Vermögenswerte des Netzes zu bleiben und gleichzeitig eine wirksame Trennung der Interessen sicherzustellen, sofern dieser unabhängige Netzbetreiber oder dieser unabhängige Übertragungsnetzbetreiber sämtliche Funktionen eines Netzbetreibers wahrnimmt und sofern eine detaillierte Regulierung und umfassende Regulierungskontrollmechanismen gewährleistet sind. … (24) Der Grundsatz der tatsächlichen Trennung der Netzaktivitäten von den Versorgungs- und Erzeugungsaktivitäten sollte in der gesamten [Union] sowohl für [Unions]unternehmen als auch für Nicht[unions]unternehmen gelten. Um sicherzustellen, dass die Netzaktivitäten und die Versorgungs- und Erzeugungsaktivitäten in der gesamten [Union] unabhängig voneinander bleiben, sollten die Regulierungsbehörden die Befugnis erhalten, Übertragungsnetzbetreibern, die die Entflechtungsvorschriften nicht erfüllen, eine Zertifizierung zu verweigern. … (25) Die Sicherheit der Energieversorgung ist ein Kernelement der öffentlichen Sicherheit und daher bereits von Natur aus direkt verbunden mit dem effizienten Funktionieren des Elektrizitätsbinnenmarktes und der Integration der isolierten Strommärkte der Mitgliedstaaten. Die Versorgung der Bürger der Union mit Elektrizität kann nur über Netze erfolgen. Funktionsfähige Strommärkte und im Besonderen Netze sowie andere mit der Stromversorgung verbundene Anlagen sind von wesentlicher Bedeutung für die öffentliche Sicherheit, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und das Wohl der Bürger der Union. Personen aus Drittländern sollte es daher nur dann gestattet sein, die Kontrolle über ein Übertragungsnetz oder einen Übertragungsnetzbetreiber auszuüben, wenn sie die innerhalb der [Union] geltenden Anforderungen einer tatsächlichen Trennung erfüllen. … … (33) Die Richtlinie 2003/54/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG (ABl. 2003, L 176, S. 37)] verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einrichtung von Regulierungsbehörden mit spezifischen Zuständigkeiten. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass die Effektivität der Regulierung vielfach aufgrund mangelnder Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden von der Regierung sowie unzureichender Befugnisse und Ermessensfreiheit eingeschränkt wird. Daher hat der Europäische Rat die Kommission auf seiner Tagung vom 8. und 9. März 2007 aufgefordert, Legislativvorschläge auszuarbeiten, die eine weitere Harmonisierung der Befugnisse und eine Stärkung der Unabhängigkeit der nationalen Regulierungsbehörden vorsehen. Diese nationalen Regulierungsbehörden sollten sowohl den Elektrizitäts- als auch den Gassektor abdecken können. (34) Damit der Elektrizitätsbinnenmarkt ordnungsgemäß funktionieren kann, müssen die Regulierungsbehörden Entscheidungen in allen relevanten Regulierungsangelegenheiten treffen können und völlig unabhängig von anderen öffentlichen oder privaten Interessen sein. Dies steht weder einer gerichtlichen Überprüfung noch einer parlamentarischen Kontrolle nach dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten entgegen. … … (36) Die nationalen Regulierungsbehörden sollten die Möglichkeit haben, die Tarife oder die Tarifberechnungsmethoden auf der Grundlage eines Vorschlags des Übertragungsnetzbetreibers oder des (der) Verteilernetzbetreiber(s) oder auf der Grundlage eines zwischen diesen Betreibern und den Netzbenutzern abgestimmten Vorschlags festzusetzen oder zu genehmigen. Dabei sollten die nationalen Regulierungsbehörden sicherstellen, dass die Tarife für die Übertragung und Verteilung nichtdiskriminierend und kostenorientiert sind und die langfristig durch dezentrale Elektrizitätserzeugung und Nachfragesteuerung vermiedenen Netzgrenzkosten berücksichtigen.“ 3 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie sieht in seinen Nrn. 21 und 35 vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … 21.   ‚vertikal integriertes Unternehmen‘ ein Elektrizitätsunternehmen oder eine Gruppe von Elektrizitätsunternehmen, in der ein und dieselbe(n) Person(en) berechtigt ist (sind), direkt oder indirekt Kontrolle auszuüben, wobei das betreffende Unternehmen bzw. die betreffende Gruppe von Unternehmen mindestens eine der Funktionen Übertragung oder Verteilung und mindestens eine der Funktionen Erzeugung von oder Versorgung mit Elektrizität wahrnimmt; … 35.   ‚Elektrizitätsunternehmen‘ eine natürliche oder juristische Person, die mindestens eine der Funktionen Erzeugung, Übertragung, Verteilung, Lieferung oder Kauf von Elektrizität wahrnimmt und die kommerzielle, technische und/oder wartungsbezogene Aufgaben im Zusammenhang mit diesen Funktionen erfüllt, mit Ausnahme der Endkunden.“ 4 Art. 9 („Entflechtung der Übertragungsnetze und der Übertragungsnetzbetreiber“) der Richtlinie sieht in den Abs. 1 und 8 vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass ab 3. März 2012 a) jedes Unternehmen, das Eigentümer eines Übertragungsnetzes ist, als Übertragungsnetzbetreiber agiert; b) ein und dieselbe(n) Person(en) weder berechtigt ist (sind), i) direkt oder indirekt die Kontrolle über ein Unternehmen auszuüben, das eine der Funktionen Erzeugung oder Versorgung wahrnimmt, und direkt oder indirekt die Kontrolle über einen Übertragungsnetzbetreiber oder ein Übertragungsnetz auszuüben oder Rechte an einem Übertragungsnetzbetreiber oder einem Übertragungsnetz auszuüben, noch ii) direkt oder indirekt die Kontrolle über einen Übertragungsnetzbetreiber oder ein Übertragungsnetz auszuüben und direkt oder indirekt die Kontrolle über ein Unternehmen auszuüben, das eine der Funktionen Erzeugung oder Versorgung wahrnimmt, oder Rechte an einem solchen Unternehmen auszuüben; c) nicht ein und dieselbe(n) Person(en) berechtigt ist (sind), Mitglieder des Aufsichtsrates, des Verwaltungsrates oder der zur gesetzlichen Vertretung berufenen Organe eines Übertragungsnetzbetreibers oder eines Übertragungsnetzes zu bestellen und direkt oder indirekt die Kontrolle über ein Unternehmen auszuüben, das eine der Funktionen Erzeugung oder Versorgung wahrnimmt, oder Rechte an einem solchen Unternehmen auszuüben, und d) nicht ein und dieselbe Person berechtigt ist, Mitglied des Aufsichtsrates, des Verwaltungsrates oder der zur gesetzlichen Vertretung berufenen Organe sowohl eines Unternehmens, das eine der Funktionen Erzeugung oder Versorgung wahrnimmt, als auch eines Übertragungsnetzbetreibers oder eines Übertragungsnetzes zu sein. … (8)   In den Fällen, in denen das Übertragungsnetz am 3. September 2009 einem vertikal integrierten Unternehmen gehört, kann ein Mitgliedstaat entscheiden, Absatz 1 nicht anzuwenden. In diesem Fall muss der betreffende Mitgliedstaat entweder a) einen unabhängigen Netzbetreiber gemäß Artikel 13 benennen oder b) die Bestimmungen des Kapitels V [(‚Unabhängiger Übertragungsnetzbetreiber …‘)] einhalten.“ 5 Art. 19 („Unabhängigkeit des Personals und der Unternehmensleitung des Übertragungsnetzbetreibers“) der Richtlinie bestimmt in den Abs. 3, 5 und 8: „(3)   Es dürfen in den letzten drei Jahren vor einer Ernennung von Führungskräften und/oder Mitglieder[n] der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers, die diesem Absatz unterliegen, bei dem vertikal integrierten Unternehmen, einem seiner Unternehmensteile oder bei anderen Mehrheitsanteilseignern als dem Übertragungsnetzbetreiber weder direkt noch indirekt berufliche Positionen bekleidet oder berufliche Aufgaben wahrgenommen noch Interessens- oder Geschäftsbeziehungen zu ihnen unterhalten werden. … (5)   Die Personen der Unternehmensleitung und/oder Mitglieder der Verwaltungsorgane und die Beschäftigten des Übertragungsnetzbetreibers dürfen weder direkt noch indirekt Beteiligungen an Unternehmensteilen des vertikal integrierten Unternehmens halten noch finanzielle Zuwendungen von diesen erhalten; ausgenommen hiervon sind Beteiligungen am und Zuwendungen vom Übertragungsnetzbetreiber. Ihre Vergütung darf nicht an die Tätigkeiten oder Betriebsergebnisse des vertikal integrierten Unternehmens, soweit sie nicht den Übertragungsnetzbetreiber betreffen, gebunden sein. … (8)   Absatz 3 gilt für die Mehrheit der Angehörigen der Unternehmensleitung und/oder Mitglieder der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers. Die Angehörigen der Unternehmensleitung und/oder Mitglieder der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers, für die Absatz 3 nicht gilt, dürfen in den letzten sechs Monaten vor ihrer Ernennung bei dem vertikal integrierten Unternehmen keine Führungstätigkeit oder andere einschlägige Tätigkeit ausgeübt haben. Unterabsatz 1 dieses Absatzes und Absätze 4 bis 7 finden Anwendung auf alle Personen, die der obersten Unternehmensleitung angehören, sowie auf die ihnen unmittelbar unterstellten Personen, die mit dem Betrieb, der Wartung oder der Entwicklung des Netzes befasst sind.“ 6 Art. 35 („Benennung und Unabhängigkeit der Regulierungsbehörden“) der Richtlinie 2009/72 bestimmt in den Abs. 4 und 5: „(4)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten die Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde und gewährleisten, dass diese ihre Befugnisse unparteiisch und transparent ausübt. Hierzu stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Regulierungsbehörde bei der Wahrnehmung der ihr durch diese Richtlinie und zugehörige Rechtsvorschriften übertragenen Regulierungsaufgaben a) rechtlich getrennt und funktional unabhängig von anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen ist, b) und sicherstellt, dass ihr Personal und ihr Management i) unabhängig von Marktinteressen handelt und ii) bei der Wahrnehmung der Regulierungsaufgaben keine direkten Weisungen von Regierungsstellen oder anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen einholt oder entgegennimmt. Eine etwaige enge Zusammenarbeit mit anderen zuständigen nationalen Behörden oder allgemeine politische Leitlinien der Regierung, die nicht mit den Regulierungsaufgaben und ‑befugnissen gemäß Artikel 37 im Zusammenhang stehen, bleiben hiervon unberührt. (5)   Zur Wahrung der Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde stellen die Mitgliedstaaten insbesondere sicher, a) dass die Regulierungsbehörde unabhängig von allen politischen Stellen selbständige Entscheidungen treffen kann und ihr jedes Jahr separate Haushaltsmittel zugewiesen werden, so dass sie den zugewiesenen Haushalt eigenverantwortlich ausführen kann und über eine für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben angemessene personelle und finanzielle Ressourcenausstattung verfügt; … …“ 7 Art. 37 („Aufgaben und Befugnisse der Regulierungsbehörde“) dieser Richtlinie sieht in seinen Abs. 1, 6, 8, 10 und 17 vor: „(1)   Die Regulierungsbehörde hat folgende Aufgaben: a) Sie ist dafür verantwortlich, anhand transparenter Kriterien die Fernleitungs- oder Verteilungstarife bzw. die entsprechenden Methoden festzulegen oder zu genehmigen; … (6)   Den Regulierungsbehörden obliegt es, zumindest die Methoden zur Berechnung oder Festlegung folgender Bedingungen mit ausreichendem Vorlauf vor deren Inkrafttreten festzulegen oder zu genehmigen: a) die Bedingungen für den Anschluss an und den Zugang zu den nationalen Netzen, einschließlich der Tarife für die Übertragung und die Verteilung oder ihrer Methoden. Diese Tarife oder Methoden sind so zu gestalten, dass die notwendigen Investitionen in die Netze so vorgenommen werden können, dass die Lebensfähigkeit der Netze gewährleistet ist[;] b) die Bedingungen für die Erbringung von Ausgleichsleistungen, die möglichst wirtschaftlich sind und den Netzbenutzern geeignete Anreize bieten, die Einspeisung und Abnahme von [Elektrizität] auszugleichen. Die Ausgleichsleistungen werden auf faire und nichtdiskriminierende Weise erbracht und auf objektive Kriterien gestützt; … … (8)   Bei der Festsetzung oder Genehmigung der Tarife oder Methoden und der Ausgleichsleistungen stellen die Regulierungsbehörden sicher, dass für die Übertragungs- und Verteilerbetreiber angemessene Anreize geschaffen werden, sowohl kurzfristig als auch langfristig die Effizienz zu steigern, die Marktintegration und die Versorgungssicherheit zu fördern und entsprechende Forschungsarbeiten zu unterstützen. … (10)   Die Regulierungsbehörden sind befugt, falls erforderlich von Betreibern von Übertragungsnetzen und Verteilernetzen zu verlangen, die in diesem Artikel genannten Vertragsbedingungen, einschließlich der Tarife oder Methoden, zu ändern, um sicherzustellen, dass sie angemessen sind und nichtdiskriminierend angewendet werden. Verzögert sich die Festlegung von Übertragungs- und Verteilungstarifen, sind die Regulierungsbehörden befugt, vorläufig geltende Übertragungs- und Verteilungstarife oder die entsprechenden Methoden festzulegen oder zu genehmigen und über geeignete Ausgleichsmaßnahmen zu entscheiden, falls die endgültigen Übertragungs- und Verteilungstarife oder Methoden von diesen vorläufigen Tarifen oder Methoden abweichen. … (17)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass auf nationaler Ebene geeignete Verfahren bestehen, die einer betroffene[n] Partei das Recht geben, gegen eine Entscheidung einer Regulierungsbehörde bei einer von den beteiligen Parteien und Regierungen unabhängigen Stelle Beschwerde einzulegen.“ 8 Die Richtlinie 2009/72 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2021 durch die Richtlinie (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 2012/27/EU (ABl. 2019, L 158, S. 125) aufgehoben. Sie bleibt jedoch in zeitlicher Hinsicht auf den vorliegenden Rechtsstreit anwendbar. Richtlinie 2009/73 9 Die Erwägungsgründe 1, 4, 6, 8, 9, 13, 21, 22, 29, 30 und 32 der Richtlinie 2009/73 entsprechen mutatis mutandis, in Bezug auf den Erdgassektor, den oben zitierten Erwägungsgründen der Richtlinie 2009/72. 10 Art. 2 Nrn. 1 und 20, Art. 9 Abs. 1 und 8, Art. 19 Abs. 3, 5 und 8, Art. 39 Abs. 4 und 5 sowie Art. 41 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 6 Buchst. a und b und Abs. 8, 10 und 17 der Richtlinie 2009/73 entsprechen mutatis mutandis, in Bezug auf den Erdgassektor, den oben zitierten Bestimmungen der Richtlinie 2009/72. Deutsches Recht 11 § 3 Nr. 38 des Energiewirtschaftsgesetzes vom 7. Juli 2005 (BGBl. I S. 1970 und 3621) in der durch Art. 2 Abs. 6 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2808, 2018 I S. 472) geänderten Fassung (im Folgenden: EnWG) definiert ein „vertikal integriertes Energieversorgungsunternehmen“ als „ein in der Europäischen Union im Elektrizitäts- oder Gasbereich tätiges Unternehmen oder eine Gruppe von Elektrizitäts- oder Gasunternehmen, die im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. L 24 vom 29.1.2004, S. 1) miteinander verbunden sind, wobei das betreffende Unternehmen oder die betreffende Gruppe in der Europäischen Union im Elektrizitätsbereich mindestens eine der Funktionen Übertragung oder Verteilung und mindestens eine der Funktionen Erzeugung oder Vertrieb von Elektrizität oder im Erdgasbereich mindestens eine der Funktionen Fernleitung, Verteilung, Betrieb einer [Flüssigerdgas (LNG)]-Anlage oder Speicherung und gleichzeitig eine der Funktionen Gewinnung oder Vertrieb von Erdgas wahrnimmt“. 12 § 10c („Unabhängigkeit des Personals und der Unternehmensleitung des Unabhängigen Transportnetzbetreibers“) EnWG bestimmt: „… (2)   Die Mehrheit der Angehörigen der Unternehmensleitung des Transportnetzbetreibers darf in den letzten drei Jahren vor einer Ernennung nicht bei einem Unternehmen des vertikal integrierten Unternehmens, das im Elektrizitätsbereich eine der Funktionen Erzeugung, Verteilung, Lieferung oder Kauf von Elektrizität und im Erdgasbereich eine der Funktionen Gewinnung, Verteilung, Lieferung, Kauf, Betrieb einer LNG-Anlage oder Speicherung von Erdgas wahrnimmt oder kommerzielle, technische oder wartungsbezogene Aufgaben im Zusammenhang mit diesen Funktionen erfüllt, oder einem Mehrheitsanteilseigner dieser Unternehmen angestellt gewesen sein oder Interessen- oder Geschäftsbeziehungen zu einem dieser Unternehmen unterhalten haben. Die verbleibenden Angehörigen der Unternehmensleitung des Unabhängigen Transportnetzbetreibers dürfen in den letzten sechs Monaten vor einer Ernennung keine Aufgaben der Unternehmensleitung oder mit der Aufgabe beim Unabhängigen Transportnetzbetreiber vergleichbaren Aufgabe bei einem Unternehmen des vertikal integrierten Unternehmens, das im Elektrizitätsbereich eine der Funktionen Erzeugung, Verteilung, Lieferung oder Kauf von Elektrizität und im Erdgasbereich eine der Funktionen Gewinnung, Verteilung, Lieferung, Kauf oder Speicherung von Erdgas wahrnimmt oder kommerzielle, technische oder wartungsbezogene Aufgaben im Zusammenhang mit diesen Funktionen erfüllt, oder einem Mehrheitsanteilseigner dieser Unternehmen wahrgenommen haben. Die Sätze 1 und 2 finden auf Ernennungen, die vor dem 3. März 2012 wirksam geworden sind, keine Anwendung. … (4)   Der Unabhängige Transportnetzbetreiber und das vertikal integrierte Energieversorgungsunternehmen haben zu gewährleisten, dass Personen der Unternehmensleitung und die übrigen Beschäftigten des Unabhängigen Transportnetzbetreibers nach dem 3. März 2012 keine Anteile des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens oder eines seiner Unternehmensteile erwerben, es sei denn, es handelt sich um Anteile des Unabhängigen Transportnetzbetreibers. Personen der Unternehmensleitung haben Anteile des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens oder eines seiner Unternehmensteile, die vor dem 3. März 2012 erworben wurden, bis zum 31. März 2016 zu veräußern. Der Unabhängige Transportnetzbetreiber hat zu gewährleisten, dass die Vergütung von Personen, die der Unternehmensleitung angehören, nicht vom wirtschaftlichen Erfolg, insbesondere dem Betriebsergebnis, des vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmens oder eines seiner Tochterunternehmen, mit Ausnahme des Unabhängigen Transportnetzbetreibers, abhängig ist. … (6)   Absatz 2 Satz 1 sowie Absatz 3 und 5 gelten für Personen, die der obersten Unternehmensleitung unmittelbar unterstellt und für Betrieb, Wartung oder Entwicklung des Netzes verantwortlich sind, entsprechend.“ 13 In § 24 („Regelungen zu den Netzzugangsbedingungen, Entgelten für den Netzzugang sowie zur Erbringung und Beschaffung von Ausgleichsleistungen; Verordnungsermächtigung“) EnWG heißt es: „Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates 1.   die Bedingungen für den Netzzugang einschließlich der Beschaffung und Erbringung von Ausgleichsleistungen oder Methoden zur Bestimmung dieser Bedingungen sowie Methoden zur Bestimmung der Entgelte für den Netzzugang … festzulegen, … 2.   zu regeln, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen die Regulierungsbehörde diese Bedingungen oder Methoden festlegen oder auf Antrag des Netzbetreibers genehmigen kann, 3.   zu regeln, in welchen Sonderfällen der Netznutzung und unter welchen Voraussetzungen die Regulierungsbehörde im Einzelfall individuelle Entgelte für den Netzzugang genehmigen oder untersagen kann …“ Vorverfahren 14 Am 20. Mai 2014 richtete die Kommission im Rahmen einer von Amts wegen eingeleiteten Untersuchung, mit der geprüft werden sollte, ob es bei der Umsetzung der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 in deutsches Recht zu Unvereinbarkeiten mit dem Unionsrecht gekommen war, eine Reihe von Fragen zur Umsetzung dieser Richtlinien an die Bundesrepublik Deutschland. Die deutschen Behörden beantworteten diese Fragen mit Schreiben vom 12. September 2014. 15 Da die Kommission der Auffassung war, dass das nationale Recht in mehrfacher Hinsicht nicht mit den Richtlinien im Einklang stehe, übermittelte sie am 27. Februar 2015 im Vertragsverletzungsverfahren Nr. 2014/2285 ein Aufforderungsschreiben an die Bundesrepublik Deutschland, auf das diese mit Schreiben vom 24. Juni 2015 antwortete. 16 Am 29. April 2016 sandte die Kommission der Bundesrepublik Deutschland eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie an ihrem Standpunkt festhielt, dass bestimmte Vorschriften des deutschen Rechts nicht mit den Richtlinien 2009/72 und 2009/73 vereinbar seien. Die Bundesrepublik Deutschland antwortete mit Schreiben vom 29. August 2016, dass Gesetzesänderungen in Bezug auf bestimmte in der mit Gründen versehenen Stellungnahme erhobene Rügen im Gange seien, und übermittelte am 19. September 2017 die am 22. Juli 2017 in Kraft getretene Fassung des EnWG. 17 Da die Kommission der Auffassung ist, dass die von der Bundesrepublik Deutschland erlassenen Rechtsvorschriften nach wie vor nicht den Richtlinien 2009/72 und 2009/73 entsprächen, hat sie die vorliegende Klage erhoben. Zur Klage 18 Die Kommission stützt ihre Klage auf vier Rügen, mit denen sie jeweils beanstandet, dass die Bundesrepublik Deutschland die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 im EnWG nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe. Zur ersten Rüge: Verkennung von Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 und Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 Vorbringen der Parteien 19 Mit dieser Rüge wirft die Kommission der Bundesrepublik Deutschland vor, sie habe den Begriff „vertikal integriertes Unternehmen“ (im Folgenden: VIU) im Sinne von Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 und Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 nicht ordnungsgemäß in ihr innerstaatliches Recht umgesetzt, da die in § 3 Nr. 38 EnWG enthaltene Definition dieses Begriffs auf Unternehmen beschränkt sei, die in der Union tätig seien. 20 Die im EnWG vorgenommene Beschränkung des geografischen Geltungsbereichs des Begriffs „VIU“ stehe im Widerspruch sowohl zum Wortlaut von Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 und Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 als auch zu Sinn und Zweck der in diesen Richtlinien vorgesehenen Regeln über die wirksame Entflechtung der Übertragungs- bzw. Fernleitungsnetze (im Folgenden zusammenfassend: Übertragungsnetze) für Elektrizität und Erdgas einerseits und der Erzeugung bzw. Gewinnung (im Folgenden zusammenfassend: Erzeugung) dieser Energieprodukte sowie der Versorgung mit ihnen andererseits. 21 Hätte der Unionsgesetzgeber die Begriffsbestimmung des „VIU“ auf Tätigkeiten innerhalb der Union beschränken wollen, hätte er dies explizit angegeben, wie er es in anderen Bestimmungen der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 getan habe. Dieses Verständnis werde durch den 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/72 und den 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/73 bestätigt, worin auf den allgemeinen Grundsatz hingewiesen werde, dass Unternehmen, die außerhalb der Union angesiedelt seien, dem Unionsrecht unterworfen seien, wenn sie innerhalb der Union tätig würden. 22 Des Weiteren könnten die Interessenkonflikte zwischen Übertragungs- bzw. Fernleitungsnetzbetreibern (im Folgenden zusammenfassend: Übertragungsnetzbetreiber) auf der einen und Erzeugern oder Lieferanten auf der anderen Seite, die mit den genannten Entflechtungsregeln vermieden werden sollten, indem vorgeschrieben werde, dass die Netzbetreiber die Zertifizierung nur erhielten, wenn sie die jeweiligen Netze unabhängig und diskriminierungsfrei betrieben, sowohl dann eintreten, wenn die unter die Begriffsbestimmungen des „VIU“ fallenden Tätigkeiten innerhalb der Union stattfänden, als auch dann, wenn sie außerhalb der Union stattfänden. 23 Die Einbeziehung außereuropäischer Tätigkeiten in den Anwendungsbereich des Begriffs „VIU“ bedeute nicht, dass außereuropäische Unternehmen zu unmittelbaren Adressaten von Rechten und Pflichten gemäß europäischem Recht würden, und weite nicht die Jurisdiktion der Union aus. Vielmehr seien die Übertragungsnetzbetreiber, die den Vorschriften über die wirksame Entflechtung unterlägen, stets in der Union tätig. Die Einbeziehung außerhalb der Union ausgeübter Tätigkeiten in die Definition des Begriffs „VIU“ ermögliche es, die Auswirkungen dieser Tätigkeiten in der Union zu bewerten. Einer solchen Auslegung stehe kein Grundsatz des Wettbewerbsrechts oder des Völkerrechts entgegen. 24 Die Bundesrepublik Deutschland macht erstens unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteile vom 25. Mai 1985, Kommission/Deutschland, 29/84, EU:C:1985:229, Rn. 9, und vom 30. Juni 2016, Kommission/Polen, C‑648/13, EU:C:2016:49, Rn. 73) geltend, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet seien, Richtlinien unter Übernahme ihres Wortlauts umzusetzen, solange nur ihr Rechtsgehalt beachtet werde. Die Definition des Begriffs „VIU“ in § 3 Nr. 38 EnWG verstoße nicht gegen den Wortlaut von Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 und Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73. Diese Bestimmungen träfen nämlich keine Aussage über ihren geografischen Anwendungsbereich und bedürften daher insoweit der Klarstellung bei der mitgliedstaatlichen Umsetzung. 25 Zweitens macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, Sinn und Zweck der in diesen Richtlinien vorgesehenen Vorschriften über die wirksame Entflechtung geböten nicht, Aktivitäten von Energieerzeugungs- oder ‑versorgungsunternehmen außerhalb der Union bei der Definition des Begriffs „VIU“ zu berücksichtigen. Solche Aktivitäten hätten nämlich keine qualifizierten Auswirkungen auf den diskriminierungsfreien und effizienten Betrieb von Übertragungsnetzen für Elektrizität bzw. Erdgasfernleitungen in der Union, da ein Interessenkonflikt zwischen den Betreibern dieser Netze und mit ihnen verbundenen Unternehmensteilen in den Wettbewerbsbereichen nur dann bestehe, wenn Letztere die Netze nutzen wollten, um die von ihnen erzeugten bzw. vertriebenen Energieprodukte zu transportieren. Zwar ergebe sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom6. September 2017, Intel/Kommission, C‑413/14 P, EU:C:2017:632, Rn. 40 ff.), dass sich mit dem Kriterium der qualifizierten Auswirkungen die Anwendung des Unionsrechts rechtfertigen lasse, wenn das fragliche Verhalten in der Union unmittelbare und wesentliche Auswirkungen habe. Diesem Kriterium werde jedoch durch die Definition in § 3 Nr. 38 EnWG ausreichend Rechnung getragen. 26 Drittens hätte eine Ausweitung der Definition des Begriffs „VIU“ auf außereuropäische Verhaltensweisen von außereuropäischen Unternehmen eine völkerrechtlich unzulässige Erstreckung der europäischen Regelungsbefugnis zur Folge. Solche außereuropäischen Unternehmen würden dann nämlich zu Adressaten von Rechten und Pflichten, ohne im Unionsgebiet tätig zu sein. 27 Viertens macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, eine Auslegung von Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 und Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 in dem Sinne, dass der Begriff „VIU“ Tätigkeiten umfasse, die außerhalb der Union von Unternehmen aus Drittstaaten ausgeübt würden, verstoße gegen die Verpflichtung, einen Sekundärrechtsakt im Einklang mit dem Primärrecht der Union auszulegen. Da diese Richtlinien auf Art. 47 Abs. 2 sowie auf die Art. 55 und 95 des EG-Vertrags (jetzt Art. 53 Abs. 2 sowie Art. 62 und 114 AEUV) gestützt seien, müssten sie nämlich darauf abzielen, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit zu erleichtern und die Regelungen der Mitgliedstaaten zu harmonisieren, die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand hätten. Diese primärrechtlichen Bestimmungen könnten aber keine geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass von Regelungen für wirtschaftliche Betätigungen, denen Unternehmen in Drittstaaten nachgingen, darstellen. 28 Im Übrigen sei es, da Aktivitäten von Drittstaatsunternehmen außerhalb der Union keine Auswirkungen auf den Binnenmarkt hätten, zur Erreichung des Ziels, einen effizienten und diskriminierungsfreien Betrieb der Transportnetze in der Union zu gewährleisten, nicht gerechtfertigt, ihnen die in den Richtlinien 2009/72 und 2009/73 vorgesehenen Beschränkungen aufzuerlegen, die für den freien Kapitalverkehr im Sinne von Art. 63 AEUV sowie für die Berufsfreiheit der Unternehmen und ihrer Mitarbeiter und für das Eigentumsrecht – niedergelegt in Art. 15 Abs. 1, Art. 16 und Art. 17 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) – bestünden. Würdigung durch den Gerichtshof 29 Soweit die Bundesrepublik Deutschland geltend macht, dass die in § 3 Nr. 38 EnWG enthaltene Definition des Begriffs „VIU“ nicht im Widerspruch zur Definition in Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 und Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 stehe, sondern diese präzisiere, ist die Stichhaltigkeit der von ihr vertretenen Auslegung nicht nur anhand des Wortlauts dieser Richtlinienbestimmungen, sondern auch anhand ihres Zusammenhangs und der Ziele zu prüfen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Oktober 2017, Kamin und Grill Shop, C‑289/16, EU:C:2017:758, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 ein VIU definiert wird als „ein Elektrizitätsunternehmen oder eine Gruppe von Elektrizitätsunternehmen, in der ein und dieselbe(n) Person(en) berechtigt ist (sind), direkt oder indirekt Kontrolle auszuüben, wobei das betreffende Unternehmen bzw. die betreffende Gruppe von Unternehmen mindestens eine der Funktionen Übertragung oder Verteilung und mindestens eine der Funktionen Erzeugung von oder Versorgung mit Elektrizität wahrnimmt“. Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 definiert mit ähnlichen Worten ein VIU im Erdgassektor. 31 Als Erstes ist festzustellen, dass weder Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 noch Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen, um den Begriff „VIU“ für die Zwecke dieser Richtlinien zu definieren. 32 Unter diesen Umständen stellt der Begriff „VIU“ einen autonomen Begriff des Unionsrechts dar, der unter Berücksichtigung der durch den Gleichheitsgrundsatz auferlegten Erfordernisse der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss. Die Bedeutung dieses Begriffs kann daher nicht anhand von im Recht der Mitgliedstaaten bekannten Begriffen oder auf nationaler Ebene vorgenommenen Einstufungen ermittelt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Juli 2020, RL [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑199/19, EU:C:2020:548, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 33 Da der Wortlaut von Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 und Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 nichts zu dem Gebiet, in dem ein VIU seine Tätigkeit ausübt, oder zum Ort seines Sitzes aussagt, folgt daraus, dass diese Bestimmungen in Bezug auf den Begriff „VIU“ keine ausdrückliche räumliche Beschränkung vorsehen, die dahin ginge, dass dieser Begriff auf innerhalb der Union ausgeübte Tätigkeiten beschränkt wäre. 34 Als Zweites ist zu dem Kontext, in den sich der Begriff „VIU“ einfügt, darauf hinzuweisen, dass dieser Begriff, wie sich namentlich aus Art. 9 Abs. 1 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 im Licht des neunten Erwägungsgrundes der erstgenannten und des sechsten Erwägungsgrundes der zweitgenannten Richtlinie ergibt, Teil derjenigen Bestimmungen dieser Richtlinien ist, die eine „wirksame Entflechtung“ der Übertragungsnetze einerseits und der Strom- und Erdgaserzeugung und ‑versorgung andererseits gewährleisten sollen. 35 Als Drittes ist hinsichtlich der Ziele der in Rede stehenden Regelung darauf hinzuweisen, dass die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 dazu dienen, den Binnenmarkt für Elektrizität und Erdgas zu verwirklichen, in dem die Gewährleistung eines nicht diskriminierenden Netzzugangs das Basiselement ist. Aus dem neunten Erwägungsgrund der erstgenannten und dem sechsten Erwägungsgrund der zweitgenannten Richtlinie geht aber hervor, dass ohne die in der vorstehenden Randnummer genannte wirksame Entflechtung die Gefahr einer Diskriminierung in Bezug auf diesen Zugang besteht. Der Ausschluss dieser Gefahr erfordert, wie sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 11, 12 und 16 der Richtlinie 2009/72 sowie aus den Erwägungsgründen 8, 9 und 13 der Richtlinie 2009/73 ergibt, die Beseitigung jeglichen Interessenkonflikts zwischen den Erzeugern oder Lieferanten einerseits und den Betreibern von Übertragungsnetzen für Energieprodukte andererseits. 36 Die durch die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 auferlegten Erfordernisse der wirksamen Entflechtung dienen somit dazu, die volle, effektive Unabhängigkeit der Übertragungsnetzbetreiber von den Tätigkeiten der Erzeugung und Versorgung zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2017, Balgarska energiyna borsa, C‑347/16, EU:C:2017:816, Rn. 34). Wie aus dem 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/72 und dem 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/73 hervorgeht, gelten diese Erfordernisse der wirksamen Entflechtung in der gesamten Union, und zwar sowohl für Unionsunternehmen als auch für Nichtunionsunternehmen. 37 Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass zwischen einem Übertragungsnetzbetreiber in der Union und Erzeugern oder Lieferanten von Elektrizität oder Erdgas, die Tätigkeiten in diesen Bereichen außerhalb der Union ausüben, Interessenkonflikte bestehen. Wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist in einer Situation, in der Erdgas oder Elektrizität, das oder die von einem Unternehmen außerhalb der Union erzeugt wird, mittels eines Übertragungsnetzes, das im Eigentum desselben Unternehmens steht, in die Union befördert wird, die Gefahr offenkundig, dass beim Betrieb dieses Netzes diskriminierende Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden, die den Transport von Energieprodukten von Wettbewerbern benachteiligen könnten. 38 Daraus folgt, wie auch der Generalanwalt in Nr. 45 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass die von der Bundesrepublik Deutschland befürwortete enge Auslegung des Begriffs „VIU“ die praktische Wirksamkeit der Bestimmungen der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 über die wirksame Entflechtung gefährdet, da sie einem VIU, das Erdgas oder Elektrizität außerhalb der Union erzeugt oder liefert, die Umgehung dieser Bestimmungen ermöglicht. Somit läuft eine solche enge Auslegung den Zielen dieser Bestimmungen insofern zuwider, als sie Situationen wie die in der vorstehenden Randnummer beschriebenen, in denen ein Interessenkonflikt bestehen kann, möglicherweise vom Anwendungsbereich des fraglichen Begriffs ausschließt, weil die Tragweite dieses Begriffs auf Tätigkeiten beschränkt wird, die innerhalb der Union ausgeübt werden. 39 Folglich ist der Begriff „VIU“ weit auszulegen, so dass gegebenenfalls Tätigkeiten erfasst werden können, die außerhalb des Unionsgebiets ausgeübt werden. Demnach führt die Beschränkung auf Tätigkeiten, die in der Union ausgeübt werden, zu einer ungerechtfertigten Verengung der Tragweite dieses Begriffs. 40 Entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland impliziert diese Feststellung keine über den Binnenmarkt hinausgehende Ausdehnung der Regelungsbefugnis der Union, die der Pflicht zuwiderliefe, einen Sekundärrechtsakt im Einklang mit dem Primärrecht – hier mit Art. 53 Abs. 2 sowie mit den Art. 62 und 114 AEUV – sowie mit dem Völkerrecht auszulegen. 41 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 und Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 keinen außerhalb der Union gelegenen Markt regulieren, sondern lediglich eine Definition des Begriffs „VIU“ enthalten, die die wirksame Anwendung dieser Richtlinien sicherstellt, indem sie die Umgehung bestimmter Anforderungen verhindert, die erforderlich sind, um eine wirksame Entflechtung zu gewährleisten und damit die Bedingungen für das Funktionieren der Binnenmärkte für Elektrizität und Erdgas zu verbessern. 42 Der Gerichtshof hat bereits hervorgehoben, dass in einen auf der Grundlage von Art. 95 EG-Vertrag (jetzt Art. 114 AEUV) erlassenen Unionsrechtsakt Bestimmungen aufgenommen werden können, die die Umgehung von Vorschriften verhindern sollen, die die Verbesserung der Bedingungen für das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 131 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Im Übrigen kann sich ein VIU, das Erdgas oder Elektrizität außerhalb der Union erzeugt oder liefert, in einem Interessenkonflikt wie dem in Rn. 37 des vorliegenden Urteils beschriebenen befinden, da diskriminierende Verhaltensweisen auf dem Binnenmarkt der Union auch dann auftreten können, wenn die Erzeugung durch ein VIU außerhalb der Union erfolgt. Unter diesen Umständen ist die Zuständigkeit der Union für die Anwendung ihrer Vorschriften auf derartige Verhaltensweisen nach dem Völkerrecht nicht ausgeschlossen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 1988, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, 89/85, 104/85, 114/85, 116/85, 117/85 und 125/85 bis 129/85, EU:C:1988:447, Rn. 18). 44 Folglich ist der ersten von der Kommission zur Stützung ihrer Klage erhobenen Rüge stattzugeben und festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch, dass sie Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 und Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, gegen ihre Verpflichtungen aus diesen Richtlinien verstoßen hat. Zur zweiten Rüge: Verkennung von Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 Vorbringen der Parteien 45 Mit dieser Rüge wirft die Kommission der Bundesrepublik Deutschland vor, sie habe die in Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 enthaltenen Karenzvorschriften nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Diese Vorschriften gälten für alle (direkten und indirekten) Positionen oder Aufgaben, Interessens- oder Geschäftsbeziehungen bei dem VIU, seinen Unternehmensteilen und seinen anderen Mehrheitsanteilseignern als dem Übertragungsnetzbetreiber. § 10c Abs. 2 und 6 EnWG beschränke jedoch die Anwendung dieser Vorschriften der beiden Richtlinien auf diejenigen Teile des VIU, die ihre Tätigkeiten im Energiebereich ausübten. 46 Ein VIU in Form einer Gruppe von Unternehmen umfasse alle juristischen Personen, die Teil der Gruppe seien, unabhängig davon, in welchem Wirtschaftszweig sie tätig seien. Dies entspreche auch dem Begriff „Unternehmen“, wie er im Wettbewerbsrecht verwendet werde, insbesondere in den Art. 101 und 102 AEUV. 47 Zudem widerspreche die durch § 10c Abs. 2 und 6 EnWG bewirkte Beschränkung den Zielen der in den Richtlinien 2009/72 und 2009/73 vorgesehenen Regelungen über die wirksame Entflechtung. Nach dem Modell des unabhängigen Übertragungsnetzbetreibers könne ein Netzbetreiber nämlich nur dann Teil eines VIU bleiben, wenn bestimmte strenge Voraussetzungen in Bezug auf Organisation, Leitung und Investitionen erfüllt würden, die seine effektive Unabhängigkeit vom VIU in seiner Gesamtheit garantierten. 48 Der Ausschluss derjenigen Teile des VIU, die nicht direkt im Energiesektor tätig seien, vom Anwendungsbereich der Karenzvorschriften würde es ermöglichen, die Vorschriften über die wirksame Entflechtung zu umgehen. Auch die nicht energiebezogenen Teile des VIU könnten von den Interessen des VIU hinsichtlich der Erzeugung und Lieferung von Elektrizität und Erdgas betroffen sein. Gerade um diese Gefahr zu vermeiden und die Unabhängigkeit der Übertragung und Verteilung von den Erzeugungs- und Versorgungsinteressen im Energiebereich zu gewährleisten, habe der Unionsgesetzgeber beschlossen, das VIU als Ganzes, einschließlich seiner nicht im Energiebereich tätigen Teile, in den Geltungsbereich von Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 einzubeziehen, und nicht nur die im Energiebereich tätigen Teile des VIU. 49 Die Bundesrepublik Deutschland macht geltend, die Karenzvorschriften der fraglichen Richtlinien und die entsprechenden Umsetzungsvorschriften des EnWG hätten dieselbe Tragweite. Gemäß Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 bestehe ein VIU nämlich aus verschiedenen Elektrizitätsunternehmen im Sinne von Art. 2 Nr. 35 dieser Richtlinie und nicht etwa aus Unternehmen, die in anderen Wirtschaftsbereichen tätig seien. Gleiches gelte gemäß Art. 2 Nrn. 1 und 20 der Richtlinie 2009/73 für den Erdgasbereich. Daher seien die von Art. 19 Abs. 3 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 erfassten Beschäftigten nur diejenigen, die vor ihrem Wechsel zum Transportnetzbetreiber einer energie- oder erdgasbezogenen Tätigkeit innerhalb des VIU nachgegangen seien. 50 Des Weiteren stehe das Abstellen auf den Energiesektor in § 10c Abs. 2 EnWG mit dem Anwendungsbereich sowie mit Sinn und Zweck der umgesetzten Richtlinien im Einklang. Es sei nämlich erforderlich, aber auch ausreichend, dass die Unabhängigkeit des unabhängigen Übertragungsnetzbetreibers – dessen Errichtung nach Art. 9 Abs. 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 zulässig sei, wenn ein Übertragungsnetz am 3. September 2009 einem VIU gehöre – allein im Verhältnis zu den Energiesektoren dieses VIU sichergestellt werde. Zur Vermeidung von Interessenkonflikten innerhalb des Modells des unabhängigen Übertragungsnetzbetreibers reiche es daher aus, den Wechsel von Beschäftigten zwischen den verschiedenen in diesen Sektoren tätigen Unternehmensteilen zeitlich aufzuschieben. 51 Die sich aus den Karenzvorschriften ergebenden Beschränkungen der in Art. 45 AEUV verankerten Arbeitnehmerfreizügigkeit in Fällen, in denen die betroffenen Unternehmensteile des VIU in mehreren Mitgliedstaaten angesiedelt seien, sowie die Beschränkungen des in Art. 15 Abs. 1 der Charta verankerten Grundrechts auf freie Berufswahl in Fällen, in denen sich diese Unternehmensteile allesamt in einem einzigen Mitgliedstaat befänden, seien im Übrigen nur gerechtfertigt, wenn Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 ausschließlich auf diese Wechsel von Beschäftigten anwendbar sei. Würdigung durch den Gerichtshof 52 Nach Art. 19 Abs. 3 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 „dürfen in den letzten drei Jahren vor einer Ernennung von Führungskräften [bzw. Personen der Unternehmensleitung] und/oder Mitglieder[n] der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers, die diesem Absatz unterliegen, bei dem [VIU], einem seiner Unternehmensteile oder bei anderen Mehrheitsanteilseignern als dem Übertragungsnetzbetreiber weder direkt noch indirekt berufliche Positionen bekleidet oder berufliche Aufgaben wahrgenommen noch Interessens- oder Geschäftsbeziehungen zu ihnen unterhalten werden“. Gemäß Abs. 8 dieses Artikels gilt dieser Abs. 3 „für die Mehrheit der Angehörigen der Unternehmensleitung und/oder Mitglieder der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers“. 53 Der Wortlaut von Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 enthält also keinerlei Beschränkung, die dahin ginge, dass die darin vorgesehenen Karenzzeiten allein für das Personal derjenigen Teile des VIU gelten, die im Elektrizitäts- oder Erdgasbereich tätig sind. 54 Der Zweck dieser Vorschriften legt seinerseits eine Auslegung in dem Sinne nahe, dass eine solche Beschränkung ausgeschlossen ist. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 61 und 62 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, besteht der Zweck dieser Vorschriften nämlich darin, eine „wirksame Entflechtung“ zu gewährleisten, was die volle, effektive Unabhängigkeit des Übertragungsnetzbetreibers gegenüber dem VIU ermöglicht, um Konflikte zwischen den Interessen zu beseitigen, die zum einen mit der Erzeugung und Lieferung von Elektrizität oder Erdgas und zum anderen mit dem Betrieb des Übertragungsnetzes zusammenhängen. Diese Entflechtung erweist sich als notwendig, um das in Art. 194 Abs. 1 AEUV genannte Funktionieren des Energiebinnenmarkts und die Sicherheit der Energieversorgung zu gewährleisten. 55 Wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt, soll eine solche „wirksame Entflechtung“ nämlich einen nicht diskriminierenden Netzzugang ermöglichen, der ein Basiselement eines funktionellen Energiebinnenmarkts darstellt. Zudem ergibt sich aus dem 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/72 und dem 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/73, dass die Sicherheit der Energieversorgung von Natur aus direkt mit dem effizienten Funktionieren des Energiebinnenmarkts verbunden ist. 56 Daraus folgt, dass die in Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 festgelegten „Karenzzeiten“ für die Führungskräfte bzw. Personen der Unternehmensleitung und/oder die Mitglieder der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers gelten, die vor ihrer Anstellung eine Tätigkeit innerhalb des VIU oder bei einem Mehrheitsanteilseigner eines der Unternehmen des VIU ausgeübt haben, auch wenn diese Tätigkeiten nicht im Energiesektor des VIU oder bei einem Mehrheitsanteilseiger eines der Unternehmen im Energiesektor des VIU ausgeübt wurden. 57 Es lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass eine Führungskraft bzw. Person der Unternehmensleitung und/oder ein Mitglied der Verwaltungsorgane des Übertragungsnetzbetreibers, die bzw. das vor ihrer bzw. seiner Ernennung innerhalb eines VIU in einem anderen als dem Energiesektor tätig war, durch die Tätigkeit dieses Unternehmens in den Bereichen der Erzeugung oder Lieferung von Elektrizität und Erdgas beeinflusst worden ist. 58 Zwar bezieht sich der Begriff „VIU“, wie er in Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72 und Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73 definiert wird, auf „Elektrizitätsunternehmen“ bzw. auf „Erdgasunternehmen“ im Sinne von Nr. 35 bzw. Nr. 1 dieser Artikel. Wie der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, lassen diese Definitionen jedoch nicht den Schluss zu, dass die Teile des VIU, die nicht im Elektrizitäts- oder Erdgasbereich tätig sind, von diesem Begriff ausgenommen wären, so dass sie nicht in den Anwendungsbereich der Bestimmungen der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 betreffend die wirksame Entflechtung im Sinne von Art. 9 Abs. 8 dieser Richtlinien fallen. Eine solche enge Auslegung würde nicht nur das Ziel der Gewährleistung einer wirksamen Entflechtung gefährden, sondern auch zu einer künstlichen Aufspaltung des Unternehmens führen, die an der wirtschaftlichen Realität vorbeiginge. 59 Des Weiteren mag die in Rn. 56 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung der Karenzvorschriften zwar, wie die Bundesrepublik Deutschland geltend macht, zu einer Beschränkung der in Art. 45 AEUV verankerten Freizügigkeit der Arbeitnehmer sowie zu einer Beschränkung der Ausübung des in Art. 15 Abs. 1 der Charta verankerten Grundrechts auf freie Berufswahl führen, doch ist darauf hinzuweisen, dass diese Freiheiten nicht absolut gewährleistet werden, sondern unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden können. 60 Es trifft zwar zu, dass das Verbot von Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht nur für nationale Maßnahmen, sondern auch für Maßnahmen der Unionsorgane gilt (vgl. entsprechend Urteil vom 8. Dezember 2020, Polen/Parlament und Rat, C‑626/18, EU:C:2020:1000, Rn. 87 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 61 Jedoch müssen die vom Unionsgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 53 AEUV in Verbindung mit Art. 62 AEUV erlassenen Koordinierungsmaßnahmen nicht nur zum Ziel haben, die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs zu erleichtern, sondern gegebenenfalls auch, den Schutz anderer grundlegender Interessen zu gewährleisten, die diese Freiheit beeinträchtigen kann (Urteil vom 8. Dezember 2020, Polen/Parlament und Rat, C‑626/18, EU:C:2020:1000, Rn. 53 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 62 So kann eine Maßnahme, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beschränkt, zulässig sein, wenn mit ihr eines der im AEU-Vertrag genannten legitimen Ziele verfolgt wird oder wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Darüber hinaus muss die Maßnahme in einem derartigen Fall geeignet sein, die Verwirklichung des in Rede stehenden Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zu seiner Erreichung erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2020, Land Niedersachsen [Einschlägige Vordienstzeiten], C‑710/18, EU:C:2020:299, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 63 Im Übrigen kann, wie sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergibt, die Ausübung des Rechts auf freie Berufswahl Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen und keinen im Hinblick auf diese Ziele unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der das so gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antastet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2012, Deutsches Weintor, C‑544/10, EU:C:2012:526, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 64 Im vorliegenden Fall wird, wie in den Rn. 54 und 55 des vorliegenden Urteils ausgeführt, mit den in Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 vorgesehenen Karenzregeln das dem Gemeinwohl dienende Ziel verfolgt, eine „wirksame Entflechtung“ zu gewährleisten. 65 Die Karenzregeln sind zur Erreichung dieses Ziels geeignet, da sie durch die Festlegung von Zeiträumen, in denen Personen, die auf Führungs- oder Leitungspositionen beim unabhängigen Übertragungsnetzbetreiber berufen werden sollen, bei dem VIU, einem seiner Unternehmensteile oder bei anderen Mehrheitsanteilseignern als dem Übertragungsnetzbetreiber weder direkt noch indirekt berufliche Positionen bekleiden oder berufliche Aufgaben wahrnehmen noch Interessens- oder Geschäftsbeziehungen zu ihnen unterhalten dürfen, die Zugang zu Informationen eröffnen würden, die diese Personen in Ausübung einer leitenden Position im VIU erhielten, die Unabhängigkeit dieses Netzbetreibers von den Strukturen der Erzeugung und Lieferung von Energieprodukten gewährleisten. 66 Im Übrigen gehen die Karenzregeln nicht über das hinaus, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist. Die Beschränkungen der in Art. 45 AEUV gewährleisteten Arbeitnehmerfreizügigkeit und des in Art. 15 Abs. 1 der Charta garantierten Rechts auf freie Berufswahl, die sich aus allen spezifischen Regeln in Bezug auf diesen Betreiber – einschließlich derjenigen über Karenzzeiten – als Garantie für dessen Unabhängigkeit ergeben, sind nämlich zeitlich begrenzt, so dass sie nur während eines klar abgesteckten Zeitraums Wirkungen entfalten. 67 Unter diesen Umständen erweist sich die Tatsache, dass Personen, die außerhalb der Energiesektoren eines VIU eine berufliche Position in diesem VIU bekleidet oder Interessens- oder Geschäftsbeziehungen mit dem VIU unterhalten haben, nach § 10c Abs. 2 EnWG vom subjektiven Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 ausgenommen werden, als Verstoß gegen diese Bestimmungen. 68 Daher ist der zweiten von der Kommission zur Stützung ihrer Klage erhobenen Rüge stattzugeben und festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch, dass sie Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, gegen ihre Verpflichtungen aus diesen Richtlinien verstoßen hat. Zur dritten Rüge: Verstoß gegen Art. 19 Abs. 5 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 Vorbringen der Parteien 69 Mit dieser Rüge wirft die Kommission der Bundesrepublik Deutschland vor, sie habe Art. 19 Abs. 5 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 insofern unzureichend umgesetzt, als die in § 10c Abs. 4 EnWG statuierte Pflicht zum Verkauf von Anteilen am VIU, die vor dem 3. März 2012 erworben worden seien, nur für die von der Unternehmensleitung des Übertragungsnetzbetreibers erworbenen Anteile, nicht aber für die von Beschäftigten des Netzbetreibers erworbenen Anteile gelte. Auch wenn die Beschäftigten eines Übertragungsnetzbetreibers keine Managemententscheidungen treffen könnten, seien sie in der Lage, auf die Tätigkeiten ihres Arbeitgebers Einfluss zu nehmen, was es rechtfertige, dass auch diese Beschäftigten ihre vor dem 3. März 2012 erworbenen Anteile am VIU veräußern müssten. 70 Eine solche Verpflichtung beeinträchtige nicht die Eigentumsrechte dieser Beschäftigten, da sie nur für die Zukunft gelte, so dass die bereits ausgeschütteten Dividenden nicht betroffen seien. Zudem würden solche Beteiligungen nur mit Zustimmung ihres Inhabers und gegen eine entsprechende Vergütung veräußert. Dem Inhaber bleibe die Möglichkeit, seine Beteiligung zu behalten, sofern er seine Position beim Übertragungsnetzbetreiber aufgebe. 71 Die Bundesrepublik Deutschland weist darauf hin, dass es sowohl den Personen der Unternehmensleitung des Übertragungsnetzbetreibers als auch den übrigen Beschäftigten nach § 10c Abs. 4 Satz 1 EnWG untersagt sei, nach dem 3. März 2012 Anteile am VIU oder an einem seiner Unternehmensteile zu erwerben, während Satz 2 dieser Vorschrift vorsehe, dass nur Personen der Unternehmensleitung Anteile am VIU oder an einem seiner Unternehmensteile, die vor dem 3. März 2012 erworben worden seien, bis zum 31. März 2016 veräußern müssten. 72 Diese Unterscheidung sei dadurch gerechtfertigt, dass, bevor die stärkeren Anforderungen an die Unabhängigkeit des Übertragungsnetzbetreibers am 3. März 2012 in Kraft getreten seien, Aktien des VIU häufig als sogenannte Mitarbeiteraktien ausgegeben worden seien und Bestandteil des Vermögensaufbaus oder der individuellen Altersvorsorge dieser Mitarbeiter gewesen seien. 73 Da es sich um Mitarbeiter handle, die keine signifikanten Einflussmöglichkeiten auf den Netzbetrieb hätten, würde eine ihnen auferlegte Verpflichtung zur Veräußerung solcher Beteiligungen eine unverhältnismäßige Beschränkung ihrer durch das Grundgesetz (im Folgenden: GG) geschützten Eigentumsrechte darstellen. Personen der Unternehmensleitung würden aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung anders behandelt. Sie hätten nämlich entscheidenden strategischen Einfluss auf den Übertragungsnetzbetreiber, so dass eine besondere Gefahr von Interessenkonflikten bestehe. 74 Da die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 im Übrigen keine Regelung dazu träfen, wie mit Anteilen am VIU zu verfahren sei, die die Beschäftigten des Übertragungsnetzbetreibers vor dem Stichtag erworben hätten, sei es den Mitgliedstaaten überlassen, insoweit geeignete Übergangsregelungen zu treffen. Würdigung durch den Gerichtshof 75 Nach Art. 19 Abs. 5 der Richtlinie 2009/72 und der Richtlinie 2009/73 dürfen die Personen der Unternehmensleitung und/oder Mitglieder der Verwaltungsorgane und die Beschäftigten des Übertragungsnetzbetreibers weder direkt noch indirekt Beteiligungen an Unternehmensteilen des VIU halten noch finanzielle Zuwendungen von diesen erhalten; ausgenommen hiervon sind Beteiligungen am und Zuwendungen vom Übertragungsnetzbetreiber. Ihre Vergütung darf nicht an die Tätigkeiten oder Betriebsergebnisse des VIU, soweit sie nicht den Übertragungsnetzbetreiber betreffen, gebunden sein. 76 Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht klar hervor, dass es sowohl der Unternehmensleitung als auch den Beschäftigten des Übertragungsnetzbetreibers untersagt ist, direkt oder indirekt Beteiligungen an Unternehmensteilen des VIU zu halten oder finanzielle Zuwendungen von diesen zu erhalten, wobei Beteiligungen am und Zuwendungen vom Übertragungsnetzbetreiber ausgenommen sind. 77 Diese Auslegung wird durch die Ziele der Regelung bestätigt, zu der diese Bestimmung gehört. Wie der Generalanwalt in Nr. 77 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, rechtfertigt nämlich in den Fällen, in denen zur Gewährleistung einer wirksamen Entflechtung der Übertragungsnetze einerseits und der Tätigkeiten der Erzeugung und Lieferung von Elektrizität und Erdgas andererseits gemäß Art. 9 Abs. 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 für die Einsetzung eines unabhängigen Übertragungsnetzbetreibers optiert wird, die Pflicht, die volle, effektive Unabhängigkeit dieses Betreibers innerhalb des VIU sicherzustellen, eine Auslegung von Art. 19 Abs. 5 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 in dem Sinne, dass das darin vorgesehene Verbot des Haltens von Beteiligungen am VIU für die Beschäftigten, die solche Beteiligungen halten, eine Veräußerungspflicht umfasst. Selbst wenn diese Beschäftigten nicht an den laufenden unternehmerischen Entscheidungen des Übertragungsnetzbetreibers beteiligt sind, kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass sie die Tätigkeiten ihres Arbeitgebers beeinflussen können und daher Interessenkonflikte entstehen können, wenn sie Beteiligungen am VIU oder an Teilen des VIU halten. 78 Im vorliegenden Fall sehen die in Rede stehenden deutschen Rechtsvorschriften zwar die Verpflichtung vor, die vor dem 3. März 2012 erworbenen Anteile am VIU zu veräußern, doch beschränken sie diese Verpflichtung auf Personen der Unternehmensleitung des Übertragungsnetzbetreibers. Soweit die Bundesrepublik Deutschland geltend macht, dass diese Beschränkung es ermögliche, das durch das GG gewährleistete Eigentumsrecht der Beschäftigten hinsichtlich ihrer Beteiligung am Kapital des VIU zu wahren, ist darauf hinzuweisen, dass dieses Recht auch durch Art. 17 Abs. 1 der Charta geschützt wird. 79 Die in den Rn. 76 und 77 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung von Art. 19 Abs. 5 der Richtlinie 2009/72 und der Richtlinie 2009/73 steht jedoch im Einklang mit dem in Art. 17 Abs. 1 der Charta verankerten Eigentumsrecht. Dieses Recht gilt nämlich nicht schrankenlos, sondern seine Ausübung kann Beschränkungen unterworfen werden, die durch dem Gemeinwohl dienende Ziele der Union gerechtfertigt sind, sofern diese Beschränkungen gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen und keinen im Hinblick auf diese Ziele unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der das so gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antastet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 69 und 70 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 80 Die in Rede stehende Verpflichtung soll aber dem in Rn. 54 des vorliegenden Urteils genannten, dem Gemeinwohl dienenden Ziel entsprechen, eine wirksame Entflechtung der Übertragungsnetze von den Tätigkeiten der Erzeugung und Lieferung von Elektrizität und Erdgas zu gewährleisten, was für das Funktionieren des Energiebinnenmarkts und die Sicherheit der Energieversorgung erforderlich ist. 81 Im Übrigen beeinträchtigen die in Art. 19 Abs. 5 der Richtlinie 2009/72 und der Richtlinie 2009/73 statuierten Verbote das Eigentumsrecht nicht in so unverhältnismäßiger und untragbarer Weise, dass es in seinem Wesensgehalt angetastet wäre. Diese Bestimmungen sehen nämlich nur vor, dass Personen, die Beteiligungen an anderen Unternehmensteilen des VIU als dem Übertragungsnetzbetreiber halten oder finanzielle Zuwendungen von ihnen erhalten, keine Personen der Unternehmensleitung, Mitglieder der Verwaltungsorgane oder Beschäftigte des Übertragungsnetzbetreibers werden oder bleiben dürfen. 82 Daher müssen Personen, die Beteiligungen an anderen Unternehmensteilen des VIU halten, die Wahl treffen, ob sie ihr Eigentum behalten oder es übertragen, um Aufgaben beim Übertragungsnetzbetreiber ausüben zu können. Darüber hinaus schließen die genannten Bestimmungen nicht aus, dass diese Beteiligungen zum Marktpreis verkauft werden oder gegen Beteiligungen am Kapital des Übertragungsnetzbetreibers ausgetauscht werden. 83 Unter Berücksichtigung des in den Rn. 54 und 80 des vorliegenden Urteils angeführten, dem Gemeinwohl dienenden Ziels stellt die in Rede stehende Verpflichtung folglich keinen übermäßigen, untragbaren Eingriff dar, der geeignet wäre, das durch Art. 17 Abs. 1 der Charta gewährleistete Eigentumsrecht der Beschäftigten in seinem Wesensgehalt anzutasten. 84 Nach alledem ist der dritten von der Kommission zur Stützung ihrer Klage erhobenen Rüge stattzugeben. Somit ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch, dass sie Art. 19 Abs. 5 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, gegen ihre Verpflichtungen aus diesen Richtlinien verstoßen hat. Zur vierten Rüge: Verletzung der ausschließlichen Zuständigkeiten der nationalen Regulierungsbehörde Vorbringen der Parteien 85 Mit dieser Rüge wirft die Kommission der Bundesrepublik Deutschland vor, sie habe Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/72 sowie Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/73 insofern nicht ordnungsgemäß umgesetzt, als § 24 Satz 1 EnWG der Bundesregierung Zuständigkeiten für die Festlegung der Übertragungs- und Verteilungstarife, der Bedingungen für den Zugang zu den nationalen Netzen und der Bedingungen für die Erbringung von Ausgleichsleistungen zuweise, obwohl gemäß den genannten Bestimmungen hierfür ausschließlich die nationalen Regulierungsbehörden (im Folgenden: NRB) zuständig seien. 86 Die von der Bundesregierung auf der Grundlage von § 24 Satz 1 EnWG erlassenen Rechtsverordnungen stellten detaillierte Anweisungen an die NRB dar, wie sie ihre Regulierungsaufgaben wahrzunehmen habe. Diese Rechtsverordnungen legten das Verfahren und die Methode zur Bestimmung der Netzkosten mit ausführlichen Einzelheiten wie Abschreibungsmethoden und Indexierung fest und enthielten detaillierte Vorgaben zu den Bedingungen für den Netzzugang. 87 Die Festlegung solcher Details durch die Bundesregierung hindere die NRB jedoch daran, eine eigene Einschätzung vorzunehmen, so dass ihr die Zuständigkeiten genommen würden, die die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 ausschließlich ihr zuwiesen. Das Unionsrecht stelle in Bezug auf Netzentgelte klare Grundsätze auf, nämlich die in Art. 37 Abs. 10 der Richtlinie 2009/72 und im Erdgassektor in der Verordnung (EU) 2017/460 der Kommission vom 16. März 2017 zur Festlegung eines Netzkodex über harmonisierte Fernleitungsentgeltstrukturen (ABl. 2017, L 72, S. 29) genannten. Darüber hinaus fänden sich, was Netzanschluss- und Zugangsbedingungen anbelange, in den jeweiligen europäischen Netzkodizes detaillierte Vorgaben u. a. für Laststellen, Erzeuger und Hochspannungsanlagen. 88 Es sei zwar nichts dagegen einzuwenden, dass nach deutschem Recht die Aufgaben der NRB durch Rechtsvorschriften definiert und festgelegt werden müssten, doch sei dem deutschen Gesetzgeber vorzuwerfen, dass er, anstatt der NRB eine ausschließliche Zuständigkeit für die Erfüllung der in Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/72 sowie in Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/73 festgelegten Aufgaben zuzuerkennen, vorgesehen habe, dass die Bedingungen, unter denen die NRB diese Aufgaben wahrnehmen müsse, durch Rechtsverordnungen der Bundesregierung festgelegt würden. 89 In diesem Zusammenhang sei hervorzuheben, dass Art. 35 Abs. 4 der Richtlinie 2009/72 und Art. 39 Abs. 4 der Richtlinie 2009/73 die Unabhängigkeit der NRB im Vergleich zu den früheren Rechtsvorschriften der Union gestärkt hätten. 90 Im Übrigen habe, selbst wenn man davon ausgehe, dass die im Urteil vom 13. Juni 1958, Meroni/Hohe Behörde (9/56, EU:C:1958:7), hinsichtlich der Zuständigkeitsübertragung auf Unionsagenturen etablierten Grundsätze auf NRB übertragbar seien, im vorliegenden Fall das Unionsrecht selbst die Kriterien und Bedingungen hinreichend festgelegt, die gemäß dem Urteil vom 22. Januar 2014, Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat (C‑270/12, EU:C:2014:18, Rn. 41 bis 54), die den NRB zugewiesene Zuständigkeit eingrenzen und ihren Handlungsspielraum begrenzen müssten, so dass die Ausübung dieser Zuständigkeit gerichtlich überprüft werden könne. 91 Die Bundesrepublik Deutschland macht, unterstützt durch das Königreich Schweden, zunächst geltend, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 194 Abs. 2 AEUV dafür zuständig blieben, die Bedingungen für die Nutzung ihrer Energieressourcen zu bestimmen. Im Hinblick insbesondere auf das Ziel, die Erzeugung von Kernenergie bis 2022 einzustellen, bestehe ein „erheblicher Ausbaubedarf“ hinsichtlich der Übertragungsnetze für Elektrizität und Erdgas, wobei sichergestellt sein müsse, dass die damit verbundenen Kosten nicht das für die Verbraucher tragbare Maß überstiegen. 92 In diesem Zusammenhang ermächtige § 24 EnWG die Bundesregierung, „mit Zustimmung des Bundesrates als Verordnungsgeberin im Sinne des Art. 80 Abs. 1 GG tätig zu werden“. Auch wenn der NRB ein „erheblicher Ermessensspielraum“ zustehe, gebiete nämlich der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit in seiner Ausprägung als Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes – Grundsätze, die Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips seien –, dass die Ermessensausübung dieser Behörde „vorstrukturiert“ sei, um entsprechend den Anforderungen des GG eine ununterbrochene demokratische Legitimationskette sicherzustellen. 93 Des Weiteren sei § 24 Satz 1 EnWG mit den Bestimmungen der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 über die Aufgaben der NRB vereinbar. Der Wortlaut der letztgenannten Bestimmungen lasse nämlich nicht den Schluss zu, dass die NRB zwingend für die Festlegung sowohl der Übertragungs- oder Verteilungstarife als auch der Methoden zur Berechnung dieser Tarife zuständig sein müsse. Eine gegenteilige Auslegung liefe Sinn und Zweck sowie der Entstehungsgeschichte dieser Richtlinien zuwider. 94 Nach dem Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie verfügten die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der die Zuständigkeiten der NRB betreffenden Bestimmungen der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 über ein Ermessen. Im Fall der Bundesrepublik Deutschland würden die Berechnungsmethoden durch den Gesetz- und Verordnungsgeber abstrakt-generell festgelegt, während die NRB dafür zuständig sei, diese Methoden zu ergänzen und teils zu modifizieren und auf der Grundlage dieser Berechnungsmethoden konkrete Entscheidungen zu treffen. In Ermangelung hinreichend genauer materieller Vorgaben zur Ausgestaltung der Netzzugangs- und Tarifierungsmethoden seien die Mitgliedstaaten, um eine ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinien zu gewährleisten, gezwungen, eigene Maßstäbe aufzustellen, um das regulierungsbehördliche Ermessen der NRB zu lenken. 95 Diese Auffassung werde durch das Urteil vom 29. Oktober 2009, Kommission/Belgien (C‑474/08, nicht veröffentlicht, EU:C:2009:681), nicht entkräftet, da es sich im vorliegenden Fall bei den auf der Grundlage von § 24 EnWG erlassenen Rechtsverordnungen um materielle Gesetze und nicht um Weisungen der Bundesregierung in ihrer Funktion als übergeordnete Behörde der NRB handele. Wenn die Bundesregierung auf dieser Grundlage Verordnungen erlasse, werde sie nämlich „nicht als Teil der Exekutive tätig, sondern [nehme] mit Zustimmung des Bundesrates legislative Aufgaben wahr“. Die fraglichen Rechtsverordnungen stellten daher keine Verletzung der Unabhängigkeit der NRB dar, da diese keinen Weisungen durch Regierungsstellen oder andere Behörden unterliege. 96 Schließlich macht die Bundesrepublik Deutschland geltend, dass die im Urteil vom 13. Juni 1958, Meroni/Hohe Behörde (9/56, EU:C:1958:7), aufgestellten Grundsätze auch dann anwendbar seien, wenn der Unionsgesetzgeber unabhängigen nationalen Behörden Befugnisse übertrage. Nach diesen Grundsätzen sei die Übertragung von Aufgaben an solche Behörden nur möglich, wenn der Unionsgesetzgeber zuvor hinreichend genaue Vorschriften über die Aufgaben und Befugnisse der Behörden erlassen habe. Habe der Unionsgesetzgeber solche Vorschriften nicht erlassen, sei es Sache der Mitgliedstaaten, dies zu tun. Dieses Erfordernis ergebe sich auch aus dem Demokratie- und dem Rechtsstaatsprinzip, die Teil der grundlegenden politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland seien, die die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV zu achten habe. 97 In ihrer Gegenerwiderung wirft die Bundesrepublik Deutschland der Kommission vor, sie habe den Streitgegenstand unzulässig erweitert, indem sie in ihrer Erwiderung eine zusätzliche Rüge – nämlich eine Verletzung der Unabhängigkeit der NRB – erhoben bzw. die ursprüngliche Rüge abgeändert habe. Würdigung durch den Gerichtshof – Zur Zulässigkeit 98 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine Partei im Lauf des Verfahrens den Streitgegenstand nicht ändern kann und dass die Begründetheit einer Klage allein anhand der in der Klageschrift enthaltenen Anträge zu prüfen ist (vgl. u. a. Urteil vom 11. November 2010, Kommission/Portugal, C‑543/08, EU:C:2010:669, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung). 99 Des Weiteren obliegt es nach Art. 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Kommission, in jeder nach Art. 258 AEUV erhobenen Klage genau die Rügen anzugeben, über die der Gerichtshof entscheiden soll, und zumindest in gedrängter Form die rechtlichen und tatsächlichen Umstände darzulegen, auf die diese Rügen gestützt sind (Urteil vom 16. Juli 2015, Kommission/Bulgarien, C‑145/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:502, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 100 Mit ihrer vierten Rüge wirft die Kommission der Bundesrepublik Deutschland vor, sie habe Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/72 sowie Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/73 nicht ordnungsgemäß umgesetzt, da § 24 Satz 1 EnWG der Bundesregierung Zuständigkeiten zuweise, die nach diesen Bestimmungen ausschließliche Zuständigkeiten der NRB seien. 101 Wie der Generalanwalt in Nr. 100 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, können aber sowohl die Verleihung der Befugnis, in Zuständigkeitsbereichen der NRB tätig zu werden, an eine andere Stelle als die NRB als auch die Bindung dieser Behörde an von anderen Stellen erlassene Vorschriften, die detailliert die Ausübung der ihr vorbehaltenen Zuständigkeiten regeln, die Möglichkeit der NRB beschränken, in diesen Bereichen Entscheidungen selbständig und ohne äußere Einflüsse zu treffen. 102 Daraus folgt, dass die vierte Rüge Fragen betrifft, die insofern eng miteinander verbunden sind, als die Zuweisung von Zuständigkeiten, die der NRB vorbehalten sind, an eine andere Stelle als die NRB nach Auffassung der Kommission eine Verletzung der Unabhängigkeit dieser Behörde darstellen kann, weil diese Zuständigkeiten nach Art. 35 der Richtlinie 2009/72 und Art. 39 der Richtlinie 2009/73 selbständig auszuüben sind. Das Vorbringen der Kommission bezüglich der Unabhängigkeit der NRB kann daher weder als eine neue Rüge angesehen werden, die sich von der ursprünglich erhobenen unterschiede, noch als Änderung der ursprünglichen Rüge. Folglich ist dieses Vorbringen zulässig. – Zur Begründetheit 103 Art. 37 Abs. 1 der Richtlinie 2009/72 und Art. 41 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 verleihen der NRB verschiedene Zuständigkeiten, darunter jeweils in Buchst. a dieser Absätze die Zuständigkeit dafür, anhand transparenter Kriterien die Fernleitungs- und Verteilungstarife bzw. die entsprechenden Berechnungsmethoden festzulegen oder zu genehmigen. 104 Art. 37 Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/72 und Art. 41 Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/73 verleihen ihrerseits der NRB insbesondere die Zuständigkeit dafür, zumindest die Methoden zur Berechnung oder Festlegung der Bedingungen für den Anschluss an und den Zugang zu den nationalen Netzen, einschließlich der anwendbaren Tarife, sowie die Bedingungen für die Erbringung von Ausgleichsleistungen festzulegen oder zu genehmigen. 105 Der im Wortlaut dieser Vorschriften enthaltene Ausdruck „zumindest“ zeigt bei einer Betrachtung im Licht des 36. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2009/72 bzw. des 32. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2009/73, dass die Bestimmung der Methoden zur Berechnung oder Festlegung der Bedingungen für den Anschluss an und den Zugang zu den nationalen Netzen, einschließlich der anwendbaren Tarife, zu den Zuständigkeiten gehört, die den NRB unmittelbar aufgrund dieser Richtlinien vorbehalten sind. 106 Insoweit hat der Gerichtshof im Wege der Auslegung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2003/54, der ähnliche Regelungen wie die in Rn. 104 des vorliegenden Urteils genannten enthielt, bereits entschieden, dass die Zuweisung der Zuständigkeit für die Festlegung wichtiger, die Festsetzung der Tarife betreffender Gesichtspunkte wie der Gewinnspanne an eine andere Behörde als die NRB nicht im Einklang mit diesen Regelungen steht, da eine solche Zuweisung den Umfang der der NRB durch diese Richtlinie vorbehaltenen Zuständigkeiten vermindert (vgl. entsprechend Urteil vom 29. Oktober 2009, Kommission/Belgien, C‑474/08, nicht veröffentlicht, EU:C:2009:681, Rn. 29 und 30). 107 Im Übrigen sehen Art. 35 Abs. 4 Buchst. a und Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2009/72 sowie Art. 39 Abs. 4 Buchst. a und Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2009/73 vor, dass die NRB ihre Zuständigkeit unabhängig von öffentlichen Einrichtungen bzw. politischen Stellen ausüben. 108 Zum Begriff der „Unabhängigkeit“, der weder in der Richtlinie 2009/72 noch in der Richtlinie 2009/73 definiert wird, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dieser Begriff in Bezug auf öffentliche Stellen seinem gewöhnlichen Sinn nach eine Stellung bezeichnet, die garantiert, dass die betreffende Stelle im Verhältnis zu den Einrichtungen, denen gegenüber ihre Unabhängigkeit zu wahren ist, völlig frei handeln kann und dabei vor jeglicher Weisung und Einflussnahme von außen geschützt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2020, Prezident Slovenskej republiky, C‑378/19, EU:C:2020:462, Rn. 32 und 33). 109 Der Gerichtshof hat klargestellt, dass diese Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung bedeutet, dass die NRB im Rahmen der in Art. 37 der Richtlinie 2009/72 genannten Regulierungsaufgaben und ‑befugnisse ihre Entscheidungen selbständig und allein auf der Grundlage des öffentlichen Interesses trifft, um die Einhaltung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele zu gewährleisten, ohne externen Weisungen anderer öffentlicher oder privater Stellen unterworfen zu sein (Urteil vom 11. Juni 2020, Prezident Slovenskej republiky, C‑378/19, EU:C:2020:462, Rn. 54). 110 Zwar lässt gemäß Art. 35 Abs. 4 Buchst. b Ziff. ii der Richtlinie 2009/72 und Art. 39 Abs. 4 Buchst. b Ziff. ii der Richtlinie 2009/73 das dort genannte Erfordernis der Unabhängigkeit allgemeine politische Leitlinien der Regierung unberührt. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen geht jedoch klar hervor, dass solche allgemeinen Leitlinien nicht mit den Regulierungsaufgaben und ‑befugnissen gemäß Art. 37 der Richtlinie 2009/72 bzw. Art. 41 der Richtlinie 2009/73 im Zusammenhang stehen. 111 In diesem Kontext ist hervorzuheben, dass diese Richtlinien gemäß dem 33. Erwägungsgrund der erstgenannten und dem 29. Erwägungsgrund der zweitgenannten auch darauf abzielen, die Unabhängigkeit der NRB gegenüber dem in der früheren Regelung vorgesehenen System zu stärken. 112 Wie der Generalanwalt in Nr. 112 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die völlige Unabhängigkeit der NRB gegenüber Wirtschaftsteilnehmern und öffentlichen Einrichtungen, unabhängig davon, ob es sich bei Letzteren um Verwaltungsorgane oder politische Stellen und, im letztgenannten Fall, um Träger der exekutiven oder der legislativen Gewalt handelt, notwendig, um zu gewährleisten, dass die von den NRB getroffenen Entscheidungen unparteiisch und nicht diskriminierend sind, was die Möglichkeit einer bevorzugten Behandlung der mit der Regierung, der Mehrheit oder jedenfalls der politischen Macht verbundenen Unternehmen und wirtschaftlichen Interessen ausschließt. Zudem gibt die völlige Trennung von der politischen Macht den NRB die Möglichkeit, bei ihrem Handeln eine langfristige Perspektive zu verfolgen, die erforderlich ist, um die Ziele der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 zu verwirklichen. 113 Daraus folgt, dass eine Auslegung von Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/72 sowie von Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/73 in dem Sinne, dass es einer nationalen Regierung freisteht, die von den NRB anzuwendenden Methoden zur Berechnung der Netzzugangstarife und der Ausgleichsleistungen festzulegen oder zu genehmigen, den Zielen dieser Richtlinien zuwiderliefe. 114 Im vorliegenden Fall verleiht § 24 Satz 1 EnWG der Bundesregierung die Zuständigkeit, mit Zustimmung des Bundesrats nicht nur die Bedingungen für den Netzzugang einschließlich der Erbringung von Ausgleichsleistungen oder Methoden zur Bestimmung dieser Bedingungen sowie Methoden zur Bestimmung der Entgelte für den Netzzugang festzulegen, sondern auch zu regeln, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen die NRB diese Bedingungen oder Methoden festlegen oder auf Antrag des Netzbetreibers genehmigen kann, und zu regeln, in welchen Sonderfällen der Netznutzung und unter welchen Voraussetzungen die NRB im Einzelfall individuelle Entgelte für den Netzzugang genehmigen oder untersagen kann. 115 § 24 Satz 1 EnWG überträgt somit unmittelbar der Bundesregierung bestimmte Zuständigkeiten, die ausschließlich der NRB vorbehalten sind, und verleiht ihr unter Verstoß gegen Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/72 sowie Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/73 die Befugnis, die NRB zur Ausübung dieser Zuständigkeiten zu ermächtigen. 116 Wie der Generalanwalt in Nr. 106 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann die Unabhängigkeit, die der NRB durch die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 im Rahmen der durch Art. 37 der erstgenannten und Art. 41 der zweitgenannten Richtlinie ausschließlich ihr übertragenen Aufgaben und Befugnisse verliehen wird, jedoch nicht durch Rechtsakte wie im vorliegenden Fall die von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats auf der Grundlage von § 24 EnWG erlassenen Rechtsverordnungen beschränkt werden. 117 Keines der von der Bundesrepublik Deutschland vorgebrachten Argumente vermag diese Beurteilung in Frage zu stellen. 118 Was erstens den Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie anbelangt, sind die Mitgliedstaaten nach Art. 288 AEUV verpflichtet, bei der Umsetzung einer Richtlinie deren vollständige Wirksamkeit zu gewährleisten, wobei sie aber über einen weiten Wertungsspielraum hinsichtlich der Wahl der Mittel und Wege zu ihrer Durchführung verfügen. Diese Freiheit lässt die Verpflichtung der einzelnen Mitgliedstaaten unberührt, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die vollständige Wirksamkeit der Richtlinie entsprechend ihrer Zielsetzung zu gewährleisten (Urteil vom 19. Oktober 2016, Ormaetxea Garai und Lorenzo Almendros, C‑424/15, EU:C:2016:780, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 119 Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten bei der Organisation und Strukturierung ihrer NRB zwar über eine Autonomie verfügen, diese Autonomie jedoch unter vollständiger Beachtung der in den Richtlinien 2009/72 und 2009/73 festgelegten Ziele und Pflichten auszuüben ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2020, Prezident Slovenskej republiky, C‑378/19, EU:C:2020:462, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung), mit denen sichergestellt werden soll, dass die NRB bei der Ausübung der ihnen vorbehaltenen Zuständigkeiten ihre Entscheidungen autonom erlassen. 120 Was zweitens das Vorbringen anbelangt, dass die in Rede stehenden Richtlinien keine hinreichend genauen materiellen Vorgaben zur Ausgestaltung der Netzzugangs- und Tarifierungsmethoden enthielten, so geht aus Art. 37 Abs. 1 der Richtlinie 2009/72 und Art. 41 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 hervor, dass die Fernleitungs- und Verteilungstarife bzw. die entsprechenden Berechnungsmethoden anhand transparenter Kriterien zu bestimmen sind. Nach Abs. 6 Buchst. a dieser beiden Artikel sind diese Tarife und ihre Berechnungsmethoden sowie die Bedingungen für den Anschluss an und den Zugang zu den nationalen Netzen unter Berücksichtigung der Notwendigkeit zu bestimmen, dass die notwendigen Investitionen in die Netze so vorgenommen werden können, dass die Lebensfähigkeit der Netze gewährleistet ist. Außerdem ergibt sich aus Abs. 10 dieser Bestimmungen, dass solche Tarife und Berechnungsmethoden angemessen sein und in nicht diskriminierender Weise angewandt werden müssen. 121 Des Weiteren müssen nach Art. 37 Abs. 6 Buchst. b der Richtlinie 2009/72 und Art. 41 Abs. 6 Buchst. b der Richtlinie 2009/73 die Ausgleichsleistungen möglichst wirtschaftlich sein und den Netzbenutzern geeignete Anreize bieten, die Einspeisung und Abnahme von Elektrizität bzw. Gas auszugleichen, sowie auf faire und nicht diskriminierende Weise erbracht und auf objektive Kriterien gestützt werden. Schließlich müssen die NRB nach Abs. 8 dieser Artikel bei der Festsetzung oder Genehmigung der Tarife oder Methoden und der Ausgleichsleistungen sicherstellen, dass für die Übertragungs- und Verteilerbetreiber angemessene Anreize geschaffen werden, sowohl kurzfristig als auch langfristig die Effizienz zu steigern, die Marktintegration und die Versorgungssicherheit zu fördern und entsprechende Forschungsarbeiten zu unterstützen. 122 Die in den Richtlinien 2009/72 und 2009/73 vorgesehenen Kriterien werden durch weitere Rechtsakte konkretisiert, nämlich durch die Verordnung (EG) Nr. 714/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1228/2003 (ABl. 2009, L 211, S. 15) sowie durch die Verordnung (EG) Nr. 715/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungsnetzen und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 (ABl. 2009, L 211, S. 36), die auf den grenzüberschreitenden Handel anwendbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Dezember 2020, Kommission/Belgien [Märkte für Elektrizität und Erdgas], C‑767/19, EU:C:2020:984, Rn. 112). Diese Verordnungen werden durch mehrere Netzkodizes ergänzt, die durch Verordnungen der Kommission eingeführt wurden. 123 In Anbetracht eines derart detaillierten normativen Rahmens auf Unionsebene, aus dem sich, wie der Generalanwalt in Nr. 118 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt, dass die Tarife und Berechnungsmethoden für den inländischen und den grenzüberschreitenden Handel auf der Grundlage einheitlicher Kriterien festzulegen sind, kann der Bundesrepublik Deutschland nicht darin gefolgt werden, dass es für die Umsetzung der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 erforderlich sei, Kriterien für die Berechnung der Tarife auf nationaler Ebene aufzustellen. 124 Was drittens das Argument anbelangt, die nach § 24 EnWG erlassenen Rechtsverordnungen seien gesetzgeberischer Natur, was erforderlich sei, um die demokratische Legitimation zu gewährleisten, so ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 10 Abs. 1 EUV die Arbeitsweise der Union auf dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie beruht, der den in Art. 2 EUV genannten Wert der Demokratie konkretisiert (Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C‑502/19, EU:C:2019:1115‚ Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung). 125 Dieser Grundsatz spiegelt sich voll und ganz in dem Gesetzgebungsverfahren wider, in dem die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 erlassen wurden. Als den Mitgliedstaaten gemeinsamer Grundsatz ist er bei der Auslegung dieser Richtlinien – so auch bei der Auslegung der hier in Rede stehenden Bestimmungen – zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. März 2010, Kommission/Deutschland, C‑518/07, EU:C:2010:125, Rn. 41). 126 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass das Demokratieprinzip dem nicht entgegensteht, dass es außerhalb des klassischen hierarchischen Verwaltungsaufbaus angesiedelte, von der Regierung mehr oder weniger unabhängige öffentliche Stellen gibt, die oftmals Regulierungsfunktionen oder Aufgaben wahrnehmen, die der politischen Einflussnahme entzogen sein müssen, dabei aber an das Gesetz gebunden und der Kontrolle durch die zuständigen Gerichte unterworfen bleiben. Der Umstand, dass den NRB eine von der allgemeinen Staatsverwaltung unabhängige Stellung zukommt, ist für sich allein noch nicht geeignet, diesen Behörden die demokratische Legitimation zu nehmen, sofern sie nicht jeder parlamentarischen Einflussmöglichkeit entzogen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2010, Kommission/Deutschland, C‑518/07, EU:C:2010:125, Rn. 42, 43 und 46). 127 Die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 stehen dem indessen nicht entgegen, dass die Personen, die die Leitung der NRB ausüben, vom Parlament oder von der Regierung ernannt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2020, Prezident Slovenskej republiky, C‑378/19, EU:C:2020:462, Rn. 36 bis 39). Ebenso wenig stehen sie einer parlamentarischen Kontrolle dieser Behörden nach dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten entgegen, wie sich aus dem 34. Erwägungsgrund der erstgenannten und dem 30. Erwägungsgrund der zweitgenannten Richtlinie ergibt. 128 Im Übrigen verpflichten Art. 37 Abs. 17 der Richtlinie 2009/72 und Art. 41 Abs. 17 der Richtlinie 2009/73 die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass auf nationaler Ebene geeignete Verfahren bestehen, die einer betroffenen Partei das Recht geben, gegen eine Entscheidung der NRB bei einer von den beteiligten Parteien und Regierungen unabhängigen Stelle Beschwerde einzulegen. Ein solches Erfordernis leitet sich aus dem Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ab, der ein allgemeiner, in Art. 47 der Charta verankerter Grundsatz des Unionsrechts ist (Urteil vom 16. Juli 2020, Kommission/Ungarn [Entgelte für den Zugang zu den Stromübertragungsnetzen und den Erdgasfernleitungsnetzen], C‑771/18, EU:C:2020:584, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 129 Unter diesen Umständen kann sich die Bundesrepublik Deutschland nicht auf das in der Union garantierte Demokratieprinzip berufen, um einer anderen Behörde als der NRB Zuständigkeiten zuzuweisen, die gemäß Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/72 sowie Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/73 ausschließlich der NRB zustehen. 130 Überdies ist, selbst wenn die von der Bundesregierung nach § 24 EnWG erlassenen Rechtsverordnungen „materielle Gesetze“ sein sollten, in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 124 seiner Schlussanträge darauf hinzuweisen, dass die durch die Richtlinien 2009/72 und 2009/73 ausschließlich den NRB zugewiesenen Befugnisse sowie die Unabhängigkeit der NRB gegenüber allen politischen Stellen zu gewährleisten sind, also nicht nur gegenüber der Regierung, sondern auch gegenüber dem nationalen Gesetzgeber, dem es nicht gestattet ist, einen Teil dieser Befugnisse den NRB zu entziehen und sie anderen öffentlichen Stellen zuzuweisen. 131 Viertens ist zu dem auf das Urteil vom 13. Juni 1958, Meroni/Hohe Behörde (9/56, EU:C:1958:7), gestützten Argument – ohne dass auf die Frage eingegangen werden müsste, ob diese Rechtsprechung auf einen Fall wie den vorliegenden, der von den Mitgliedstaaten in Anwendung einer Richtlinie benannte nationale Behörden betrifft, übertragbar ist – in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 134 seiner Schlussanträge festzustellen, dass die Auslegung von Art. 37 der Richtlinie 2009/72 und Art. 41 der Richtlinie 2009/73, die insbesondere aus den Rn. 105 und 113 des vorliegenden Urteils hervorgeht, jedenfalls mit dieser Rechtsprechung im Einklang steht. Nach dieser ist es nicht zulässig, einen Ermessensspielraum, der je nach der Art seiner Ausübung echte politische Entscheidungen ermöglichen kann, auf Verwaltungsstellen zu übertragen, so dass an die Stelle des Ermessens der übertragenden Behörde das Ermessen derjenigen Stelle tritt, der die Befugnisse übertragen worden sind, was eine „tatsächliche Verlagerung der Verantwortung“ mit sich bringt. Zulässig ist hingegen eine Übertragung genau umgrenzter Ausführungsbefugnisse, deren Ausübung einer strengen Kontrolle im Hinblick auf die Beachtung objektiver Tatbestandsmerkmale unterliegt, die von der übertragenden Behörde festgesetzt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Januar 2014, Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat, C‑270/12, EU:C:2014:18, Rn. 41, 42 und 54). 132 Zum einen fallen die den NRB vorbehaltenen Zuständigkeiten in den Bereich der Durchführung, und zwar auf der Grundlage einer technisch-fachlichen Beurteilung der Wirklichkeit. Zum anderen unterliegen die NRB, wie sich aus den Rn. 120 bis 123 des vorliegenden Urteils ergibt, bei der Ausübung dieser Zuständigkeiten Grundsätzen und Regeln, die durch einen detaillierten normativen Rahmen auf Unionsebene festgelegt werden, ihren Wertungsspielraum beschränken und sie daran hindern, Entscheidungen politischer Art zu treffen. 133 Nach alledem ist der vierten von der Kommission zur Stützung ihrer Klage erhobenen Rüge stattzugeben und festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch, dass sie Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/72 sowie Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/73 nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, gegen ihre Verpflichtungen aus diesen Richtlinien verstoßen hat. Kosten 134 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. 135 Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 136 Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten tragen, ist zu entscheiden, dass das Königreich Schweden seine eigenen Kosten trägt. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch, dass sie – Art. 2 Nr. 21 der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG sowie Art. 2 Nr. 20 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG, – Art. 19 Abs. 3 und 8 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73, – Art. 19 Abs. 5 der Richtlinien 2009/72 und 2009/73 sowie – Art. 37 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/72 sowie Art. 41 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 6 Buchst. a und b der Richtlinie 2009/73 nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, gegen ihre Verpflichtungen aus diesen Richtlinien verstoßen. 2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten. 3. Das Königreich Schweden trägt seine eigenen Kosten. Vilaras Lenaerts Piçarra Šváby Rodin Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 2. September 2021. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident der Vierten Kammer M. Vilaras (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. Juli 2021.#IX gegen WABE eV und MH Müller Handels GmbH gegen MJ.#Vorabentscheidungsersuchen des Arbeitsgerichts Hamburg und des Bundesarbeitsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Verbot von Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung – Interne Regel eines privaten Unternehmens, die das sichtbare Tragen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Zeichen oder das Tragen auffälliger großflächiger politischer, weltanschaulicher oder religiöser Zeichen am Arbeitsplatz verbietet – Unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung – Verhältnismäßigkeit – Abwägung zwischen der Religionsfreiheit und anderen Grundrechten – Rechtmäßigkeit der Neutralitätspolitik des Arbeitgebers – Erforderlichkeit des Nachweises eines wirtschaftlichen Nachteils für den Arbeitgeber.#Verbundene Rechtssachen C-804/18 und C-341/19.
62018CJ0804
ECLI:EU:C:2021:594
2021-07-15T00:00:00
Gerichtshof, Rantos
62018CJ0804 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 15. Juli 2021 (*1) [Text berichtigt mit Beschluss vom 16. September 2021] „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Verbot von Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung – Interne Regel eines privaten Unternehmens, die das sichtbare Tragen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Zeichen oder das Tragen auffälliger großflächiger politischer, weltanschaulicher oder religiöser Zeichen am Arbeitsplatz verbietet – Unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung – Verhältnismäßigkeit – Abwägung zwischen der Religionsfreiheit und anderen Grundrechten – Rechtmäßigkeit der Neutralitätspolitik des Arbeitgebers – Erforderlichkeit des Nachweises eines wirtschaftlichen Nachteils für den Arbeitgeber“ In den verbundenen Rechtssachen C-804/18 und C-341/19 betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Arbeitsgericht Hamburg (Deutschland) (C-804/18) und vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) (C-341/19) mit Entscheidungen vom 21. November 2018 und vom 30. Januar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Dezember 2018 und am 30. April 2019, in den Verfahren IX gegen WABE e. V. (C-804/18) und MH Müller Handels GmbH gegen MJ (C-341/19) erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan, L. Bay Larsen, N. Piçarra und A. Kumin sowie des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, F. Biltgen (Berichterstatter) und P. G. Xuereb, der Richterin L. S. Rossi und des Richters I. Jarukaitis, Generalanwalt: A. Rantos, Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. November 2020, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von IX, vertreten durch Rechtsanwalt K. Bertelsmann, – des WABE e. V., vertreten durch Rechtsanwalt C. Hoppe, – der MH Müller Handels GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt F. Werner, – von MJ, vertreten durch Rechtsanwalt G. Sendelbeck, – der griechischen Regierung, vertreten durch E. M. Mamouna und K. Boskovits als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der schwedischen Regierung, vertreten durch H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg und A. Falk als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann, M. Van Hoof und C. Valero als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Februar 2021 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a und b, Art. 4 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) sowie der Art. 10 und 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C-804/18 ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen IX und ihrem Arbeitgeber, dem WABE e. V. (im Folgenden: WABE), einem in Deutschland eingetragenen Verein, der eine große Anzahl von Kindertagesstätten betreibt, wegen der Freistellung von IX nach ihrer Weigerung, sich an das von WABE aufgestellte Verbot zu halten, wonach die Mitarbeiter am Arbeitsplatz keine sichtbaren Zeichen ihrer politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen tragen dürfen, wenn sie Kontakt mit den Eltern oder deren Kindern haben. 3 Das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C-341/19 ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der MH Müller Handels GmbH (im Folgenden: MH), einer Gesellschaft, die in Deutschland eine Kette von Drogerien betreibt, und ihrer Angestellten MJ über die Rechtmäßigkeit der MJ von MH erteilten Weisung, am Arbeitsplatz keine auffälligen großflächigen Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Art zu tragen. Rechtlicher Rahmen Richtlinie 2000/78 4 In den Erwägungsgründen 1, 4, 11 und 12 der Richtlinie 2000/78 heißt es: „(1) Nach Artikel 6 Absatz 2 [EUV] beruht die Europäische Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des [Unions]rechts ergeben. ... (4) Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Schutz vor Diskriminierung ist ein allgemeines Menschenrecht; dieses Recht wurde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im VN-Übereinkommen zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen, im Internationalen Pakt der VN über bürgerliche und politische Rechte, im Internationalen Pakt der VN über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkannt, die von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet wurden. Das Übereinkommen 111 der Internationalen Arbeitsorganisation untersagt Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf. ... (11) Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung können die Verwirklichung der im [AEU]-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit. (12) Daher sollte jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen [unions]weit untersagt werden. ...“ 5 Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt: „Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“ 6 Art. 2 der Richtlinie sieht vor: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. (2)   Im Sinne des Absatzes 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn: i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich, … ... (5)   Diese Richtlinie berührt nicht die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.“ 7 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt: „Im Rahmen der auf die [Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf ... c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts; ...“ 8 Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 lautet: „Die Mitgliedstaaten können Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.” Deutsches Recht Grundgesetz 9 Art. 4 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949 I S. 1, im Folgenden: GG) bestimmt: „(1)   Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2)   Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ 10 Art. 6 Abs. 2 GG sieht vor: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ 11 Art. 7 Abs. 1 bis 3 GG lautet: „(1)   Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. (2)   Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. (3)   Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.“ 12 Art. 12 GG bestimmt: „(1)   Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. ...“ Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz 13 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. 2006 I S. 1897, im Folgenden: AGG) soll die Richtlinie 2000/78 in deutsches Recht umsetzen. 14 § 1 AGG, in dem das Ziel dieses Gesetzes bestimmt wird, lautet: „Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“ 15 § 2 Abs. 1 AGG bestimmt: „Benachteiligungen aus einem in § 1 genannten Grund sind nach Maßgabe dieses Gesetzes unzulässig in Bezug auf: 1. die Bedingungen, einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen, für den Zugang zu unselbstständiger und selbstständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, sowie für den beruflichen Aufstieg, 2. die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich Arbeitsentgelt und Entlassungsbedingungen, insbesondere in individual- und kollektivrechtlichen Vereinbarungen und Maßnahmen bei der Durchführung und Beendigung eines Beschäftigungsverhältnisses sowie beim beruflichen Aufstieg, ...“ 16 § 3 Abs. 1 und 2 AGG sieht vor: „(1)   Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn eine Person wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. Eine unmittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechts liegt in Bezug auf § 2 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 auch im Falle einer ungünstigeren Behandlung einer Frau wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft vor. (2)   Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“ 17 § 7 Abs. 1 bis 3 AGG bestimmt: „(1)   Beschäftigte dürfen nicht wegen eines in § 1 genannten Grundes benachteiligt werden; dies gilt auch, wenn die Person, die die Benachteiligung begeht, das Vorliegen eines in § 1 genannten Grundes bei der Benachteiligung nur annimmt. (2)   Bestimmungen in Vereinbarungen, die gegen das Benachteiligungsverbot des Absatzes 1 verstoßen, sind unwirksam. (3)   Eine Benachteiligung nach Absatz 1 durch Arbeitgeber oder Beschäftigte ist eine Verletzung vertraglicher Pflichten.“ 18 § 8 Abs. 1 AGG lautet: „Eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 genannten Grundes ist zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.“ 19 § 15 AGG sieht vor: „(1)   Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen. Dies gilt nicht, wenn der Arbeitgeber die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. (2)   Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. Die Entschädigung darf bei einer Nichteinstellung drei Monatsgehälter nicht übersteigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre. (3)   Der Arbeitgeber ist bei der Anwendung kollektivrechtlicher Vereinbarungen nur dann zur Entschädigung verpflichtet, wenn er vorsätzlich oder grob fahrlässig handelt.“ Bürgerliches Gesetzbuch 20 Nach § 134 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist „[e]in Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ... nichtig, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt“. Gewerbeordnung 21 § 106 der Gewerbeordnung (im Folgenden: GewO) bestimmt: „Der Arbeitgeber kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Dies gilt auch hinsichtlich der Ordnung und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb. Bei der Ausübung des Ermessens hat der Arbeitgeber auch auf Behinderungen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen Rechtssache C-804/18 22 WABE betreibt eine große Anzahl von Kindertagesstätten in Deutschland, die mehr als 600 Arbeitnehmer beschäftigen und etwa 3500 Kinder aufnehmen. Der Verein erklärt, überparteilich und überkonfessionell zu sein. 23 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen in dieser Rechtssache geht hervor, dass WABE in seiner täglichen Arbeit der im März 2012 von der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration der Stadt Hamburg (Deutschland) veröffentlichten Hamburger Bildungsempfehlung für die Bildung und Erziehung von Kindern in Tageseinrichtungen folgt und diese uneingeschränkt teilt. In diesen Empfehlungen heißt es u. a., dass „[a]lle Kindertageseinrichtungen ... die Aufgabe [haben], grundsätzliche ethische Fragen sowie religiöse und andere Weltanschauungen als Teil der Lebenswelt aufzugreifen und verständlich zu machen. Kitas geben daher Raum dafür, dass Kinder sich mit den Sinnfragen nach Freude und Leid, Gesundheit und Krankheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Schuld und Versagen, Frieden und Streit und mit der Frage nach Gott auseinandersetzen. Sie unterstützen die Kinder darin, Empfindungen und Überzeugungen zu diesen Fragen einzubringen. Die Möglichkeit zu einer neugierigen, forschenden Auseinandersetzung mit diesen Fragen führt zur Beschäftigung mit Inhalten und Traditionen der in der Kindergruppe vertretenen religiösen und kulturellen Orientierungen. Auf diese Weise entwickeln sich Wertschätzung und Respekt gegenüber anderen Religionen, Kulturen und Weltanschauungen. Diese Auseinandersetzung stärkt das Kind in seinem Selbstverständnis und im Erleben einer funktionierenden Gesellschaft. Hierzu gehört auch, die Kinder religiös verwurzelte Feste im Jahresablauf erleben und aktiv gestalten zu lassen. In der Begegnung mit anderen Religionen erfahren Kinder unterschiedliche Formen der Besinnlichkeit, des Glaubens und der Spiritualität.“ 24 IX ist Heilerziehungspflegerin und seit dem Jahr 2014 bei WABE beschäftigt. Sie entschied sich Anfang 2016, das islamische Kopftuch zu tragen. Vom 15. Oktober 2016 bis 30. Mai 2018 war sie in Elternzeit. 25 Im März 2018 erließ WABE die „Dienstanweisung zur Einhaltung des Neutralitätsgebots“, die in seinen Einrichtungen zur Anwendung kommen sollte. Von dieser Dienstanweisung nahm IX am 31. Mai 2018 Kenntnis. Laut dieser Dienstanweisung „ist [WABE] überkonfessionell und begrüßt ausdrücklich die Religions- und Kulturvielfalt. Um eine individuelle und freie Entwicklung der Kinder im Hinblick auf Religion, Weltanschauung und Politik zu gewährleisten, sind die Mitarbeiter ... dazu angehalten, das geltende Neutralitätsgebot gegenüber Eltern, Kindern und anderen Dritten strikt einzuhalten. [WABE] verfolgt diesen gegenüber eine Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität.“ Für die Beschäftigten von WABE in der Unternehmenszentrale gelten die Vorgaben des Neutralitätsgebots – mit Ausnahme der pädagogischen Fachberatung – nicht, da diese keinen Kundenkontakt haben. In diesem Zusammenhang dienen die nachfolgenden Regelungen „als Grundsätze für die konkrete Einhaltung des Neutralitätsgebots am Arbeitsplatz. – Die Mitarbeiter geben am Arbeitsplatz keine politischen, weltanschaulichen oder religiösen äußeren Bekundungen gegenüber Eltern, Kindern und Dritten ab. – Die Mitarbeiter tragen gegenüber Eltern, Kindern und Dritten am Arbeitsplatz keine sichtbaren Zeichen ihrer politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen. – Die Mitarbeiter bringen am Arbeitsplatz keine sich daraus ergebenden Riten gegenüber Eltern, Kindern und Dritten zum Ausdruck.“ 26 Im „Informationsblatt zum Neutralitätsgebot“ von WABE heißt es zu der Frage, ob christliches Kreuz, muslimisches Kopftuch oder jüdische Kippa getragen werden dürfen: „Nein, da die Kinder hinsichtlich einer Religion nicht von den Pädagogen beeinflusst werden sollen, ist dies nicht gestattet. Die bewusste Wahl einer religiös oder weltanschaulich bestimmten Kleidung steht im Widerspruch zum Neutralitätsgebot.“ 27 Am 1. Juni 2018 erschien IX an ihrem Arbeitsplatz mit einem islamischen Kopftuch. Da sie es ablehnte, dieses Kopftuch abzunehmen, wurde sie von der Leiterin der Einrichtung vorerst von der Arbeit freigestellt. 28 Am 4. Juni 2018 erschien IX erneut mit einem islamischen Kopftuch bekleidet an ihrem Arbeitsplatz. Ihr wurde eine auf dasselbe Datum datierte Abmahnung übergeben, mit der sie für das Tragen des Kopftuchs am 1. Juni 2018 abgemahnt und mit Hinweis auf das Neutralitätsgebot aufgefordert wurde, ihre Arbeit zukünftig ohne Kopftuch zu verrichten. Da sich IX erneut weigerte, dieses Kopftuch abzulegen, wurde sie nach Hause geschickt und vorerst freigestellt. Sie erhielt eine weitere Abmahnung vom selben Tage. 29 Im gleichen Zeitraum erwirkte WABE im Fall einer Mitarbeiterin, die ein Kreuz als Halskette trug, dass diese ihre Kette ablegte. 30 IX erhob beim vorlegenden Gericht Klage mit dem Antrag, WABE zu verurteilen, die Abmahnungen wegen des Tragens des islamischen Kopftuchs aus ihrer Personalakte zu entfernen. Zur Begründung ihrer Klage macht sie erstens geltend, dass sich das Verbot des sichtbaren Tragens von Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Art trotz seines allgemeinen Charakters unmittelbar auf das Tragen des islamischen Kopftuchs richte und daher eine unmittelbare Diskriminierung darstelle, zweitens, dass dieses Verbot ausschließlich Frauen betreffe und daher auch im Hinblick auf das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts zu prüfen sei, und drittens, dass dieses Verbot überproportional häufig Frauen mit Migrationshintergrund betreffe, so dass es auch eine Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft darstellen könne. Außerdem habe das Bundesverfassungsgericht (Deutschland) entschieden, dass das Verbot, das islamische Kopftuch in einer Kinderbetreuungseinrichtung zu tragen, einen schwerwiegenden Eingriff in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit darstelle und, um zulässig zu sein, an eine belegte und konkrete Gefahr anknüpfen müsse. Schließlich stehe auch das Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions (C-157/15, EU:C:2017:203), dem Antrag auf Entfernung der Abmahnungen nicht entgegen. In diesem Urteil habe der Gerichtshof nämlich lediglich unionsrechtliche Mindeststandards gesetzt, so dass der in Deutschland erreichte Diskriminierungsschutz durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 4 Abs. 1 GG und durch § 8 AGG nicht gesenkt werden müsse. 31 WABE beantragt beim vorlegenden Gericht, die Klage abzuweisen. Zur Begründung trägt er u. a. vor, dass die interne Regelung, die das sichtbare Tragen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Symbole verbiete, mit § 106 Satz 1 GewO in Verbindung mit § 7 Abs. 1 bis 3 AGG in Einklang stehe und dass diese nationalen Vorschriften unionsrechtskonform auszulegen seien. Nach dem Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions (C-157/15, EU:C:2017:203), könne ein privater Arbeitgeber eine Neutralitätspolitik innerhalb des Unternehmens durchsetzen, solange er diese Politik kohärent und systematisch verfolge und auf diejenigen Arbeitnehmer beschränke, die im Kontakt zu Kunden stünden. Eine mittelbare Diskriminierung liege nicht vor, wenn die betreffende Vorschrift durch ein rechtmäßiges Ziel, wie beispielsweise den Willen des Arbeitgebers, im Rahmen der Kundenkontakte eine Politik der Neutralität zu verfolgen, sachlich gerechtfertigt sei und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich seien. Dies sei hier der Fall. Im Übrigen könne IX nicht auf eine Stelle versetzt werden, die keinen Kontakt mit Kindern und Eltern beinhalte, da eine solche Stelle nicht ihren Fähigkeiten und Qualifikationen entspräche. Mit seinem Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions (C-157/15, EU:C:2017:203), habe der Gerichtshof die Gewichtung der Grundrechte nach der Charta im Fall eines arbeitgeberseitigen Neutralitätsgebots abschließend vorgenommen. Da § 3 Abs. 2 AGG der Durchführung von Unionsrecht diene, sei eine andere Gewichtung der Religionsfreiheit – wie die durch das Bundesverfassungsgericht vorgenommene – durch deutsche Gerichte nicht möglich, ohne dass gegen den Vorrang des Unionsrechts und den Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung verstoßen werde. Im Übrigen sei, selbst wenn für die Einschränkung der Religionsfreiheit das Vorliegen einer konkreten Gefahr oder eines konkreten wirtschaftlichen Nachteils dargetan werden müsste, dieser Nachweis im vorliegenden Fall erbracht, da sich aus den Einträgen der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf ihrem privaten Profil bei einem sozialen Netzwerk ergebe, dass sie mit ihrem Verhalten Dritte gezielt und bewusst beeinflussen möchte. 32 In Anbetracht dieser Argumente ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass IX im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 unmittelbar wegen der Religion diskriminiert worden sein könnte, weil die ungünstige Behandlung, die sie erfahren habe, nämlich die Abmahnung, an das geschützte Merkmal der Religion anknüpfe. 33 Für den Fall, dass keine unmittelbare Diskriminierung vorliege, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Neutralitätspolitik eines Unternehmens eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder, da das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verbot in der weit überwiegenden Zahl der Fälle Frauen betreffe, eine mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts darstellen könne. In diesem Zusammenhang fragt es sich, ob eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion und/oder des Geschlechts durch eine Neutralitätspolitik gerechtfertigt sein könne, die festgelegt worden sei, um die Wünsche von Kunden zu berücksichtigen. Im Übrigen möchte das vorlegende Gericht im Fall einer mittelbaren Ungleichbehandlung wegen der Religion klären, ob es bei der Prüfung der Angemessenheit einer solchen Ungleichbehandlung die in Art. 4 Abs. 1 GG vorgesehenen Voraussetzungen als günstigere Bestimmung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 berücksichtigen könne. 34 Vor diesem Hintergrund hat das Arbeitsgericht Hamburg (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Benachteiligt eine einseitige Weisung des Arbeitgebers, die das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen verbietet, Beschäftigte, die aufgrund religiöser Bedeckungsgebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, im Sinne von Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 unmittelbar wegen ihrer Religion? 2. Benachteiligt eine einseitige Weisung des Arbeitgebers, die das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen verbietet, eine Arbeitnehmerin, die wegen ihres muslimischen Glaubens ein Kopftuch trägt, im Sinne von Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 mittelbar wegen der Religion und/oder wegen des Geschlechts? Insbesondere: a) Kann nach der Richtlinie 2000/78 eine mittelbare Benachteiligung wegen der Religion und/oder wegen des Geschlechts auch dann mit dem subjektiven Wunsch des Arbeitgebers, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität zu verfolgen, gerechtfertigt werden, wenn der Arbeitgeber damit den subjektiven Wünschen seiner Kund*innen entsprechen möchte? b) Stehen die Richtlinie 2000/78 und/oder das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 der Charta angesichts Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 einer nationalen Regelung entgegen, nach der zum Schutz des Grundrechts der Religionsfreiheit ein Verbot religiöser Bekleidung nicht schon aufgrund einer abstrakten Eignung zur Gefährdung der Neutralität des Arbeitgebers, sondern nur aufgrund einer hinreichend konkreten Gefahr, insbesondere eines konkret drohenden wirtschaftlichen Nachteils für den Arbeitgeber oder einen betroffenen Dritten gerechtfertigt werden kann? Rechtssache C-341/19 35 MJ ist seit 2002 als Verkaufsberaterin und Kassiererin bei einer der Filialen von MH beschäftigt. Seit 2014 trägt sie ein islamisches Kopftuch. Da sie der Aufforderung von MH, das Kopftuch an ihrem Arbeitsplatz abzulegen, nicht nachkam, wurde ihr eine andere Stelle zugewiesen, die es ihr erlaubte, das Kopftuch zu tragen. Im Juni 2016 forderte MH sie erneut auf, das Kopftuch abzulegen. Nachdem MJ sich weigerte, dieser Aufforderung nachzukommen, wurde sie nach Hause geschickt. Im Juli 2016 erhielt sie von MH die Weisung, ohne auffällige großflächige Zeichen religiöser, politischer oder weltanschaulicher Überzeugungen an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen. 36 MJ erhob vor den nationalen Gerichten Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der fraglichen Weisung sowie auf Ersatz des erlittenen Schadens. Zur Begründung ihrer Klage berief sich MJ auf ihre durch das Grundgesetz geschützte Religionsfreiheit und machte dabei geltend, dass der von MH angestrebten Neutralitätspolitik kein unbedingter Vorrang vor der Religionsfreiheit zukomme und einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzogen werden müsse. MH machte geltend, dass seit Juli 2016 für alle ihre Verkaufsfilialen die Regel gelte, dass das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Zeichen am Arbeitsplatz verboten sei (im Folgenden: interne Leitlinie). Ziel dieser Leitlinie sei es, innerhalb des Unternehmens Neutralität zu wahren und damit Konflikte zwischen Beschäftigten zu vermeiden. Solche Konflikte, die auf die unterschiedlichen Religionen und Kulturen im Unternehmen zurückzuführen seien, habe es in der Vergangenheit schon mehrfach gegeben. 37 Nachdem die vorinstanzlichen Gerichte der Klage von MJ stattgegeben hatten, legte MH Revision zum Bundesarbeitsgericht (Deutschland) ein; dabei brachte sie ebenfalls vor, dass sich aus dem Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions (C-157/15, EU:C:2017:203), ergebe, dass es für die wirksame Anwendung eines Bekundungsverbots nicht erforderlich sei, den Eintritt eines konkreten wirtschaftlichen Nachteils oder das Ausbleiben von Kunden darzutun. So habe der Gerichtshof der durch Art. 16 der Charta geschützten unternehmerischen Freiheit größeres Gewicht beigemessen als der Religionsfreiheit. Ein abweichendes Ergebnis könne durch nationale Grundrechte nicht gerechtfertigt werden. 38 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass es, um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden zu können, die Rechtmäßigkeit der von MH an MJ gerichteten Weisung und der internen Leitlinie im Hinblick auf die Schranken des Weisungsrechts des Arbeitgebers nach § 106 Satz 1 GewO prüfen müsse. So führt das vorlegende Gericht aus, es werde erstens prüfen müssen, ob diese Weisung und die ihr zugrunde liegende interne Leitlinie eine Ungleichbehandlung im Sinne von § 3 AGG darstellten und diese Ungleichbehandlung zu einer unzulässigen Benachteiligung führe. Wahre diese Weisung die rechtlichen Rahmenbedingungen, sei weiter erforderlich, dass sie billigem Ermessen entspreche, was nach Ansicht des vorlegenden Gerichts eine Abwägung der wechselseitigen Interessen u. a. nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den allgemeinen Wertungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit sowie der Verkehrssitte verlange. In die Abwägung seien alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen. 39 Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass mit der internen Leitlinie von MH, die den Charakter einer allgemeinen Regel habe, eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion im Sinne von § 3 Abs. 2 AGG und Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 verbunden sei. MJ werde nämlich in besonderer Weise gegenüber anderen Beschäftigten wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes diskriminiert, da Agnostiker ihre Überzeugung systematisch seltener nach außen durch spezifische Bekleidung, Schmuckstücke oder Aufkleber ausdrückten als Menschen, die einen bestimmten Glauben oder eine bestimmte Weltanschauung verfolgten. Um festzustellen, ob diese Ungleichbehandlung eine unzulässige mittelbare Diskriminierung im Sinne von § 3 Abs. 2 AGG darstelle, sei jedoch noch die Frage zu beantworten, ob nur ein vollständiges Verbot, das jede sichtbare Ausdrucksform der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen erfasse, geeignet sei, das mit einer innerhalb des Unternehmens verfolgten Neutralitätspolitik verfolgte Ziel zu erreichen, oder ob – wie im Ausgangsverfahren – auch ein auf auffällige großflächige Zeichen beschränktes Verbot dafür genügte, solange es in kohärenter und systematischer Weise durchgesetzt werde. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere in den Urteilen vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions (C-157/15, EU:C:2017:203), sowie vom 14. März 2017, Bougnaoui und ADDH (C-188/15, EU:C:2017:204), werde diese Frage jedoch nicht beantwortet. 40 Sollte die letztgenannte Einschränkung als ausreichend angesehen werden, stelle sich die Frage, ob das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verbot, das erforderlich erscheine, im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 angemessen sei. Das vorlegende Gericht fragt sich insoweit, ob im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit dieses Verbots eine Abwägung der in Art. 16 der Charta einerseits und in Art. 10 der Charta andererseits verankerten Rechte vorzunehmen ist oder ob diese Abwägung erst zum Zeitpunkt der Anwendung der allgemeinen Regel im Einzelfall, beispielsweise bei einer Weisung an den Arbeitnehmer oder bei Ausspruch einer Kündigung, zu erfolgen habe. Falls der Schluss gezogen werden sollte, dass die widerstreitenden Rechte, die sich aus der Charta und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) ergeben, im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verbots im engeren Sinn keine Berücksichtigung finden können, stelle sich die weitere Frage, ob nationales Recht von Verfassungsrang, insbesondere die durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, eine günstigere Regelung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 darstellen könne. 41 Schließlich sei noch zu prüfen, ob das Unionsrecht – im vorliegenden Fall Art. 16 der Charta – die Möglichkeit ausschließe, die durch das nationale Recht geschützten Grundrechte im Rahmen der Prüfung der Gültigkeit einer Weisung eines Arbeitgebers zu berücksichtigen. Insbesondere stelle sich die Frage, ob sich ein Einzelner, wie beispielsweise ein Arbeitgeber, im Rahmen eines ausschließlich zwischen Privaten geführten Rechtsstreits auf Art. 16 der Charta berufen könne. 42 Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Kann eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens nur dann angemessen sein, wenn nach dieser Regel das Tragen jeglicher sichtbarer und nicht nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verboten ist? 2. Sofern die erste Frage verneint wird: a) Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass die Rechte aus Art. 10 der Charta und Art. 9 EMRK in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen, ob eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen ist, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet? b) Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 in der Prüfung berücksichtigt werden dürfen, ob eine festgestellte mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens angemessen ist, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet? 3. Sofern die zweite Frage Buchst. a und die zweite Frage Buchst. b verneint werden: Müssen nationale Regelungen von Verfassungsrang, die die Religionsfreiheit schützen, in der Prüfung einer Weisung aufgrund einer internen Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen religiöser, politischer und sonstiger weltanschaulicher Überzeugungen verbietet, wegen primären Unionsrechts unangewendet bleiben, auch wenn primäres Unionsrecht, wie zum Beispiel Art. 16 der Charta, einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkennt? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage in der Rechtssache C-804/18 43 Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C-804/18 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass eine interne Regel eines Unternehmens, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, gegenüber Arbeitnehmern, die aufgrund religiöser Gebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne dieser Richtlinie darstellt. 44 Um diese Frage zu beantworten ist daran zu erinnern, dass nach Art. 1 der Richtlinie 2000/78 deren Zweck in der Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten besteht. Nach Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie „bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf“. Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie liegt eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von deren Art. 2 Abs. 1 vor, wenn eine Person wegen eines der in Art. 1 der Richtlinie genannten Gründe, zu denen die Religion oder die Weltanschauung gehören, in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde. 45 Zum Begriff „Religion“ im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2000/78 hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass er dahin auszulegen ist, dass er sowohl das forum internum, d. h. die Tatsache, religiöse Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, d. h. die öffentliche Äußerung des religiösen Glaubens, umfasst (Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn. 28), wobei diese Auslegung derjenigen des gleichen Begriffs in Art. 10 Abs. 1 der Charta entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., C-336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 52). 46 Das Tragen von Zeichen oder Kleidung zur Bekundung der eigenen Religion oder Überzeugung fällt unter die „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“, die durch Art. 10 der Charta geschützt ist. Es ist nicht die Sache des Gerichtshofs, eine Beurteilung des Inhalts der religiösen Gebote selbst vorzunehmen. 47 In diesem Zusammenhang ist hinzuzufügen, dass in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 die Religion wie auch die Weltanschauung gleichermaßen angeführt wird, in Übereinstimmung mit Art. 19 AEUV, wonach der Unionsgesetzgeber Vorkehrungen treffen kann, um Diskriminierungen aus Gründen u. a. „der Religion oder der Weltanschauung“ zu bekämpfen, oder mit Art. 21 der Charta, der unter den verschiedenen in dieser Vorschrift aufgeführten Diskriminierungsgründen die „Religion oder [die] Weltanschauung“ nennt. Daraus folgt, dass für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2000/78 die Begriffe „Religion“ und „Weltanschauung“ die zwei Seiten ein und desselben Diskriminierungsgrundes sind. Wie aus Art. 21 der Charta hervorgeht, ist der Diskriminierungsgrund der Religion oder der Weltanschauung von dem Grund der „politischen oder sonstigen Anschauung“ zu unterscheiden und umfasst somit sowohl religiöse als auch weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen. 48 Hinzuzufügen ist auch, dass das in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit, das integraler Bestandteil des für die Auslegung der Richtlinie 2000/78 maßgeblichen Kontexts ist, dem in Art. 9 EMRK garantierten Recht entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat wie dieses (Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn. 27). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) stellt das in Art. 9 EMRK verankerte Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit „einen der Grundpfeiler einer ‚demokratischen Gesellschaft‘ im Sinne [dieser Konvention] dar und bildet „in seiner religiösen Dimension eines der lebenswichtigen Elemente, die die Identität der Gläubigen und ihre Lebensauffassung mitformen“, sowie „ein wertvolles Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige“, und trägt bei zum „Pluralismus, der – im Lauf der Jahrhunderte teuer erkämpft – für die demokratische Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung ist“ (EGMR, 15. Februar 2001, Dahlab/Schweiz, CE:ECHR:2001:0215DEC004239398). 49 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass mit der Bezugnahme auf – zum einen – die Diskriminierung „wegen“ eines der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 genannten Gründe und – zum anderen – eine weniger günstige Behandlung „wegen“ eines dieser Gründe sowie mit den Begrifflichkeiten „andere Person“ und „andere Personen“ der Wortlaut und der Kontext von Art. 2 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie nicht den Schluss zulassen, dass mit Blick auf den in ihrem Art. 1 genannten geschützten Grund der Religion oder der Weltanschauung das von der Richtlinie vorgesehene Diskriminierungsverbot allein auf Ungleichbehandlungen beschränkt wäre, die zwischen Personen, die einer Religion oder Weltanschauung anhängen, und Personen, die nicht einer Religion oder Weltanschauung anhängen, bestehen. Aus dem Ausdruck „wegen“ ergibt sich demgegenüber, dass eine Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne der Richtlinie 2000/78 nur dann festgestellt werden kann, wenn die fragliche weniger günstige Behandlung oder besondere Benachteiligung in Abhängigkeit von der Religion oder der Weltanschauung erfahren wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie, C-16/19, EU:C:2021:64, Rn. 29). 50 Im Übrigen spricht das mit der Richtlinie 2000/78 verfolgte Ziel dafür, deren Art. 2 Abs. 1 und 2 dahin auszulegen, dass sie den Kreis der Personen, gegenüber denen ein Vergleich zur Feststellung einer Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne dieser Richtlinie vorgenommen werden kann, nicht auf Personen beschränkt, die nicht einer bestimmten Religion oder Weltanschauung anhängen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie, C-16/19, EU:C:2021:64, Rn. 31). 51 Wie sich aus Rn. 44 des vorliegenden Urteils ergibt, soll die Richtlinie 2000/78 nämlich nach ihrem Art. 1 und ausweislich sowohl ihres Titels und ihrer Erwägungsgründe als auch ihres Inhalts und ihrer Zielsetzung einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung u. a. wegen der Religion oder der Weltanschauung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten schaffen, indem sie jeder Person einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen u. a. aus diesem Grund bietet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie, C-16/19, EU:C:2021:64, Rn. 32). 52 Was insbesondere die Frage betrifft, ob eine interne Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 begründet, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine solche Regel keine unmittelbare Diskriminierung darstellt, da sie unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen gilt und alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleichbehandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert u. a. vorgeschrieben wird, sich neutral zu kleiden, was das Tragen solcher Zeichen ausschließt (Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn. 30 und 32). Da nämlich jede Person eine Religion oder eine Weltanschauung haben kann, begründet eine solche Regel, sofern sie allgemein und unterschiedslos angewandt wird, keine Ungleichbehandlung, die auf einem Kriterium beruht, das untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbunden ist (vgl. entsprechend zur Diskriminierung wegen einer Behinderung Urteil vom 26. Januar 2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie, C-16/19, EU:C:2021:64, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). 53 Diese Feststellung wird, wie der Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht durch die Erwägung in Frage gestellt, dass einige Arbeitnehmer religiöse Gebote befolgen, die eine bestimmte Bekleidung vorschreiben. Die Anwendung einer internen Regel wie der in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannten kann zwar solchen Arbeitnehmern besondere Unannehmlichkeiten bereiten, doch ändert dies nichts an der in dieser Randnummer getroffenen Feststellung, dass diese Regel, die Ausdruck einer Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität des Arbeitgebers ist, grundsätzlich keine Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern einführt, die auf einem untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbundenen Kriterium im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2000/78 beruht. 54 Da sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, dass WABE auch im Fall einer Arbeitnehmerin, die ein religiöses Kreuz trug, verlangt und erwirkt hat, dass sie dieses Zeichen ablegt, scheint die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel prima facie ohne jede Differenzierung gegenüber allen anderen Arbeitnehmern von WABE auf IX angewandt worden zu sein, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass IX eine unmittelbar auf ihren religiösen Überzeugungen beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 erfahren hat. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, die erforderlichen Tatsachenwürdigungen vorzunehmen und festzustellen, ob die von WABE erlassene interne Regelung allgemein und unterschiedslos auf alle Arbeitnehmer dieses Unternehmens angewandt wurde. 55 Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C-804/18 zu antworten, dass Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass eine interne Regel eines Unternehmens, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, gegenüber Arbeitnehmern, die aufgrund religiöser Gebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne dieser Richtlinie darstellt, sofern diese Regel allgemein und unterschiedslos angewandt wird. Zur zweiten Frage Buchst. a in der Rechtssache C-804/18 56 Mit seiner zweiten Frage Buchst. a möchte das vorlegende Gericht in der Rechtssache C-804/18 wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion und/oder des Geschlechts, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität gegenüber seinen Kunden oder Nutzern zu verfolgen, um deren berechtigten Erwartungen Rechnung zu tragen. 57 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass diese Frage auf der Feststellung des vorlegenden Gerichts beruht, dass die im Ausgangsverfahren in der Rechtssache C-804/18 in Rede stehende interne Regel, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen verbietet, wenn die Arbeitnehmer von WABE mit Eltern oder Kindern in Kontakt stehen, effektiv einige Religionen mehr als andere treffe und sich eher an Frauen als an Männer richte. 58 Vorab ist zu dem in dieser Frage angesprochenen Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts festzustellen, dass dieser Diskriminierungsgrund, wie der Generalanwalt in Nr. 59 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78, des einzigen in dieser Frage herangezogenen Unionsrechtsakts, fällt. Das Vorliegen einer solchen Diskriminierung braucht daher nicht geprüft zu werden. 59 Was die Frage der mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhenden Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Ungleichbehandlung vorliegt, wenn die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die eine Regel enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden (Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn. 34). Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, dies zu prüfen, doch ist darauf hinzuweisen, dass die in der Rechtssache C-804/18 in Rede stehende Regel nach dessen Feststellungen statistisch fast ausschließlich weibliche Arbeitnehmer betrifft, die aufgrund ihres muslimischen Glaubens ein Kopftuch tragen, so dass der Gerichtshof von der Prämisse ausgeht, dass diese Regelung eine mittelbar auf der Religion beruhende Ungleichbehandlung darstellt. 60 Zu der Frage, ob eine mittelbar auf der Religion beruhende Ungleichbehandlung mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität zu verfolgen, um den Erwartungen seiner Kunden oder Nutzer Rechnung zu tragen, ist festzustellen, dass nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 eine solche Ungleichbehandlung verboten ist, es sei denn, die Vorschriften, Kriterien oder Verfahren, aus denen sie sich ergibt, sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und erforderlich. Eine Ungleichbehandlung wie die in Frage 2 Buchst. a in der Rechtssache C-804/18 angesprochene führt daher nicht zu einer mittelbaren Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2017, Bougnaoui und ADDH, C-188/15, EU:C:2017:204, Rn. 33). 61 Was die Begriffe des rechtmäßigen Ziels und der Angemessenheit und Erforderlichkeit der zu seiner Erreichung eingesetzten Mittel anbelangt, so ist klarzustellen, dass diese eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C-83/14, EU:C:2015:480, Rn. 112). 62 Die Richtlinie 2000/78 konkretisiert nämlich in dem von ihr erfassten Bereich das nunmehr in Art. 21 der Charta niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot (Urteil vom 26. Januar 2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie, C-16/19, EU:C:2021:64, Rn. 33). Im vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie wird darauf hingewiesen, dass die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Schutz vor Diskriminierung ein in mehreren internationalen Übereinkünften anerkanntes allgemeines Menschenrecht ist, und aus den Erwägungsgründen 11 und 12 der Richtlinie geht hervor, dass der Unionsgesetzgeber davon ausgehen wollte, dass zum einen Diskriminierungen wegen u. a. der Religion oder der Weltanschauung die Verwirklichung der im AEU-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren können, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie das Ziel der Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, und zum anderen jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen in der Union untersagt werden sollte. 63 Was insoweit die Voraussetzung des Vorliegens eines rechtmäßigen Ziels angeht, so kann der Wille eines Arbeitgebers, im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, als rechtmäßig angesehen werden. Der Wunsch eines Arbeitgebers, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, gehört zur unternehmerischen Freiheit, die in Art. 16 der Charta anerkannt ist, und ist grundsätzlich rechtmäßig, insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber bei der Verfolgung dieses Ziels nur die Arbeitnehmer einbezieht, die mit seinen Kunden in Kontakt treten sollen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn. 37 und 38). 64 Allerdings reicht der bloße Wille eines Arbeitgebers, eine Neutralitätspolitik zu betreiben, für sich genommen nicht aus, um eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung sachlich zu rechtfertigen, da eine sachliche Rechtfertigung nur bei Vorliegen eines wirklichen Bedürfnisses dieses Arbeitgebers festgestellt werden kann, das er nachzuweisen hat. 65 Unter diesen Umständen können für den Nachweis einer sachlichen Rechtfertigung und mithin eines wirklichen Bedürfnisses des Arbeitgebers als Erstes insbesondere die Rechte und berechtigten Erwartungen der Kunden oder der Nutzer berücksichtigt werden. Dies gilt beispielsweise für das in Art. 14 der Charta anerkannte Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, und für ihren Wunsch, dass ihre Kinder von Personen beaufsichtigt werden, die im Kontakt mit den Kindern nicht ihre Religion oder Weltanschauung zum Ausdruck bringen, um insbesondere eine „individuelle und freie Entwicklung der Kinder im Hinblick auf Religion, Weltanschauung und Politik zu gewährleisten“, wie es in der Dienstanweisung von WABE vorgesehen ist. 66 Solche Situationen sind hingegen u. a. zu unterscheiden von zum einen der Rechtssache, in der das Urteil vom 14. März 2017, Bougnaoui und ADDH (C-188/15, EU:C:2017:204), ergangen ist, in der die Kündigung einer Arbeitnehmerin infolge einer Beschwerde eines Kunden erfolgt war und in der es keine interne Regel des Unternehmens gab, die das Tragen jeglichen sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen verboten hätte, sowie zum anderen der Rechtssache, in der das Urteil vom 10. Juli 2008, Feryn (C-54/07, EU:C:2008:397), ergangen ist, die eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft betraf, die ihren Ursprung angeblich in diskriminierenden Forderungen der Kunden hatte. 67 Als Zweites ist es für die Beurteilung, ob ein wirkliches Bedürfnis des Arbeitgebers im Sinne von Rn. 64 des vorliegenden Urteils besteht, von besonderer Bedeutung, dass der Arbeitgeber nachgewiesen hat, dass ohne eine solche Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität seine in Art. 16 der Charta anerkannte unternehmerische Freiheit beeinträchtigt würde, da er angesichts der Art seiner Tätigkeit oder des Umfelds, in dem diese ausgeübt wird, nachteilige Konsequenzen zu tragen hätte. 68 Wie in Rn. 60 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, muss eine interne Regel wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, um nicht als mittelbare Diskriminierung eingestuft zu werden, ferner zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung der Neutralitätspolitik des Arbeitgebers geeignet sein, was voraussetzt, dass diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird, und muss das Verbot, jedes sichtbare Zeichen politischer, weltanschaulicher und religiöser Überzeugungen zu tragen, das diese Regel mit sich bringt, auf das unbedingt Erforderliche beschränkt sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn. 40 und 42). 69 Das letztgenannte Erfordernis setzt insbesondere die Prüfung voraus, ob eine Beschränkung der in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierten Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, wie die, die mit dem für einen Arbeitnehmer geltenden Verbot einhergeht, an seinem Arbeitsplatz ein Gebot zu befolgen, das es ihm vorschreibt, ein sichtbares Zeichen seiner religiösen Überzeugungen zu tragen, im Hinblick auf die nachteiligen Konsequenzen, denen der Arbeitgeber durch dieses Verbot zu entgehen sucht, als unbedingt erforderlich erscheint. 70 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage Buchst. a in der Rechtssache C-804/18 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität gegenüber seinen Kunden oder Nutzern zu verfolgen, sofern erstens diese Politik einem wirklichen Bedürfnis des Arbeitgebers entspricht, das dieser unter Berücksichtigung insbesondere der berechtigten Erwartungen dieser Kunden oder Nutzer und der nachteiligen Konsequenzen, die der Arbeitgeber angesichts der Art seiner Tätigkeit oder des Umfelds, in dem sie ausgeübt wird, ohne eine solche Politik zu tragen hätte, nachzuweisen hat, zweitens die Ungleichbehandlung geeignet ist, die ordnungsgemäße Anwendung dieser Neutralitätspolitik zu gewährleisten, was voraussetzt, dass diese Politik konsequent und systematisch befolgt wird, und drittens das Verbot auf das beschränkt ist, was im Hinblick auf den tatsächlichen Umfang und die tatsächliche Schwere der nachteiligen Konsequenzen, denen der Arbeitgeber durch ein solches Verbot zu entgehen sucht, unbedingt erforderlich ist. Zur ersten Frage in der Rechtssache C-341/19 71 Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C-341/19 möchte das vorlegende Gericht in dieser Rechtssache wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die es verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen zu tragen, um eine Neutralitätspolitik in diesem Unternehmen sicherzustellen, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn ein solches Verbot jede sichtbare Ausdrucksform politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen umfasst, oder ob ein auf auffällige großflächige Zeichen beschränktes Verbot genügt, sofern es in kohärenter und systematischer Weise durchgesetzt wird. 72 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass diese Frage zwar auf der Prämisse des Vorliegens einer mittelbaren Diskriminierung beruht, dass aber, wie insbesondere die Europäische Kommission in ihren in der Rechtssache C-341/19 eingereichten Erklärungen geltend gemacht hat, eine interne Regel eines Unternehmens, die, wie die in dieser Rechtssache in Rede stehende, nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen verbietet, geeignet ist, Personen, die religiösen oder weltanschaulichen Strömungen anhängen, die das Tragen eines großen Kleidungsstücks oder Zeichens, wie beispielsweise einer Kopfbedeckung, vorsehen, stärker zu beeinträchtigen. 73 Wie in Rn. 52 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist eine Ungleichbehandlung, die sich aus einer Vorschrift oder einer Praxis ergibt, die auf einem Kriterium beruht, das mit dem geschützten Grund – hier der Religion oder der Weltanschauung – untrennbar verbunden ist, als unmittelbar auf diesen Grund gestützt anzusehen. So wird in den Fällen, in denen das Kriterium des Tragens auffälliger großflächiger Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen mit einer oder mehreren bestimmten Religion(en) oder Weltanschauung(en) untrennbar verbunden ist, das von einem Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern auf der Grundlage eines solchen Kriteriums auferlegte Verbot, diese Zeichen zu tragen, zur Folge haben, dass einige Arbeitnehmer wegen ihrer Religion oder Weltanschauung weniger günstig behandelt werden als andere, so dass eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 wird festgestellt werden können. 74 Für den Fall, dass eine solche unmittelbare Diskriminierung gleichwohl nicht festgestellt werden sollte, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i dieser Richtlinie eine Ungleichbehandlung wie die vom vorlegenden Gericht angeführte, dann, wenn erwiesen wäre, dass sie tatsächlich zu einer besonderen Benachteiligung der Personen führt, die einer bestimmten Religion oder Weltanschauung anhängen, wie bereits in Rn. 60 des vorliegenden Urteils ausgeführt, eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie darstellen würde, es sei denn, sie wäre durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels wären angemessen und erforderlich. 75 Hierzu ist festzustellen, dass aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass die in Rede stehende Maßnahme soziale Konflikte innerhalb des Unternehmens vermeiden soll, insbesondere angesichts der in der Vergangenheit im Zusammenhang mit politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen aufgetretenen Spannungen. 76 Wie in Rn. 63 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, kann eine Neutralitätspolitik ein rechtmäßiges Ziel im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 darstellen. Um festzustellen, ob diese Politik eine Ungleichbehandlung, die mittelbar auf der Religion oder Weltanschauung beruht, sachlich rechtfertigen kann, ist, wie sich aus Rn. 64 des vorliegenden Urteils ergibt, zu prüfen, ob sie einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens entspricht. Hierzu ist festzustellen, dass sowohl die Verhinderung sozialer Konflikte als auch ein neutrales Auftreten des Arbeitgebers gegenüber den Kunden einem wirklichen Bedürfnis des Arbeitgebers entsprechen können, das er nachzuweisen hat. Im Einklang mit den Ausführungen in den Rn. 68 und 69 des vorliegenden Urteils ist allerdings weiter zu prüfen, ob die interne Regel, nach der das Tragen jedes auffälligen großflächigen Zeichens politischer, weltanschaulicher und religiöser Überzeugungen verboten ist, geeignet ist, das verfolgte Ziel zu erreichen, und ob sich dieses Verbot auf das unbedingt Erforderliche beschränkt. 77 Insoweit ist klarzustellen, dass eine Politik der Neutralität im Unternehmen wie die in der ersten Frage in der Rechtssache C-341/19 angesprochene nur dann wirksam verfolgt werden kann, wenn überhaupt keine sichtbaren Bekundungen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen erlaubt sind, wenn die Arbeitnehmer mit Kunden oder untereinander in Kontakt stehen, da das Tragen jedes noch so kleinen Zeichens die Eignung der Maßnahme zur Erreichung des angeblich verfolgten Ziels beeinträchtigt und damit die Kohärenz dieser Politik der Neutralität selbst in Frage stellt. 78 Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C-341/19 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die es verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen zu tragen, um eine Neutralitätspolitik in diesem Unternehmen sicherzustellen, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn dieses Verbot jede sichtbare Ausdrucksform politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen umfasst. Ein auf das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen beschränktes Verbot kann eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung darstellen, die jedenfalls auf der Grundlage dieser Vorschrift nicht gerechtfertigt sein kann. Zur zweiten Frage Buchst. b in der Rechtssache C-804/18 und zur zweiten Frage Buchst. b in der Rechtssache C-341/19 79 Mit der zweiten Frage Buchst. b in der Rechtssache C-804/18, die der zweiten Frage Buchst. b in der Rechtssache C-341/19 entspricht, die zusammen zu prüfen sind, möchte das Arbeitsgericht Hamburg (Deutschland) wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass nationale verfassungsrechtliche Vorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung angemessen ist, als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie berücksichtigt werden dürfen. 80 Diese Frage geht auf die auch vom Bundesarbeitsgericht in der Rechtssache C-341/19 aufgeworfene Frage zurück, ob im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit einer internen Regel eines Unternehmens wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden eine Abwägung der widerstreitenden Rechte und Freiheiten – insbesondere der Art. 14 und 16 der Charta einerseits und Art. 10 der Charta andererseits – vorzunehmen ist, oder ob diese Abwägung erst bei der Anwendung der besagten internen Regel im Einzelfall, beispielsweise bei einer Weisung an einen Arbeitnehmer oder bei seiner Kündigung, zu erfolgen hat. Sollte der Schluss gezogen werden, dass die widerstreitenden Rechte aus der Charta nicht im Rahmen der Angemessenheitsprüfung berücksichtigt werden können, würde sich sodann die Frage stellen, ob eine nationale Vorschrift mit Verfassungsrang wie beispielsweise Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, der die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit schützt, als eine günstigere Regelung im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden kann. 81 Was als Erstes die Frage betrifft, ob im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 der zur Sicherstellung der Anwendung einer Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität getroffenen Maßnahme die verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Freiheiten zu berücksichtigen sind, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass, wie der Gerichtshof bei der Auslegung des Begriffs „Religion“ im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2000/78 festgestellt hat, der Unionsgesetzgeber im ersten Erwägungsgrund dieser Richtlinie auf die Grundrechte Bezug genommen hat, wie sie in der EMRK gewährleistet sind. Die EMRK sieht in ihrem Art. 9 vor, dass jede Person das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat, wobei dieses Recht u. a. die Freiheit umfasst, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. Der Unionsgesetzgeber hat im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 außerdem auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts Bezug genommen. Zu den Rechten, die sich aus diesen gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben und die in der Charta bekräftigt wurden, gehört das in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Es umfasst nach dieser Bestimmung die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. Wie sich aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) ergibt, entspricht das in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht dem in Art. 9 EMRK garantierten Recht, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta hat es die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite wie dieses (Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn. 26 und 27). 82 Mithin sind bei der Prüfung, ob die Beschränkung, die sich aus einer Maßnahme zur Gewährleistung einer Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität ergibt, im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 angemessen ist, die verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Freiheiten zu berücksichtigen. 83 Sodann hat der Gerichtshof im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit eines Verbots, das dem in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden ähnlich war, bereits entschieden, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, in Anbetracht aller sich aus den betreffenden Akten ergebenden Umstände den beiderseitigen Interessen Rechnung zu tragen und die Beschränkungen „der in Rede stehenden Freiheiten auf das unbedingt Erforderliche“ zu begrenzen (Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions, C-157/15, EU:C:2017:203, Rn. 43). Da es in der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen ist, nur um die in Art. 16 der Charta anerkannte unternehmerische Freiheit ging, ist festzustellen, dass die andere Freiheit, auf die der Gerichtshof in dem Urteil Bezug genommen hat, die in dessen Rn. 39 angesprochene Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit war. 84 Schließlich ist festzustellen, dass diese Auslegung der Richtlinie 2000/78 mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Einklang steht, da sie es erlaubt, zu gewährleisten, dass dann, wenn mehrere in den Verträgen verankerte Grundrechte und Grundsätze in Rede stehen, wie beispielsweise im vorliegenden Fall zum einen der in Art. 21 der Charta verankerte Grundsatz der Nichtdiskriminierung und das in Art. 10 der Charta verankerte Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie zum anderen das in Art. 14 Abs. 3 der Charta anerkannte Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, und die in Art. 16 der Charta anerkannte unternehmerische Freiheit, bei der Beurteilung der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die mit dem Schutz der verschiedenen Rechte und Grundsätze verbundenen Anforderungen miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., C-336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). 85 [berichtigt mit Beschluss vom 16. September 2021] Zu den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschriften des nationalen Rechts, insbesondere Art. 4 Abs. 1 GG, und der sich aus ihnen ergebenden Anforderung, dass es in einer Situation wie der in diesen Rechtssachen in Rede stehenden dem Arbeitgeber obliegt, nicht nur nachzuweisen, dass er ein rechtmäßiges Ziel verfolgt, das eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung rechtfertigen kann, sondern auch zu belegen, dass zum Zeitpunkt der Einführung der fraglichen internen Regel eine hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung dieses Ziels bestand oder gegenwärtig besteht, wie beispielsweise die Gefahr konkreter Unruhe innerhalb des Unternehmens oder die konkrete Gefahr von Ertragseinbußen, ist festzustellen, dass sich eine solche Anforderung in den durch Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 festgelegten Rahmen in Bezug auf die Rechtfertigung einer mittelbaren Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung fügt. 86 Was als Zweites die Frage betrifft, ob eine nationale Vorschrift über die Religions- und Gewissensfreiheit als eine für den Schutz des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstigere nationale Vorschrift im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 angesehen werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2000/78, wie sich aus ihrem Titel ergibt, einen allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf festlegt, der den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Vielfalt der von diesen verfolgten Ansätze in Bezug auf den Platz, den sie in ihrem Inneren der Religion oder den Überzeugungen einräumen, einen Wertungsspielraum lässt. Der den Mitgliedstaaten damit zuerkannte Wertungsspielraum bei fehlendem Konsens auf Unionsebene muss jedoch mit einer Kontrolle einhergehen, die Sache des Unionsrichters ist und die insbesondere darin besteht, zu prüfen, ob die auf nationaler Ebene getroffenen Maßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt sind und ob sie verhältnismäßig sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., C-336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 67). 87 Im Übrigen zeigt der so geschaffene Rahmen, dass der Unionsgesetzgeber in der Richtlinie 2000/78 nicht selbst den erforderlichen Einklang zwischen der Gedanken-, der Weltanschauungs- und der Religionsfreiheit und den rechtmäßigen Zielen, die zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i dieser Richtlinie geltend gemacht werden können, hergestellt hat, sondern es den Mitgliedstaaten und ihren Gerichten überlassen hat, diesen Einklang herzustellen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2020, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., C-336/19, EU:C:2020:1031, Rn. 47). 88 Folglich erlaubt es die Richtlinie 2000/78, dem jeweiligen Kontext der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen und jedem Mitgliedstaat im Rahmen des notwendigen Ausgleichs der verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Interessen einen Wertungsspielraum einzuräumen, um ein gerechtes Gleichgewicht zwischen diesen zu gewährleisten. 89 Daraus folgt, dass im Rahmen der Prüfung, ob eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung vorliegt, die nationalen Vorschriften, die die Gedanken-, Weltanschauungs- und Religionsfreiheit als Wert schützen, dem die modernen demokratischen Gesellschaften seit vielen Jahren eine verstärkte Bedeutung beimessen, als Vorschriften, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 günstiger sind, berücksichtigt werden dürfen. So würden beispielsweise nationale Vorschriften, die an die Rechtfertigung einer mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhenden Ungleichbehandlung höhere Anforderungen knüpfen als Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78, in den Anwendungsbereich der in Art. 8 Abs. 1 eröffneten Möglichkeit fallen. 90 Nach alledem ist auf die zweite Frage Buchst. b in der Rechtssache C-804/18 und die zweite Frage Buchst. b in der Rechtssache C-341/19 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass nationale Vorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung angemessen ist, als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie berücksichtigt werden dürfen. Zur zweiten Frage Buchst. a und zur dritten Frage in der Rechtssache C-341/19 91 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage in der Rechtssache C-341/19 brauchen die zweite Frage Buchst. a und die dritte Frage in dieser Rechtssache nicht beantwortet zu werden. Kosten 92 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sind dahin auszulegen, dass eine interne Regel eines Unternehmens, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, gegenüber Arbeitnehmern, die aufgrund religiöser Gebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne dieser Richtlinie darstellt, sofern diese Regel allgemein und unterschiedslos angewandt wird. 2. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität gegenüber seinen Kunden oder Nutzern zu verfolgen, sofern erstens diese Politik einem wirklichen Bedürfnis des Arbeitgebers entspricht, das der Arbeitgeber unter Berücksichtigung insbesondere der berechtigten Erwartungen dieser Kunden oder Nutzer und der nachteiligen Konsequenzen, die der Arbeitgeber angesichts der Art seiner Tätigkeit oder des Umfelds, in dem sie ausgeübt wird, ohne eine solche Politik zu tragen hätte, nachzuweisen hat, zweitens die Ungleichbehandlung geeignet ist, die ordnungsgemäße Anwendung des Neutralitätsgebots zu gewährleisten, was voraussetzt, dass diese Politik konsequent und systematisch befolgt wird, und drittens das Verbot auf das beschränkt ist, was im Hinblick auf den tatsächlichen Umfang und die tatsächliche Schwere der nachteiligen Konsequenzen, denen der Arbeitgeber durch ein solches Verbot zu entgehen sucht, unbedingt erforderlich ist. 3. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die es verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen zu tragen, um eine Neutralitätspolitik in diesem Unternehmen sicherzustellen, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn dieses Verbot jede sichtbare Ausdrucksform politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen umfasst. Ein auf das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen beschränktes Verbot kann eine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung darstellen, die jedenfalls auf der Grundlage dieser Vorschrift nicht gerechtfertigt sein kann. 4. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass nationale Vorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung angemessen ist, als günstigere Vorschriften im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie berücksichtigt werden dürfen. Lenaerts Silva de Lapuerta Prechal Vilaras Regan Bay Larsen Piçarra Kumin von Danwitz Toader Safjan Biltgen Xuereb Rossi Jarukaitis Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Juli 2021. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 3. Juni 2021.#Staatssecretaris van Financiën gegen Jumbocarry Trading GmbH.#Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Zollkodex der Union – Art. 22 Abs. 6 Unterabs. 1 in Verbindung mit Art. 29 – Mitteilung der Gründe an die betroffene Person vor Erlass einer diese Person belastenden Entscheidung – Art. 103 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 3 Buchst. b – Verjährung der Zollschuld – Frist für die Mitteilung der Zollschuld – Aussetzung der Frist – Art. 124 Abs. 1 Buchst. a – Erlöschen der Zollschuld bei Verjährung – Zeitlicher Anwendungsbereich der Bestimmung über die Aussetzungsgründe – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.#Rechtssache C-39/20.
62020CJ0039
ECLI:EU:C:2021:435
2021-06-03T00:00:00
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62020CJ0039 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) 3. Juni 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Zollkodex der Union – Art. 22 Abs. 6 Unterabs. 1 in Verbindung mit Art. 29 – Mitteilung der Gründe an die betroffene Person vor Erlass einer diese Person belastenden Entscheidung – Art. 103 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 3 Buchst. b – Verjährung der Zollschuld – Frist für die Mitteilung der Zollschuld – Aussetzung der Frist – Art. 124 Abs. 1 Buchst. a – Erlöschen der Zollschuld bei Verjährung – Zeitlicher Anwendungsbereich der Bestimmung über die Aussetzungsgründe – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes“ In der Rechtssache C‑39/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 24. Januar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Januar 2020, in dem Verfahren Staatssecretaris van Financiën gegen Jumbocarry Trading GmbH erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), E. Juhász, C. Lycourgos und I. Jarukaitis, Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Jumbocarry Trading GmbH, Prozessbevollmächtigte: C. H. Bouwmeester und E. M. Van Doornik, belastingadviseurs, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte, – des Europäischen Parlaments, vertreten durch R. van de Westelaken und M. Peternel als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch A. Sikora-Kalėda und S. Emmerechts als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und F. Clotuche-Duvieusart als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Februar 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, und Berichtigung ABl. 2013, L 287, S. 90) (im Folgenden: Zollkodex der Union). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) und der Jumbocarry Trading GmbH (im Folgenden: Jumbocarry) wegen einer Zahlungsaufforderung für Zölle in Bezug auf eine in die Union eingeführte Warensendung, bei der sich später herausstellte, dass auf sie kein Präferenzzollsatz von 0 % angewandt werden konnte. Rechtlicher Rahmen Zollkodex der Gemeinschaften 3 Art. 221 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 (ABl. 2000, L 311, S. 17) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex der Gemeinschaften) bestimmte: „(1)   Der Abgabenbetrag ist dem Zollschuldner in geeigneter Form mitzuteilen, sobald der Betrag buchmäßig erfasst worden ist. … (3)   Die Mitteilung an den Zollschuldner darf nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nach dem Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld nicht mehr erfolgen. Diese Frist wird ab dem Zeitpunkt ausgesetzt, in dem ein Rechtsbehelf gemäß Artikel 243 eingelegt wird, und zwar für die Dauer des Rechtsbehelfs.“ 4 Art. 243 Abs. 1 Unterabs. 1 des Zollkodex der Gemeinschaften lautete: „Jede Person kann einen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen der Zollbehörden auf dem Gebiet des Zollrechts einlegen, die sie unmittelbar und persönlich betreffen.“ Zollkodex der Union 5 Durch den Zollkodex der Union, der gemäß seinem Art. 287 am 30. Oktober 2013 in Kraft getreten ist, wurde der Zollkodex der Gemeinschaften aufgehoben. Ein Großteil seiner Bestimmungen, insbesondere die Art. 22, 29, 103, 104 und 124, ist jedoch nach seinem Art. 288 Abs. 2 erst ab dem 1. Mai 2016 anwendbar. 6 Art. 22 („Entscheidungen auf Antrag“) Abs. 6 Unterabs. 1 des Zollkodex der Union bestimmt: „Vor Erlass einer den Antragsteller belastenden Entscheidung teilen die Zollbehörden die Gründe, auf die sie ihre Entscheidung stützen wollen, dem Antragsteller mit, der Gelegenheit erhält, innerhalb einer ab dem Tag, an dem er diese Mitteilung erhält oder an dem sie als diesem zugestellt gilt, laufenden Frist Stellung zu nehmen. Nach Ablauf dieser Frist wird dem Antragsteller die Entscheidung in geeigneter Form mitgeteilt.“ 7 Art. 29 („Entscheidungen ohne vorherigen Antrag“) dieses Kodex sieht vor: „Außer in dem Fall, in dem eine Zollbehörde als Gericht handelt, gelten Artikel 22 Absätze 4, 5, 6 und 7, Artikel 23 Absatz 3 und die Artikel 26, 27 und 28 auch für die Entscheidungen, die die Zollbehörden ohne vorherigen Antrag des Beteiligten erlassen.“ 8 In Art. 103 („Verjährung der Zollschuld“) dieses Zollkodex heißt es in den Abs. 1 bis 3: „(1)   Eine Zollschuld darf dem Zollschuldner nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nach dem Tag des Entstehens der Zollschuld nicht mehr mitgeteilt werden. (2)   Ist die Zollschuld aufgrund einer zum Zeitpunkt ihrer Begehung strafbaren Handlung entstanden, so verlängert sich die Frist des Absatzes 1 von drei Jahren auf mindestens fünf und höchstens zehn Jahre gemäß dem einzelstaatlichen Recht. (3)   Die Fristen gemäß den Absätzen 1 und 2 werden ausgesetzt, wenn: a) ein Rechtsbehelf nach Artikel 44 eingelegt wird; die Aussetzung gilt ab dem Tag der Einlegung des Rechtsbehelfs für die Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens, oder b) die Zollbehörden dem Zollschuldner gemäß Artikel 22 Absatz 6 die Gründe für ihre Mitteilung der Zollschuld mitteilen; die Aussetzung gilt ab dem Tag dieser Mitteilung bis zum Ablauf der Frist, innerhalb deren der Zollschuldner Gelegenheit hat, Stellung zu nehmen.“ 9 Art. 104 („Buchmäßige Erfassung“) Abs. 2 des Zollkodex der Union lautet: „Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbeträge, die einer Zollschuld entsprechen, die dem Zollschuldner nach Artikel 103 nicht mehr mitgeteilt werden darf, brauchen nicht buchmäßig erfasst zu werden.“ 10 In Art. 124 („Erlöschen“) Abs. 1 dieses Zollkodex heißt es: „Unbeschadet der geltenden Vorschriften über die Nichterhebung des der Zollschuld entsprechenden Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrags im Falle einer gerichtlich festgestellten Insolvenz des Zollschuldners erlischt die Einfuhr- oder Ausfuhrzollschuld: a) wenn die Zollschuld dem Zollschuldner nach Artikel 103 nicht mehr mitgeteilt werden kann, …“ Delegierte Verordnung (EU) 2015/2446 11 Art. 8 („Frist für den Anspruch auf rechtliches Gehör“) Abs. 1 der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28. Juli 2015 zur Ergänzung der Verordnung Nr. 952/2013 mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union (ABl. 2015, L 343, S. 1) sieht in Bezug auf Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union vor: „Die Frist, innerhalb deren der Antragsteller zu einer Entscheidung, die sich nachteilig auf ihn auswirken würde, Stellung nehmen kann, beträgt 30 Tage.“ 12 Gemäß ihrem Art. 256 gilt diese Delegierte Verordnung, die am 18. Januar 2016 in Kraft getreten ist, ab dem 1. Mai 2016. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 13 Am 4. Juli 2013 meldete Jumbocarry eine Porzellanwarensendung zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr an. In den Zollerklärungen war Bangladesch als Ursprungsland angegeben. Gemäß der damals geltenden Regelung wurden diese Waren unter Anwendung eines Präferenzzollsatzes von 0 % in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt. 14 Da Prüfungen ergaben, dass das Ursprungszeugnis gefälscht war, teilte die zuständige Zollbehörde mit Schreiben vom 1. Juni 2016 gemäß Art. 22 Abs. 6 Unterabs. 1 des Zollkodex der Union Jumbocarry mit, dass eine Zollschuld zum Regelsatz von 12 % entstanden sei und dass sie die Erhebung der entsprechenden Zölle beabsichtige. In demselben Schreiben wies sie darauf hin, dass Jumbocarry gemäß Art. 8 der Delegierten Verordnung 2015/2446 über eine Frist von 30 Tagen verfüge, um hierzu Stellung zu nehmen. 15 Am 18. Juli 2016 wurde Jumbocarry die Zollschuld, die am 4. Juli 2013 entstanden war, in Form einer Zahlungsaufforderung mitgeteilt. 16 Da Jumbocarry meinte, dass die Zollschuld zum Zeitpunkt der Mitteilung der Zahlungsaufforderung verjährt gewesen sei, erhob sie einen Einspruch gegen die Zahlungsaufforderung und, nachdem die zuständige Zollbehörde diesem Einspruch nur teilweise stattgegeben hatte, Klage bei der Rechtbank Noord-Holland (Gericht erster Instanz von Nordholland, Niederlande). Nachdem dieses Gericht der Klage stattgegeben hatte und seine Entscheidung mit Urteil des Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande) vom 27. Februar 2018 bestätigt worden war, legte der Staatssekretär für Finanzen Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) ein. 17 Das vorlegende Gericht hat Zweifel hinsichtlich der zeitlichen Wirkungen der Einführung von Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union in Verbindung mit dessen Art. 29 und Art. 104 Abs. 2 sowie von Art. 124 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 103 Abs. 3 des Zollkodex der Union und wirft insbesondere die Frage auf, ob der Ausgangsrechtsstreit unter diese Bestimmungen fällt. 18 Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass diese Bestimmungen, die u. a. die Aussetzung der Verjährungsfrist für den Fall der Mitteilung der Gründe vorsähen, zu dem Zeitpunkt, zu dem die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zollschuld entstanden sei, nicht in Kraft gewesen seien und dass die damals geltende Regelung, die sich aus dem Zollkodex der Gemeinschaften ergeben habe, eine solche Aussetzung nicht vorgesehen habe. Zwar könne es für die Beantwortung dieser Fragen relevant sein, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zollschuld zum Zeitpunkt der Anwendbarkeit der neuen Regelung, d. h. am 1. Mai 2016, noch nicht verjährt gewesen sei. Die Anwendung dieser neuen Regelung im Ausgangsverfahren könnte jedoch den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes widersprechen. 19 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts lässt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht ohne jeden vernünftigen Zweifel ableiten, ob eine Bestimmung, die wie Art. 103 Abs. 3 des Zollkodex der Union die Aussetzung einer Verjährungsfrist vorsehe, als materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche Vorschrift anzusehen sei. Für den Fall, dass sie eine materiell-rechtliche Vorschrift darstelle, ist dieses Gericht der Ansicht, dass Art. 221 Abs. 3 des Zollkodex der Gemeinschaften auf eine vor dem 1. Mai 2016 entstandene Zollschuld anwendbar bleibe, so dass eine solche Zollschuld nach Ablauf einer Frist von drei Jahren ab ihrer Entstehung verjährt sei. 20 Außerdem könne argumentiert werden, dass Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union auf ab dem 1. Mai 2016 eingeleitete Erhebungsverfahren unabhängig von den Vorschriften über die Verjährung der Zollschuld anzuwenden sei. Obwohl die Zollbehörden seit dem 1. Mai 2016 verpflichtet seien, Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union in allen Fällen der Erhebung zu beachten, müsse dies nicht zwangsläufig zur Folge haben, dass Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union in allen Fällen Anwendung finde. Daraus folge im vorliegenden Fall, dass die zuständige Zollbehörde die Zollschuld am 18. Juli 2016 nicht mehr habe mitteilen können, da die Zollbehörden Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union hätten beachten müssen und Art. 103 Abs. 3 dieses Zollkodex nicht anwendbar gewesen sei. 21 Andererseits lasse sich auch vertreten, dass das Ziel der Einführung von Art. 103 Abs. 3 des Zollkodex der Union darin bestanden habe, dass Art. 22 Abs. 6, Art. 103 Abs. 3 Buchst. b, Art. 104 Abs. 2 und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a dieses Zollkodex angesichts ihres Zusammenhangs zum selben Zeitpunkt, d. h. am 1. Mai 2016, anwendbar würden. Daher hätten die Zollbehörden, die die einer Zollschuld entsprechenden Abgabenbeträge buchmäßig erfassen, Art. 103 des Zollkodex der Union gemäß Art. 104 Abs. 2 dieses Zollkodex ab diesem Zeitpunkt anzuwenden. 22 Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Finden Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex der Union auf eine Zollschuld Anwendung, die vor dem 1. Mai 2016 entstanden ist und zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährt war? 2. Falls die erste Frage bejaht wird: Stehen die Grundsätze der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes einer solchen Anwendung entgegen? Zu den Vorlagefragen 23 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex der Union im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen sind, dass sie auf eine vor dem 1. Mai 2016 entstandene und zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährte Zollschuld anzuwenden sind. 24 Zunächst geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zollschuld am 4. Juli 2013 entstanden ist, als Jumbocarry zur Überführung einer Warensendung in den zollrechtlich freien Verkehr ein Ursprungszeugnis vorgelegt hat, das sich später als gefälscht herausgestellt hat. 25 In diesem Zusammenhang teilte die zuständige Zollbehörde Jumbocarry zunächst gemäß Art. 22 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 29 des Zollkodex der Union die Gründe mit, aus denen sie beabsichtigte, an Jumbocarry eine Zahlungsaufforderung zu richten, und gab ihr Gelegenheit, innerhalb der in Art. 8 der Delegierten Verordnung 2015/2446 vorgesehenen Frist von 30 Tagen Stellung zu nehmen. Diese Mitteilung erfolgte am 1. Juni 2016, also nach der Aufhebung des Zollkodex der Gemeinschaften am 1. Mai 2016 durch den Zollkodex der Union, aber jedenfalls vor Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist des Art. 221 Abs. 3 des Zollkodex der Gemeinschaften am 4. Juli 2016. 26 Die zuständige Zollbehörde nahm sodann am 18. Juli 2016 die Mitteilung der Zollschuld vor und stützte sich dabei darauf, dass gemäß Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union die Mitteilung nach Art. 22 Abs. 6 dieses Zollkodex bewirkt habe, dass die Verjährungsfrist von drei Jahren bis zum Ablauf der Frist, die Jumbocarry gesetzt worden sei, um ihr Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ausgesetzt werde. 27 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union im vorliegenden Fall anwendbar ist und, wenn ja, ob die Aussetzung der Verjährungsfrist mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar ist, da der Zollkodex der Gemeinschaften, der zur Zeit der Entstehung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zollschuld galt, eine solche Aussetzung der Verjährungsfrist nicht vorsah. 28 Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung bei Verfahrensvorschriften im Allgemeinen davon auszugehen ist, dass sie ab dem Datum ihres Inkrafttretens Anwendung finden, während materiell-rechtliche Vorschriften gewöhnlich so ausgelegt werden, dass sie für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte nur gelten, soweit aus ihrem Wortlaut, ihrer Zielsetzung oder ihrem Aufbau eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist (Urteil vom 7. November 2018, O’Brien, C‑432/17, EU:C:2018:879, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29 Hinzuzufügen ist, dass eine neue Rechtsnorm ab dem Inkrafttreten des Rechtsakts anwendbar ist, mit dem sie eingeführt wird, und dass sie zwar nicht auf vor dessen Inkrafttreten entstandene und endgültig erworbene Rechtspositionen anwendbar ist, doch unmittelbar auf die künftigen Wirkungen unter dem alten Recht entstandener Rechtspositionen sowie auf neue Rechtspositionen Anwendung findet. Etwas anderes gilt – vorbehaltlich des Verbots der Rückwirkung von Rechtsakten – nur, wenn zusammen mit der neuen Rechtsnorm besondere Vorschriften erlassen werden, die speziell die Voraussetzungen für ihre zeitliche Geltung regeln (Urteil vom 7. November 2018, O’Brien, C‑432/17, EU:C:2018:879, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Erstens ist in Bezug auf die nunmehr in Art. 29 in Verbindung mit Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union vorgesehene Verpflichtung zur vorherigen Mitteilung festzustellen, dass es sich um eine Verfahrensvorschrift handelt, mit der das Recht des Betroffenen, vor Erlass einer ihn beschwerenden Entscheidung gehört zu werden, umgesetzt wird. 31 Nach gefestigter Rechtsprechung ist die Wahrung der Verteidigungsrechte nämlich ein tragender Grundsatz des Unionsrechts, mit dem der Anspruch darauf, in jedem Verfahren gehört zu werden, untrennbar verbunden ist. Nach diesem Grundsatz, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen, müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Prequ’ Italia, C‑276/16, EU:C:2017:1010, Rn. 45 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Darüber hinaus hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Bestimmung der Form, die bei der Mitteilung des Abgabenbetrags an den Zollschuldner zu wählen ist, damit die Verjährungsfrist unterbrochen wird, eine verfahrensrechtliche Modalität darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2019, CEVA Freight Holland, C‑249/18, EU:C:2019:587, Rn. 46). 33 Daher ist festzustellen, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ab dem 1. Mai 2016, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens von Art. 22 Abs. 6 und Art. 29 des Zollkodex der Union, verpflichtet waren, die in diesen Bestimmungen vorgesehene Verpflichtung zur vorherigen Mitteilung zu beachten, was im Ausgangsverfahren der Fall war. 34 Was zweitens die in Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union vorgesehene Aussetzung der dreijährigen Verjährungsfrist betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung im Fall der Mitteilung von Gründen nach Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union bewirkt, dass die Verjährungsfrist um einen Zeitraum verlängert wird, der der Frist entspricht, die dem Schuldner eingeräumt wurde, damit er seinen Standpunkt darlegen kann, wobei dieser Zeitraum gemäß Art. 8 Abs. 1 der Delegierten Verordnung 2015/2446 30 Tage beträgt. 35 Hierzu hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 221 Abs. 3 des Zollkodex der Gemeinschaften als materiell-rechtliche Regelung anzusehen war, da die Zollschuld nach Ablauf der in dieser Bestimmung vorgesehenen Frist verjährt war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Februar 2006, Molenbergnatie, C‑201/04, EU:C:2006:136, Rn. 41). Eine solche Feststellung lässt sich aber auf Art. 103 Abs. 1 des Zollkodex der Union übertragen, da der Wortlaut und die Tragweite dieser Bestimmung im Wesentlichen mit der erstgenannten Bestimmung identisch sind. Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union, der die Verlängerung der Verjährungsfrist für die Zollschuld im Fall der Mitteilung der Gründe nach Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union vorsieht, ist ebenso als materiell-rechtliche Vorschrift anzusehen. 36 Folglich kann, wie sich aus der in den Rn. 28 und 29 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union nicht auf unter der Geltung des Zollkodex der Gemeinschaften entstandene und endgültig erworbene Rechtspositionen angewandt werden, es sei denn, aus dem Wortlaut, der Zielsetzung oder dem Aufbau des Zollkodex der Union geht eindeutig hervor, dass er unmittelbar auf solche Rechtspositionen angewandt werden sollte. 37 Im vorliegenden Fall geht aus Rn. 25 des vorliegenden Urteils hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zollschuld zu dem Zeitpunkt, zu dem Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union anwendbar wurde, d. h. am 1. Mai 2016, noch nicht verjährt oder erloschen war. 38 Demnach ist festzustellen, dass zu diesem Zeitpunkt die Rechtsposition von Jumbocarry hinsichtlich der Verjährung ihrer Zollschuld noch nicht endgültig erworben war, obwohl diese Schuld unter der Geltung des Zollkodex der Gemeinschaften entstanden war. 39 Folglich konnte Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union auf die künftigen Wirkungen der Rechtsposition von Jumbocarry, nämlich die Verjährung und das Erlöschen ihrer Zollschuld, Anwendung finden. 40 Was im Übrigen das Zusammenspiel zwischen Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union in Verbindung mit dessen Art. 29 und Art. 103 Abs. 3 betrifft, ist hinzuzufügen, dass diese Verfahrens- und materiellen Bestimmungen ein einheitliches Ganzes bilden, dessen Einzelbestimmungen hinsichtlich ihrer zeitlichen Geltung nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Es sollte nämlich eine kohärente und einheitliche Anwendung der Zollvorschriften der Union erreicht werden (vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 2015, Kommission/Moravia Gas Storage, C‑596/13 P, EU:C:2015:203, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Insoweit bestand die Absicht des Unionsgesetzgebers gleichzeitig darin, in Art. 22 Abs. 6 des Zollkodex der Union in Verbindung mit dessen Art. 29 eine Verpflichtung zur vorherigen Mitteilung einzuführen und in Art. 103 Abs. 3 Buchst. b dieses Zollkodex die durch diese Mitteilung verursachte Aussetzung der Verjährungsfrist vorzusehen. 42 Wie das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union im Wesentlichen ausführen, sollte mit der gleichzeitigen Anwendung dieser Bestimmungen ein Ausgleich zwischen zwei Zielen, nämlich zum einen dem Schutz der finanziellen Interessen der Union und zum anderen dem Schutz des Schuldners unter dem Gesichtspunkt seiner Verteidigungsrechte, hergestellt werden. 43 So geht aus dem dem Zollkodex der Union zugrunde liegenden Bericht über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Union (Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz des Parlaments, Sitzungsdokument vom 26. Februar 2013, A 7-0006/2013, S. 47, Änderungsantrag Nr. 62) hervor, dass Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union infolge einer Änderung des Parlaments hinzugefügt wurde, in der es hieß, dass „[d]iese Anpassung … erforderlich [war], um die finanziellen Interessen sowohl im Hinblick auf die traditionellen Eigenmittel als auch die nationalen Ressourcen zu schützen, wenn ihre Einziehung gefährdet ist“. In diesem Dokument wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass „[d]ies … der Fall sein [könnte], wenn das [Verfahren in Bezug auf das Anhörungsrecht] sehr rasch nach Ablauf des Zeitraums umgesetzt werden muss, während dessen die Zollschuld … mitgeteilt werden kann“. 44 Somit zeigt sich, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Aussetzungsregel des Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union u. a. Fälle wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfassen wollte. 45 Außerdem steht fest, dass zusammen mit dieser Bestimmung keine besonderen Vorschriften erlassen wurden, die die Voraussetzungen für ihre zeitliche Geltung im Sinne der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsprechung anderweitig regeln. 46 Was schließlich den Grundsatz der Rechtssicherheit betrifft, hat der Gerichtshof bereits erläutert, dass es den Mitgliedstaaten grundsätzlich freisteht, Verjährungsfristen zu verlängern, wenn der fragliche Sachverhalt nie verjährt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2017, Glencore Céréales France, C‑584/15, EU:C:2017:160, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung. 47 Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Anwendung einer Regel über die Aussetzung der Verjährungsfrist für eine Zollschuld, wie sie in Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union zusammen mit den Verfahrensvorschriften in Art. 22 Abs. 6 in Verbindung mit Art. 29 dieses Zollkodex vorgesehen ist, gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstößt. 48 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gebietet der Grundsatz der Rechtssicherheit, von dem sich der Grundsatz des Vertrauensschutzes ableitet, zwar, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Insbesondere verlangt dieser Grundsatz, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche [Anie] u. a., C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Wie der Generalanwalt in Nr. 91 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bedeutet die ausdrückliche Einführung einer Regel der Aussetzung der Verjährungsfrist nach Art. 103 Abs. 3 Buchst. b des Zollkodex der Union in Wirklichkeit keine Änderung der früheren Regelung, sondern es wurde damit eher dem Bedürfnis entsprochen, Sicherheit in Bezug auf eine Verpflichtung der Verwaltungsbehörden zu schaffen, die nach der in Rn. 31 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits unter der Geltung des Zollkodex der Gemeinschaften bestanden hatte. 50 Jedenfalls enthalten, wie auch der Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, weder der Grundsatz der Rechtssicherheit noch der Grundsatz des Vertrauensschutzes, auf die sich das vorlegende Gericht beruft, die Verpflichtung, die Rechtsordnung unverändert aufrechtzuerhalten. Die Wirtschaftsteilnehmer sind nicht berechtigt, auf die Beibehaltung einer bestehenden Situation zu vertrauen, die die Unionsorgane im Rahmen ihres Ermessens ändern können (Urteil vom 26. Juni 2012, Polen/Kommission, C‑335/09 P, EU:C:2012:385, Rn. 180 und die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex der Union im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen sind, dass sie auf eine vor dem 1. Mai 2016 entstandene und zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährte Zollschuld anzuwenden sind. Kosten 52 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: Art. 103 Abs. 3 Buchst. b und Art. 124 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Oktober 2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union sind im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen, dass sie auf eine vor dem 1. Mai 2016 entstandene und zu diesem Zeitpunkt noch nicht verjährte Zollschuld anzuwenden sind. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 29. April 2021.#Banco de Portugal u. a. gegen VR.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Bankenaufsicht – Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten – Richtlinie 2001/24/EG – Von einer Behörde des Herkunftsmitgliedstaats erlassene Maßnahme zur Sanierung eines Kreditinstituts – Übertragung von Rechten, Vermögenswerten oder Verbindlichkeiten auf ein ‚Brückeninstitut‘ – Rückübertragung auf das von der Sanierungsmaßnahme betroffene Kreditinstitut – Art. 3 Abs. 2 – Lex concursus – Wirkung einer Sanierungsmaßnahme in anderen Mitgliedstaaten – Gegenseitige Anerkennung – Art. 32 – Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme auf einen anhängigen Rechtsstreit – Ausnahme von der Anwendung der lex concursus – Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Grundsatz der Rechtssicherheit.#Rechtssache C-504/19.
62019CJ0504
ECLI:EU:C:2021:335
2021-04-29T00:00:00
Gerichtshof, Kokott
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0504 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 29. April 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Bankenaufsicht – Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten – Richtlinie 2001/24/EG – Von einer Behörde des Herkunftsmitgliedstaats erlassene Maßnahme zur Sanierung eines Kreditinstituts – Übertragung von Rechten, Vermögenswerten oder Verbindlichkeiten auf ein ‚Brückeninstitut‘ – Rückübertragung auf das von der Sanierungsmaßnahme betroffene Kreditinstitut – Art. 3 Abs. 2 – Lex concursus – Wirkung einer Sanierungsmaßnahme in anderen Mitgliedstaaten – Gegenseitige Anerkennung – Art. 32 – Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme auf einen anhängigen Rechtsstreit – Ausnahme von der Anwendung der lex concursus – Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Grundsatz der Rechtssicherheit“ In der Rechtssache C-504/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) mit Entscheidung vom 25. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Juli 2019, in dem Verfahren Banco de Portugal, Fundo de Resolução, Novo Banco SA, Sucursal en España, gegen VR erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer, der Richter N. Wahl und F. Biltgen sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin), Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. September 2020, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Banco de Portugal und des Fundo de Resolução, vertreten durch J. M. Rodríguez Cárcamo, abogado, und A. M. Rodríguez Conde, abogada, – der Novo Banco SA, Sucursal en España, vertreten durch A. Fernández de Hoyos und J. I. Fernández Aguado, abogados, – der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. M. De Socio, avvocato dello Stato, – der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, S. Jaulino, A. Homem, A. Pimenta, C. Raimundo und P. Barros da Costa als Bevollmächtigte im Beistand von T. Tönnies, advogada, – des Europäischen Parlaments, vertreten durch L. Visaggio, M. Sammut, P. López-Carceller und R. Ignătescu als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch A. de Gregorio Merino, I. Gurov und E. d’Ursel als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou, A. Nijenhuis, J. Rius Riu und K.-Ph. Wojcik als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. November 2020 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten (ABl. 2001, L 125, S. 15), von Art. 2 EUV, von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie des allgemeinen Grundsatzes der Rechtssicherheit. 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Banco de Portugal, dem Fundo de Resolução (im Folgenden: Abwicklungsfonds) und der Novo Banco SA, Sucursal en España (im Folgenden: Novo Banco Spanien) auf der einen Seite und VR auf der anderen Seite wegen einer Klage auf Nichtigerklärung eines Vertrags über den Kauf von Vorzugsaktien durch VR. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 3, 4, 6, 7, 11, 16, 23 und 30 der Richtlinie 2001/24 heißt es: „(3) Diese Richtlinie fügt sich in den gemeinschaftsrechtlichen Rahmen ein, der durch die Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute [(ABl. 2000, L 126, S. 1)] geschaffen wurde. Daraus folgt, dass das Kreditinstitut und seine Zweigstellen während der Dauer ihrer Tätigkeit eine Einheit bilden, die der Aufsicht der zuständigen Behörden des Staates unterliegt, in dem die gemeinschaftsweit gültige Zulassung erteilt wurde. (4) Es wäre besonders unangebracht, auf diese Einheit, die das Kreditinstitut und seine Zweigstellen bilden, zu verzichten, wenn Sanierungsmaßnahmen zu ergreifen sind oder ein Liquidationsverfahren zu eröffnen ist. … (6) Den Behörden oder Gerichten des Herkunftsmitgliedstaats muss die alleinige Befugnis zur Anordnung und Durchführung von Sanierungsmaßnahmen gemäß den geltenden Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten dieses Mitgliedstaats übertragen werden. Da die Harmonisierung der Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten schwierig ist, empfiehlt sich die Einführung der gegenseitigen Anerkennung durch die Mitgliedstaaten im Falle von Maßnahmen, die ein einzelner Mitgliedstaat trifft, um die Lebensfähigkeit der von ihm zugelassenen Kreditinstitute wiederherzustellen. (7) Es ist unbedingt sicherzustellen, dass die von den Behörden oder Gerichten des Herkunftsmitgliedstaats angeordneten Maßnahmen zur Sanierung von Kreditinstituten und die Maßnahmen, die von den durch diese Behörden oder Gerichte mit der Durchführung der Sanierungsmaßnahmen beauftragten Personen oder Organen ergriffen werden, in allen Mitgliedstaaten wirksam werden; dazu gehören auch Maßnahmen, die eine Aussetzung der Zahlungen, die Aussetzung von Vollstreckungsmaßnahmen oder eine Kürzung der Forderungen erlauben, sowie alle anderen Maßnahmen, die die bestehenden Rechte Dritter beeinträchtigen könnten. … (11) Eine öffentliche Bekanntmachung zur Unterrichtung Dritter über die Durchführung von Sanierungsmaßnahmen ist in den Mitgliedstaaten, in denen sich Zweigstellen befinden, notwendig, wenn diese Maßnahmen die Ausübung einiger ihrer Rechte beeinträchtigen könnten. … (16) Die Gleichbehandlung der Gläubiger erfordert, dass das Kreditinstitut nach den Grundsätzen der Einheit und Universalität liquidiert wird, was die ausschließliche Zuständigkeit der Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats sowie die Anerkennung ihrer Entscheidungen voraussetzt, die in den übrigen Mitgliedstaaten ohne weitere Formalität die gleichen Wirkungen wie im Herkunftsmitgliedstaat entfalten können müssen, sofern die Richtlinie nichts anderes vorsieht. … (23) Zwar ist es wichtig, grundsätzlich festzulegen, dass für die verfahrens- und materiellrechtlichen Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen oder Liquidationsverfahren das Recht des Herkunftsmitgliedstaats maßgeblich ist; es ist jedoch auch in Betracht zu ziehen, dass diese Wirkungen im Widerspruch zu den üblicherweise für die wirtschaftlichen und finanziellen Tätigkeiten des Kreditinstituts und seiner Zweigstellen in den übrigen Mitgliedstaaten geltenden Vorschriften stehen können. Die Bezugnahme auf das Recht eines anderen Mitgliedstaats ist in bestimmten Fällen eine unerlässliche Abschwächung des Prinzips, dass das Recht des Herkunftsmitgliedstaats maßgeblich ist. … (30) Für die Wirkungen der Sanierungsmaßnahmen oder des Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit ist abweichend von der ‚lex concursus‘ das Recht des Mitgliedstaates maßgeblich, in dem der Rechtsstreit anhängig ist. Für die Wirkungen der Maßnahmen oder des Verfahrens auf Einzelvollstreckungsmaßnahmen im Zusammenhang mit diesen Rechtsstreitigkeiten ist gemäß der allgemeinen Vorschrift dieser Richtlinie das Recht des Herkunftsmitgliedstaats maßgeblich.“ 4 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/24 sieht vor: „Diese Richtlinie findet Anwendung auf Kreditinstitute und deren in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Sitzmitgliedstaat errichtete Zweigstellen im Sinne von Artikel 1 Nummern 1 und 3 der Richtlinie 2000/12/EG vorbehaltlich der dort in Artikel 2 Absatz 3 vorgesehenen Voraussetzungen und Ausnahmen.“ 5 Gemäß Art. 2 siebter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/24 sind „Sanierungsmaßnahmen“„Maßnahmen, mit denen die finanzielle Lage eines Kreditinstituts gesichert oder wiederhergestellt werden soll und die die bestehenden Rechte Dritter beeinträchtigen könnten, einschließlich der Maßnahmen, die eine Aussetzung der Zahlungen, eine Aussetzung der Vollstreckungsmaßnahmen oder eine Kürzung der Forderungen erlauben“. 6 Art. 3 („Entscheidung über Sanierungsmaßnahmen – Anwendbares Recht“) dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Allein die Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats sind befugt, über die Durchführung einer oder mehrerer Sanierungsmaßnahmen in einem Kreditinstitut, einschließlich seiner Zweigstellen in anderen Mitgliedstaaten, zu entscheiden. (2)   Die Sanierungsmaßnahmen werden gemäß den im Herkunftsmitgliedstaat geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren durchgeführt, sofern diese Richtlinie nichts anderes bestimmt. Sie sind nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats in der gesamten Gemeinschaft ohne weitere Formalität uneingeschränkt wirksam, und zwar auch gegenüber Dritten in anderen Mitgliedstaaten, selbst wenn nach den für diese geltenden Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats solche Maßnahmen nicht vorgesehen sind oder ihre Durchführung von Voraussetzungen abhängig gemacht wird, die nicht erfüllt sind. Die Sanierungsmaßnahmen sind in der gesamten Gemeinschaft wirksam, sobald sie in dem Mitgliedstaat, in dem sie getroffen wurden, wirksam sind.“ 7 Art. 32 („Anhängige Rechtsstreitigkeiten“) der Richtlinie lautet: „Für die Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme oder eines Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit über einen Vermögensgegenstand oder ein Recht der Masse gilt ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Rechtsstreit anhängig ist.“ Spanisches Recht 8 Mit der Ley 6/2005 sobre saneamiento y liquidación de las entidades de crédito (Gesetz 6/2005 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten) vom 22. April 2005 (BOE Nr. 97 vom 23. April 2005, S. 13912) wurde die Richtlinie 2001/24 in spanisches Recht umgesetzt. 9 Art. 19 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor: „Wenn gegenüber einem Kreditinstitut, das in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassen ist und mindestens eine Zweigstelle in Spanien hat oder dort Dienstleistungen erbringt, eine Sanierungsmaßnahme getroffen oder ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde, ist diese Maßnahme oder dieses Verfahren in Spanien ohne weitere Formalität uneingeschränkt wirksam, sobald dies in dem Mitgliedstaat der Fall ist, in dem die Maßnahme getroffen oder das Verfahren eröffnet wurde.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 10 Am 10. Januar 2008 schloss VR mit der Banco Espírito Santo, Sucursal en España (im Folgenden: BES Spanien) einen Vertrag über den Erwerb von Vorzugsaktien des isländischen Kreditinstituts Kaupthing Bank im Wert von ca. 166000 Euro (im Folgenden: Aktienkaufvertrag) ab. Damals war BES Spanien die spanische Zweigstelle der portugiesischen Bank Banco Espírito Santo (im Folgenden: BES). 11 Im Kontext der ernsten finanziellen Schwierigkeiten von BES erließ der Verwaltungsrat von Banco de Portugal mit Entscheidung vom 3. August 2014, die durch Entscheidung vom 11. August 2014 geändert wurde (im Folgenden: Entscheidung vom August 2014), Maßnahmen zur sogenannten „Abwicklung“ dieses Kreditinstituts. 12 Mit dieser Entscheidung beschloss Banco de Portugal, eine „Brückenbank“ (bzw. ein „Brückeninstitut“) mit der Bezeichnung Novo Banco SA zu errichten, auf die die in Anhang 2 dieser Entscheidung beschriebenen Aktiva, Passiva und anderen, nicht zu den Vermögenswerten gehörenden Bestandteile von BES übertragen wurden. 13 In diesem Anhang 2 wurden bestimmte Passiva aufgeführt, die von der Übertragung auf Novo Banco ausgenommen waren und daher im Vermögen von BES verblieben. Zu diesen Passiva gehörten die in Anhang 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v aufgeführten, nämlich „insbesondere... Verbindlichkeiten oder Eventualverbindlichkeiten, die auf Betrug oder der Verletzung regulatorischer, strafrechtlicher oder administrativer Bestimmungen oder Entscheidungen beruhen“. 14 Nach der in Rn. 12 des vorliegenden Urteils erwähnten Übertragung hielt Novo Banco Spanien die Geschäftsbeziehung aufrecht, die VR mit BES Spanien begründet hatte und die sich auf die Verwahrung und Verwaltung der Wertpapiere bezog, die Gegenstand des Aktienkaufvertrags waren, und erhielt weiterhin die mit diesen Dienstleistungen verbundene Kommission. 15 Am 4. Februar 2015 erhob VR beim Juzgado de Primera Instancia de Vitoria (Gericht erster Instanz Vitoria, Spanien) Klage gegen Novo Banco Spanien, mit der sie beantragte, den Aktienkaufvertrag wegen Willensmangels für nichtig zu erklären und die Rückzahlung des investierten Betrags anzuordnen. Hilfsweise beantragte sie, den genannten Vertrag wegen Verletzung der Sorgfalts-, Loyalitäts- und Informationspflichten für aufgelöst zu erklären und Novo Banco Spanien zur Zahlung von Schadensersatz zu verurteilen. 16 Im Verfahren vor dem genannten Gericht wandte Novo Banco Spanien ein, sie sei nicht passivlegitimiert, da es sich bei der geltend gemachten Haftung gemäß Anhang 2 der Entscheidung vom August 2014 um eine Verbindlichkeit handle, die nicht auf sie übertragen worden sei. 17 Mit Urteil vom 15. Oktober 2015 gab das Juzgado de Primera Instancia de Vitoria (Gericht erster Instanz Vitoria) der Klage von VR mit der Begründung statt, dass diese Verbindlichkeit gemäß der Entscheidung vom August 2014 sehr wohl auf Novo Banco übertragen worden sei. Bei VR habe zum Zeitpunkt des Abschlusses des Aktienkaufvertrags ein Willensmangel vorgelegen, da sie zu diesem Zeitpunkt 68 Jahre alt gewesen sei, über kein Finanzwissen verfügt habe und von BES Spanien nicht angemessen über die Art und die Risiken der von ihr erworbenen Vorzugsaktien informiert worden sei. Daher erklärte dieses Gericht den Aktienkaufvertrag für nichtig und verurteilte Novo Banco Spanien, VR den vollen Kaufpreis zu erstatten. 18 Novo Banco Spanien legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Audiencia Provincial de Álava (Provinzgericht Álava, Spanien) ein. Im Berufungsverfahren legte sie zwei Entscheidungen von Banco de Portugal vom 29. Dezember 2015 (im Folgenden: Entscheidungen vom 29. Dezember 2015) vor. 19 Aus diesen, vom vorlegenden Gericht wiedergegebenen, Entscheidungen geht hervor, dass Anhang 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. vii der Entscheidung vom August 2014 nunmehr folgendermaßen zu lauten hatte: „Jegliche bei der Vermarktung, der Finanzvermittlung, dem Vertragsschluss und dem Vertrieb in Bezug auf Finanzinstrumente jedweder Institute übernommenen Verpflichtungen, Garantien, Verbindlichkeiten oder Eventualverbindlichkeiten“. Bei dieser Gelegenheit wurde auch darauf hingewiesen, dass „ab diesem Tag insbesondere folgende Verbindlichkeiten von BES nicht auf Novo Banco übergegangen sind:... iii) alle Entschädigungen im Zusammenhang mit der Nichterfüllung von Verträgen (Kauf von Immobilien und sonstigen Vermögenswerten), die vor dem 3. August 2014 um 20:00 Uhr abgeschlossen wurden;... vi) alle Entschädigungen und Guthaben, die sich aus der Nichtigerklärung von Geschäften ergeben, die BES als Finanz- oder Investitionsdienstleister getätigt hat, und vii) jede Verbindlichkeit, die Gegenstand eines der in Anhang I beschriebenen Verfahren ist“. Zu den Verfahren nach Anhang I gehört die von VR erhobene Klage. 20 Außerdem heißt es in den Entscheidungen vom 29. Dezember 2015: „Soweit Aktiva, Passiva oder nicht zu den Vermögenswerten gehörende Bestandteile, die im Vermögen von BES hätten verbleiben sollen, de facto auf Novo Banco übertragen wurden, werden diese Aktiva, Passiva oder nicht zu den Vermögenswerten gehörenden Bestandteile durch die vorliegende Entscheidung mit Wirkung vom 3. August 2014 (20:00 Uhr) erneut von Novo Banco auf BES übertragen.“ 21 Die Audiencia Provincial de Álava (Provinzgericht Álava) wies die Berufung von Novo Banco Spanien zurück, woraufhin diese beim vorlegenden Gericht, dem Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien), einen außerordentlichen Rechtsbehelf wegen Verfahrensverstößen einlegte. Banco de Portugal und der Abwicklungsfonds wurden als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge von Novo Banco Spanien zugelassen. Diese Streithelfer vertreten die Ansicht, dass Novo Banco Spanien die Beklagteneigenschaft im Ausgangsrechtsstreit nicht hätte anerkennen dürfen, da die in Rede stehende Verbindlichkeit nicht auf Novo Banco übertragen worden sei und, selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, sie in weiterer Folge gemäß den Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 auf BES zurückübertragen worden wäre. Die Streithelfer vertreten ferner die Auffassung, nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 entfalteten diese Entscheidungen ohne weitere Formalitäten ihre Wirkungen in allen Mitgliedstaaten. 22 Das vorlegende Gericht vertritt die Ansicht, dass die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 nicht nur der Klarstellung der Entscheidung vom August 2014 gedient hätten, sondern diese rückwirkend geändert hätten. So sei mit den Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 die Haftung gegenüber VR aus dem Aktienkaufvertrag, die mit der Entscheidung vom August 2014 auf Novo Banco übertragen worden sei, rückwirkend zum 3. August 2014 auf BES zurückübertragen worden. 23 Das vorlegende Gericht zweifelt weder daran, dass eine von der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats erlassene Sanierungsmaßnahme Rückwirkung haben kann – was der Gerichtshof bereits im Urteil vom 24. Oktober 2013, LBI (C-85/12, EU:C:2013:697), anerkannt habe –, noch daran, dass die auf Novo Banco übertragenen Verbindlichkeiten später an BES zurückübertragen werden können. Es fragt sich jedoch, ob die inhaltlichen Änderungen, die durch die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 vorgenommen wurden, in anhängigen Gerichtsverfahren, die vor ihrem Erlass eingeleitet worden waren, zu berücksichtigen sind. 24 In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht angesichts des Erfordernisses eines wirksamen gerichtlichen Schutzes der Rechte von VR, das sich aus Art. 47 Abs. 1 der Charta sowie aus dem dem Rechtsstaat innewohnenden Grundsatz der Rechtssicherheit ergibt, wissen, ob die These von Novo Banco Spanien, von Banco de Portugal und des Abwicklungsfonds zutrifft, wonach, selbst wenn das vorlegende Gericht das Urteil der Audiencia Provincial de Álava (Provinzgericht Álava) bestätigen sollte, diese Bestätigung unwirksam wäre bzw. ins Leere ginge, da die in Rede stehende Verbindlichkeit jedenfalls durch die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 mit Wirkung vom 3. August 2014 in das Vermögen von BES zurückübertragen worden sei. 25 Unter diesen Umständen hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist eine Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24, wonach Wirkungen einer Entscheidung der zuständigen Verwaltungsbehörde des Herkunftsmitgliedstaats, mit der der rechtliche Rahmen, der zum Zeitpunkt der Einleitung des Rechtsstreits bestand, rückwirkend geändert werden soll, in laufenden Gerichtsverfahren in anderen Mitgliedstaaten ohne weitere Formalität anzuerkennen sind, was zur Folge hat, dass Gerichtsurteile, die nicht mit dem Inhalt der neuen Entscheidung im Einklang stehen, ihrer Wirksamkeit beraubt werden, mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Art. 47 der Charta, dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in Art. 2 EUV und dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar? Zur Vorlagefrage Vorbemerkungen 26 Vorab ist als Erstes – wie bereits oben in Rn. 22 – darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht ausweislich des Vorabentscheidungsersuchens von der Annahme ausgeht, dass durch die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 die Entscheidung vom August 2014 insbesondere insofern geändert worden sei, als die Eventualverbindlichkeit von Novo Banco, auf die VR ihre Klage stützt, rückwirkend auf BES zurückübertragen worden sei. 27 Novo Banco, Banco de Portugal, der Abwicklungsfonds und die portugiesische Regierung halten diese Annahme für falsch. Sie machen insoweit geltend, dass durch die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 keine Änderung, sondern nur eine Klarstellung der Entscheidung vom August 2014 vorgenommen worden sei. Deshalb ergebe sich die Ausnahme der Eventualverbindlichkeit, auf die VR ihre Klage stütze, von den auf Novo Banco übertragenen Aktiva und Passiva aus Sanierungsmaßnahmen, die nicht während eines anhängigen Gerichtsverfahrens, sondern bevor VR am 4. Februar 2015 ihre Klage erhoben habe, erlassen worden seien. 28 Es ist jedoch nicht Sache des Gerichtshofs, die Tragweite der Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 zu beurteilen, da eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (Urteil vom 30. April 2020, Blue Air – Airline Management Solutions, C-584/18, EU:C:2020:324, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29 Für die Beantwortung der Vorlagefrage ist daher davon auszugehen, dass die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 sehr wohl eine rückwirkende Änderung der Entscheidung vom August 2014 bewirkt haben und während eines anhängigen Gerichtsverfahrens erlassen worden sind, da VR ihre Klage beim Juzgado de Primera Instancia de Vitoria (Gericht erster Instanz Vitoria) am 4. Februar 2015 erhoben hat. 30 Als Zweites ist es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Sache des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteile vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 33, vom 8. Juni 2017, Freitag, C‑541/15, EU:C:2017:432, Rn. 29, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Berlin [Auslieferung an die Ukraine], C‑398/19, EU:C:2020:1032, Rn. 35). 31 Im vorliegenden Fall bezieht sich die Frage des vorlegenden Gerichts zwar auf Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24, jedoch ist in Anbetracht der oben in Rn. 26 bzw. Rn. 29 gemachten Ausführungen festzustellen, dass Art. 32 dieser Richtlinie insofern für die Beantwortung der Vorlagefrage relevant ist, als er für das für die Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme auf einen anhängigen Rechtsstreit geltende Recht eine Ausnahme vom genannten Art. 3 Abs. 2 normiert. Zur Beantwortung der Frage 32 In Anbetracht dieser Vorbemerkungen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob Art. 3 Abs. 2 und Art. 32 der Richtlinie 2001/24 im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit und von Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass in einem in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsmitgliedstaat anhängigen Hauptsacheverfahren, in dem es um eine Verbindlichkeit geht, von der ein Kreditinstitut durch eine erste Sanierungsmaßnahme im Herkunftsmitgliedstaat befreit wurde, die Wirkungen einer zweiten Sanierungsmaßnahme, die darauf gerichtet ist, diese Verbindlichkeit rückwirkend zu einem Zeitpunkt vor der Einleitung eines solchen Verfahrens auf das Kreditinstitut zurückzuübertragen, ohne weitere Voraussetzungen anerkannt werden, wenn diese Anerkennung dazu führt, dass das Kreditinstitut, auf das die Verbindlichkeit durch die erste Maßnahme übertragen worden war, rückwirkend seine Passivlegitimation für dieses anhängige Verfahren verliert, wodurch bereits zugunsten der Klägerin in diesem Verfahren ergangene gerichtliche Entscheidungen in Frage gestellt werden. 33 Hierzu ist festzustellen, dass die Richtlinie 2001/24, wie insbesondere aus ihren Erwägungsgründen 4 und 16 hervorgeht, auf den Grundsätzen der Einheit und der Universalität beruht und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsverfahren sowie von deren Wirkungen aufstellt. 34 Nach Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie werden nämlich die Sanierungsmaßnahmen grundsätzlich nach dem Recht des Herkunftsmitgliedstaats durchgeführt. Außerdem ergibt sich zum einen aus Unterabs. 2 dieser Bestimmung, dass solche Maßnahmen nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats in der gesamten Union ohne weitere Formalität wirksam sind, und zwar auch gegenüber Dritten in anderen Mitgliedstaaten, selbst wenn nach den für diese geltenden Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats solche Maßnahmen nicht vorgesehen sind oder ihre Durchführung von Voraussetzungen abhängig gemacht wird, die nicht erfüllt sind. Zum anderen sind die Sanierungsmaßnahmen nach Unterabs. 3 dieser Bestimmung in der gesamten Union wirksam, sobald sie im Herkunftsmitgliedstaat wirksam sind. Diese Bestimmungen sehen somit vor, dass grundsätzlich die lex concursus die Maßnahmen zur Sanierung von Kreditinstituten und ihre Wirkungen regelt (Urteil vom 24. Oktober 2013, LBI, C-85/12, EU:C:2013:697, Rn. 49). 35 Wie jedoch ausdrücklich aus dem 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/24 hervorgeht, können diese Wirkungen im Widerspruch zu den üblicherweise für die wirtschaftlichen und finanziellen Tätigkeiten des Kreditinstituts und seiner Zweigstellen in den übrigen Mitgliedstaaten geltenden Vorschriften stehen. Die Bezugnahme auf das Recht eines anderen Mitgliedstaats ist daher in bestimmten Fällen eine unerlässliche Abschwächung des Prinzips, dass das Recht des Herkunftsmitgliedstaats maßgeblich ist. 36 So sieht die Richtlinie 2001/24 in ihrem Art. 32 – als Ausnahme von der Anwendung der lex concursus – vor, dass für die Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme auf einen anhängigen Rechtsstreit über einen Vermögensgegenstand oder ein Recht der Masse ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats gilt, in dem der Rechtsstreit anhängig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Oktober 2013, LBI, C-85/12, EU:C:2013:697, Rn. 51 und 52). 37 Als Erstes lässt sich dem Wortlaut des genannten Art. 32 entnehmen, dass die darin vorgesehene Ausnahme nur dann zur Anwendung kommt, wenn drei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind. 38 Erstens muss es sich um Sanierungsmaßnahmen im Sinne von Art. 2 der Richtlinie 2001/24 handeln, was hier der Fall ist, da durch die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 – wie oben in Rn. 26 festgestellt worden ist – die finanzielle Lage eines Kreditinstituts gesichert oder wiederhergestellt werden soll. 39 Zweitens muss es einen anhängigen Rechtsstreit geben. Insoweit hat der Gerichtshof unter Berufung auf den 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/24 bereits entschieden, dass zwischen anhängigen Rechtsstreitigkeiten und Einzelvollstreckungsmaßnahmen im Zusammenhang mit diesen Rechtsstreitigkeiten zu unterscheiden ist und dass der Begriff „anhängige Rechtsstreitigkeiten“ im Sinne von Art. 32 dieser Richtlinie nur das Verfahren in der Hauptsache erfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Oktober 2013, LBI, C-85/12, EU:C:2013:697, Rn. 53 und 54). 40 Im vorliegenden Fall ist, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, zum einen das von VR gegen Novo Banco Spanien geführte Ausgangsverfahren als Verfahren in der Hauptsache anzusehen, da es eine Klage auf Nichtigerklärung oder, hilfsweise, auf Auflösung des Aktienkaufvertrags betrifft. Zum anderen wurden die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 nach der am 4. Februar 2015 erfolgten Einleitung des von VR vor dem Juzgado de Primera Instancia de Vitoria (Gericht erster Instanz Vitoria) angestrengten Verfahrens und damit zu einem Zeitpunkt erlassen, zu dem dieses Verfahren bereits anhängig war. 41 Drittens muss der anhängige Rechtsstreit „einen Vermögensgegenstand oder ein Recht der Masse“ betreffen. Insoweit ist Art. 32 der Richtlinie 2001/24 zwar in einigen Sprachfassungen so formuliert, dass man meinen könnte, von dieser Voraussetzung würden nur Aktiva erfasst, jedoch ist er in anderen Sprachfassungen, wie die Generalanwältin in Nr. 38 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, weiter gefasst. Angesichts solcher Abweichungen muss die Vorschrift daher nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2021, Hessischer Rundfunk, C-422/19 und C-423/19, EU:C:2021:63, Rn. 65). 42 Was den Zweck von Art. 32 der Richtlinie 2001/24 anbelangt, geht aus deren Erwägungsgründen 23 und 30 hervor, dass diese Bestimmung als unerlässliche Abschwächung der Maßgeblichkeit der lex concursus, von der sie eine Ausnahme darstellt, darauf abzielt, die Wirkungen der Sanierungsmaßnahmen oder des Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit dem Recht des Mitgliedstaats zu unterwerfen, in dem der Rechtsstreit anhängig ist, und zwar in der Erwägung, dass diese Wirkungen im Widerspruch zu den üblicherweise für die wirtschaftlichen und finanziellen Tätigkeiten des Kreditinstituts und seiner Zweigstellen in den übrigen Mitgliedstaaten geltenden Vorschriften stehen können. Es wäre mit diesem Zweck aber nicht vereinbar, die Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen auf einen anhängigen Rechtsstreit von der Anwendung dieses Rechts auszunehmen, wenn dieser Rechtsstreit Eventualverbindlichkeiten betrifft, die mittels solcher Sanierungsmaßnahmen auf eine andere Einrichtung übertragen wurden. 43 Daher ist davon auszugehen, dass Art. 32 der Richtlinie 2001/24 auf den anhängigen Rechtsstreit über einen oder mehrere Vermögensgegenstände des Kreditinstituts, die sowohl zur Aktiv- als auch zur Passivseite gehören und Gegenstand der erlassenen Sanierungsmaßnahmen sind, anzuwenden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Juni 2018, Tarragó da Silveira, C-250/17, EU:C:2018:398, Rn. 25). 44 Im vorliegenden Fall geht es im anhängigen Verfahren um die Eventualverbindlichkeit im Zusammenhang mit dem Abschluss des Aktienkaufvertrags, die einen Passivposten des Vermögens von BES Spanien darstellt, der Gegenstand der von Banco de Portugal im August 2014 erlassenen Sanierungsmaßnahme ist und zur Masse von BES Spanien im Sinne von Art. 32 der Richtlinie 2001/24 gehört, da diese Maßnahme durch die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 rückwirkend geändert wurde. 45 In Anbetracht dessen sind die drei in dem genannten Art. 32 aufgestellten kumulativen Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt. 46 Als Zweites ist hinsichtlich des Umfangs der Wirkungen der Sanierungsmaßnahmen, für die das Recht des Mitgliedstaats gilt, in dem der Rechtsstreit anhängig ist, davon auszugehen, dass das Recht dieses Mitgliedstaats für alle Wirkungen gilt, die solche Maßnahmen auf einen solchen Rechtsstreit haben können, unabhängig davon, ob es sich um verfahrensrechtliche oder materiell-rechtliche Wirkungen handelt. 47 Zum einen geht nämlich weder aus Art. 32 noch aus dem 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/24 hervor, dass der Unionsgesetzgeber die Anwendung dieser Ausnahme auf die verfahrensrechtlichen Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme beschränken wollte. Zum anderen beschränkt sich der 23. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, der, wie sich oben aus Rn. 35 ergibt, die Bezugnahme auf das Recht eines anderen Mitgliedstaats als des Herkunftsmitgliedstaats als unerlässliche Abschwächung des Prinzips, dass das Recht des Herkunftsmitgliedstaats maßgeblich ist, rechtfertigt, nicht darauf, die verfahrensrechtlichen Wirkungen zu erwähnen, sondern besagt, dass sowohl die Letzteren als auch die materiell-rechtlichen Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen im Widerspruch zu den üblicherweise für die wirtschaftlichen und finanziellen Tätigkeiten des Kreditinstituts und seiner Zweigstellen in den übrigen Mitgliedstaaten geltenden Vorschriften stehen können. 48 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Rechtsstreit anhängig ist, wie sich aus dem Wortlaut von Art. 32 und dem 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/24 ergibt, nur für die Wirkungen dieser Maßnahmen auf diesen Rechtsstreit gilt, so dass die Anwendung dieses Artikels in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Gültigkeit der Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 als solche nicht in Frage stellen kann. 49 Aus Art. 3 Abs. 2 und Art. 32 der Richtlinie 2001/24 ergibt sich daher, dass sowohl die verfahrensrechtlichen als auch die materiell-rechtlichen Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme auf ein anhängiges gerichtliches Verfahren in der Hauptsache ausschließlich durch das Recht des Mitgliedstaats bestimmt werden, in dem dieses Verfahren anhängig ist. 50 Diese Auslegung ist auch im Hinblick auf den allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit und das durch Art. 47 Abs. 1 der Charta garantierte Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz geboten. 51 Insoweit ist erstens zum Grundsatz der Rechtssicherheit darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Insbesondere verlangt dieser Grundsatz, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 11. Juli 2019, Agrenergy und Fusignano Due, C‑180/18, C-286/18 und C-287/18, EU:C:2019:605, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 52 Außerdem hat der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit in besonderem Maß bei einer Regelung gilt, die finanzielle Konsequenzen haben kann (Urteil vom 21. Juni 2007, ROM-projecten, C-158/06, EU:C:2007:370, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 53 Selbst wenn im vorliegenden Fall VR zum Zeitpunkt der Erhebung ihrer Klage gegen Novo Banco Spanien beim Juzgado de Primera Instancia de Vitoria (Gericht erster Instanz Vitoria) am 4. Februar 2015 über alle Informationen verfügt hätte, die erforderlich waren, um in voller Kenntnis der Sachlage zu entscheiden, ob sie Klage erheben sollte, und um mit Sicherheit festzustellen, gegen wen diese Klage zu richten wäre und – insbesondere – dass eine Rückübertragung der Haftung aus dem Aktienkaufvertrag von Novo Banco auf BES noch erfolgen und rückwirkende Wirkungen entfalten könnte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, nach Erhebung ihrer Klage, aber vor einer endgültigen Entscheidung, die Vornahme der Rückübertragung vorherzusehen und entsprechend zu handeln. 54 Somit verstieße es gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, würde man im Ausgangsverfahren die Wirkungen der Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 anerkennen, denn dadurch könnten die zugunsten von VR bereits ergangenen gerichtlichen Entscheidungen, die noch Gegenstand eines anhängigen Rechtsstreits sind, in Frage gestellt werden und könnte der Beklagten rückwirkend die Passivlegitimation für die von der Klägerin erhobene Klage genommen werden. 55 Was zweitens die Beurteilung einer solchen Anerkennung im Hinblick auf das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz betrifft, so hat nach Art. 47 Abs. 1 der Charta jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. 56 Ferner kann nach Art. 52 Abs. 1 der Charta die Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten nur dann eingeschränkt werden, wenn diese Einschränkungen erstens gesetzlich vorgesehen sind, zweitens den Wesensgehalt der in Rede stehenden Rechte und Freiheiten achten und drittens unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C-245/19 und C-246/19, EU:C:2020:795, Rn. 51). 57 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs erfordert die Wirksamkeit der durch Art. 47 Abs. 1 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle insbesondere, dass der Betroffene seine Rechte unter bestmöglichen Bedingungen verteidigen und in Kenntnis aller Umstände entscheiden kann, ob es für ihn von Nutzen ist, beim zuständigen Gericht eine Klage gegen eine bestimmte Einrichtung zu erheben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2019, PI, C-230/18, EU:C:2019:383, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Klage, die VR bei den spanischen Gerichten erhoben hat, u. a. auf ein durch das Unionsrecht garantiertes Recht im Sinne von Art. 47 Abs. 1 der Charta gestützt ist, da VR das Recht darauf geltend macht, dass ihrer Klage nicht die Anerkennung der Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen entgegengehalten wird, wenn eine solche Anerkennung gegen die entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 2001/24 verstieße. 59 Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte geht hervor, dass die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 noch nicht erlassen worden waren, als VR am 4. Februar 2015 ihre Klage gegen Novo Banco Spanien erhob bzw. als das Juzgado de Primera Instancia de Vitoria (Gericht erster Instanz Vitoria) am 15. Oktober 2015 dieser Klage stattgab. 60 Folglich hat VR ihre Klage zu Recht gegen Novo Banco Spanien gerichtet, die damals die Partei war, die für Klagen wegen der Haftung aus dem mit VR abgeschlossenen Aktienkaufvertrag passivlegitimiert war. VR hätte nämlich damals keine Klage gegen BES Spanien erheben können, da diese Haftung – wie das vorlegende Gericht festgestellt hat – durch die Entscheidung vom August 2014 von BES auf Novo Banco übertragen worden war. 61 Zwar hindert die Richtlinie 2001/24 den Herkunftsmitgliedstaat nicht daran, die auf Sanierungsmaßnahmen anwendbaren Regelungen auch rückwirkend zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Oktober 2013, LBI, C-85/12, EU:C:2013:697, Rn. 38). 62 Im vorliegenden Fall ist jedoch darauf hinzuweisen, dass – wie sich oben aus den Rn. 26 und 29 ergibt – die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015, mit denen die Entscheidung vom August 2014 und insbesondere die Zurechnung der Haftung aus dem mit VR abgeschlossenen Aktienkaufvertrag rückwirkend geändert wurde, während eines anhängigen Gerichtsverfahrens erlassen wurden, das angestrengt wurde, um eine solche Haftung feststellen zu lassen. Diese Entscheidungen zielen nämlich gerade darauf ab, das Urteil des Juzgado de Primera Instancia de Vitoria (Gericht erster Instanz Vitoria) vom 15. Oktober 2015 auszuhöhlen, indem die darin vorgenommene Auslegung der Entscheidung vom August 2014 in Frage gestellt wird. Wie oben aus Rn. 19 hervorgeht, beziehen sie sich ausdrücklich auf die Klage von VR, um entgegen diesem Urteil festzustellen, dass die Haftung, die sich aus dieser Klage ergeben könne, nicht von BES auf Novo Banco übergegangen sei. 63 Wenn man zuließe, dass Sanierungsmaßnahmen, die von der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats nach Erhebung einer solchen Klage und Erlass des entsprechenden Urteils getroffen werden und zur Folge haben, dass der für die Entscheidung des der Klage zugrunde liegenden Rechtsstreits maßgebliche rechtliche Rahmen bzw. sogar unmittelbar die Rechtslage, um die es bei diesem Rechtsstreit geht, rückwirkend geändert wird, zur Abweisung der Klage führen könnten, würde dies aber eine Beschränkung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 Abs. 1 der Charta bedeuten, wenngleich solche Maßnahmen – wie oben in Rn. 61 erwähnt worden ist – an sich nicht gegen die Richtlinie 2001/24 verstoßen. 64 Diese Schlussfolgerung kann auch nicht dadurch entkräftet werden, dass der Ausgangsrechtsstreit zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 noch nicht durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossen war, oder dadurch, dass VR – wie die portugiesische Regierung in ihren Antworten auf die schriftlichen Fragen des Gerichtshofs und in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben hat – berechtigt war, diese Entscheidungen innerhalb einer Frist von drei Monaten nach ihrer Veröffentlichung auf der Website von Banco de Portugal bei den portugiesischen Gerichten anzufechten. 65 Zu dem letztgenannten Punkt ist festzustellen, dass die Möglichkeit, bei den portugiesischen Gerichten eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 zu erheben, in diesem Zusammenhang nicht relevant ist, da die Frage im vorliegenden Fall die Wirksamkeit der Klage betrifft, die VR bereits vor den zuständigen spanischen Gerichten gegen Novo Banco Spanien erhoben hat. 66 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 und Art. 32 der Richtlinie 2001/24 im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit und von Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass in einem in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsmitgliedstaat anhängigen Hauptsacheverfahren, in dem es um eine Verbindlichkeit geht, von der ein Kreditinstitut durch eine erste Sanierungsmaßnahme im Herkunftsmitgliedstaat befreit wurde, die Wirkungen einer zweiten Sanierungsmaßnahme, die darauf gerichtet ist, diese Verbindlichkeit rückwirkend zu einem Zeitpunkt vor der Einleitung eines solchen Verfahrens auf das Kreditinstitut zurückzuübertragen, ohne weitere Voraussetzungen anerkannt werden, wenn diese Anerkennung dazu führt, dass das Kreditinstitut, auf das die Verbindlichkeit durch die erste Maßnahme übertragen worden war, rückwirkend seine Passivlegitimation für dieses anhängige Verfahren verliert, wodurch bereits zugunsten der Klägerin in diesem Verfahren ergangene gerichtliche Entscheidungen in Frage gestellt werden. Kosten 67 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: Art. 3 Abs. 2 und Art. 32 der Richtlinie 2001/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten sind im Licht des Grundsatzes der Rechtssicherheit und von Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass in einem in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsmitgliedstaat anhängigen Hauptsacheverfahren, in dem es um eine Verbindlichkeit geht, von der ein Kreditinstitut durch eine erste Sanierungsmaßnahme im Herkunftsmitgliedstaat befreit wurde, die Wirkungen einer zweiten Sanierungsmaßnahme, die darauf gerichtet ist, diese Verbindlichkeit rückwirkend zu einem Zeitpunkt vor der Einleitung eines solchen Verfahrens auf das Kreditinstitut zurückzuübertragen, ohne weitere Voraussetzungen anerkannt werden, wenn diese Anerkennung dazu führt, dass das Kreditinstitut, auf das die Verbindlichkeit durch die erste Maßnahme übertragen worden war, rückwirkend seine Passivlegitimation für dieses anhängige Verfahren verliert, wodurch bereits zugunsten der Klägerin in diesem Verfahren ergangene gerichtliche Entscheidungen in Frage gestellt werden. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Spanisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 9. März 2021.#VG Bild-Kunst gegen Stiftung Preußischer Kulturbesitz.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges Eigentum – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte in der Informationsgesellschaft – Richtlinie 2001/29/EG – Art. 3 Abs. 1 – Begriff ,öffentliche Wiedergabe‘ – Verlinkung eines urheberrechtlich geschützten Werks auf der Website eines Dritten im Wege des Framing – Mit Erlaubnis des Rechtsinhabers auf der Website des Lizenznehmers frei zugängliches Werk – Klausel des Verwertungsvertrags, wonach der Lizenznehmer wirksame technische Maßnahmen gegen Framing zu treffen hat – Zulässigkeit – Grundrechte – Art. 11 und Art. 17 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-392/19.
62019CJ0392
ECLI:EU:C:2021:181
2021-03-09T00:00:00
Gerichtshof, Szpunar
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62019CJ0392 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 9. März 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges Eigentum – Urheberrecht und verwandte Schutzrechte in der Informationsgesellschaft – Richtlinie 2001/29/EG – Art. 3 Abs. 1 – Begriff ‚öffentliche Wiedergabe‘ – Verlinkung eines urheberrechtlich geschützten Werks auf der Website eines Dritten im Wege des Framing – Mit Erlaubnis des Rechtsinhabers auf der Website des Lizenznehmers frei zugängliches Werk – Klausel des Verwertungsvertrags, wonach der Lizenznehmer wirksame technische Maßnahmen gegen Framing zu treffen hat – Zulässigkeit – Grundrechte – Art. 11 und Art. 17 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ In der Rechtssache C‑392/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 25. April 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Mai 2019, in dem Verfahren VG Bild-Kunst gegen Stiftung Preußischer Kulturbesitz erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), L. Bay Larsen, N. Piçarra, A. Kumin und N. Wahl sowie der Richter T. von Danwitz, M. Safjan, D. Šváby, I. Jarukaitis und N. Jääskinen, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Mai 2020, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der VG Bild-Kunst, vertreten durch Rechtsanwälte C. Czychowski und V. Kraetzig, – der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, vertreten durch Rechtsanwalt N. Rauer, – der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und A. Daniel als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch T. Scharf, V. Di Bucci und J. Samnadda als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. September 2020 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10, Berichtigung ABl. 2002, L 6, S. 71). 2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der VG Bild-Kunst, einer Gesellschaft zur kollektiven Wahrnehmung von Urheberrechten an Werken der bildenden Künste in Deutschland, und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden: SPK), einer deutschen Stiftung zur Erhaltung des kulturellen Erbes, wegen der Weigerung der VG Bild-Kunst, mit der SPK einen Lizenzvertrag über die Nutzung ihres Repertoires von Werken zu schließen, ohne dass eine Bestimmung in den Vertrag aufgenommen wird, wonach sich die SPK als Lizenznehmerin verpflichtet, bei der Nutzung der vertragsgegenständlichen Werke und Schutzgegenstände wirksame technische Maßnahmen gegen Framing dieser Werke und dieser Schutzgegenstände durch Dritte anzuwenden. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2001/29 3 In den Erwägungsgründen 3, 4, 9, 10, 23 und 31 der Richtlinie 2001/29 heißt es: „(3) Die vorgeschlagene Harmonisierung trägt zur Verwirklichung der vier Freiheiten des Binnenmarkts bei und steht im Zusammenhang mit der Beachtung der tragenden Grundsätze des Rechts, insbesondere des Eigentums einschließlich des geistigen Eigentums, der freien Meinungsäußerung und des Gemeinwohls. (4) Ein harmonisierter Rechtsrahmen zum Schutz des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte wird durch erhöhte Rechtssicherheit und durch die Wahrung eines hohen Schutzniveaus im Bereich des geistigen Eigentums substanzielle Investitionen in Kreativität und Innovation … fördern … … (9) Jede Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte muss von einem hohen Schutzniveau ausgehen, da diese Rechte für das geistige Schaffen wesentlich sind. Ihr Schutz trägt dazu bei, die Erhaltung und Entwicklung kreativer Tätigkeit im Interesse der Urheber, ausübenden Künstler, Hersteller, Verbraucher, von Kultur und Wirtschaft sowie der breiten Öffentlichkeit sicherzustellen. Das geistige Eigentum ist daher als Bestandteil des Eigentums anerkannt worden. (10) Wenn Urheber und ausübende Künstler weiter schöpferisch und künstlerisch tätig sein sollen, müssen sie für die Nutzung ihrer Werke eine angemessene Vergütung erhalten, was ebenso für die Produzenten gilt, damit diese die Werke finanzieren können. Um Produkte wie Tonträger, Filme oder Multimediaprodukte herstellen und Dienstleistungen, z. B. Dienste auf Abruf, anbieten zu können, sind beträchtliche Investitionen erforderlich. Nur wenn die Rechte des geistigen Eigentums angemessen geschützt werden, kann eine angemessene Vergütung der Rechtsinhaber gewährleistet und ein zufrieden stellender Ertrag dieser Investitionen sichergestellt werden. … (23) Mit dieser Richtlinie sollte das für die öffentliche Wiedergabe geltende Urheberrecht weiter harmonisiert werden. Dieses Recht sollte im weiten Sinne verstanden werden, nämlich dahin gehend, dass es jegliche Wiedergabe an die Öffentlichkeit umfasst, die an dem Ort, an dem die Wiedergabe ihren Ursprung nimmt, nicht anwesend ist. Dieses Recht sollte jegliche entsprechende drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Übertragung oder Weiterverbreitung eines Werks, einschließlich der Rundfunkübertragung, umfassen. Dieses Recht sollte für keine weiteren Handlungen gelten. … (31) Es muss ein angemessener Rechts- und Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern sowie zwischen den verschiedenen Kategorien von Rechtsinhabern und Nutzern von Schutzgegenständen gesichert werden. Die von den Mitgliedstaaten festgelegten Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf Schutzrechte müssen vor dem Hintergrund der neuen elektronischen Medien neu bewertet werden. Bestehende Unterschiede bei den Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf bestimmte zustimmungsbedürftige Handlungen haben unmittelbare negative Auswirkungen auf das Funktionieren des Binnenmarkts im Bereich des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte. Diese Unterschiede könnten sich mit der Weiterentwicklung der grenzüberschreitenden Verwertung von Werken und den zunehmenden grenzüberschreitenden Tätigkeiten durchaus noch deutlicher ausprägen. Um ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten, sollten diese Ausnahmen und Beschränkungen einheitlicher definiert werden. Dabei sollte sich der Grad ihrer Harmonisierung nach ihrer Wirkung auf die Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts bestimmen.“ 4 Art. 3 („Recht der öffentlichen Wiedergabe von Werken und Recht der öffentlichen Zugänglichmachung sonstiger Schutzgegenstände“) bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten. … (3)   Die in den Absätzen 1 und 2 bezeichneten Rechte erschöpfen sich nicht mit den in diesem Artikel genannten Handlungen der öffentlichen Wiedergabe oder der Zugänglichmachung für die Öffentlichkeit.“ 5 Art. 6 („Pflichten in Bezug auf technische Maßnahmen“) der Richtlinie 2001/29 sieht in seinen Abs. 1 und 3 vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten sehen einen angemessenen Rechtsschutz gegen die Umgehung wirksamer technischer Maßnahmen durch eine Person vor, der bekannt ist oder den Umständen nach bekannt sein muss, dass sie dieses Ziel verfolgt. … (3)   Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck ‚technische Maßnahmen‘ alle Technologien, Vorrichtungen oder Bestandteile, die im normalen Betrieb dazu bestimmt sind, Werke oder sonstige Schutzgegenstände betreffende Handlungen zu verhindern oder einzuschränken, die nicht von der Person genehmigt worden sind, die Inhaber der Urheberrechte oder der dem Urheberrecht verwandten gesetzlich geschützten Schutzrechte oder des in Kapitel III der Richtlinie 96/9/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 1996 über den rechtlichen Schutz von Datenbanken (ABl. 1996, L 77, S. 20)] verankerten Sui-generis-Rechts ist. Technische Maßnahmen sind als ‚wirksam‘ anzusehen, soweit die Nutzung eines geschützten Werks oder eines sonstigen Schutzgegenstands von den Rechtsinhabern durch eine Zugangskontrolle oder einen Schutzmechanismus wie Verschlüsselung, Verzerrung oder sonstige Umwandlung des Werks oder sonstigen Schutzgegenstands oder einen Mechanismus zur Kontrolle der Vervielfältigung, die die Erreichung des Schutzziels sicherstellen, unter Kontrolle gehalten wird.“ Richtlinie 2014/26/EU 6 Art. 16 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2014/26/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die kollektive Wahrnehmung von Urheber- und verwandten Schutzrechten und die Vergabe von Mehrgebietslizenzen für Rechte an Musikwerken für die Online-Nutzung im Binnenmarkt (ABl. 2014, L 84, S. 72) lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Organisationen für die kollektive Rechtewahrnehmung und Nutzer nach Treu und Glauben über die Lizenzierung von Nutzungsrechten verhandeln. Organisationen für die kollektive Rechtewahrnehmung und Nutzer stellen sich gegenseitig alle notwendigen Informationen zur Verfügung. (2)   Die Lizenzbedingungen sind auf objektive und diskriminierungsfreie Kriterien zu stützen. Bei der Lizenzierung sind Organisationen für die kollektive Rechtewahrnehmung nicht verpflichtet, zwischen ihnen und einem Nutzer, der neuartige Online-Dienste anbietet, die seit weniger als drei Jahren der Öffentlichkeit in der Union zur Verfügung stehen, vereinbarte Lizenzbedingungen als Präzedenzfall für andere Online-Dienste heranzuziehen. Die Rechtsinhaber erhalten eine angemessene Vergütung für die Nutzung ihrer Rechte. Tarife für ausschließliche Rechte und Vergütungsansprüche stehen in einem angemessenen Verhältnis unter anderem zu dem wirtschaftlichen Wert der Nutzung der Rechte unter Berücksichtigung der Art und des Umfangs der Nutzung des Werks und sonstiger Schutzgegenstände sowie zu dem wirtschaftlichen Wert der von der Organisation für die kollektive Rechtewahrnehmung erbrachten Leistungen. Die Organisationen für die kollektive Rechtewahrnehmung informieren die betroffenen Nutzer über die der Tarifaufstellung zugrunde liegenden Kriterien.“ Deutsches Recht 7 Eine öffentliche Zugänglichmachung urheberrechtlich geschützter Werke bedarf gemäß § 19a des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte der Zustimmung der Rechtsinhaber. 8 Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten durch Verwertungsgesellschaften (im Folgenden: VGG) sind Verwertungsgesellschaften verpflichtet, aufgrund der von ihnen wahrgenommenen Rechte jedermann auf Verlangen zu angemessenen Bedingungen Nutzungsrechte einzuräumen. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 9 Die SPK ist Trägerin der Deutschen Digitalen Bibliothek (im Folgenden: DDB), die eine Online-Plattform für Kultur und Wissen anbietet, die deutsche Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen miteinander vernetzt. 10 Die DDB verlinkt auf ihrer Website digitalisierte Inhalte, die in den Webportalen der zuliefernden Einrichtungen gespeichert sind. Als „digitales Schaufenster“ speichert die DDB selbst nur Vorschaubilder (Thumbnails), d. h. verkleinerte Versionen der Bilder in Originalgröße. Klickt der Nutzer eines dieser Vorschaubilder an, gelangt er auf die entsprechende Objektseite der DDB, die eine vergrößerte Version des fraglichen Vorschaubildes mit einer Auflösung von 440 x 330 Pixel enthält. Bei Anklicken dieses vergrößerten Vorschaubildes oder Nutzung der Lupenfunktion zeigt sich in einem Fenster im Vordergrund (Lightbox) eine weiter vergrößerte Abbildung dieses Vorschaubildes mit einer maximalen Auflösung von 800 x 600 Pixel. Im Übrigen wird die Schaltfläche „Objekt beim Datengeber anzeigen“ direkt auf die Internetseite der zuliefernden Einrichtung – teils auf deren Startseite, teils auf die Objektseite – verlinkt. 11 Die VG Bild-Kunst macht den Abschluss eines Lizenzvertrags mit der SPK über die Nutzung ihres Repertoires von Werken in Form von Vorschaubildern davon abhängig, dass eine Bestimmung in den Vertrag aufgenommen wird, wonach sich die Lizenznehmerin verpflichtet, bei der Nutzung der vertragsgegenständlichen Werke und Schutzgegenstände wirksame technische Maßnahmen gegen Framing der im Portal der DDB angezeigten Vorschaubilder dieser Werke oder dieser Schutzgegenstände durch Dritte anzuwenden. 12 Da die SPK eine solche Vertragsbedingung angesichts der urheberrechtlichen Regelung nicht für angemessen hielt, erhob sie vor dem Landgericht Berlin (Deutschland) Klage auf Feststellung, dass die VG Bild-Kunst verpflichtet ist, der SPK diese Lizenz zu erteilen, ohne diese unter die Bedingung der Implementierung solcher technischen Maßnahmen zu stellen. 13 Das Landgericht Berlin wies die Klage ab. Dieses Urteil hob das Kammergericht Berlin (Deutschland) auf Berufung der SPK auf. Mit ihrer Revision verfolgt die VG Bild-Kunst ihren auf Abweisung der Klage der SPK gerichteten Antrag weiter. 14 Der Bundesgerichtshof (Deutschland) führt zum einen aus, nach Art. 34 Abs. 1 Satz 1 VGG, der der Umsetzung von Art. 16 der Richtlinie 2014/26 diene, sei die Verwertungsgesellschaft verpflichtet, aufgrund der von ihr wahrgenommenen Rechte jedermann auf Verlangen zu angemessenen Bedingungen Nutzungsrechte einzuräumen. 15 Zum anderen bestehe nach seiner ständigen Rechtsprechung aus der Zeit der Geltung der durch das VGG aufgehobenen nationalen Rechtsvorschriften, die nicht jede Bedeutung verloren habe, die Pflicht der Verwertungsgesellschaften zur Erteilung einer Lizenz zur Nutzung der Rechte, deren Verwaltung ihnen übertragen worden sei, ausnahmsweise nicht, wenn eine missbräuchliche Ausnutzung der Monopolstellung ausscheide und die Verwertungsgesellschaften dem Verlangen auf Einräumung von Nutzungsrechten vorrangige berechtigte Interessen entgegenhalten könnten. Die Beurteilung, ob eine sachlich gerechtfertigte Ausnahme von dem Abschlusszwang gegeben sei, erfordere danach eine Abwägung der Interessen der Beteiligten unter Berücksichtigung der Zielsetzung des Gesetzes und des Zwecks der grundsätzlichen Abschlusspflicht der Verwertungsgesellschaften. 16 Der Erfolg der Revision hänge davon ab, ob die Einbettung eines mit Einwilligung des Rechtsinhabers, im vorliegenden Fall der VG Bild-Kunst, auf einer Website wie derjenigen der DDB verfügbaren Werks in die Internetseite eines Dritten im Wege des Framing entgegen den Feststellungen des Berufungsgerichts eine öffentliche Wiedergabe des Werks im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 darstelle, wenn sie unter Umgehung von Schutzmaßnahmen gegen Framing erfolge, die der Rechtsinhaber getroffen oder einem Lizenznehmer auferlegt habe. In diesem Fall könnten die Rechte der Mitglieder der VG Bild-Kunst betroffen sein und die VG Bild-Kunst könnte zu Recht die Erteilung einer Lizenz an die SPK davon abhängig machen, dass sich diese im Lizenzvertrag zur Durchführung solcher Schutzmaßnahmen verpflichte. 17 Wenn Vorschaubilder unter Umgehung der vom Rechtsinhaber getroffenen oder veranlassten technischen Schutzmaßnahmen im Wege des Framing in die Internetseite eines Dritten eingebettet werden, stellt dies nach Auffassung des vorlegenden Gerichts eine Wiedergabe an ein neues Publikum dar. Ansonsten wäre – entgegen Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 – das Recht zur öffentlichen Wiedergabe eines Werks im Internet faktisch erschöpft, sobald dieses Werk mit Zustimmung des Rechtsinhabers auf einer Internetseite für alle Internetnutzer frei zugänglich gemacht worden sei, ohne dass der Rechtsinhaber die Kontrolle über die wirtschaftliche Verwertung seines Werks behalten und eine angemessene Beteiligung an dessen wirtschaftlicher Nutzung sicherstellen könnte. 18 Der Bundesgerichtshof hat jedoch Zweifel, wie diese Frage unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Praxis der Einbettung (Beschluss vom 21. Oktober 2014, BestWater International, C‑348/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2315) und der in Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Meinungs- und Informationsfreiheit im digitalen Kontext (Urteil vom 8. September 2016, GS Media, C‑160/15, EU:C:2016:644, Rn. 45) zu beantworten sei, aus der sich ergebe, dass Hyperlinks zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Internets und zum Meinungs- und Informationsaustausch beitrügen, und hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Stellt die Einbettung eines mit Einwilligung des Rechtsinhabers auf einer frei zugänglichen Internetseite verfügbaren Werks in die Internetseite eines Dritten im Wege des Framing eine öffentliche Wiedergabe des Werks im Sinne des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 dar, wenn sie unter Umgehung von Schutzmaßnahmen gegen Framing erfolgt, die der Rechtsinhaber getroffen oder veranlasst hat? Zur Vorlagefrage 19 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen ist, dass die Einbettung in die Website eines Dritten im Wege der Framing-Technik von urheberrechtlich geschützten und der Öffentlichkeit mit Erlaubnis des Inhabers des Urheberrechts auf einer anderen Website frei zugänglich gemachten Werken eine öffentliche Wiedergabe im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn sie unter Umgehung von Schutzmaßnahmen gegen Framing erfolgt, die der Rechtsinhaber getroffen oder veranlasst hat. 20 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 sicherstellen müssen, dass den Urhebern das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung der Werke in der Weise, dass sie Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich sind, zu erlauben oder zu verbieten. 21 Nach dieser Bestimmung verfügen die Urheber damit über ein Recht vorbeugender Art, das es ihnen erlaubt, sich bei Nutzern ihrer Werke vor der öffentlichen Wiedergabe, die diese Nutzer durchzuführen beabsichtigen, einzuschalten, und zwar, um diese zu verbieten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. August 2018, Renckhoff, C‑161/17, EU:C:2018:634, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 22 Im vorliegenden Fall geht es, wie sich aus Rn. 10 des vorliegenden Urteils ergibt, im Ausgangsverfahren hauptsächlich um digitale Vervielfältigungen in Form von – gegenüber den Original zudem verkleinerten – Vorschaubildern geschützter Werke. 23 Zum einen ist jedoch darauf hinzuweisen, dass, wie vom vorlegenden Gericht ausgeführt, zwischen den Parteien des Ausgangsrechtsstreits Einigkeit besteht, dass die von der SPK geplante Veröffentlichung von Vorschaubildern, die von der SPK gespeichert sind und aus im Katalog der VG Bild-Kunst enthaltenen urheberrechtlich geschützten Werken stammen, eine Handlung der öffentlichen Wiedergabe im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 ist und somit der Erlaubnis der Rechtsinhaber bedarf. 24 Da die SPK sich jedoch weigert, Maßnahmen zur Verhinderung des Framing dieser Vorschaubilder auf Websites Dritter zu treffen, ist zu prüfen, ob ein solches Framing selbst als öffentliche Wiedergabe im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 anzusehen ist, was es der VG Bild-Kunst als Verwertungsgesellschaft für Urheberrechte erlauben würde, die SPK zur Durchführung der genannten Maßnahmen zu verpflichten. 25 Zum anderen spielt, wie der Generalanwalt in Nr. 120 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Änderung der Größe der fraglichen Werke für die Beurteilung, ob eine öffentliche Wiedergabe vorliegt, keine Rolle, solange die Originalelemente dieser Werke erkennbar sind, was das vorlegende Gericht im Ausgangsrechtsstreit zu prüfen hat. 26 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, sollte der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29, wie in deren 23. Erwägungsgrund hervorgehoben, in weitem Sinne verstanden werden, nämlich dahin gehend, dass er jegliche Wiedergabe an die Öffentlichkeit umfasst, die an dem Ort, an dem die Wiedergabe ihren Ursprung nimmt, nicht anwesend ist, und somit jegliche entsprechende drahtgebundene oder drahtlose öffentliche Übertragung oder Weiterverbreitung eines Werks, einschließlich der Rundfunkübertragung, umfasst (Urteil vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers, C‑263/18, EU:C:2019:1111, Rn. 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 27 Aus den Erwägungsgründen 4, 9 und 10 der Richtlinie 2001/29 ergibt sich nämlich, dass deren Hauptziel darin besteht, ein hohes Schutzniveau für die Urheber zu erreichen und diesen damit die Möglichkeit zu geben, für die Nutzung ihrer Werke u. a. bei einer öffentlichen Wiedergabe eine angemessene Vergütung zu erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. August 2018, Renckhoff, C‑161/17, EU:C:2018:634, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung). 28 Ferner geht aus Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie hervor, dass das Recht, andere öffentliche Wiedergaben dieser Werke zu erlauben oder zu verbieten, mit der Genehmigung der Integrierung geschützter Werke in eine öffentliche Wiedergabe nicht erschöpft ist (Urteil vom 7. März 2013, ITV Broadcasting u. a., C‑607/11, EU:C:2013:147, Rn. 23). 29 Wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, vereint der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 zwei kumulative Tatbestandsmerkmale, nämlich eine Handlung der Wiedergabe eines Werks und seine öffentliche Wiedergabe (Urteile vom 2. April 2020, Stim und SAMI, C‑753/18, EU:C:2020:268, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. Oktober 2020, BY [Fotobeweis], C‑637/19, EU:C:2020:863, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Erstens kann jede Handlung, mit der ein Nutzer in voller Kenntnis der Folgen seines Verhaltens Zugang zu geschützten Werken gewährt, eine Handlung der Wiedergabe im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. April 2020, Stim und SAMI, C‑753/18, EU:C:2020:268, Rn. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 28. Oktober 2020, BY [Fotobeweis], C‑637/19, EU:C:2020:863, Rn. 23 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne dieser Bestimmung voraussetzt, dass die geschützten Werke tatsächlich öffentlich wiedergegeben werden und diese Wiedergabe auf eine unbestimmte Zahl möglicher Adressaten abzielt (Urteil vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers, C‑263/18, EU:C:2019:1111, Rn. 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) und recht viele Personen voraussetzt (Urteil vom 29. November 2017, VCAST, C‑265/16, EU:C:2017:913, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Für eine Einstufung als „öffentliche Wiedergabe“ ist es ebenfalls erforderlich, dass die Wiedergabe des geschützten Werks unter Verwendung eines technischen Verfahrens, das sich von den bisher verwendeten unterscheidet, oder ansonsten für ein „neues Publikum“ erfolgt, d. h. für ein Publikum, an das die Inhaber des Urheberrechts nicht bereits gedacht hatten, als sie die ursprüngliche öffentliche Wiedergabe erlaubten (Urteil vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers, C‑263/18, EU:C:2019:1111, Rn. 70 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 33 Der Gerichtshof hat auch hervorgehoben, dass der Begriff „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 eine individuelle Beurteilung erfordert (Urteil vom 14. Juni 2017, Stichting Brein, C‑610/15, EU:C:2017:456, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34 Im Rahmen einer derartigen Beurteilung sind eine Reihe weiterer Kriterien zu berücksichtigen, die unselbständig und miteinander verflochten sind. Da diese Kriterien im jeweiligen Einzelfall in sehr unterschiedlichem Maß vorliegen können, sind sie einzeln und in ihrem Zusammenwirken mit den anderen Kriterien anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Stim und SAMI, C‑753/18, EU:C:2020:268, Rn. 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 35 Insbesondere ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum einen, dass die Framing-Technik, die darin besteht, dass eine Internetseite eines Webauftritts in mehrere Rahmen unterteilt und in einem dieser Rahmen mittels eines anklickbaren Links oder eines eingebetteten Internetlinks (Inline Linking) ein einer anderen Website entstammender Bestandteil angezeigt wird, damit den Nutzern dieses Webauftritts die ursprüngliche Umgebung dieses Bestandteils verborgen bleibt, eine öffentliche Wiedergabe im Sinne der in den Rn. 30 und 31 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darstellt, da diese Technik bewirkt, dass der angezeigte Gegenstand sämtlichen potenziellen Nutzern der betreffenden Website zugänglich gemacht wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Februar 2014, Svensson u. a., C‑466/12, EU:C:2014:76, Rn. 20, 22 und 23). 36 Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese Wiedergabe, da die Framing-Technik nach demselben technischen Verfahren erfolgt wie das bereits zur öffentlichen Wiedergabe des geschützten Werks verwendete Verfahren, nicht die Voraussetzung eines neuen Publikums erfüllt und dass, da diese Wiedergabe somit keine „öffentliche“ Wiedergabe im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 darstellt, keine Erlaubnis des Urheberrechtsinhabers für eine solche Wiedergabe erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Februar 2014, Svensson u. a., C‑466/12, EU:C:2014:76, Rn. 24 bis 30). 37 Es ist jedoch festzustellen, dass dieser Rechtsprechung die Sachverhaltsfeststellung zugrunde lag, dass der Zugang zu den betreffenden Werken auf der ursprünglichen Website keiner beschränkenden Maßnahme unterlag (Urteil vom 13. Februar 2014, Svensson u. a., C‑466/12, EU:C:2014:76, Rn. 26, und Beschluss vom 21. Oktober 2014, BestWater International, C‑348/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2315, Rn. 16 und 18). In Ermangelung solcher Maßnahmen hat der Gerichtshof daher die Auffassung vertreten, dass der Rechtsinhaber dadurch, dass er sein Werk der Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht oder eine solche Zugänglichmachung erlaubt hat, von Anfang an alle Internetnutzer als Publikum angesehen und damit zugestimmt hat, dass Dritte Handlungen der Wiedergabe dieses Werks vornehmen. 38 In einer Situation, in der ein Urheber vorher seine ausdrückliche und vorbehaltlose Zustimmung dazu erteilt hat, dass seine Artikel auf der Website eines Presseverlags veröffentlicht werden, ohne im Übrigen auf technische Maßnahmen zurückzugreifen, die den Zugang zu diesen Werken von anderen Websites aus beschränkt hätten, kann daher von diesem Urheber im Wesentlichen angenommen werden, dass er die Wiedergabe der Werke gegenüber sämtlichen Internetnutzern erlaubt hatte (Urteil vom 16. November 2016, Soulier und Doke, C‑301/15, EU:C:2016:878, Rn. 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Dagegen kann gemäß dem Erfordernis einer individuellen Beurteilung des Begriffs „öffentliche Wiedergabe“, auf das in den Rn. 33 und 34 des vorliegenden Urteils verwiesen wird, die Feststellung des Gerichtshofs in Rn. 37 des vorliegenden Urteils nicht gelten, wenn der Rechtsinhaber im Zusammenhang mit der Veröffentlichung seines Werks von Anfang an beschränkende Maßnahmen eingeführt oder veranlasst hat. 40 Insbesondere sind in dem Fall, in dem ein anklickbarer Link es den Nutzern der Seite, auf der sich der Link befindet, ermöglicht, beschränkende Maßnahmen zu umgehen, die auf der Seite, auf der das geschützte Werk zu finden ist, eingesetzt wurden, um den Zugang der Öffentlichkeit allein auf ihre Abonnenten zu beschränken, und es sich damit um einen Eingriff handelt, ohne den die betreffenden Nutzer auf die verbreiteten Werke nicht zugreifen könnten, alle diese Nutzer als neues Publikum anzusehen, das die Inhaber des Urheberrechts nicht hatten erfassen wollen, als sie die ursprüngliche Wiedergabe erlaubten, so dass für eine solche öffentliche Wiedergabe die Erlaubnis dieser Urheberrechtsinhaber erforderlich ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das entsprechende Werk auf der Seite, auf der die ursprüngliche Wiedergabe erfolgte, nicht mehr öffentlich zugänglich ist oder wenn es nunmehr auf dieser Seite nur einem begrenzten Publikum zugänglich ist, während es auf einer anderen Internetseite ohne Erlaubnis der Urheberrechtsinhaber zugänglich ist (Urteil vom 13. Februar 2014, Svensson u. a., C‑466/12, EU:C:2014:76, Rn. 31). 41 Das Ausgangsverfahren betrifft aber gerade eine Situation, in der der Urheberrechtsinhaber die Erteilung einer Lizenz von der Durchführung beschränkender Maßnahmen gegen Framing abhängig machen möchte, um den Zugang zu seinen Werken von anderen Websites als denen seiner Lizenznehmer zu beschränken. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieser Rechtsinhaber sich damit einverstanden erklärt hat, dass Dritte seine Werke öffentlich wiedergeben dürfen. 42 So ist gemäß der in Rn. 38 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung davon auszugehen, dass der Urheberrechtsinhaber dadurch, dass er technische Maßnahmen einsetzt, die den Zugang zu seinen Werken von anderen Websites als derjenigen, auf der er die öffentliche Wiedergabe dieser Werke gestattet hat, beschränken, oder seinen Lizenznehmern den Einsatz solcher Maßnahmen aufgibt, seinen Willen zum Ausdruck gebracht hat, seine Erlaubnis zur öffentlichen Wiedergabe dieser Werke im Internet mit Vorbehalten zu versehen, um das Publikum für diese Werke allein auf die Nutzer einer bestimmten Website zu beschränken. 43 Folglich stellen, wenn der Urheberrechtsinhaber beschränkende Maßnahmen gegen Framing getroffen oder seinen Lizenznehmern aufgegeben hat, solche Maßnahmen zu ergreifen, um den Zugang zu seinen Werken von anderen Internetseiten aus als derjenigen seiner Lizenznehmer zu beschränken, die ursprüngliche Zugänglichmachung auf der Ausgangswebsite und die nachfolgende Zugänglichmachung im Wege der Framing-Technik unterschiedliche öffentliche Wiedergaben dar, für jede von denen daher eine Erlaubnis der betreffenden Rechtsinhaber erteilt werden muss (vgl. entsprechend Urteil vom 29. November 2017, VCAST, C‑265/16, EU:C:2017:913, Rn. 49). 44 Insoweit kann weder aus dem Urteil vom 13. Februar 2014, Svensson u. a. (C‑466/12, EU:C:2014:76), noch aus dem Beschluss vom 21. Oktober 2014, BestWater International (C‑348/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2315), abgeleitet werden, dass das Setzen von Hyperlinks auf eine Website zu geschützten Werken, die auf einer anderen Website frei zugänglich gemacht wurden, aber ohne dass hierfür die Erlaubnis des Urheberrechtsinhabers vorlag, grundsätzlich nicht unter den Begriff „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 fällt. Diese Entscheidungen bestätigen vielmehr die Bedeutung einer solchen Erlaubnis in Anbetracht dieser Bestimmung, die gerade vorsieht, dass jede Handlung der öffentlichen Wiedergabe eines Werks von dem Urheberrechtsinhaber erlaubt werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2016, GS Media, C‑160/15, EU:C:2016:644, Rn. 43). 45 Dasselbe gilt, wenn ein Dritter geschützte Werke, die mit Erlaubnis des Urheberrechtsinhabers auf bestimmten Internetseiten frei zugänglich sind, öffentlich wiedergibt, obwohl dieser Rechtsinhaber technische Maßnahmen, die den Zugang zu seinen Werken von anderen Websites im Wege der Framing-Technik beschränken, getroffen oder seinen Lizenznehmern aufgegeben hat, um das Publikum für seine Werke allein auf die Nutzer der ursprünglichen Website zu beschränken. 46 Um die Rechtssicherheit und das ordnungsgemäße Funktionieren des Internets zu gewährleisten, ist es dem Urheberrechtsinhaber nicht gestattet, seine Erlaubnis auf andere Weise als durch wirksame technische Maßnahmen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2001/29 zu beschränken (vgl. in letzterer Hinsicht Urteil vom 23. Januar 2014, Nintendo u. a., C‑355/12, EU:C:2014:25, Rn. 24, 25 und 27). Ohne solche Maßnahmen könnte es sich nämlich, insbesondere für Einzelpersonen, als schwierig erweisen, zu überprüfen, ob sich dieser Rechtsinhaber dem Framing seiner Werke widersetzen wollte. Dies gilt umso mehr, wenn für diese Rechte Unterlizenzen erteilt worden sind (vgl. entsprechend Urteil vom 8. September 2016, GS Media, C‑160/15, EU:C:2016:644, Rn. 46) 47 Im Übrigen besteht, wie der Generalanwalt in den Nrn. 73 und 84 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, unter solchen Umständen das Publikum, an das der Inhaber des Urheberrechts gedacht hat, als er der Wiedergabe seines Werks auf der Website zugestimmt hatte, auf der es ursprünglich veröffentlicht wurde, allein aus den Nutzern dieser Website und nicht aus den Nutzern der Website, in die das Werk später ohne Erlaubnis dieses Rechtsinhabers eingebettet wurde, oder aus anderen Internetnutzern (vgl. entsprechend Urteil vom 7. August 2018, Renckhoff, C‑161/17, EU:C:2018:634, Rn. 35). 48 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass unter solchen Umständen die Einbettung eines urheberrechtlich geschützten und der Öffentlichkeit mit Erlaubnis des Rechtsinhabers auf einer anderen Website frei zugänglich gemachten Werks in eine andere Website im Wege der Framing-Technik als „Zugänglichmachung dieses Werks für ein neues Publikum“ einzustufen ist. 49 Zwar ist zu berücksichtigen, dass Hyperlinks, unabhängig davon, ob sie im Rahmen der Technik des Framing verwendet werden oder nicht, zum guten Funktionieren des Internets beitragen, das für die durch Art. 11 der Charta gewährleistete Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit von besonderer Bedeutung ist, sowie zum Meinungs- und Informationsaustausch in diesem Netz, das sich durch die Verfügbarkeit immenser Informationsmengen auszeichnet (Urteil vom 29. Juli 2019, Spiegel Online, C‑516/17, EU:C:2019:625, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Ein Ansatz, wonach vermutet wird, dass ein Urheberrechtsinhaber, selbst wenn er beschränkende Maßnahmen gegen Framing seiner Werke eingeführt hat, jeder Handlung der öffentlichen Wiedergabe dieser Werke durch einen Dritten zugunsten sämtlicher Internetnutzer zugestimmt hat, verstieße jedoch gegen das ausschließliche, sich nicht erschöpfende Recht dieses Rechtsinhabers, nach Art. 3 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2001/29 die öffentliche Wiedergabe seiner Werke zu erlauben oder zu verbieten. 51 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 100 und 101 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann der Inhaber eines Urheberrechts nicht vor die Alternative gestellt werden, entweder die unerlaubte Nutzung seines Werks durch Dritte hinzunehmen oder auf seine Nutzung, gegebenenfalls durch einen Lizenzvertrag, zu verzichten. 52 Ginge man nämlich davon aus, dass, wenn in eine Website eines Dritten im Wege der Framing-Technik ein Werk eingebettet wird, das zuvor auf einer anderen Website mit Erlaubnis des Urheberrechtsinhabers wiedergegeben worden ist, obwohl dieser Rechtsinhaber Maßnahmen zum Schutz gegen dieses Framing getroffen oder veranlasst hat, dieses Werk keinem neuen Publikum zugänglich gemacht wird, liefe dies darauf hinaus, eine Regel über die Erschöpfung des Rechts der Wiedergabe aufzustellen (vgl. entsprechend Urteil vom 7. August 2018, Renckhoff, C‑161/17, EU:C:2018:634, Rn. 32 und 33) 53 Eine solche Regel widerspräche nicht nur dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29, sondern nähme diesem Urheberrechtsinhaber die im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie genannte Möglichkeit, eine angemessene Vergütung für die Nutzung seines Werkes zu verlangen, obwohl, wie der Gerichtshof ausgeführt hat, der spezifische Gegenstand des geistigen Eigentums insbesondere den Inhabern der betreffenden Rechte den Schutz der Befugnis gewährleisten soll, das Inverkehrbringen oder die Zugänglichmachung der Schutzgegenstände dadurch kommerziell zu nutzen, dass gegen Zahlung einer Vergütung Lizenzen erteilt werden (Urteil vom 7. August 2018, Renckhoff, C‑161/17, EU:C:2018:634, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 54 Eine solche Einbettung im Wege der Framing-Technik zuzulassen, ohne dass der Urheberrechtsinhaber die in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 vorgesehenen Rechte geltend machen kann, liefe daher dem in den Erwägungsgründen 3 und 31 dieser Richtlinie genannten angemessenen Ausgleich zuwider, den es zwischen den Interessen der Inhaber von Urheber- und verwandten Rechten am Schutz ihres Rechts am geistigen Eigentum, das von Art. 17 Abs. 2 der Charta garantiert wird, einerseits und dem Schutz der Interessen und Grundrechte der Nutzer von Schutzgegenständen, insbesondere deren Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit, die von Art. 11 der Charta garantiert wird, sowie dem Allgemeininteresse andererseits im Umfeld der Digitaltechnik zu sichern gilt (vgl. entsprechend Urteil vom 7. August 2018, Renckhoff, C‑161/17, EU:C:2018:634, Rn. 41). 55 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29 dahin auszulegen ist, dass die Einbettung in die Website eines Dritten im Wege der Framing-Technik von urheberrechtlich geschützten und der Öffentlichkeit mit Erlaubnis des Inhabers des Urheberrechts auf einer anderen Website frei zugänglich gemachten Werken eine öffentliche Wiedergabe im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn sie unter Umgehung von Schutzmaßnahmen gegen Framing erfolgt, die der Rechtsinhaber getroffen oder veranlasst hat. Kosten 56 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft ist dahin auszulegen, dass die Einbettung in die Website eines Dritten im Wege der Framing-Technik von urheberrechtlich geschützten und der Öffentlichkeit mit Erlaubnis des Inhabers des Urheberrechts auf einer anderen Website frei zugänglich gemachten Werken eine öffentliche Wiedergabe im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn sie unter Umgehung von Schutzmaßnahmen gegen Framing erfolgt, die der Rechtsinhaber getroffen oder veranlasst hat. Lenaerts Silva de Lapuerta Bonichot Arabadjiev Prechal Ilešič Bay Larsen Piçarra Kumin Wahl von Danwitz Safjan Šváby Jarukaitis Jääskinen Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. März 2021. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 3. Februar 2021.#Fussl Modestraße Mayr GmbH gegen SevenOne Media GmbH u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Stuttgart.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2010/13/EU – Bereitstellung audiovisueller Mediendienste – Art. 4 Abs. 1 – Freier Dienstleistungsverkehr – Gleichbehandlung – Art. 56 AEUV – Art. 11 und 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Audiovisuelle kommerzielle Kommunikation – Nationale Regelung, die es den Fernsehveranstaltern untersagt, in ihr im gesamten Inland ausgestrahltes Programm Fernsehwerbung aufzunehmen, die nur regional gezeigt wird.#Rechtssache C-555/19.
62019CJ0555
ECLI:EU:C:2021:89
2021-02-03T00:00:00
Szpunar, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62019CJ0555 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 3. Februar 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2010/13/EU – Bereitstellung audiovisueller Mediendienste – Art. 4 Abs. 1 – Freier Dienstleistungsverkehr – Gleichbehandlung – Art. 56 AEUV – Art. 11 und 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Audiovisuelle kommerzielle Kommunikation – Nationale Regelung, die es den Fernsehveranstaltern untersagt, in ihr im gesamten Inland ausgestrahltes Programm Fernsehwerbung aufzunehmen, die nur regional gezeigt wird“ In der Rechtssache C‑555/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Stuttgart (Deutschland) mit Entscheidung vom 12. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juli 2019, in dem Verfahren Fussl Modestraße Mayr GmbH gegen SevenOne Media GmbH, ProSiebenSat.1 TV Deutschland GmbH, ProSiebenSat.1 Media SE erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer, der Richter N. Wahl und F. Biltgen sowie der Richterin L. S. Rossi, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Juli 2020, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Fussl Modestraße Mayr GmbH, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Koenig und K. Wilmes, – der ProSiebenSat.1 Media SE, der ProSiebenSat.1 TV Deutschland GmbH und der SevenOne Media GmbH, vertreten durch die Rechtsanwälte C. Masch, W. Freiherr Raitz von Frentz und I. Kätzlmeier, – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und D. Klebs als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer, L. Malferrari und G. Braun als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Oktober 2020 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 56 AEUV, von Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), des allgemeinen Grundsatzes der Gleichbehandlung und von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) (ABl. 2010, L 95, S. 1). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Fussl Modestraße Mayr GmbH, einer Gesellschaft österreichischen Rechts (im Folgenden: Fussl), auf der einen Seite und der SevenOne Media GmbH, der ProSiebenSat.1 TV Deutschland GmbH und der ProSiebenSat.1 Media SE, Gesellschaften deutschen Rechts, auf der anderen Seite wegen der Nichterfüllung eines mit Fussl geschlossenen Vertrags über die Ausstrahlung von Fernsehwerbung für Modewaren von Fussl allein im Freistaat Bayern (Deutschland) durch SevenOne Media, die damit begründet wird, dass diese Werbung insofern gegen das anwendbare nationale Recht verstoße, als sie im Rahmen deutschlandweit ausgestrahlter Fernsehprogramme gezeigt werden solle. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 5, 8, 41 und 83 der Richtlinie 2010/13 heißt es: „(5) Audiovisuelle Mediendienste sind gleichermaßen Kultur- und Wirtschaftsdienste. Ihre immer größere Bedeutung für die Gesellschaften, die Demokratie – vor allem zur Sicherung der Informationsfreiheit, der Meinungsvielfalt und des Medienpluralismus –, die Bildung und die Kultur rechtfertigt die Anwendung besonderer Vorschriften auf diese Dienste. … (8) Es ist unerlässlich, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Handlungen unterbleiben, die den freien Fluss von Fernsehsendungen beeinträchtigen bzw. die Entstehung beherrschender Stellungen begünstigen könnten, welche zu Beschränkungen des Pluralismus und der Freiheit der Fernsehinformation sowie der Information in ihrer Gesamtheit führen würden. … (41) Die Mitgliedstaaten sollten in der Lage sein, in den durch diese Richtlinie koordinierten Bereichen für die ihrer Rechtshoheit unterliegenden Mediendiensteanbieter detailliertere oder strengere Vorschriften anzuwenden, und gleichzeitig dafür Sorge tragen, dass diese Vorschriften im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts stehen. … … (83) Um sicherzustellen, dass die Interessen der Verbraucher als Zuschauer umfassend und angemessen geschützt werden, ist es wesentlich, dass die Fernsehwerbung einer Reihe von Mindestnormen und Kriterien unterworfen wird und die Mitgliedstaaten das Recht behalten, ausführlichere oder strengere Bestimmungen und in bestimmten Fällen unterschiedliche Bedingungen für die ihrer Rechtshoheit unterworfenen Fernsehveranstalter einzuführen.“ 4 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie, der zu deren Kapitel I („Begriffsbestimmungen“) gehört, bestimmt: „Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck a) ‚audiovisueller Mediendienst‘ i) eine Dienstleistung im Sinne der Artikel 56 und 57 [AEUV], für die ein Mediendiensteanbieter die redaktionelle Verantwortung trägt und deren Hauptzweck die Bereitstellung von Sendungen zur Information, Unterhaltung oder Bildung der allgemeinen Öffentlichkeit über elektronische Kommunikationsnetze im Sinne des Artikels 2 Buchstabe a der Richtlinie 2002/21/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und ‑dienste (Rahmenrichtlinie) (ABl. 2002, L 108, S. 33)] ist. Bei diesen audiovisuellen Mediendiensten handelt es sich entweder um Fernsehprogramme gemäß der Definition unter Buchstabe e des vorliegenden Absatzes oder um audiovisuelle Mediendienste auf Abruf gemäß der Definition unter Buchstabe g des vorliegenden Absatzes, ii) die audiovisuelle kommerzielle Kommunikation; b) ‚Sendung‘ eine Abfolge von bewegten Bildern mit oder ohne Ton, die Einzelbestandteil eines von einem Mediendiensteanbieter erstellten Sendeplans oder Katalogs ist und deren Form und Inhalt mit der Form und dem Inhalt von Fernsehprogrammen vergleichbar sind. Beispiele für Sendungen sind unter anderem Spielfilme, Sportberichte, Fernsehkomödien, Dokumentarfilme, Kindersendungen und Originalfernsehspiele; … d) ‚Mediendiensteanbieter‘ die natürliche oder juristische Person, die die redaktionelle Verantwortung für die Auswahl der audiovisuellen Inhalte des audiovisuellen Mediendienstes trägt und bestimmt, wie diese gestaltet werden; e) ‚Fernsehprogramm‘ (d. h. ein linearer audiovisueller Mediendienst) einen audiovisuellen Mediendienst, der von einem Mediendiensteanbieter für den zeitgleichen Empfang von Sendungen auf der Grundlage eines Sendeplans bereitgestellt wird; f) ‚Fernsehveranstalter‘ einen Mediendiensteanbieter, der Fernsehprogramme bereitstellt; g) ‚audiovisueller Mediendienst auf Abruf‘ (d. h. ein nichtlinearer audiovisueller Mediendienst) einen audiovisuellen Mediendienst, der von einem Mediendiensteanbieter für den Empfang zu dem vom Nutzer gewählten Zeitpunkt und auf dessen individuellen Abruf hin aus einem vom Mediendiensteanbieter festgelegten Programmkatalog bereitgestellt wird; h) ‚audiovisuelle kommerzielle Kommunikation‘ Bilder mit oder ohne Ton, die der unmittelbaren oder mittelbaren Förderung des Absatzes von Waren und Dienstleistungen oder des Erscheinungsbilds natürlicher oder juristischer Personen, die einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen, dienen. Diese Bilder sind einer Sendung gegen Entgelt oder eine ähnliche Gegenleistung oder als Eigenwerbung beigefügt oder darin enthalten. Zur audiovisuellen kommerziellen Kommunikation zählen unter anderem Fernsehwerbung, Sponsoring, Teleshopping und Produktplatzierung; i) ‚Fernsehwerbung‘ jede Äußerung bei der Ausübung eines Handels, Gewerbes, Handwerks oder freien Berufs, die im Fernsehen von einem öffentlich-rechtlichen oder privaten Veranstalter oder einer natürlichen Person entweder gegen Entgelt oder eine ähnliche Gegenleistung oder als Eigenwerbung gesendet wird mit dem Ziel, den Absatz von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich unbeweglicher Sachen, Rechte und Verpflichtungen, gegen Entgelt zu fördern; …“ 5 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten können Mediendiensteanbieter, die ihrer Rechtshoheit unterworfen sind, verpflichten, strengeren oder ausführlicheren Bestimmungen in den von dieser Richtlinie koordinierten Bereichen nachzukommen, sofern diese Vorschriften im Einklang mit dem Unionsrecht stehen.“ Deutsches Recht 6 Am 31. August 1991 schlossen die Länder den Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien (GBl. 1991, S. 745). Auf den Ausgangsrechtsstreit ist der Staatsvertrag in der Fassung des am 1. Januar 2016 in Kraft getreten Achtzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrags vom 21. Dezember 2015 anwendbar (im Folgenden: RStV). 7 § 2 („Begriffsbestimmungen“) RStV sieht in Abs. 1 vor: „Rundfunk ist ein linearer Informations- und Kommunikationsdienst; er ist die für die Allgemeinheit und zum zeitgleichen Empfang bestimmte Veranstaltung und Verbreitung von Angeboten in Bewegtbild oder Ton entlang eines Sendeplans unter Benutzung elektromagnetischer Schwingungen. …“ 8 § 7 („Werbegrundsätze, Kennzeichnungspflichten“) RStV bestimmt in den Abs. 2 und 11: „(2)   Werbung ist Teil des Programms. … … (11)   Die nichtbundesweite Verbreitung von Werbung oder anderen Inhalten in einem zur bundesweiten Verbreitung beauftragten oder zugelassenen Programm ist nur zulässig, wenn und soweit das Recht des Landes, in dem die nichtbundesweite Verbreitung erfolgt, dies gestattet. Die nichtbundesweit verbreitete Werbung oder andere Inhalte privater Veranstalter bedürfen einer gesonderten landesrechtlichen Zulassung; diese kann von gesetzlich zu bestimmenden inhaltlichen Voraussetzungen abhängig gemacht werden. …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 9 Fussl hat ihren Sitz in Ort im Innkreis (Österreich) und betreibt in Österreich und im Freistaat Bayern eine Kette von Modegeschäften. 10 SevenOne Media hat ihren Sitz in Unterföhring (Deutschland) und ist die Vermarktungsgesellschaft der ProSiebenSat.1-Gruppe, eines privaten Fernsehveranstalters mit Sitz in Deutschland. 11 Am 25. Mai 2018 schloss Fussl mit SevenOne Media einen Vertrag über die auf den Freistaat Bayern beschränkte Ausstrahlung von Fernsehwerbung im Rahmen des in die bayerischen Kabelnetze der Vodafone Kabel Deutschland GmbH eingespeisten bundesweiten Programms von ProSieben. 12 SevenOne Media verweigerte sodann die Erfüllung dieses Vertrags mit der Begründung, dass es ihr nach § 7 Abs. 11 RStV untersagt sei, in das bundesweite Programm Fernsehwerbung aufzunehmen, die nur regional gezeigt werde. 13 Fussl erhob daraufhin Klage beim vorlegenden Gericht, dem Landgericht Stuttgart (Deutschland), und beantragte, SevenOne Media zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Vertrag zu verurteilen. 14 Das vorlegende Gericht führt aus, zwischen den Parteien sei unstreitig, dass SevenOne Media im Rahmen ihres bundesweiten Fernsehprogramms technisch in der Lage sei, die Ausstrahlung der streitigen Fernsehwerbung auf das Gebiet des Freistaats Bayern zu beschränken. 15 Zu den verschiedenen ihm unterbreiteten Argumenten führt das vorlegende Gericht erstens aus, es sei zweifelhaft, ob die mit dem Verbot in § 7 Abs. 11 RStV verbundene Beschränkung des durch Art. 56 AEUV garantierten freien Dienstleistungsverkehrs durch den mit dieser Bestimmung verfolgten zwingenden Grund des Allgemeininteresses – den Schutz des Medienpluralismus – gerechtfertigt werden könne. 16 Zum einen sei nicht sicher, dass dieses Ziel in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werde, da das erwähnte Verbot nicht für ausschließlich regionale Werbung im Internet gelte. 17 Zum anderen sei auch die Verhältnismäßigkeit des Verbots in § 7 Abs. 11 RStV fraglich, da regionale Fernsehveranstalter nur recht geringfügig von diesem Verbot profitierten, während Gewerbetreibende wie Fussl in ihren Möglichkeiten zur Bewerbung ihrer Waren erheblich eingeschränkt seien. 18 Zweitens könne § 7 Abs. 11 RStV einen Eingriff in die Meinungsfreiheit und die Freiheit, Informationen zu empfangen und weiterzugeben, darstellen, die durch Art. 11 der Charta und Art. 10 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantiert würden. 19 Drittens könnte § 7 Abs. 11 RStV gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstoßen. 20 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Stuttgart beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13, der unionsrechtliche Gleichheitsgrundsatz und die Regelungen gemäß Art. 56 AEUV zum freien Dienstleistungsverkehr dahin auszulegen, dass sie einer Regelung im nationalen Recht entgegenstehen, die die regionale Verbreitung von Werbung in für den gesamten Mitgliedstaat zugelassenen Rundfunkprogrammen untersagt? 2. Ist Frage 1 abweichend zu beurteilen, wenn das nationale Recht gesetzliche Regelungen erlaubt, nach denen die regionale Verbreitung von Werbung gesetzlich zugelassen werden kann und in diesem Fall mit einer – zusätzlich erforderlichen – behördlichen Erlaubnis zugelassen ist? 3. Ist Frage 1 abweichend zu beurteilen, wenn von der in Frage 2 beschriebenen Möglichkeit der Zulassung regionaler Werbung tatsächlich kein Gebrauch gemacht wird und die regionale Werbung dementsprechend durchgehend verboten ist? 4. Ist Art. 11 der Charta unter Berücksichtigung von Art. 10 der EMRK sowie der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, insbesondere der Grundsatz der Informationsvielfalt, dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, wie sie in den Fragen 1, 2 und 3 beschrieben ist, entgegensteht? Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens 21 Im Anschluss an die Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts haben SevenOne Media, ProSiebenSat.1 TV Deutschland und ProSiebenSat.1 Media mit Schriftsatz, der am 27. Oktober 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, nach Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt. 22 Zur Begründung ihres Antrags machen die genannten Gesellschaften geltend, die vom Generalanwalt vorgelegten Schlussanträge enthielten einige falsche Sachverhaltsdarstellungen, die berichtigt werden müssten, da das zu erlassende Urteil nicht auf falsche Angaben gestützt werden dürfe. Sie bringen insbesondere vor, die Angabe in Nr. 57 der Schlussanträge, wonach die Werbung im Internet etwas völlig anderes sei als Fernsehwerbung, sei in mehrfacher Hinsicht falsch. 23 Gemäß Art. 252 Abs. 2 AEUV hat der Generalanwalt öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an die Schlussanträge des Generalanwalts noch an ihre Begründung gebunden (Urteil vom 25. Juli 2018, Société des produits Nestlé u. a./Mondelez UK Holdings & Services, C‑84/17 P, C‑85/17 P und C‑95/17 P, EU:C:2018:596, Rn. 31). 24 Außerdem sieht weder die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch die Verfahrensordnung vor, dass die Parteien oder die in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten die Möglichkeit haben, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2016, Kommission/Aer Lingus und Ryanair Designated Activity, C‑164/15 P und C‑165/15 P, EU:C:2016:990, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 25 Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 28. Februar 2018, mobile.de/EUIPO, C‑418/16 P, EU:C:2018:128, Rn. 30). 26 Der Gerichtshof kann allerdings gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für seine Entscheidung ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist. 27 Dies ist hier nicht der Fall. 28 SevenOne Media, ProSiebenSat.1 TV Deutschland und ProSiebenSat.1 Media stützen ihren Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens nämlich darauf, dass die Schlussanträge einige falsche Sachverhaltsdarstellungen enthielten. 29 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist in dem Verfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, aber allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig (Urteil vom 18. Februar 2016, Finanmadrid EFC, C‑49/14, EU:C:2016:98, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Die Beurteilung des Sachverhalts, auf den SevenOne Media, ProSiebenSat.1 TV Deutschland und ProSiebenSat.1 Media ihren Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens stützen, obliegt daher allein dem vorlegenden Gericht, falls es unter Berücksichtigung insbesondere der vom Gerichtshof im Rahmen seiner Antwort auf das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts zu der Auffassung gelangen sollte, dass eine solche Beurteilung für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich ist. 31 Daher ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er durch die verschiedenen Argumente, die gebührend vor ihm erörtert worden sind, hinreichend unterrichtet ist. 32 Somit besteht keine Veranlassung, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens anzuordnen. Zu den Vorlagefragen 33 Mit seinen vier Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13, der Grundsatz der Gleichbehandlung, Art. 56 AEUV und Art. 11 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den Fernsehveranstaltern untersagt, in ihr im gesamten Inland ausgestrahltes Programm Fernsehwerbung aufzunehmen, die nur regional gezeigt wird. Zur Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit der Richtlinie 2010/13 34 Zu den möglichen Auswirkungen der Richtlinie 2010/13 auf die Beantwortung der in der vorstehenden Randnummer umformulierten Vorlagefragen vertritt die deutsche Regierung die Auffassung, dass in dem durch § 2 Abs. 1 und § 7 Abs. 2 und 11 RStV in deutsches Recht umgesetzten Art. 1 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie das „Prinzip der Gleichzeitigkeit des Empfangs“ verankert sei, so dass der RStV keine „strengeren oder detaillierteren“ Regelungen im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie enthalte, deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht geprüft werden könne. 35 Dieser Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2010/13 kann jedoch nicht gefolgt werden. 36 Die Bezugnahme in Art. 1 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2010/13 auf den „zeitgleichen Empfang von Sendungen“ kann nämlich nicht dahin verstanden werden, dass sie die Mitgliedstaaten dazu verpflichten würde, dafür zu sorgen, dass Werbung oder andere Inhalte eines für die Ausstrahlung auf nationaler Ebene bestimmten oder zugelassenen Fernsehprogramms, mangels Genehmigung systematisch im gesamten Hoheitsgebiet ausgestrahlt werden, wie es § 7 Abs. 11 RStV im vorliegenden Fall vorsieht. 37 Abgesehen davon, dass sich Art. 1 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2010/13 auf die Definition des Begriffs „Fernsehprogramm“ beschränkt, wobei er ausdrücklich auf den zeitgleichen Empfang von „Sendungen“ Bezug nimmt, und daher als solcher keine Verpflichtung in Bezug auf die Fernsehwerbung auferlegt, ergibt sich aus der Systematik der Richtlinie, dass der Begriff „zeitgleicher Empfang“ so zu verstehen ist, dass er an die der Richtlinie zugrunde liegende Unterscheidung zwischen den von dieser Bestimmung erfassten „linearen“ audiovisuellen Mediendiensten und den „nichtlinearen“ audiovisuellen Mediendiensten anknüpft, bei denen es sich um „audiovisuelle Mediendienste auf Abruf“ handelt, die nach der Definition in Art. 1 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie dadurch gekennzeichnet sind, dass bei ihnen der „Empfang [der Sendungen] zu dem vom Nutzer gewählten Zeitpunkt und auf dessen individuellen Abruf hin aus einem vom Mediendiensteanbieter festgelegten Programmkatalog“ erfolgt. 38 Der Begriff „zeitgleicher Empfang“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2010/13 ist daher vor dem Hintergrund zu verstehen, dass es sich bei einem Fernsehprogramm um einen audiovisuellen Mediendienst mit linearem Charakter handelt; dies bedeutet, dass alle Zuschauer, für die eine Sendung bestimmt ist, diese auf der Grundlage eines chronologischen Sendeplans zeitgleich anschauen, ohne eine Wahl- oder Abrufmöglichkeit zu haben. 39 Dieser Begriff bedeutet daher für sich genommen nicht, dass bei der Ausstrahlung von Fernsehwerbung keine Differenzierungen vorgenommen werden können, etwa durch ihre Beschränkung auf einen Teil des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats. 40 Was sodann die möglichen Auswirkungen von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13 auf die Beantwortung der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils umformulierten Vorlagefragen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass, wie aus dieser Bestimmung sowie aus den Erwägungsgründen 41 und 83 der Richtlinie hervorgeht, die Mitgliedstaaten, um sicherzustellen, dass die Interessen der Verbraucher als Zuschauer umfassend und angemessen geschützt werden, die ihrer Rechtshoheit unterworfenen Mediendiensteanbieter verpflichten können, strengeren oder ausführlicheren Bestimmungen und in bestimmten Fällen unterschiedlichen Bedingungen in den von der Richtlinie koordinierten Bereichen nachzukommen, sofern diese Vorschriften im Einklang mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dessen allgemeinen Grundsätzen stehen (Urteil vom 18. Juli 2013, Sky Italia, C‑234/12, EU:C:2013:496, Rn. 13). 41 Wie auch der Generalanwalt in Nr. 22 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, fällt die Bestimmung, die sich aus § 7 Abs. 11 RStV ergibt, zwar in einen von der Richtlinie 2010/13 erfassten Bereich, nämlich den der Fernsehwerbung, der in ihren Art. 19 bis 26 geregelt ist, die die Verbraucher als Zuschauer vor übermäßiger Werbung schützen sollen (Urteil vom 18. Juli 2013, Sky Italia, C‑234/12, EU:C:2013:496, Rn. 17); sie betrifft jedoch einen speziellen Bereich, der durch keinen der genannten Artikel geregelt wird, und verfolgt darüber hinaus nicht das erwähnte Ziel des Schutzes der Zuschauer. 42 Daraus folgt, dass die in § 7 Abs. 11 RStV vorgesehene Maßnahme nicht als „ausführlichere“ oder „strengere“ Bestimmung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13 eingestuft werden kann und nicht in ihren Anwendungsbereich fällt. Zur Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit dem durch Art. 56 AEUV garantierten freien Dienstleistungsverkehr Zum Vorliegen einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs 43 In Bezug auf die Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden mit der durch Art. 56 AEUV garantierten Grundfreiheit in Form des freien Dienstleistungsverkehrs ist darauf hinzuweisen, dass als Beschränkungen dieser Freiheit alle Maßnahmen zu verstehen sind, die ihre Ausübung untersagen, behindern oder weniger attraktiv machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2017, Vanderborght, C‑339/15, EU:C:2017:335, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Der Begriff der Beschränkung umfasst insbesondere die von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, die, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den freien Dienstleistungsverkehr in den übrigen Mitgliedstaaten berühren (Urteil vom 4. Mai 2017, Vanderborght, C‑339/15, EU:C:2017:335, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung). 45 In diesem Zusammenhang macht Fussl geltend, dass das Verbot in § 7 Abs. 11 RStV den besonderen Werbebedürfnissen eines gebietsfremden mittelgroßen Wirtschaftsteilnehmers – wie ihr – entgegenstehe, der in den deutschen Markt eintreten wolle und sich dabei zunächst auf ein einziges Einzugsgebiet, im vorliegenden Fall den Freistaat Bayern, konzentriere. 46 Zum einen sei die Ausstrahlung von Fernsehwerbung im Rahmen nationaler Programme in ganz Deutschland zu kostspielig und könnte zu einer zu großen Nachfrage führen, die möglicherweise nicht befriedigt werden könne. 47 Zum anderen habe die Ausstrahlung von Fernsehwerbung durch regionale Fernsehveranstalter nur eine sehr begrenzte Werbewirkung. Dies liege vor allem daran, dass die von diesen Regionalsendern ausgestrahlten Programme nur eine sehr begrenzte Zahl von Fernsehzuschauern erreichten, nämlich etwa 5 % des gesamten deutschen Fernsehpublikums. 48 Hierzu ist festzustellen, dass eine nationale Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die es den Fernsehveranstaltern untersagt, im Rahmen ihrer nationalen Programme regionale Fernsehwerbung u. a. zugunsten von Werbetreibenden auszustrahlen, die – wie im vorliegenden Fall Fussl – in anderen Mitgliedstaaten ansässig sind, zu einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs führt, zum Nachteil sowohl der Anbieter von Werbedienstleistungen, also der Fernsehveranstalter, als auch der Empfänger dieser Dienstleistungen, also der Werbetreibenden, die ihre Waren oder Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat nur regional beschränkt bewerben möchten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Oktober 1999, ARD, C‑6/98, EU:C:1999:532, Rn. 49, und vom 17. Juli 2008, Corporación Dermoestética, C‑500/06, EU:C:2008:421, Rn. 33). 49 Im vorliegenden Fall ist § 7 Abs. 11 RStV geeignet, den Zugang gebietsfremder Wirtschaftsteilnehmer wie Fussl zum deutschen Markt zu behindern, da er sie daran hindert, in Deutschland Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Ausstrahlung von Fernsehwerbung in Anspruch zu nehmen. 50 Das Vorliegen eines solchen Hindernisses für den freien Dienstleistungsverkehr kann im Übrigen nicht durch den vom vorlegenden Gericht im Rahmen seiner zweiten und seiner dritten Frage angeführten Umstand in Frage gestellt werden, dass jedes Bundesland aufgrund der in § 7 Abs. 11 RStV enthaltenen „Öffnungsklausel“ in seinen Rechtsvorschriften eine Erlaubnisregelung vorsehen kann, nach der eine solche regionale Ausstrahlung von Fernsehwerbung, gegebenenfalls unter bestimmten Voraussetzungen, gestattet ist. 51 Insoweit genügt der Hinweis, dass es sich dabei nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen um eine bloße Möglichkeit handelt, von der bisher kein Bundesland Gebrauch gemacht hat, so dass de lege lata das in § 7 Abs. 11 RStV normierte Verbot für Fernsehveranstalter, in ihr im gesamten Inland ausgestrahltes Programm Fernsehwerbung aufzunehmen, die nur regional gezeigt wird, und die sich daraus ergebende Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs erwiesen sind. Zur etwaigen Rechtfertigung der Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs 52 Was sodann die etwaige Rechtfertigung einer solchen Beschränkung anbelangt, ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Beschränkung einer durch den AEU-Vertrag verbürgten Grundfreiheit nur zulässig, wenn die fragliche nationale Maßnahme einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses entspricht, wenn sie geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 4. Mai 2017, Vanderborght, C‑339/15, EU:C:2017:335, Rn. 65, und vom 11. Dezember 2019, TV Play Baltic, C‑87/19, EU:C:2019:1063, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). – Zum Vorliegen eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses, der die Beschränkung rechtfertigen kann 53 Wie aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte, dem Vorabentscheidungsersuchen und den schriftlichen Erklärungen der deutschen Regierung hervorgeht und zudem durch die Begründung zum Achtzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag bestätigt wird, soll durch § 7 Abs. 11 RStV den regionalen und lokalen Fernsehveranstaltern, indem ihnen die Einnahmen aus der regionalen Fernsehwerbung vorbehalten bleiben, eine Einnahmequelle und damit ihr Fortbestand gesichert werden, um es ihnen zu ermöglichen, durch die Bereitstellung regionaler und lokaler Inhalte zum pluralistischen Charakter des Fernsehprogrammangebots beizutragen. 54 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann jedoch die Aufrechterhaltung des pluralistischen Charakters des Fernsehprogrammangebots, die durch eine Kulturpolitik gewährleistet werden soll, einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Dezember 2007, United Pan-Europe Communications Belgium u. a., C‑250/06, EU:C:2007:783, Rn. 41 und 42, sowie vom 22. Dezember 2008, Kabel Deutschland Vertrieb und Service, C‑336/07, EU:C:2008:765, Rn. 37 und 38). 55 Des Weiteren hat der Gerichtshof entschieden, dass die Wahrung der Freiheiten, die durch Art. 11 der Charta, der in seinem Abs. 2 die Freiheit und den Pluralismus der Medien nennt, geschützt werden, unbestreitbar ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel darstellt, dessen Bedeutung in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft nicht genug betont werden kann und eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zu rechtfertigen vermag (Urteil vom 3. September 2020, Vivendi, C‑719/18, EU:C:2020:627, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). – Zur Verhältnismäßigkeit der Beschränkung 56 Auch wenn das mit § 7 Abs. 11 RStV verfolgte Ziel der Aufrechterhaltung des Medienpluralismus einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann, lässt sich, wie bereits in Rn. 52 des vorliegenden Urteils dargelegt, die mit dieser nationalen Bestimmung verbundene Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs nur dann rechtfertigen, wenn sie geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. 57 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass dieses Ziel zwar mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit im Zusammenhang steht und damit den nationalen Stellen ein weites Ermessen einräumt, doch dürfen die Anforderungen, die sich aus den Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels ergeben, auf keinen Fall zur Gewährleistung der Erreichung des mit ihnen verfolgten Ziels ungeeignet sein oder außer Verhältnis zu ihm stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2007, United Pan-Europe Communications Belgium u. a., C‑250/06, EU:C:2007:783, Rn. 44). 58 Daher ist erstens zu prüfen, ob das Verbot geeignet ist, die Erreichung des mit dieser Maßnahme verfolgten, im Allgemeininteresse liegenden Ziels der Garantie des Medienpluralismus zu gewährleisten. 59 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nationale Rechtsvorschriften nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nur dann geeignet sind, die Erreichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (Urteile vom 10. März 2009, Hartlauer, C‑169/07, EU:C:2009:141, Rn. 55, und vom 11. Juli 2019, A, C‑716/17, EU:C:2019:598, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Neben dem vorlegenden Gericht bezweifeln aber auch die Parteien des Ausgangsverfahrens und die Europäische Kommission, dass § 7 Abs. 11 RStV diesem Kohärenzerfordernis genügt, vor allem, weil das dort aufgestellte Verbot nicht für Werbung gilt, die allein auf der Ebene einer Region über verschiedene Internetplattformen verbreitet wird. 61 Insoweit wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob die über Internetplattformen erbrachten Werbedienstleistungen auf dem regionalen Werbemarkt eine echte Konkurrenz für die regionalen und lokalen Fernsehveranstalter darstellen und die Einnahmen gefährden, die sie mit dieser Werbung erzielen. 62 In diesem Zusammenhang hat das vorlegende Gericht im Übrigen die Auffassung vertreten, dass durch § 7 Abs. 11 RStV gebietsansässige und gebietsfremde Werbetreibende, die regionale Fernsehwerbung schalten wollten, gegenüber den übrigen Anbietern von Mediendiensten auf Internetplattformen benachteiligt würden, da Letztere ihr Werbeangebot ebenso regional differenzieren dürften wie die inländischen Printmedien. 63 Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist zudem davon auszugehen, dass die regionalen Fernsehveranstalter auf dem Markt für regionale Werbung mit den Anbietern von – insbesondere linearen – Werbedienstleistungen im Internet in Wettbewerb stehen, so dass sich die Nachfrage der Werbetreibenden nach regionaler Werbung von den regionalen Fernsehveranstaltern auf diese Anbieter verlagern kann. 64 Ebenfalls vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist nicht davon auszugehen, dass die Gefahr von Einnahmeverlusten der regionalen und lokalen Fernsehveranstalter infolge dieser Verlagerung der Nachfrage und der Einnahmen aus Werbedienstleistungen auf Anbieter von – insbesondere linearen – Werbedienstleistungen im Internet geringer ist als die Gefahr einer entsprechenden Verlagerung von Nachfrage und Einnahmen zugunsten nationaler Fernsehveranstalter, wenn kein Verbot wie das in § 7 Abs. 11 RStV verankerte bestünde. 65 Außerdem ist festzustellen, dass nach den Angaben in der dem Gerichtshof vorgelegten Akte der deutsche Gesetzgeber ausweislich der Begründung zum Achtzehnten Rundfunkänderungsstaatsvertrag das in § 7 Abs. 11 RStV verankerte Verbot auf die Gefahr einer solchen Verlagerung der Nachfrage und eines Verlusts von Werbeeinnahmen zulasten der regionalen Fernsehveranstalter in einem ihren Fortbestand bedrohenden Ausmaß gestützt hat; die Parteien des Ausgangsrechtsstreits zweifeln aber daran, dass eine solche Gefahr besteht. 66 Es ist jedoch allein Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage aktueller, hinreichend detaillierter und fundierter Angaben zu prüfen, ob eine tatsächliche oder konkret vorhersehbare Gefahr besteht, dass sich die Nachfrage nach regionalen Werbedienstleistungen und die damit erzielten Einnahmen zu Ungunsten der regionalen Fernsehveranstalter in einem ihre Finanzierung und damit ihren Fortbestand bedrohenden Ausmaß verlagern würden, wenn die nationalen Fernsehveranstalter befugt wären, im Rahmen ihres im gesamten Inland ausgestrahlten Programms regionale Werbung zu zeigen. 67 Folglich ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen, dass der Widerspruch, mit dem § 7 Abs. 11 RStV behaftet sein könnte, mit der – vom vorlegenden Gericht zu prüfenden – Tatsache zusammenhängen könnte, dass das in dieser Bestimmung enthaltene Verbot nur für Werbedienstleistungen gilt, die von nationalen Fernsehveranstaltern erbracht werden, und nicht für – insbesondere lineare – Werbedienstleistungen, die im Internet erbracht werden, obwohl es sich um zwei Arten auf dem deutschen Werbemarkt konkurrierender Dienstleistungen handeln könnte, die – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – die gleiche Gefahr für das finanzielle Wohlergehen und den Fortbestand der regionalen und lokalen Fernsehveranstalter und damit für das mit dieser Bestimmung verfolgte Ziel der Förderung des Medienpluralismus auf regionaler und lokaler Ebene darstellen können. 68 In diesem Zusammenhang wird das vorlegende Gericht insbesondere zu prüfen haben, ob das deutsche Recht es den nationalen Fernsehveranstaltern gestattet, im Rahmen ihrer Streaming-Sendungen im Internet regionale Werbung auszustrahlen. Bejahendenfalls wäre zwangsläufig festzustellen, dass die durch § 7 Abs. 11 RStV eingeführte Maßnahme widersprüchlichen Charakter hat. 69 Die Umstände des Ausgangsverfahrens sind im Übrigen insoweit im Wesentlichen mit jenen vergleichbar, die dem Urteil vom 17. Juli 2008, Corporación Dermoestética (C‑500/06, EU:C:2008:421), zugrunde lagen. 70 In Rn. 39 dieses Urteils ist der Gerichtshof zwar zu dem Ergebnis gelangt, dass die in dieser Rechtssache in Rede stehende Werberegelung insofern einen Widerspruch aufwies und somit nicht zur Erreichung ihres Ziels, die öffentliche Gesundheit zu schützen, geeignet war, als sie ein Verbot von Werbung für medizinisch-chirurgische Behandlungen über nationale Fernsehsender enthielt, zugleich aber die Möglichkeit eröffnete, eine solche Werbung über lokale Fernsehsender zu verbreiten; dieses Ergebnis ist jedoch offensichtlich damit zu erklären, dass bei der Werbung für solche Behandlungen das Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gleichermaßen relevant war, unabhängig davon, ob die Werbung über nationale oder lokale Fernsehsender verbreitet wurde. 71 Schließlich ist, anknüpfend an die Ausführungen in Rn. 57 des vorliegenden Urteils, darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht bei der Beurteilung der Widerspruchsfreiheit der Beschränkung das weite Ermessen berücksichtigen muss, das den nationalen Behörden zusteht, wenn sie den Medienpluralismus schützen wollen. 72 Zweitens setzt – wie aus der in Rn. 52 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht – die Rechtfertigung einer nationalen Maßnahme, mit der eine durch den AEU-Vertrag verbürgte Grundfreiheit beschränkt wird, nicht nur voraus, dass sie einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses entspricht und zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels geeignet ist, sondern auch, dass sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. 73 Daher ist zu prüfen, ob es im vorliegenden Fall durch andere, den freien Dienstleistungsverkehr weniger beeinträchtigende Maßnahmen möglich gewesen wäre, das vom deutschen Gesetzgeber mit der Maßnahme in § 7 Abs. 11 RStV angestrebte Ziel des Schutzes des Medienpluralismus auf regionaler und lokaler Ebene zu erreichen. 74 Insoweit ist den Ausführungen des Generalanwalts in den Nrn. 69 und 70 seiner Schlussanträge beizupflichten, wonach der bloße Umstand, dass andere Mitgliedstaaten die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Fernsehveranstalter durch Gebühren sicherstellen und den privaten Fernsehveranstaltern die Ausstrahlung von sowohl nationaler als auch regionaler Werbung freistellen, als solcher kein ausreichender Beweis für die Unverhältnismäßigkeit des in § 7 Abs. 11 RStV verankerten Verbots ist. 75 In Anbetracht insbesondere des in Rn. 57 des vorliegenden Urteils angeführten Umstands, dass den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Ziels der Wahrung des Medienpluralismus ein gewisses Ermessen einzuräumen ist, kann daraus, dass ein Mitgliedstaat weniger strenge Vorschriften erlässt als ein anderer Mitgliedstaat, nämlich nicht geschlossen werden, dass die Vorschriften im letztgenannten Staat unverhältnismäßig wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. September 2019, VIPA, C‑222/18, EU:C:2019:751, Rn. 71). 76 Allerdings ist festzustellen, dass § 7 Abs. 11 RStV selbst eine so genannte „Öffnungsklausel“ enthält, die es den Bundesländern gestattet, eine weniger beschränkende Maßnahme als das schlichte Verbot, und zwar eine besondere Erlaubnisregelung, einzuführen, soweit das Recht des betreffenden Bundeslands dies vorsieht. 77 Daher könnte sich eine weniger beschränkende Maßnahme aus der tatsächlichen Umsetzung dieser Erlaubnisregelung in den Bundesländern ergeben, die die regionale Ausstrahlung von Werbung durch nationale Fernsehveranstalter in gewissen Grenzen und unter bestimmten Voraussetzungen – die unter Berücksichtigung der Besonderheiten jedes Bundeslands festzulegen sind – ermöglicht, um insbesondere etwaige finanzielle Auswirkungen auf die regionalen und lokalen Fernsehveranstalter zu minimieren und damit den pluralistischen Charakter insbesondere des regionalen und lokalen Fernsehangebots zu wahren. 78 Wie der Generalanwalt in Nr. 69 seiner Schlussanträge weiter ausgeführt hat, ändert die Tatsache, dass diese Möglichkeit bisher nicht in Anspruch genommen wurde, nichts daran, dass der deutsche Gesetzgeber mit der Einführung dieser Klausel anerkannt hat, dass eine solche Erlaubnisregelung mit den Zielen der streitigen Maßnahme vereinbar ist. 79 Außerdem kann das Vorliegen einer a priori weniger einschränkenden Maßnahme die Verhältnismäßigkeit von § 7 Abs. 11 RStV nur berühren, sofern – was das vorlegende Gericht zu prüfen hat – diese Maßnahme tatsächlich so erlassen und durchgeführt werden kann, dass das Ziel der Bestimmung – die Wahrung des Medienpluralismus auf regionaler und lokaler Ebene durch den Schutz der Finanzierung und des Fortbestands der regionalen und lokalen Fernsehveranstalter – in der Praxis erreicht werden kann. Zur Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit den Art. 11 und 20 der Charta 80 Schließlich ist in Bezug auf die Frage, ob in dem Verbot in § 7 Abs. 11 RStV ein Eingriff in die durch Art. 11 der Charta verbürgte Rundfunkfreiheit oder ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung gesehen werden kann, zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Regelung, die nach einer Prüfung anhand von Art. 56 AEUV für geeignet befunden worden ist, den freien Dienstleistungsverkehr zu behindern, wobei der betreffende Mitgliedstaat dies aufgrund eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses – im vorliegenden Fall des Ziels der Wahrung des Medienpluralismus – für gerechtfertigt hält, als Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen ist, so dass sie mit den durch die Charta garantierten Grundrechten im Einklang stehen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen], C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 63 bis 65). Zu der durch Art. 11 der Charta garantierten Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit 81 Die in Art. 11 der Charta verankerte Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit wird auch durch Art. 10 der EMRK geschützt, der nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte insbesondere auf die Verbreitung von Informationen geschäftlicher Art durch einen Unternehmer, u. a. in Form von Werbebotschaften, anwendbar ist (Urteil vom 17. Dezember 2015, Neptune Distribution, C‑157/14, EU:C:2015:823, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 82 Da die in Art. 11 der Charta und in Art. 10 der EMRK verankerte Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit nach Art. 52 Abs. 3 der Charta und den Erläuterungen zu ihrem Art. 11 in der Charta und der EMRK die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, beeinträchtigt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme, soweit sie die Möglichkeiten der nationalen Fernsehveranstalter beschränkt, regionale Fernsehwerbung für die betreffenden Werbetreibenden auszustrahlen, diese Grundfreiheit der Fernsehveranstalter (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Juni 1997, Familiapress, C‑368/95, EU:C:1997:325, Rn. 26, vom 23. Oktober 2003, RTL Television, C‑245/01, EU:C:2003:580, Rn. 68, sowie vom 17. Dezember 2015, Neptune Distribution, C‑157/14, EU:C:2015:823, Rn. 64 und 65). 83 In Bezug auf die nationalen Fernsehveranstalter nimmt der Eingriff in die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit die besondere Form eines Eingriffs in die durch Art. 11 Abs. 2 der Charta speziell geschützte Medien- oder Rundfunkfreiheit an. 84 Die durch die Charta garantierten Freiheiten können zwar eingeschränkt werden, doch muss jede Einschränkung ihrer Ausübung gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sein und ihren Wesensgehalt achten. Außerdem dürfen nach dieser Bestimmung unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Urteil vom 17. Dezember 2015, Neptune Distribution, C‑157/14, EU:C:2015:823, Rn. 68). 85 Hierzu ist im vorliegenden Fall erstens festzustellen, dass die Einschränkung, die sich aus dem in § 7 Abs. 11 RStV verankerten Verbot der regionalen Werbung ergibt, als gesetzlich vorgesehen anzusehen ist, da sie in einem zwischen allen deutschen Bundesländern geschlossenen Vertrag enthalten ist. 86 Zweitens wird der Wesensgehalt der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer nicht beeinträchtigt, da die nationale Regelung zum einen – wie auch der Generalanwalt in Nr. 81 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – nur die Möglichkeit für die Werbetreibenden einschränkt, einen bestimmten Kommunikationskanal, und zwar die nationalen Fernsehsender, zu nutzen, wobei es ihnen freisteht, zur Erreichung ihrer regionalen Zielgruppe andere Werbekanäle zu nutzen, wie z. B. Werbung im Internet, deren Wirksamkeit, auch auf regionaler Ebene, im Übrigen nicht bestritten wird. 87 Zum anderen wird die den privaten und nicht subventionierten nationalen Fernsehveranstaltern zustehende Medienfreiheit zwar insofern eingeschränkt, als sie im Rahmen ihres bundesweiten Programms keine regionale Werbung ausstrahlen dürfen, doch handelt es sich dabei um nur eine Methode zur Verbreitung von Werbung und damit um nur eine von mehreren Einnahmequellen dieser Veranstalter. 88 Drittens entspricht der in Rn. 85 des vorliegenden Urteils erwähnte Eingriff einem von der Union anerkannten Ziel von allgemeinem Interesse. 89 Wie aus Rn. 53 des vorliegenden Urteils hervorgeht, soll durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, nach der den regionalen und lokalen Fernsehveranstaltern die Einnahmen aus der regionalen Fernsehwerbung vorbehalten bleiben, nämlich ihre Finanzierung und damit ihr Fortbestand gesichert werden, um es ihnen zu ermöglichen, durch die Bereitstellung regionaler und lokaler Inhalte zum pluralistischen Charakter des Fernsehprogrammangebots beizutragen. 90 Wie bereits in Rn. 55 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, stellt dieses Ziel, da es den Schutz des Medienpluralismus auf regionaler und lokaler Ebene bezweckt, ein im Allgemeininteresse liegendes, in Art. 11 Abs. 2 der Charta ausdrücklich anerkanntes Ziel dar. 91 Viertens ist hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit des festgestellten Eingriffs hervorzuheben, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 10 Abs. 2 der EMRK die nationalen Behörden bei der Entscheidung darüber, ob ein zwingendes gesellschaftliches Bedürfnis besteht, das eine Einschränkung der Meinungsfreiheit rechtfertigen könnte, über ein gewisses Ermessen verfügen. Nach dieser Rechtsprechung ist dies gerade in der Wirtschaft und besonders in einem so komplexen und fluktuierenden Bereich wie der Werbung unerlässlich (Urteil vom 23. Oktober 2003, RTL Television, C‑245/01, EU:C:2003:580, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung). 92 Das in § 7 Abs. 11 RStV verankerte Verbot der regionalen Werbung beruht im Wesentlichen auf einer Abwägung zwischen der Freiheit der nationalen Fernsehveranstalter zur kommerziellen Meinungsäußerung und der Freiheit der Werbetreibenden, im Rahmen von Programmen, die für das gesamte inländische Fernsehpublikum bestimmt sind, regionale Fernsehwerbung auszustrahlen, einerseits und dem Schutz des Medienpluralismus auf regionaler und lokaler Ebene, zu dem die regionalen und lokalen Fernsehveranstalter nur beitragen können, wenn ihre Finanzierung und damit ihr Fortbestand gesichert sind, weil ihnen ausreichende Einnahmen aus regionaler Werbung vorbehalten bleiben, andererseits. 93 Insoweit durfte der deutsche Gesetzgeber, wie auch der Generalanwalt in Nr. 83 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, beim Erlass von § 7 Abs. 11 RStV – ohne das weite Ermessen, das ihm im besonderen Rahmen einer solchen Abwägung mitunter gegenläufiger Interessen zusteht, zu überschreiten – davon ausgehen, dass die Wahrung des öffentlichen Interesses daran, dass regionale und lokale Fernsehveranstalter in der Lage sind, zur öffentlichen Debatte auf diesen Ebenen beizutragen, Vorrang haben soll vor dem privaten Interesse der nationalen Fernsehveranstalter und der Werbetreibenden an der Ausstrahlung regionaler Fernsehwerbung im Rahmen von Programmen, die für das gesamte inländische Fernsehpublikum bestimmt sind. 94 Nach alledem ist Art. 11 der Charta dahin auszulegen, dass er einem Verbot regionaler Werbung auf nationalen Fernsehsendern wie dem in § 7 Abs. 11 RStV enthaltenen nicht entgegensteht. Zu dem durch Art. 20 der Charta garantierten Grundsatz der Gleichbehandlung 95 Zur Vereinbarkeit einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 11 RStV mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung ist darauf hinzuweisen, dass dieser allgemeine Grundsatz des Unionsrechts in Art. 20 der Charta verankert ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt er, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist. Eine unterschiedliche Behandlung ist gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie mit einem rechtlich zulässigen Ziel, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, in Zusammenhang steht und wenn dieser Unterschied in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht (Urteil vom 22. Mai 2014, Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 96 Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob ein Verbot regionaler Werbung auf nationalen Fernsehsendern, wie es in § 7 Abs. 11 RStV enthalten ist, gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen könnte, da durch diese Bestimmung nationale Fernsehveranstalter sowie gebietsansässige und gebietsfremde Werbetreibende gegenüber den Anbietern von Werbedienstleistungen im Internet – etwa in Form von Video-on-Demand- oder Streaming-Diensten – benachteiligt würden, die ihr Werbeangebot ebenso wie die nationalen Printmedien regional differenzieren dürften. 97 Zwar obliegt dem vorlegenden Gericht die Prüfung, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung vereinbar ist, doch kann der Gerichtshof ihm alle für diese Prüfung notwendigen Hinweise geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2020, Autoservizi Giordano, C‑513/18, EU:C:2020:59, Rn. 36). 98 Insoweit ist erstens zu prüfen, ob sich die verschiedenen in Rn. 96 des vorliegenden Urteils genannten Wirtschaftsteilnehmer in einer vergleichbaren Situation befinden. 99 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Vergleichbarkeit verschiedener Sachverhalte anhand aller Merkmale zu beurteilen, die sie kennzeichnen. Diese Merkmale sind u. a. im Licht des Gegenstands und des Ziels der Handlung, mit der die fragliche Unterscheidung eingeführt wird, zu bestimmen und zu beurteilen. Außerdem sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, in den die Handlung fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2013, Sky Italia, C‑234/12, EU:C:2013:496, Rn. 16, und vom 30. Januar 2019, Planta Tabak, C‑220/17, EU:C:2019:76, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). 100 Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob sich die Situation der nationalen Fernsehveranstalter und die Situation der Anbieter von – insbesondere linearen – Werbedienstleistungen im Internet in Bezug auf die Erbringung von Dienstleistungen der regionalen Werbung in den ihre jeweilige Situation kennzeichnenden Merkmalen – insbesondere den üblichen Formen der Nutzung von Werbedienstleistungen, der Art ihrer Erbringung oder dem rechtlichen Rahmen, in den sie sich einfügen – erheblich voneinander unterscheiden. 101 Ferner ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob angesichts des Gegenstands und des Ziels von § 7 Abs. 11 RStV, wonach insbesondere die Finanzierung der regionalen und lokalen Fernsehveranstalter gesichert werden soll, die Situation der nicht subventionierten nationalen Fernsehveranstalter, die Werbedienstleistungen anbieten, mit der Situation der Anbieter von – insbesondere linearen – Werbedienstleistungen im Internet vergleichbar ist, unter Berücksichtigung dessen, dass diese beiden Kategorien von Anbietern hinsichtlich ihrer Finanzierung in gleicher Weise auf Werbeeinnahmen angewiesen sind. 102 In diesem Zusammenhang würde ein wichtiger Anhaltspunkt dafür, dass sich die beiden Gruppen von Wirtschaftsteilnehmern in einer vergleichbaren Situation befinden, vorliegen, wenn das vorlegende Gericht feststellen sollte, dass sie gleichartige Dienstleistungen erbringen, die miteinander in Wettbewerb stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2020, Autoservizi Giordano, C‑513/18, EU:C:2020:59, Rn. 38). 103 Zweitens müsste das vorlegende Gericht, wenn es am Ende dieser Prüfungen zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass die Situation der nationalen Fernsehveranstalter und die Situation der Anbieter von – insbesondere linearen – Werbedienstleistungen im Internet in Anbetracht der sie kennzeichnenden Merkmale, des Gegenstands und des Ziels von § 7 Abs. 11 RStV sowie der Grundsätze und Ziele des Bereichs des nationalen Rechts, zu dem diese Bestimmung gehört, miteinander vergleichbar sind, ferner prüfen, ob die Ungleichbehandlung dieser beiden Kategorien von Wirtschaftsteilnehmern objektiv gerechtfertigt werden kann. 104 Wie aus Rn. 95 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ist eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie mit einem rechtlich zulässigen Ziel, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, in Zusammenhang steht und wenn dieser Unterschied in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht. 105 Auch wenn es allein Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu ermitteln, ob die Ungleichbehandlung, die sich möglicherweise aus der Anwendung der in § 7 Abs. 11 RStV enthaltenen Vorschrift ergibt, angesichts der in der vorstehenden Randnummer genannten Kriterien objektiv gerechtfertigt werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Prüfung im Wesentlichen der in den Rn. 52 bis 79 des vorliegenden Urteils vorgenommenen, die Rechtfertigung der Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs entsprechenden Prüfung entspricht, so dass diese beiden Prüfungen in gleicher Weise durchzuführen sind. 106 Schließlich ist hinsichtlich der Frage, ob die in § 7 Abs. 11 RStV enthaltene Vorschrift zu einer Ungleichbehandlung der Werbetreibenden, die Dienste der nationalen Fernsehveranstalter in Anspruch nehmen, um auf regionaler Ebene Werbung zu verbreiten, einerseits und der Werbetreibenden, die auf Anbieter von – insbesondere linearen – Werbedienstleistungen im Internet auf regionaler Ebene zurückgreifen, andererseits führt, darauf hinzuweisen, dass die Prüfung dieser Frage eng mit der Prüfung der Situation dieser Veranstalter bzw. dieser Anbieter zusammenhängt. Somit gelten die Ausführungen in den Rn. 98 bis 105 des vorliegenden Urteils auch für solche Werbetreibenden. 107 Nach alledem sind die Vorlagefragen wie folgt zu beantworten: – Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13 und Art. 11 der Charta sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die es den Fernsehveranstaltern untersagt, in ihr im gesamten Inland ausgestrahltes Programm Fernsehwerbung aufzunehmen, die nur regional gezeigt wird. – Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, sofern sie geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels des Schutzes des Medienpluralismus auf regionaler und lokaler Ebene zu gewährleisten und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. – Art. 20 der Charta ist dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, sofern sie nicht zu einer Ungleichbehandlung der nationalen Fernsehveranstalter und der Anbieter von Werbung im Internet in Bezug auf die Ausstrahlung von Werbung auf regionaler Ebene führt; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Kosten 108 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Bereitstellung audiovisueller Mediendienste (Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste) und Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die es den Fernsehveranstaltern untersagt, in ihr im gesamten Inland ausgestrahltes Programm Fernsehwerbung aufzunehmen, die nur regional gezeigt wird. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, sofern sie geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels des Schutzes des Medienpluralismus auf regionaler und lokaler Ebene zu gewährleisten und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Art. 20 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass er einer solchen nationalen Regelung nicht entgegensteht, sofern sie nicht zu einer Ungleichbehandlung der nationalen Fernsehveranstalter und der Anbieter von Werbung im Internet in Bezug auf die Ausstrahlung von Werbung auf regionaler Ebene führt; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Prechal Lenaerts Wahl Biltgen Rossi Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 3. Februar 2021. Der Kanzler A. Calot Escobar Die Präsidentin der Dritten Kammer A. Prechal (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 17. Dezember 2020.#Europäische Kommission gegen Republik Slowenien.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 343 AEUV – Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der Europäischen Zentralbank (EZB) – Art. 39 – Vorrechte und Befreiungen der EZB – Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Art. 2, 18 und 22 – Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB – Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens – Dokumente, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit.#Rechtssache C-316/19.
62019CJ0316
ECLI:EU:C:2020:1030
2020-12-17T00:00:00
Kokott, Gerichtshof
62019CJ0316 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 17. Dezember 2020 (*1) „Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 343 AEUV – Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der Europäischen Zentralbank (EZB) – Art. 39 – Vorrechte und Befreiungen der EZB – Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Art. 2, 18 und 22 – Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB – Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens – Dokumente, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“ In der Rechtssache C‑316/19 betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 16. April 2019, Europäische Kommission, vertreten durch L. Flynn und B. Rous Demiri als Bevollmächtigte, Klägerin, unterstützt durch Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch K. Kaiser, C. Zilioli, F. Malfrère und A. Šega als Bevollmächtigte im Beistand von D. Sarmiento Ramírez-Escudero, abogado, Streithelferin, gegen Republik Slowenien, vertreten durch V. Klemenc, A. Grum, N. Pintar Gosenca und K. Rejec Longar als Bevollmächtigte, Beklagte, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, N. Piçarra und A. Kumin, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, D. Šváby und P. G. Xuereb (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters I. Jarukaitis, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: M. Longar, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2020, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. September 2020 folgendes Urteil 1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission die Feststellung, dass die Republik Slowenien dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (ABl. 2016, C 202, S. 230, im Folgenden: Protokoll über das ESZB und die EZB), den Art. 2, 18 und 22 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2016, C 202, S. 266, im Folgenden: Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen) und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat, dass sie einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten, die mit der Erfüllung der Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und des Eurosystems zusammenhängen, in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije (Zentralbank Sloweniens) durchgeführt und mit der Europäischen Zentralbank (EZB) diesbezüglich nicht loyal zusammengearbeitet hat. Rechtlicher Rahmen Protokoll über das ESZB und die EZB 2 Art. 1 des Protokolls über das ESZB und die EZB lautet wie folgt: „Die [EZB] und die nationalen Zentralbanken bilden nach Artikel 282 Absatz 1 [AEUV] das [ESZB]. Die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, bilden das Eurosystem. Das ESZB und die EZB nehmen ihre Aufgaben und ihre Tätigkeit nach Maßgabe der Verträge und dieser Satzung wahr.“ 3 Art. 8 dieses Protokolls bestimmt: „Das ESZB wird von den Beschlussorganen der EZB geleitet.“ 4 Art. 9.2 des Protokolls lautet: „Die EZB stellt sicher, dass die dem ESZB nach Artikel 127 Absätze 2, 3 und 5 [AEUV] übertragenen Aufgaben entweder durch ihre eigene Tätigkeit nach Maßgabe dieser Satzung oder durch die nationalen Zentralbanken nach den Artikeln 12.1 und 14 erfüllt werden.“ 5 In Art. 9.3 des Protokolls heißt es: „Die Beschlussorgane der EZB sind nach Artikel 129 Absatz 1 [AEUV] der EZB-Rat und das Direktorium.“ 6 Art. 10.1 des Protokolls über das ESZB und die EZB sieht vor: „Nach Artikel 283 Absatz 1 [AEUV] besteht der EZB-Rat aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist.“ 7 Art. 14.3 des Protokolls lautet: „Die nationalen Zentralbanken sind integraler Bestandteil des ESZB und handeln gemäß den Leitlinien und Weisungen der EZB. Der EZB-Rat trifft die notwendigen Maßnahmen, um die Einhaltung der Leitlinien und Weisungen der EZB sicherzustellen, und kann verlangen, dass ihm hierzu alle erforderlichen Informationen zur Verfügung gestellt werden.“ 8 Art. 39 des Protokolls bestimmt: „Die EZB genießt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlichen Vorrechte und Befreiungen nach Maßgabe des [Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen].“ Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen 9 In der Präambel des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen heißt es: „In der Erwägung, dass die Europäische Union und die Europäische Atomgemeinschaft nach Artikel 343 [AEUV] und Artikel 191 [EA] im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlichen Vorrechte und Befreiungen genießen“. 10 Art. 1 dieses Protokolls bestimmt: „Die Räumlichkeiten und Gebäude der Union sind unverletzlich. Sie dürfen nicht durchsucht, beschlagnahmt, eingezogen oder enteignet werden. Die Vermögensgegenstände und Guthaben der Union dürfen ohne Ermächtigung des Gerichtshofs nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein.“ 11 Art. 2 des Protokolls lautet: „Die Archive der Union sind unverletzlich.“ 12 In Art. 18 des Protokolls heißt es: „Bei der Anwendung dieses Protokolls handeln die Organe der Union und die verantwortlichen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen.“ 13 Art. 22 Abs. 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen sieht vor: „Dieses Protokoll gilt auch für die [EZB], die Mitglieder ihrer Beschlussorgane und ihre Bediensteten; die Bestimmungen des Protokolls über [das ESZB und die EZB] bleiben hiervon unberührt.“ Vorgeschichte des Rechtsstreits 14 Seit Februar 2015 gab es zwischen der Zentralbank Sloweniens und den slowenischen Strafverfolgungsbehörden (im Folgenden: slowenische Behörden) einen Austausch über Ermittlungen, die diese Behörden gegen bestimmte Bedienstete der Zentralbank, darunter den damaligen Präsidenten (im Folgenden: Präsident), führten, die im Verdacht standen, 2013 im Rahmen der Restrukturierung einer slowenischen Bank ihre Befugnisse und ihr Amt missbraucht zu haben. Im Rahmen dieses Austauschs übermittelte die Zentralbank Sloweniens den slowenischen Behörden auf deren Ersuchen hin bestimmte Informationen und Dokumente, die nicht in Zusammenhang mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems standen. Die slowenischen Behörden waren allerdings der Auffassung, dass die Zentralbank Sloweniens nicht alle angeforderten Informationen und Dokumente geliefert habe. 15 Am 6. Juli 2016 führten die slowenischen Behörden auf der Grundlage zweier Beschlüsse des Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana, Slowenien) vom 30. Juni und 6. Juli 2016 im Rahmen der oben genannten Ermittlungen eine Durchsuchung durch und beschlagnahmten Dokumente in den Räumen der Zentralbank Sloweniens. 16 Obgleich sich die Zentralbank Sloweniens darauf berief, dass diese Maßnahmen die durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen geschützten „Archive der EZB“ beträfen, auf die die slowenischen Behörden ohne ausdrückliche Zustimmung der EZB nicht zugreifen dürften, setzten die Behörden die Durchsuchung und die Beschlagnahme fort, ohne die EZB einzubeziehen. 17 Die slowenischen Behörden beschlagnahmten neben Dokumenten auf physischen Datenträgern elektronische Dokumente vom IT‑Server der Zentralbank Sloweniens sowie die Laptops der verdächtigten Personen. Die beschlagnahmten Dokumente, die sich im Besitz des Präsidenten befanden, enthielten alle über dessen E‑Mail-Konto getätigten Mitteilungen, sämtliche elektronischen Dokumente, die sich – unabhängig von ihrem Inhalt – auf seinem Büro-PC und seinem Laptop befanden und sich auf den Zeitraum von 2012 bis 2014 bezogen, sowie Dokumente über diesen Zeitraum, die sich im Büro des Präsidenten befanden. Die slowenischen Behörden beschlagnahmten auch sämtliche auf dem IT‑Server der Zentralbank Sloweniens gespeicherten elektronischen Dokumente aus diesem Zeitraum, die den Präsidenten betrafen. 18 Am selben Tag widersprach der Präsident der EZB in einem an die slowenischen Behörden gerichteten Schreiben förmlich der von diesen durchgeführten Beschlagnahme der Dokumente und berief sich auf den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB. Er rügte insbesondere, dass die Behörden nichts unternommen hätten, um eine Lösung zu finden, die es ermöglicht hätte, die Durchführung der von ihnen geführten Ermittlungen und den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB in Einklang zu bringen. 19 Die slowenischen Behörden informierten die EZB im folgenden Schriftwechsel am 7. Juli 2016, dass etwaige Einwendungen zu den Vorrechten und Befreiungen der EZB erst nach Eingang der beschlagnahmten Dokumente geprüft würden. 20 Am 26. Juli 2016 schlug die EZB den slowenischen Behörden vor, sich auf eine Methode zur Identifizierung der beschlagnahmten Dokumente, die zu diesen Archiven gehörten, zu verständigen, was ausschließen würde, dass diese Dokumente unmittelbar während der Ermittlungen geprüft würden, und der EZB die Möglichkeit geben würde, festzustellen, ob der Schutz für diese Dokumente aufgehoben werden könne. 21 Am 27. Juli 2016 teilte der für das Verfahren zuständige Staatsanwalt (im Folgenden: Staatsanwalt) der EZB mit, er sei der Ansicht, dass dieser Vorschlag einen Eingriff in die fraglichen Ermittlungen darstelle. Er zeigte sich jedoch offen für eine weitere Prüfung der von der EZB geäußerten Bedenken und erklärte sich bereit, deren Vertreter Ende August 2016 zu treffen. 22 Am 5. August 2016 legte die EZB beim Upravno sodišče (Verwaltungsgericht, Slowenien) einen Rechtsbehelf gegen die beiden in Rn. 15 des vorliegenden Urteils genannten Beschlüsse des Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana) ein. Dieser wurde mit Beschluss vom 9. August 2016 zurückgewiesen. Das von der EZB gegen diesen Beschluss beim Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof, Slowenien) eingelegte Rechtsmittel wurde am 11. Oktober 2016 zurückgewiesen. 23 Am 16. August 2016 teilte der Staatsanwalt der EZB mit, dass er entschieden habe, die Besprechung mit deren Vertretern zu vertagen. Dabei wies er darauf hin, dass er die slowenische Polizei angewiesen habe, die beschlagnahmten Dokumente nicht zu prüfen, solange es noch keinen abschließenden Standpunkt zur Frage der Kooperation mit der EZB gebe. 24 Am 27. Oktober 2016 wies der Staatsanwalt die EZB darauf hin, dass die Ermittler ab dem 17. November 2016 mit der Sicherung der elektronischen Daten nach dem Zakon o kazenskem postopku (Strafprozessordnung) beginnen würden und dass der Vertreter der EZB eingeladen sei, an diesem Sicherungsverfahren, das die Erstellung von Kopien der Daten beinhalte, teilzunehmen. Am 11. November 2016 nahm der Vertreter der EZB diese Einladung an. 25 Da das Sicherungsverfahren zwischen dem 17. November und dem 24. Dezember 2016 geplant und die Besprechung zwischen der EZB und dem Staatsanwalt für den 18. November dieses Jahres angesetzt war, legte die EZB am 16. November 2016 einen Eilrechtsbehelf beim Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana) ein, um eine Aussetzung des Sicherungsverfahrens für die beschlagnahmten elektronischen Dokumente zu erreichen. 26 Mit Entscheidung vom 17. November 2016 wies das Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana) diesen Rechtsbehelf zurück. Nach Ansicht dieses Gerichts stellten die von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumente keine durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen geschützten „Archive der EZB“ dar. 27 Das Verfahren zur Sicherung der von den slowenischen Behörden beschlagnahmten elektronischen Daten fand zwischen dem 17. November und dem 15. Dezember 2016 statt. Der Vertreter der EZB, der an diesem Verfahren teilnahm, machte ausdrücklich eine Verletzung der „Archive der EZB“ geltend. 28 Am 17. Januar 2017 legte die EZB eine Verfassungsbeschwerde gegen die in Rn. 26 des vorliegenden Urteils genannte Entscheidung ein, wobei sie sich auf in der Ustava Republike Slovenije (Verfassung der Republik Slowenien) festgeschriebene Grundrechte berief, insbesondere das Recht auf den gesetzlichen Richter. Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde unterstrich die EZB ihre Auffassung, dass der Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen zu befassen sei. Am 19. April 2018 wies das Ustavno sodišče (Verfassungsgericht, Slowenien) diese Beschwerde mit der Begründung zurück, dass die EZB nicht Träger der von ihr geltend gemachten Verfahrensgrundrechte sei. 29 Mit E‑Mail vom 15. Mai 2017 teilte der Staatsanwalt dem Vertreter der EZB mit, dass die slowenische Polizei nunmehr die beschlagnahmten Dokumente auswerte und dass er sie angewiesen habe, zum einen alle Dokumente, die offiziell und formell von der EZB ausgestellt worden seien, und zum anderen alle E‑Mails, die die EZB als Absenderin und die Zentralbank Sloweniens als Empfängerin auswiesen, auszusondern. Der Staatsanwalt schlug der EZB vor, diese Dokumente vorbehaltlich der Zustimmung der Zentralbank Sloweniens zu prüfen, damit sie sich zu einer etwaigen Beeinträchtigung ihrer Aufgaben und Funktionen äußern könne, die sich aus der Verwendung der Dokumente zu Zwecken der Ermittlungen und eines Strafverfahrens ergeben könnte. Er unterstrich, dass er im Fall einer solchen Beeinträchtigung beantragen werde, das Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen oder zu verfügen, dass die sachliche Prüfung der Rechtssache der Geheimhaltung unterliege. Zum Schluss des Schreibens teilte der Staatsanwalt mit, dass er für Vorschläge und Anregungen der EZB offen sei, ausgenommen Anträge mit dem Ziel, die Ermittlungen zu verbieten oder eine Herausgabe der beschlagnahmten Dokumente zu erreichen. 30 In ihrer Antwort vom 29. Mai 2017 schlug die EZB ein Treffen beider Parteien vor, um sich im Einzelnen über eine gegenseitige Zusammenarbeit im Hinblick auf die Gewährleistung der Unverletzlichkeit ihrer Archive auszutauschen. 31 In einer Besprechung mit dem Staatsanwalt am 12. Juni 2017 betonte die EZB, sie sei der Auffassung, dass ihre Archive erstens die in Erfüllung ihrer Aufgaben und Funktionen von ihr selbst ausgearbeiteten Dokumente, zweitens die Mitteilungen zwischen ihr und den nationalen Zentralbanken, die für die Erfüllung der Aufgaben des ESZB oder des Eurosystems erforderlich seien, und drittens die von den Zentralbanken ausgearbeiteten Dokumente, die für die Erfüllung der Aufgaben des ESZB oder des Eurosystems bestimmt seien, umfassten. Die EZB machte außerdem geltend, dass sie den Schutz, der solchen Dokumente zugutekomme, aufheben müsse, bevor diese im Rahmen eines von nationalen Behörden geführten Strafverfahrens verwendet werden dürften. Die EZB gab allerdings an, dass sie sich einer derartigen Aufhebung nicht widersetzen werde, wenn dies im Interesse des von den nationalen Behörden geführten Verfahrens sei und ihren eigenen, durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen geschützten Interessen nicht zuwiderlaufe. 32 Zwar erzielten der Staatsanwalt und die EZB weder über die Auslegung des Begriffs „Archive der EZB“ noch über den Inhalt der Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit eine Einigung, sie einigten sich jedoch darauf, den Austausch über ihre zukünftige Zusammenarbeit weiterzuführen, und kamen überein, dass die EZB im folgenden Verfahrensabschnitt einen Vorschlag zur Identifizierung der ihrer Ansicht nach von diesem Begriff erfassten Dokumente ausarbeiten solle. 33 Am 13. Februar 2018 übermittelte die EZB dem Staatsanwalt ihren Vorschlag zur Identifizierung der Dokumente, die zu den Archiven der EZB gehören. Hierzu schlug sie vor, dass zunächst die Dokumente zu identifizieren seien, die von ihr selbst stammten und die sie an die Zentralbank Sloweniens oder deren Personal übersandt habe, und dann die Dokumente, die die Zentralbank Sloweniens im Rahmen der Erfüllung der Aufgaben des ESZB oder des Eurosystems ausgearbeitet habe. Die EZB schlug ferner vor, dass die slowenische Polizei alle Dokumente, die sie für die Ermittlungen als irrelevant ansehe, an die Zentralbank Sloweniens zurückgeben solle. 34 In einer Besprechung, die am 13. Juni 2018 stattfand, informierte der Staatsanwalt die EZB, dass die slowenische Polizei die Prüfung der beschlagnahmten Dokumente beendet habe und er für den Herbst deren Abschlussbericht erwarte. Zwar bestätigte er, dass über die Auslegung des Begriffs „Archive der EZB“ weiterhin Differenzen bestünden, wies aber darauf hin, dass alle für die Ermittlungen als irrelevant eingestuften Dokumente vernichtet oder an die Person zurückgesandt würden, bei der sie beschlagnahmt worden seien. Er erklärte des Weiteren, sobald die slowenische Polizei ihren Abschlussbericht erstellt habe, habe die EZB die Möglichkeit, alle Dokumente zu überprüfen, die den Kriterien entsprächen, die er in der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils angeführten E‑Mail vom 15. Mai 2017 vorgeschlagen habe. Um zu vermeiden, dass sich die EZB in die laufenden Verfahren einmische, würden die für den Abschlussbericht verwendeten Dokumente allerdings erst an die EZB herausgegeben, wenn die slowenische Polizei sie an die Staatsanwaltschaft übergeben habe. Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof 35 Am 9. Dezember 2016 richtete die Kommission im Rahmen des EU‑Pilot-Verfahrens ein Schreiben an die Republik Slowenien, in dem sie ihre Zweifel an der korrekten Anwendung der Art. 2 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen bei der Beschlagnahme der Dokumente in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens am 6. Juli 2016 äußerte. Auf dieses Schreiben antwortete die Republik Slowenien mit einem Schreiben vom 23. Januar 2017. 36 Am 28. April 2017 richtete die Kommission ein Aufforderungsschreiben an die Republik Slowenien, in dem sie hervorhob, dass die Republik Slowenien mit der Durchsuchung und der Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens unter Verstoß gegen Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls über das ESZB und die EZB sowie die Art. 2 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen ihrer Pflicht zur Beachtung des Grundsatzes der Unverletzlichkeit der Archive der EZB nicht nachgekommen sei. Sie teilte der Republik Slowenien ebenfalls mit, dass die slowenischen Behörden diese Frage ihrer Ansicht nach entgegen den Anforderungen, die der in Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aufstelle, nicht konstruktiv mit der EZB erörtert hätten. 37 Die Republik Slowenien beantwortete dieses Aufforderungsschreiben mit einem Schreiben vom 21. Juni 2017, in dem sie unterstrich, dass die beschlagnahmten Dokumente nicht unter den Begriff „Archive der EZB“ im Sinne des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen fallen könnten. 38 Da die Kommission die Antwort der Republik Slowenien als nicht ausreichend ansah, erließ sie am 20. Juli 2018 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie die Republik Slowenien aufforderte, innerhalb von zwei Monaten nach deren Erhalt die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Stellungnahme nachzukommen. 39 In ihrer Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 11. September 2018 bestritt die Republik Slowenien die ihr von der Kommission zur Last gelegte Vertragsverletzung. 40 Unter diesen Umständen hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben. 41 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. Juli 2019 ist die EZB als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden. Zur Klage Zur ersten Rüge: Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB Vorbringen der Parteien 42 Die Kommission macht, unterstützt durch die EZB, geltend, dass die Republik Slowenien dadurch gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB und folglich gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls über das ESZB und die EZB, den Art. 2, 18 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen sowie Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen habe, dass sie in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten durchgeführt habe, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhingen. 43 Als Erstes schließe der in Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen genannte Begriff „Archive der Union“, auch wenn er in diesem Protokoll nicht definiert werde, unabhängig von der Art des verwendeten Trägers alle Dokumente ein, die einem Unionsorgan gehörten oder in dessen Besitz seien. 44 Als Zweites ergebe sich aus der Rechtsprechung, dass den in diesem Protokoll anerkannten Vorrechten und Befreiungen insoweit ein funktionaler Charakter zukomme, als sie bezweckten, eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der Union zu verhindern. In Anbetracht des besonderen institutionellen Systems des ESZB und des Eurosystems müsse Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen nicht nur für Dokumente im Besitz der EZB gelten, sondern auch für Dokumente im Besitz der nationalen Zentralbanken, die – wie die Zentralbank Sloweniens – zum ESZB und zum Eurosystem gehörten, soweit sich diese Dokumente auf die Erfüllung der Aufgaben des ESZB oder des Eurosystems bezögen und von der EZB oder den nationalen Zentralbanken stammten. 45 Erstens ergebe sich aus Art. 282 Abs. 1 AEUV und Art. 1 des Protokolls über das ESZB und die EZB zum einen, dass das ESZB aus der EZB und den nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten bestehe, und zum anderen, dass die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten der Eurozone das Eurosystem bildeten, dessen „integraler Bestandteil“ gemäß Art. 14.3 dieses Protokolls die nationalen Zentralbanken seien. 46 Zweitens schaffe die besondere Struktur des ESZB und des Eurosystems unweigerlich eine enge Verbindung zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken. Im Einzelnen ergebe sich aus Art. 282 Abs. 2 AEUV und Art. 8 des Protokolls über das ESZB und die EZB, dass das ESZB von den Beschlussorganen der EZB geleitet werde, darin eingeschlossen der EZB-Rat, zu dessen Mitgliedern gemäß Art. 283 Abs. 1 AEUV und Art. 10 des Protokolls über das ESZB und die EZB die Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten gehörten, deren Währung der Euro sei. 47 Drittens übertrage der AEU-Vertrag der EZB, dem ESZB und dem Eurosystem Aufgaben. Hierzu ergebe sich aus Art. 9.2 des Protokolls über das ESZB und die EZB, dass die dem ESZB übertragenen Aufgaben entweder durch die EZB selbst oder durch die nationalen Zentralbanken erfüllt würden. 48 Die nationalen Zentralbanken und ihre Präsidenten seien nämlich unmittelbar an der Entscheidungsfindung der EZB sowie an der Umsetzung und Ausführung dieser Entscheidungen beteiligt. Die Funktionsfähigkeit des so eingerichteten Systems erfordere den Austausch von Dokumenten innerhalb des ESZB und des Eurosystems sowie zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken, um die Entscheidungen zu treffen, die für die Ausführung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems sowie für die Umsetzung dieser Entscheidungen durch die nationalen Zentralbanken notwendig seien. Das Schutzniveau müsse daher für alle zur Ausführung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems erstellten Dokumente identisch sein, um jegliche Beeinträchtigung der ordnungsgemäßen Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der EZB, des ESZB und des Eurosystems insgesamt zu vermeiden. Folglich seien all diese Dokumente als Teil der „Archive der Union“ anzusehen, selbst wenn sie im Besitz einer nationalen Zentralbank seien oder sich in deren Räumlichkeiten befänden. 49 Als Drittes hätten die slowenischen Behörden bei der am 6. Juli 2016 durchgeführten Durchsuchung unstreitig Dokumente beschlagnahmt, die zu den Archiven der Union gehörten. Die Kommission verfüge zwar nicht über genaue Informationen über die Art der bei dieser Gelegenheit beschlagnahmten Dokumente, die zu den Archiven der Union gehörten. Allerdings folge aus dem bloßen Umstand, dass das IT‑Material der verdächtigten Personen sowie die in Rn. 17 des vorliegenden Urteils genannten Dokumente vollständig beschlagnahmt worden seien, dass zwangsläufig auch Dokumente beschlagnahmt worden seien, die zu den Archiven der Union gehörten. 50 Als Viertes bedeute der Grundsatz der Unverletzlichkeit dieser Archive, dass die nationalen Behörden nur mit vorheriger Zustimmung der EZB oder – bei Differenzen zwischen der EZB und diesen Behörden – mit Genehmigung des Gerichtshofs darauf Zugriff hätten. Im vorliegenden Fall seien die Durchsuchung und die Beschlagnahme der betreffenden Dokumente allerdings einseitig vorgenommen worden. 51 Die Republik Slowenien erwidert, dass sie nicht gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union verstoßen habe. 52 Sie macht als Erstes geltend, es ergebe sich sowohl aus dem internationalen Recht als auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs und den Grundwerten der Union wie den Grundsätzen der Transparenz, der Offenheit und der Rechtsstaatlichkeit, dass der Begriff „Vorrechte und Befreiungen“ eng auszulegen sei und die Ausübung dieser Vorrechte und Befreiungen, denen bei Weitem kein Absolutheitsanspruch zukomme, ihrer Funktion nach auf den Umfang beschränkt sei, der notwendig sei, um die Funktionsfähigkeit der Union und ihrer Organe sowie die Erreichung ihrer Ziele zu gewährleisten. 53 Im Einzelnen sei es das Ziel des Systems der Vorrechte und Befreiungen, das effiziente Funktionieren internationaler Organisationen zu gewährleisten, die sich gegenüber ihren Gründungsmitgliedstaaten in einer „Position der Schwäche“ befänden. In Anbetracht der Entwicklung des Unionsrechts und der Besonderheit der Unionsrechtsordnung befänden sich deren Organe gegenüber den Mitgliedstaaten jedoch nicht in einer solchen Position. Folglich genössen die Archive der Union einschließlich derer der EZB im Rahmen des Systems der Vorrechte und Befreiungen des internationalen Rechts einen Schutz geringeren Ausmaßes, was für eine enge Auslegung des Begriffs „Vorrechte und Befreiungen der Union“ spreche. 54 Außerdem falle die funktionale Immunität internationaler Organisationen zwar unter ein legitimes öffentliches Interesse, sei aber nicht absolut und müsse mit anderen öffentlichen Interessen in Einklang gebracht werden. In der Union genieße der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit Vorrang vor den Vorrechten und Befreiungen der Union. Die unabhängige und unparteiische Ermittlung und Aburteilung von Straftaten, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fielen, stellten jedoch ein „grundlegendes Postulat der Rechtsstaatlichkeit“ dar. Wenn die slowenischen Behörden vor Beginn der im vorliegenden Fall durchgeführten Durchsuchung eine vorherige Zustimmung der EZB hätten einholen müssen, wäre diese Unabhängigkeit nicht gewährleistet gewesen, da der Präsident in einer engen Beziehung zur EZB stehe. 55 Da die im Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen vorgesehenen Vorrechte und Befreiungen für die Union nur insoweit gewährleistet würden, als dies zur Vermeidung einer Beeinträchtigung von deren Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit erforderlich sei, liege die Beweislast für das Vorliegen einer solchen Beeinträchtigung im Übrigen bei dem betroffenen Unionsorgan. Die Kommission und die EZB hätten jedoch nicht dargetan, dass die von den slowenischen Behörden durchgeführte Beschlagnahme gegebenenfalls tatsächlich in irgendeiner Weise ihre Funktionsfähigkeit oder die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union beeinträchtigt habe. 56 Als Zweites macht die Republik Slowenien geltend, dass auch der Begriff „Archive der Union“ eng ausgelegt werden müsse und die von den slowenischen Behörden in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmten Dokumente nicht zu den Archiven der EZB gehörten. Hierzu beruft sie sich erstens darauf, dass die Regelung über die Unverletzlichkeit der Archive im internationalen Recht, insbesondere die auf konsularische und diplomatische Beziehungen anwendbare Regelung, vorliegend maßgeblich sei. Nach der Rechtsprechung internationaler und nationaler Gerichte könnten nur die Dokumente als Teil der Archive angesehen werden, die der Person, für die der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive gelte, gehörten oder sich im Besitz dieser Person befänden, nicht aber die Dokumente, die von einer solchen Person an einen Dritten übersandt würden oder sich im Besitz eines Dritten befänden. 57 Zweitens bezwecke das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Unionsorgane. Somit könne allein die EZB als Unionsorgan die von diesem Protokoll vorgesehenen Vorrechte und Befreiungen genießen, nicht aber das ESZB und die nationalen Zentralbanken als integraler Bestandteil des ESZB. 58 Drittens bedeute die von der Kommission vertretene Auslegung der in Rede stehenden Bestimmungen, dass sich die Archive der Union in den Computern aller nationalen Bediensteten und Beamten befinden könnten, die den Unionsorganen angehörten oder unter ihrer Führung arbeiteten, einschließlich der Minister der Mitgliedstaaten, die an den Entscheidungen des Rates der Europäischen Union beteiligt seien, der Staats- oder Regierungschefs der Mitgliedstaaten, die an den Entscheidungen des Europäischen Rates beteiligt seien, und aller nationalen Bediensteten, die in den Ausschüssen und Agenturen der Union arbeiteten. Dies würde in der Praxis zu „absurden Situationen“ führen, in denen alle Dokumente im Besitz der nationalen Regierung und ihrer Minister, des Staatschefs und ganzer staatlicher Behörden als Archive der Union angesehen würden. 59 Viertens sei die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung des Begriffs „Archive der EZB“ rechtlich und tatsächlich unmöglich umzusetzen, was jegliche strafrechtlichen Ermittlungen in der öffentlichen Verwaltung der Mitgliedstaaten verhindern oder stark behindern würde. 60 Als Drittes macht die Republik Slowenien noch geltend, wenn man unterstelle, dass die von den slowenischen Behörden in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmten Dokumente zu den Archiven der EZB gehörten, reiche dieser Umstand nicht für die Feststellung aus, dass sie gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union verstoßen habe. 61 Erstens liege die Verpflichtung, die Archive eindeutig zu bezeichnen und zu schützen, bei demjenigen, der sich auf den Grundsatz ihrer Unverletzlichkeit berufe. Da es die EZB im vorliegenden Fall unterlassen habe, ihre Archive in angemessener Weise zu bezeichnen und sie nicht ordnungsgemäß geschützt habe, sei es nicht möglich, den von ihr zugrunde gelegten Begriff „Archive der EZB“ umzusetzen, wobei eine derartige Unmöglichkeit keinesfalls der Art und Weise angelastet werden könne, in der die strafrechtlichen Ermittlungen in Slowenien geführt worden seien. Außerdem hätten die slowenischen Behörden gerade aufgrund der fehlenden physischen Trennung und ordnungsgemäßen Bezeichnung der Archive der Union keine andere Wahl gehabt, als sämtliche betreffenden Gegenstände und Dokumente zu beschlagnahmen, um die gesuchten Informationen zu erhalten. 62 Zweitens sei es nicht das Ziel der von den slowenischen Behörden geführten Ermittlungen gewesen, den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB zu beeinträchtigen, und erst recht nicht, die Erfüllung der Aufgaben und der Unabhängigkeit der EZB zu gefährden. Daher hätten die nationalen Ermittlungen, die im Einklang mit dem nationalen Recht und nationalen Gerichtsentscheidungen geführt worden seien, nicht gegen diesen Grundsatz verstoßen. 63 Drittens bedeute das von der Kommission und der EZB gewählte weite Verständnis des Begriffs „Archive der Union“ in der Praxis eine völlige Verhinderung strafrechtlicher Ermittlungen bis hin zu einer Straflosigkeit der verdächtigten Personen. 64 Viertens sei eine Genehmigung des Gerichtshofs in Anwendung von Art. 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen nur in dem Fall erforderlich, dass die nationalen Behörden verwaltungsrechtliche oder gerichtliche Zwangsmaßnahmen in Bezug auf Vermögensgegenstände oder Guthaben der Union erlassen wollten. Dagegen verlange Art. 2 des Protokolls ebenso wenig wie die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine solche Genehmigung, da die slowenischen Behörden keinen Versuch unternommen hätten, in den Besitz von Dokumenten zu gelangen, die Unionsorganen gehörten oder sich in deren Besitz befunden hätten. Würdigung durch den Gerichtshof 65 Vorab ist festzustellen, dass die Kommission in der mündlichen Verhandlung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs klargestellt hat, dass sie sich in der Klage zwar auf die Durchsuchung und auf die Beschlagnahme von Dokumenten am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens durch die slowenischen Behörden bezieht, diese Klage tatsächlich aber nur auf die Beschlagnahme von Dokumenten abzielt. 66 Insoweit macht die Kommission geltend, dass die slowenischen Behörden dadurch gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union verstoßen hätten, dass sie am 6. Juli 2016 einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens durchgeführt hätten. Folglich ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die von den slowenischen Behörden bei dieser Gelegenheit beschlagnahmten Dokumente zu den Archiven der EZB gehörten, und, wenn dies der Fall sein sollte, in einem zweiten Schritt, ob die Beschlagnahme dieser Dokumente einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit dieser Archive darstellt. – Zum Begriff „Archive der Union“ 67 Gemäß Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen sind die Archive der Union unverletzlich. Für die Prüfung, ob die Republik Slowenien, wie die Kommission geltend macht, gegen ihre Verpflichtungen aus diesem Artikel verstoßen hat, ist vorab die Bedeutung des Begriffs „Archive der Union“ zu bestimmen. 68 Einleitend ist zum Vorbringen der Republik Slowenien, der Begriff „Archive“ sei unter Bezugnahme auf internationales Recht auszulegen, daran zu erinnern, dass die Verträge über die Europäische Union im Unterschied zu gewöhnlichen internationalen Verträgen eine eigene Rechtsordnung geschaffen haben, die beim Inkrafttreten dieser Verträge in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden ist (Beschluss vom 13. Juli 1990, Zwartveld u. a., C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:315, Rn. 15). Daraus folgt, dass der Begriff „Archive der Union“ ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, der sich von dem unterscheidet, der von internationalen Organisationen und Gerichten oder dem Recht der Mitgliedstaaten zugrunde gelegt werden kann. 69 Der Rechtsprechung lässt sich entnehmen, dass ein solcher Begriff aufgrund seines autonomen Charakters unter Berücksichtigung seines Wortlauts im Licht seines Kontexts und des Ziels auszulegen ist, das mit der Bestimmung verfolgt wird, in der der Begriff verwendet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 62). 70 Der Begriff „Archive“ bezeichnet gewöhnlich eine Reihe von Dokumenten unabhängig von ihrem Datum, ihrer Form und ihrem materiellen Träger, die sich bei der Ausübung der Tätigkeit einer Person in deren Besitz befinden. 71 Im Unionsrecht ist der Begriff „Archive“ allerdings in einem anderen Kontext als dem des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen definiert worden, nämlich in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 354/83 des Rates vom 1. Februar 1983 über die Freigabe der historischen Archive der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 1983, L 43, S. 1), und zwar als die Gesamtheit der Dokumente jeder Art, unabhängig von ihrer Form und ihrem materiellen Träger, die ein Organ, eine Einrichtung oder eine sonstige Stelle, einer seiner bzw. ihrer Vertreter oder Bediensteten in Ausübung seiner Amtstätigkeit angefertigt oder empfangen hat und die die Tätigkeit dieser Gemeinschaften betreffen. 72 Diese Definition des Begriffs „Archive“ ist für die Auslegung von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen maßgeblich. Es gibt nämlich keine Bestimmung in diesem Protokoll, die der Berücksichtigung einer solchen Definition widerspräche, und die Berücksichtigung trägt zu einer einheitlichen Auslegung dieses Begriffs im Unionsrecht bei. 73 Was das von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen verfolgte Ziel angeht, ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die der Union durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen eingeräumten Vorrechte und Befreiungen funktionalen Charakter haben, da durch sie eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der Union verhindert werden soll (Beschluss vom 13. Juli 1990, Zwartveld u. a., C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:315, Rn. 19, und Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/RQ, C‑831/18 P, EU:C:2020:481, Rn. 47). Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union u. a. von einem Unionsorgan geltend gemacht werden kann, um die Offenlegung von Informationen zu verhindern, die sich in den Archiven des betreffenden Organs befinden, wenn eine solche Offenlegung die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit des Organs insbesondere dadurch beeinträchtigen könnte, dass die Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben gefährdet würde (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 6. Dezember 1990, Zwartveld u. a., C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:440, Rn. 11). 74 Dieses Schutzziel bestätigt, dass die in Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen genannten Archive der Union zwangsläufig jedes Dokument erfassen, das mit den Tätigkeiten der Union und ihrer Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen oder der Erfüllung von deren Aufgaben in Zusammenhang steht. 75 Demnach ist der Begriff „Archive der Union“ im Sinne von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen als die Gesamtheit von Dokumenten jeder Art, unabhängig von ihrer Form und ihrem materiellen Träger, zu verstehen, die ein Organ, eine Einrichtung oder eine sonstige Stelle der Union oder einer seiner bzw. ihrer Vertreter oder Bediensteten in Ausübung seiner Amtstätigkeit angefertigt oder empfangen hat und die die Tätigkeit dieser Organe, Einrichtungen oder Stellen betreffen oder im Zusammenhang mit der Erfüllung von deren Aufgaben stehen. – Zum Umfang der Archive der EZB 76 Da es sich bei der EZB um ein Unionsorgan handelt, ergibt sich aus Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen in seiner Auslegung gemäß der vorstehenden Randnummer und in Verbindung mit Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls über das ESZB und die EZB sowie Art. 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen, dass der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union auf die Archive der EZB Anwendung findet. 77 Allerdings ist zu ermitteln, ob Dokumente, die sich nicht im Besitz der EZB, sondern in dem einer nationalen Zentralbank befinden, ebenfalls als Teil der „Archive der EZB“ angesehen werden können. 78 Insoweit ist erstens davon auszugehen, dass die Archive der Union, wie die Generalanwältin in Nr. 50 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht zwangsläufig in den Räumlichkeiten des betreffenden Organs, der betreffenden Einrichtung oder sonstigen Stelle aufbewahrt werden müssen, da sich andernfalls der Anwendungsbereich von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen wie auch der von Art. 1 dieses Protokolls, der die Unverletzlichkeit der Räumlichkeiten und Gebäude der Union vorsieht, so weit überschneiden würden, dass Art. 2 jede praktische Wirksamkeit genommen wäre. Daraus folgt, dass Art. 2 die Archive eines Unionsorgans wie der EZB erfasst, die sich in anderen Räumlichkeiten als denen der Union befinden. 79 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 282 Abs. 1 AEUV sowie den Art. 1 und 14.3 des Protokolls über das ESZB und die EZB ergibt, dass die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten das ESZB bilden, wobei die nationalen Zentralbanken integraler Bestandteil dieses Systems sind. Daraus ergibt sich u. a., dass die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, einschließlich der Zentralbank Sloweniens, das Eurosystem bilden und die Währungspolitik der Union betreiben. 80 Gemäß Art. 127 Abs. 1 und Art. 282 Abs. 2 AEUV ist es das vorrangige Ziel des ESZB, die Preisstabilität zu gewährleisten, was in Art. 2 des Protokolls über das ESZB und die EZB in Erinnerung gerufen wird. Zu diesem Zweck sieht Art. 127 Abs. 2 AEUV vor, dass die grundlegenden Aufgaben des ESZB u. a. darin bestehen, die Geldpolitik der Union festzulegen und auszuführen. Derartige Aufgaben obliegen somit über das ESZB nicht nur der EZB, sondern auch den nationalen Zentralbanken, was eine enge Zusammenarbeit zwischen ihnen und der EZB erfordert. 81 Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass das ESZB gemäß Art. 129 Abs. 1 und Art. 282 Abs. 2 AEUV sowie Art. 8 des Protokolls über das ESZB und die EZB von den Beschlussorganen der EZB einschließlich des EZB-Rates geleitet wird. Art. 283 Abs. 1 AEUV sowie Art. 10.1 des Protokolls über das ESZB und die EZB bestimmen, dass die Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, Mitglieder des EZB-Rates sind. Diese Präsidenten, darunter der Präsident der Zentralbank Sloweniens, sind folglich an dem Erlass der für die Erfüllung der Aufgaben des ESZB notwendigen Entscheidungen beteiligt. 82 Im Übrigen werden die dem ESZB übertragenen Aufgaben gemäß Art. 9.2 des Protokolls über das ESZB und die EZB entweder durch die EZB selbst oder durch die nationalen Zentralbanken erfüllt. 83 Wie der Gerichtshof entschieden hat, ergibt sich aus diesen Bestimmungen, dass das ESZB im Unionsrecht eine originäre Rechtsform darstellt, in der nationale Institutionen – die nationalen Zentralbanken – und ein Organ der Union – die EZB – vereint sind und eng zusammenarbeiten und in der ein anderer Zusammenhang und eine weniger ausgeprägte Unterscheidung zwischen der Rechtsordnung der Union und den nationalen Rechtsordnungen vorherrschen (Urteil vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland, C‑202/18 und C‑238/18, EU:C:2019:139, Rn. 69). In diesem von den Verfassern der Verträge für das ESZB gewollten weitgehend integrierten System haben die nationalen Zentralbanken und ihre Präsidenten einen gemischten Status, da sie zwar zweifellos nationale Behörden darstellen, allerdings Behörden, die im Rahmen des ESZB tätig werden, das – wie in Rn. 79 des vorliegenden Urteils ausgeführt – von den nationalen Zentralbanken und der EZB gebildet wird. 84 Wie die Generalanwältin in Nr. 54 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, ist es für die Funktionsfähigkeit und ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung des ESZB und des Eurosystems wichtig, dass eine enge Zusammenarbeit und ein ständiger Austausch von Informationen zwischen der EZB und den beteiligten nationalen Zentralbanken besteht. Dies bedeutet zwangsläufig, dass sich die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängenden Dokumente nicht nur im Besitz der EZB befinden, sondern auch im Besitz der nationalen Zentralbanken. 85 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass solche Dokumente vom Begriff „Archive der EZB“ erfasst sind, auch wenn sie sich im Besitz der nationalen Zentralbanken und nicht im Besitz der EZB selbst befinden. In Anbetracht des funktionalen Charakters, der – wie in Rn. 73 des vorliegenden Urteils ausgeführt – dem Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union zuzuerkennen ist, wäre diesem Grundsatz nämlich jede praktische Wirksamkeit genommen, wenn er die von der EZB oder den nationalen Zentralbanken ausgestellten und zur Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zwischen ihnen ausgetauschten Dokumente nicht schützen würde. 86 Diese Schlussfolgerung wird durch das übrige Vorbringen der Republik Slowenien nicht in Frage gestellt. 87 Was erstens das Vorbringen der Republik Slowenien betrifft, die Übermittlung eines Dokuments an einen Dritten bedeute im internationalen Recht, dass dieses Dokument nicht mehr als Teil der Archive des Staates angesehen werden könne, der eine derartige Übermittlung vorgenommen habe, ist darauf hinzuweisen, dass in Anbetracht der engen Zusammenarbeit und der strukturellen Verflechtungen, die zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken im Rahmen des integrierten Systems, das das ESZB darstellt, bestehen, die nationalen Zentralbanken, wie die Generalanwältin in Nr. 56 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, gegenüber der EZB nicht als „Dritte“ angesehen werden können. 88 Was zweitens den in Rn. 58 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Vortrag der Republik Slowenien betrifft, genügt zu den mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängenden Dokumenten der Hinweis, dass die in Rn. 85 des vorliegenden Urteils zugrunde gelegte Auslegung des Begriffs „Archive der Union“ auf den besonders engen Verbindungen zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken beruht, die in den Rn. 83 und 84 des Urteils beschrieben werden. 89 Drittens ist kein tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkt dafür ersichtlich, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, die im Rahmen eines auf nationaler Ebene und auf der Grundlage des Rechts dieses Mitgliedstaats geführten Verfahrens eine Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten einer Zentralbank durchführen wollen, durch eine solche Auslegung vor so unüberwindliche Probleme gestellt werden könnten, dass eine solche Beschlagnahme nicht auf Dokumente beschränkt werden könnte, die keinen Zusammenhang mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems aufweisen. – Zum Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB 90 Was die Frage betrifft, ob die von den slowenischen Behörden am 6. Juli 2016 durchgeführte Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB darstellte, ist darauf hinzuweisen, dass sich ein solcher Verstoß nur dann feststellen lässt, wenn zum einen eine von nationalen Behörden einseitig angeordnete Beschlagnahme von Dokumenten, die zu den Archiven der Union gehören, den Tatbestand eines solchen Verstoßes erfüllen kann und zum anderen die im vorliegenden Fall beschlagnahmten Dokumente tatsächlich Dokumente umfassten, die als zu den Archiven der EZB gehörig anzusehen sind. 91 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Unverletzlichkeit“ im Sinne von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen, wie die Kommission in ihrer Klageschrift ausführt, einen Schutz gegen jeden einseitigen Eingriff der Mitgliedstaaten impliziert. Wie die Generalanwältin in den Nrn. 67 und 68 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, wird dies dadurch bestätigt, dass dieser Begriff, der sich auch in Art. 1 des Protokolls findet, als ein Schutz vor allen Maßnahmen der Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung oder Enteignung beschrieben wird. 92 Daher ist in der einseitigen Beschlagnahme von Dokumenten, die zu den Archiven der Union gehören, durch nationale Behörden ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union zu sehen. 93 Zweitens ist daran zu erinnern, dass es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 258 AEUV nach ständiger Rechtsprechung Sache der Kommission ist, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen. Sie muss dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte liefern, die es ihm ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sie sich dabei auf irgendeine Vermutung stützen kann (vgl. u. a. Urteile vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland, C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 48, und vom 5. September 2019, Kommission/Italien [Bakterium Xylella fastidiosa], C‑443/18, EU:C:2019:676, Rn. 78) 94 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Kommission eingeräumt hat, über keine genauen Informationen über die Art der von den slowenischen Behörden am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmten Dokumente zu verfügen, so dass sie nicht habe feststellen können, ob ein Teil dieser Dokumente als zu den Archiven der Union gehörig anzusehen sei. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission hierzu, von der Republik Slowenien unwidersprochen, ausgeführt, dass sich die Dokumente nach wie vor im Besitz der slowenischen Behörden befänden. 95 Die von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumente umfassten allerdings, wie in Rn. 17 des vorliegenden Urteils ausgeführt, alle über das E‑Mail-Konto des Präsidenten getätigten Mitteilungen, sämtliche elektronischen Dokumente, die sich – unabhängig von ihrem Inhalt – auf seinem Büro-PC und seinem Laptop befanden und sich auf den Zeitraum von 2012 bis 2014 bezogen, sowie Dokumente über diesen Zeitraum, die sich im Büro des Präsidenten befanden. Die slowenischen Behörden beschlagnahmten auch sämtliche auf dem IT‑Server der Zentralbank Sloweniens gespeicherten elektronischen Dokumente für den Zeitraum zwischen 2012 und 2014, die den Präsidenten betrafen. 96 In Anbetracht der großen Anzahl der beschlagnahmten Dokumente sowie der Aufgaben, die der Präsident einer Zentralbank wie der Zentralbank Sloweniens im Rahmen des EZB-Rates und folglich auch im Rahmen des ESZB und des Eurosystems auszuführen hat, umfassten die von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumente zwangsläufig auch Dokumente, die zu den Archiven der EZB gehörten. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sich die Republik Slowenien nicht darauf beruft, dass die beschlagnahmten Dokumente ausschließlich Dokumente seien, die nicht in diese Kategorie von Dokumenten fielen. 97 Unter diesen Umständen kann es als erwiesen angesehen werden, dass sich unter den Materialien und Dokumenten, die von den slowenischen Behörden am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmt wurden, Dokumente befanden, die zu den Archiven der EZB gehören. 98 Da Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen jedoch ausdrücklich vorsieht, dass die Archive der Union unverletzlich sind, haben die slowenischen Behörden mit der einseitigen Beschlagnahme dieser Dokumente gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB verstoßen. 99 Diese Schlussfolgerung wird durch das Vorbringen der Republik Slowenien nicht in Frage gestellt. 100 Erstens verhält es sich zwar so, dass den Vorrechten und Befreiungen der Union – wie in Rn. 73 des vorliegenden Urteils ausgeführt – ein funktionaler Charakter zukommt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das betroffene Organ oder – im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV – die Kommission beweisen müsste, dass die Offenlegung bestimmter Dokumente eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder der Unabhängigkeit der Union bedeuten würde, damit eine einseitige Beschlagnahme dieser Dokumente durch die Behörden eines Mitgliedstaats als rechtswidrig angesehen werden kann. Eine solche Auslegung verstieße nämlich offensichtlich gegen den Wortlaut und gegen das Ziel von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen, nach dem „[d]ie Archive der Union … unverletzlich [sind]“. 101 Der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union bedeutet allerdings nicht, dass die Dokumente aus diesen Archiven für die Behörden eines Mitgliedstaats in allen Fällen unzugänglich wären. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich nämlich, dass es die Vorrechte und Befreiungen der Union den Unionsorganen aufgrund ihres funktionalen Charakters nicht gestatten, die Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit zu missachten (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 13. Juli 1990, Zwartveld u. a., C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:315, Rn. 19 und 21). 102 Um Zugriff auf die Dokumente in den Archiven der Union zu erhalten, benötigen die nationalen Behörden die Zustimmung des betreffenden Organs oder bei einer Verweigerung des Zugangs eine Genehmigungsentscheidung des Unionsrichters, mit der das Organ verpflichtet wird, Zugang zu seinen Archiven zu gewähren. Es wäre nämlich sinnlos, den Zugang zu solchen Dokumenten in dem Fall, dass die Behörden beschließen, einseitig vorzugehen, nicht von der Zustimmung des betreffenden Organs oder der Genehmigung des Unionsrichters abhängig zu machen, da über eine solche Zustimmung oder eine solche Genehmigung die Funktion der Unverletzlichkeit der Archive der Union gewahrt werden kann, d. h., verhindert werden kann, dass die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Union ungerechtfertigt beeinträchtigt werden. 103 Zweitens mag es zutreffen, dass die funktionale Immunität internationaler Organisationen, wie die Republik Slowenien geltend macht, auch wenn sie ein legitimes öffentliches Interesse darstellt, nicht absolut ist und mit anderen Rechten und öffentlichen Interessen in Einklang zu bringen ist, u. a. mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und – genauer – der Notwendigkeit, unabhängige und unparteiische Ermittlungen sowie ein unabhängiges und unparteiisches Urteil über Straftaten sicherzustellen und eine Straflosigkeit von Personen, die Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen sind – insbesondere der Präsidenten der nationalen Zentralbanken, die aufgrund ihrer engen Verbindung mit der EZB enorm bevorzugt wären –, zu vermeiden. 104 Doch abgesehen davon, dass das Bestehen von Vorrechten und Befreiungen zugunsten internationaler Organisationen für sich genommen keinen Widerspruch zum Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit darstellt, steht Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen einer Beschlagnahme von Dokumenten durch eine Behörde eines Mitgliedstaats grundsätzlich entgegen, soweit diese Dokumente zu den Archiven der Union gehören und die betreffenden Organe ihre Zustimmung zu einer solchen Beschlagnahme nicht erteilt haben. 105 Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass eine Auslegung der betreffenden Unionsregelungen dahin, dass die Behörden eines Mitgliedstaats nicht das Recht haben, in den Räumlichkeiten einer nationalen Zentralbank einseitig zu den Archiven der EZB gehörige Dokumente zu beschlagnahmen, weder dazu führt, dass den von strafrechtlichen Ermittlungen betroffenen Personen Straflosigkeit zugebilligt würde, noch dazu, dass die Führung strafrechtlicher Ermittlungen im Gebiet der Mitgliedstaaten übermäßig erschwert oder sogar unmöglich gemacht würde. Auch wenn eine einseitige Beschlagnahme von Dokumenten aus den Archiven der Union seitens der Behörden eines Mitgliedstaats durch das Unionsrecht ausgeschlossen wird, haben diese Behörden nämlich die Möglichkeit, sich an das betreffende Unionsorgan zu wenden, damit es die Unverletzlichkeit der betreffenden Dokumente aufhebt, gegebenenfalls auch unter Auflagen. 106 Des Weiteren ist hervorzuheben, dass der in Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen vorgesehene Schutz der Archive der Union der Beschlagnahme von Dokumenten, die nicht zu den Archiven der Union gehören, in den Räumlichkeiten einer Zentralbank eines Mitgliedstaats durch nationale Behörden in keiner Weise entgegensteht. 107 Es kann zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, dass die Notwendigkeit, bei der EZB darum nachzusuchen, den Behörden eines Mitgliedstaats Dokumente zur Verfügung zu stellen, die zu ihren Archiven gehören, sich aber im Besitz einer nationalen Zentralbank befinden, negative Auswirkungen auf ein von den nationalen Behörden geführtes Ermittlungsverfahren haben kann, was den Zugang dieser Behörden zu anderen, ebenfalls im Besitz der nationalen Zentralbank befindlichen Dokumenten betrifft, die nicht zu den Archiven der EZB gehören, aber für die betreffenden Ermittlungen möglicherweise relevant sind. Im vorliegenden Fall ist jedoch, wie die Generalanwältin in Nr. 81 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht ersichtlich, dass die Beschlagnahme, die die slowenischen Behörden am 6. Juli 2016 durchführten, überraschend kam, da die Behörden im Vorfeld bereits mehrfach bei der Zentralbank Sloweniens um Informationen zu ihren Ermittlungen nachgesucht hatten. 108 Drittens kann dem Vorbringen, es liege kein Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union vor, da diejenigen unter den beschlagnahmten Dokumenten, die zu den Archiven der EZB gehörten, für die Bearbeitung des in Slowenien laufenden Strafverfahrens nicht relevant seien, nicht gefolgt werden. Denn ein Verstoß gegen diesen Grundsatz ist, wie sich aus Rn. 104 des vorliegenden Urteils ergibt, festzustellen, sobald – unabhängig vom dem mit der Beschlagnahme verfolgten Ziel – die materiellen Tatbestandsmerkmale des von diesem Grundsatz bezweckten Schutzes erfüllt sind. 109 Viertens kann sich die Republik Slowenien zur Rechtfertigung des Verstoßes gegen die Unverletzlichkeit der Archive der Union nicht auf eine Pflicht der EZB berufen, ihre Archive eindeutig zu bezeichnen und Maßnahmen zu deren Schutz zu ergreifen. Der den Archiven durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen zuerkannte Schutz setzt keine eindeutige und vorherige Bezeichnung der Dokumente voraus, die zu diesen Archiven gehören. 110 Nach alledem greift die erste Rüge der Kommission durch. Zur zweiten Rüge: Verstoß gegen die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit Vorbringen der Parteien 111 Mit ihrer zweiten Rüge macht die Kommission, unterstützt durch die EZB, geltend, dass die Republik Slowenien gegen ihre Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit aus Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen habe. Im Kern wirft die Kommission den slowenischen Behörden vor, sich weder vor der von ihnen durchgeführten Durchsuchung und Beschlagnahme noch danach ausreichend mit der EZB abgestimmt zu haben, um den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB und die auf nationaler Ebene geführten Ermittlungen in Einklang zu bringen. 112 Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit habe von den slowenischen Behörden verlangt, dass sie mit der EZB kooperierten, um erstens die Dokumente zu ermitteln, die nach dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen geschützt gewesen seien, und die, für die dies nicht zugetroffen habe, um zweitens unter den geschützten Dokumenten diejenigen zu identifizieren, die für die nationalen strafrechtlichen Ermittlungen relevant sein könnten, und um drittens der EZB für die potenziell relevanten Dokumente eine Entscheidung zu ermöglichen, ob der Schutz aufzuheben sei oder aber im Gegenteil aus Gründen der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der EZB nicht aufgehoben werden könne. 113 Was den Zeitraum vor der Durchsuchung und Beschlagnahme der Dokumente betreffe, so seien die slowenischen Behörden weder mit der EZB noch mit der Zentralbank Sloweniens in einen Dialog darüber eingetreten, auf welche Weise der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union gewahrt werden könne. Was den Zeitraum nach der Durchsuchung und der Beschlagnahme der Dokumente angehe, hätten sich die slowenischen Behörden weiterhin gegen die Auslegung gesperrt, nach der Dokumente im Besitz der nationalen Zentralbanken Archive der EZB darstellen könnten, und sich geweigert, den Schutz der unter diese Kategorie fallenden beschlagnahmten Dokumente konstruktiv zu erörtern. 114 Die Republik Slowenien macht geltend, sie habe nicht gegen ihre Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit verstoßen. 115 Erstens hätten die slowenischen Behörden weder die Archive der EZB noch deren Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit beeinträchtigt. Art. 4 Abs. 3 EUV könne jedenfalls nicht in einer Weise ausgelegt werden, dass er eine „unabhängige Verpflichtung“ zulasten der Mitgliedstaaten enthalte, die über die Verpflichtungen hinausgehe, die ihnen aufgrund solcher genauen Bestimmungen des Unionsrechts oblägen. 116 Zweitens habe der Staatsanwalt während des gesamten Ermittlungsverfahrens darum ersucht, die Dokumente mit „extremer Vorsicht“ zu behandeln, damit sie einem möglichst engen Kreis von Ermittlern zugänglich seien und die Gefahr einer Offenlegung auf ein Minimum reduziert werde. Der Staatsanwalt habe Vertretern der EZB außerdem gestattet, beim Verfahren zur Sicherung der Dokumente anwesend zu seien, obgleich dies im nationalen Recht nicht vorgesehen sei. Ferner sei angeordnet worden, dass diejenigen Dokumente, die nach Auffassung der EZB zu ihren Archiven gehörten, von ihr nach Abschluss der Ermittlungen in den Räumlichkeiten der Staatsanwaltschaft hätten eingesehen werden können. 117 Außerdem habe die EZB erst am 13. Februar 2018, mithin „mit erheblicher Verspätung“, das Ersuchen des Staatsanwalts beantwortet, Kriterien zu benennen, mit denen sich unter den von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumenten diejenigen Dokumente, die nach Ansicht der EZB zu ihren Archiven gehörten, identifizieren ließen. 118 Drittens habe die Kommission, wenn man unterstelle, die Republik Slowenien habe keine konstruktiven Erörterungen mit der EZB geführt, nicht nachgewiesen, dass dieser Umstand die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion und die Wahrung der Preisstabilität gefährdet habe. Würdigung durch den Gerichtshof 119 Nach ständiger Rechtsprechung sind die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten (Urteil vom 31. Oktober 2019, Kommission/Niederlande, C‑395/17, EU:C:2019:918, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung). Gemäß dem Wortlaut von Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen, der insoweit Art. 4 Abs. 3 EUV konkretisiert, sind die Organe der Union und die Behörden der Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit verpflichtet, um Konflikte bei der Auslegung und Anwendung der Bestimmungen des Protokolls zu vermeiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2008, Marra, C‑200/07 und C‑201/07, EU:C:2008:579, Rn. 41 und 42). 120 Was den Zeitraum vor der am 6. Juli 2016 von den slowenischen Behörden in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens durchgeführten Beschlagnahme der Dokumente betrifft, ist festzustellen, dass sich die zweite Rüge der Kommission, wie die Generalanwältin in Nr. 94 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, inhaltlich mit der ersten Rüge überschneidet, da sie sich auf das gleiche Verhalten bezieht. Mit der ersten Rüge wirft die Kommission den slowenischen Behörden nämlich gerade vor, einseitig – und folglich ohne die EZB vorher konsultiert zu haben – in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens Dokumente beschlagnahmt zu haben. 121 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht indessen hervor, dass sich ein Verstoß gegen die allgemeine Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit, die sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV ergibt, von einem Verstoß gegen die spezifischen Verpflichtungen unterscheidet, in denen sie sich manifestiert. Daher kann der Verstoß nicht festgestellt werden, soweit er sich auf Verhaltensweisen bezieht, die sich von denen unterscheiden, die einen Verstoß gegen diese spezifischen Verpflichtungen darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland, C‑459/03, EU:C:2006:345, Rn. 169 bis 171). 122 Folglich kann für den Zeitraum vor der am 6. Juli 2016 durchgeführten Beschlagnahme kein Verstoß gegen die allgemeinen, in Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 18 des Protokolls über das ESZB und die EZB enthaltenen Verpflichtungen festgestellt werden, der sich von dem bereits festgestellten Verstoß gegen die spezifischeren Verpflichtungen unterscheiden würde, die der Republik Slowenien nach Art. 2 dieses Protokolls oblagen. 123 Was den Zeitraum nach der Beschlagnahme der Dokumente betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Beschlagnahme, wie sich aus den vorstehenden Randnummern des vorliegenden Urteils ergibt, einen Verstoß gegen Unionsrecht darstellt, da die beschlagnahmten Dokumente zwangsläufig auch Dokumente umfassten, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen. 124 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten allerdings gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben; diese Verpflichtung obliegt im Rahmen seiner Zuständigkeiten jedem Organ des betreffenden Mitgliedstaats (Urteil vom 27. Juni 2019, Belgisch Syndicaat van Chiropraxie u. a., C‑597/17, EU:C:2019:544, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 125 Die Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit ist zwar ihrer Natur nach beiderseitig (Urteil vom 16. Oktober 2003, Irland/Kommission, C‑339/00, EU:C:2003:545, Rn. 72). Die EZB war somit verpflichtet, die slowenischen Behörden darin zu unterstützen, die rechtswidrigen Folgen der von ihnen am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens durchgeführten Beschlagnahme soweit möglich zu beheben. 126 Um der EZB insoweit eine nützliche Zusammenarbeit mit den slowenischen Behörden zu ermöglichen, war es allerdings unverzichtbar, dass diese der EZB gestatteten, diejenigen Dokumente unter den am 6. Juli 2016 beschlagnahmten zu identifizieren, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhingen. Die slowenischen Behörden hatten der EZB bis zum Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist eine derartige Identifizierung jedoch unstreitig nicht ermöglicht. Es steht ferner fest, dass die slowenischen Behörden zu diesem Zeitpunkt die Dokumente nicht an die Zentralbank Sloweniens zurückgegeben hatten, auch wenn die Republik Slowenien in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, dass diese Dokumente für das dort laufende Strafverfahren nicht relevant seien. 127 Zwar konnte die EZB keine überzeugende Erklärung liefern, um die Verspätung zu rechtfertigen, mit der sie auf das Ersuchen des Staatsanwalts antwortete, ihm Kriterien vorzuschlagen, mit denen sich unter den von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumenten diejenigen Dokumente identifizieren ließen, die zu den Archiven der EZB gehörten. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die slowenischen Behörden, obgleich sie diesen Vorschlag erhalten hatten, keine Maßnahmen ergriffen, um es der EZB zu ermöglichen, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängenden Dokumente zu identifizieren, die von den slowenischen Behörden am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmt worden waren. Darüber hinaus steht auch fest, dass die Behörden auf das Ersuchen der EZB, alle Dokumente an die Zentralbank Sloweniens zurückzugeben, die die Behörden für die fraglichen Ermittlungen als nicht relevant einschätzten – ein Ersuchen, das sie in ihrer Antwort vom 13. Februar 2018 zusammen mit ihrem Vorschlag für Kriterien zur Identifizierung der zu ihren Archiven gehörigen Dokumente unterbreitet hatte –, nicht eingegangen sind. 128 Unter diesen Umständen stellt die Tatsache, dass die slowenischen Behörden Maßnahmen ergriffen hatten, um die Vertraulichkeit der am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmten Dokumente sicherzustellen, das Ergebnis, dass die Behörden im vorliegenden Fall gegen ihre Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit mit der EZB verstoßen haben, nicht in Frage. Das Gleiche gilt für den von der Republik Slowenien betonten Umstand, dass die von den slowenischen Behörden durchgeführten Ermittlungen nicht geeignet gewesen seien, die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion und die Wahrung der Preisstabilität in der Union zu gefährden, da sich dieser Umstand nicht auf die Verpflichtung der slowenischen Behörden auswirkt, gemäß der Feststellung in Rn. 124 des vorliegenden Urteils die rechtswidrigen Folgen der Verletzung der Archive der EZB, die sie am 6. Juli 2016 mit der Beschlagnahme der Dokumente begangen hatten, zu beheben. 129 Nach alledem ergibt sich für den Zeitraum nach der streitigen Beschlagnahme, dass die slowenischen Behörden gegen ihre Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit mit der EZB verstoßen haben, so dass die zweite Rüge der Kommission durchgreift. 130 Nach alledem ist festzustellen, dass die Republik Slowenien dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls über das ESZB und die EZB, den Art. 2, 18 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen sowie Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat, dass sie in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen, durchgeführt und im Zeitraum nach dieser Beschlagnahme nicht loyal mit der EZB zusammengearbeitet hat. Kosten 131 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. 132 Da die Republik Slowenien mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 133 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Daher hat die EZB ihre eigenen Kosten zu tragen. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Republik Slowenien hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, den Art. 2, 18 und 22 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union sowie Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen, dass sie in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije (Zentralbank Sloweniens) einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen, durchgeführt und im Zeitraum nach dieser Beschlagnahme nicht loyal mit der Europäischen Zentralbank zusammengearbeitet hat. 2. Die Republik Slowenien trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission. 3. Die Europäische Zentralbank trägt ihre eigenen Kosten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Slowenisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 24. November 2020.#R.N.N.S. und K.A. gegen Minister van Buitenlandse Zaken.#Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag zittingsplaats Haarlem.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Visakodex der Gemeinschaft – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 32 Abs. 1 bis 3 – Entscheidung über die Visumverweigerung – Anhang VI – Einheitliches Formblatt – Begründung – Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit oder für die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten – Art. 22 – Verfahren der vorherigen Konsultation der zentralen Behörden anderer Mitgliedstaaten – Einwand gegen die Visumerteilung – Rechtsmittel gegen die Entscheidung über die Visumverweigerung – Umfang der gerichtlichen Kontrolle – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf.#Verbundene Rechtssachen C-225/19 und C-226/19.
62019CJ0225
ECLI:EU:C:2020:951
2020-11-24T00:00:00
Pikamäe, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0225 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 24. November 2020 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Visakodex der Gemeinschaft – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 32 Abs. 1 bis 3 – Entscheidung über die Visumverweigerung – Anhang VI – Einheitliches Formblatt – Begründung – Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit oder für die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten – Art. 22 – Verfahren der vorherigen Konsultation der zentralen Behörden anderer Mitgliedstaaten – Einwand gegen die Visumerteilung – Rechtsmittel gegen die Entscheidung über die Visumverweigerung – Umfang der gerichtlichen Kontrolle – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“ In den verbundenen Rechtssachen C‑225/19 und C‑226/19 betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem (Gericht Den Haag, Außenstelle Haarlem, Niederlande), mit Entscheidungen vom 5. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 14. März 2019, in den Verfahren R. N. N. S. (C‑225/19), K. A. (C‑226/19) gegen Minister van Buitenlandse Zaken erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, E. Regan, L. Bay Larsen, N. Piçarra und A. Kumin, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, D. Šváby, C. Lycourgos, P. G. Xuereb und I. Jarukaitis, Generalanwalt: P. Pikamäe, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von R. N. N. S., vertreten durch E. Schoneveld und I. Vennik, advocaten, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. H. S. Gijzen und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil, A. Brabcová und A. Pagáčová als Bevollmächtigte, – der deutschen Regierung, vertreten durch R. Kanitz und J. Möller als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Pucciariello, avvocato dello Stato, – der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und K. Juodelytė als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und C. Cattabriga als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. September 2020 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 32 Abs. 1 bis 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. 2009, L 243, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Visakodex) im Licht der Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen R. N. N. S. (Rechtssache C‑225/19) bzw. K. A. (Rechtssache C‑226/19) auf der einen Seite und dem Minister van Buitenlandse Zaken (Außenminister, Niederlande, im Folgenden: Minister) auf der anderen Seite wegen dessen Weigerung, ihnen ein Visum zu erteilen. Rechtlicher Rahmen 3 Im 29. Erwägungsgrund des Visakodex heißt es: „Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen] Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates und der Charta … anerkannt wurden.“ 4 Art. 1 Abs. 1 des Visakodex lautet: „Mit dieser Verordnung werden die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festgelegt.“ 5 In Art. 21 Abs. 3 des Visakodex heißt es: „Bei der Kontrolle, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen erfüllt, prüft das Konsulat, … d) ob der Antragsteller keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit im Sinne von Artikel 2 Nummer 19 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] oder für die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellt und ob er insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden ist; …“ 6 Art. 22 („Vorherige Konsultation der zentralen Behörden anderer Mitgliedstaaten“) des Visakodex sieht vor: „(1)   Ein Mitgliedstaat kann verlangen, dass die zentralen Behörden anderer Mitgliedstaaten seine zentralen Behörden bei der Prüfung der von Staatsangehörigen spezifischer Drittländer oder von spezifischen Gruppen von Staatsangehörigen dieser Länder eingereichten Anträge konsultieren. Diese Konsultationspflicht gilt nicht für Anträge auf Erteilung eines Visums für den Flughafentransit. (2)   Die konsultierten zentralen Behörden beantworten das Ersuchen auf jeden Fall innerhalb von sieben Kalendertagen nach dessen Eingang. Antworten sie nicht innerhalb dieser Frist, so bedeutet dies, dass keine Einwände gegen die Erteilung des Visums bestehen. …“ 7 Art. 25 des Visakodex sieht vor: „(1)   Ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit wird in folgenden Ausnahmefällen erteilt: a) wenn der betreffende Mitgliedstaat es aus humanitären Gründen, aus Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen für erforderlich hält, i) von dem Grundsatz abzuweichen, dass die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c, d und e des Schengener Grenzkodexes festgelegten Einreisevoraussetzungen erfüllt sein müssen, ii) ein Visum zu erteilen, obwohl der gemäß Artikel 22 konsultierte Mitgliedstaat Einwände gegen die Erteilung eines einheitlichen Visums erhebt, oder iii) ein Visum aus dringlichen Gründen zu erteilen, obwohl keine vorherige Konsultation gemäß Artikel 22 durchgeführt wurde, oder b) wenn aus von dem Konsulat als gerechtfertigt angesehenen Gründen dem Antragsteller erneut ein Visum für einen Aufenthalt innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen erteilt wird, innerhalb dessen er bereits ein einheitliches Visum oder ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit für einen Aufenthalt von 90 Tagen verwendet hat. (2)   Ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit ist für das Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats gültig. In Ausnahmefällen kann es für das Hoheitsgebiet von mehr als einem Mitgliedstaat gültig sein, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten dem zustimmen. …“ 8 Art. 32 („Visumverweigerung“) des Visakodex bestimmt: „(1)   Unbeschadet des Artikels 25 Absatz 1 wird das Visum verweigert, a) wenn der Antragsteller: … vi) als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit im Sinne von Artikel 2 [Nummer] 19 des Schengener Grenzkodexes oder für die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats eingestuft wird, insbesondere wenn er in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden ist; … (2)   Eine Entscheidung über die Verweigerung und die entsprechende Begründung werden dem Antragsteller unter Verwendung des [einheitlichen Formblatts] in Anhang VI mitgeteilt. (3)   Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, steht ein Rechtsmittel zu. Die Rechtsmittel sind gegen den Mitgliedstaat, der endgültig über den Visumantrag entschieden hat, und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats zu führen. Die Mitgliedstaaten informieren die Antragsteller über das im Falle der Einlegung eines Rechtsmittels zu befolgende Verfahren nach Anhang VI. … (5)   Gemäß Artikel 12 der [Verordnung (EG) Nr. 767/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über das Visa‑Informationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt (VIS-Verordnung) (ABl. 2008, L 218, S. 60)] sind die Daten zu verweigerten Visa in das VIS einzugeben.“ 9 Anhang VI des Visakodex enthält ein „einheitliches Formblatt zur Unterrichtung über die Verweigerung, Annullierung oder Aufhebung eines Visums und zur entsprechenden Begründung“ (im Folgenden: einheitliches Formblatt). Dieses Formblatt enthält u. a. unter dem Satz „Diese Entscheidung stützt sich auf den folgenden Grund/die folgenden Gründe“ elf – von der zuständigen Behörde anzukreuzende – Kästchen, neben denen jeweils ein oder mehrere vordefinierte Gründe für die Verweigerung, Annullierung oder Aufhebung eines Visums stehen. Das sechste dieser Kästchen entspricht folgenden Verweigerungsgründen: „Ein oder mehrere Mitgliedstaaten sind der Auffassung, dass Sie eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit gemäß Artikel 2 [Nummer] 19 der [Verordnung Nr. 562/2006] oder die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten darstellen.“ 10 Das einheitliche Formblatt enthält auch eine Rubrik mit der Überschrift „Anmerkungen“, gefolgt von einem Leerfeld, das von der zuständigen Behörde ausgefüllt werden kann. 11 Durch die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1) wurde ausweislich ihres ersten Erwägungsgrundes die Verordnung Nr. 562/2006 kodifiziert. Art. 2 Nr. 19 der Verordnung Nr. 562/2006, auf den in den Rn. 5, 8 und 9 des vorliegenden Urteils Bezug genommen wird, wurde durch die Kodifizierung zu Art. 2 Nr. 21 des Schengener Grenzkodex. Ausgangsrechtsstreitigkeiten, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof 12 In der Rechtssache C‑225/19 geht es um R. N. N. S., einen ägyptischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Ägypten. Am 28. August 2017 heiratete er eine niederländische Staatsangehörige. 13 Am 7. Juni 2017 beantragte er beim Minister ein Visum, um seine in den Niederlanden wohnhaften Schwiegereltern zu besuchen. 14 Mit Entscheidung vom 19. Juni 2017 lehnte der Minister den Antrag mit der Begründung ab, dass R. N. N. S. von einem oder mehreren Mitgliedstaaten als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit im Sinne von Art. 2 Nr. 21 des Schengener Grenzkodex oder für die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats eingestuft worden sei. Im Rahmen des Verfahrens der vorherigen Konsultation nach Art. 22 des Visakodex habe Ungarn nämlich einen Einwand gegen die Erteilung des Visums an R. N. N. S. erhoben. 15 Diese Entscheidung wurde R. N. N. S. unter Verwendung des einheitlichen Formblatts mitgeteilt. Zwar wurde das sechste Kästchen des Formblatts angekreuzt, jedoch wurden weder der Mitgliedstaat, der den Einwand gegen die Erteilung des Visums erhoben hatte, noch die Gründe für diesen Einwand angegeben. 16 Am 30. Juni 2017 legte R. N. N. S. gegen diese Entscheidung beim Minister eine Beschwerde ein, die dieser mit Entscheidung vom 31. Oktober 2017 zurückwies. 17 Am 22. November 2017 erhob R. N. N. S. beim vorlegenden Gericht, der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem (Gericht Den Haag, Außenstelle Haarlem, Niederlande), Klage gegen diese Entscheidung. Er machte u. a. geltend, dass ihm kein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz gewährt werde, da er die Entscheidung des Ministers vom 19. Juni 2017 inhaltlich nicht anfechten könne. Der Minister trägt vor, wenn ein Mitgliedstaat einen Einwand gegen die Erteilung eines Visums erhebe, dürften nach niederländischem Recht die Gründe für diesen Einwand nicht in der Sache überprüft werden. Der Antragsteller müsse zu diesem Zweck die Gerichte des Mitgliedstaats anrufen, der diesen Einwand erhoben habe. 18 Im Rahmen des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht teilte der Minister R. N. N. S. mit, welcher Mitgliedstaat einen Einwand gegen die Erteilung seines Visums erhoben hatte. Im Jahr 2018 kontaktierte R. N. N. S. diplomatische Vertreter Ungarns in mehreren Ländern, um Aufschluss über die Gründe für den Einwand dieses Mitgliedstaats zu erhalten. Er habe auf diesem Weg keinerlei Aufklärung erhalten und habe außerdem nicht gewusst, welche ungarische Behörde diesen Einwand erhoben habe. 19 In der Rechtssache C‑226/19 geht es um K. A., eine syrische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Saudi-Arabien. 20 Am 2. Januar 2018 beantragte K. A. beim Minister ein Visum, um ihre in den Niederlanden wohnhaften Kinder zu besuchen. 21 Mit Entscheidung vom 15. Januar 2018 lehnte der Minister den Antrag mit der Begründung ab, dass K. A. von einem oder mehreren Mitgliedstaaten als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit im Sinne von Art. 2 Nr. 21 des Schengener Grenzkodex oder für die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats eingestuft worden sei. Im Rahmen des Verfahrens der vorherigen Konsultation nach Art. 22 des Visakodex habe die Bundesrepublik Deutschland nämlich einen Einwand gegen die Erteilung des Visums an K. A. erhoben. 22 Diese Entscheidung wurde K. A. unter Verwendung des einheitlichen Formblatts mitgeteilt. Zwar wurde das sechste Kästchen des Formblatts angekreuzt, jedoch wurden weder der Mitgliedstaat, der den Einwand gegen die Erteilung des Visums erhoben hatte, noch die Gründe für diesen Einwand angegeben. 23 Am 23. Januar 2018 legte K. A. gegen diese Entscheidung beim Minister eine Beschwerde ein. Da K. A. vermutete, dass der Einwand gegen die Erteilung des Visums von der Bundesrepublik Deutschland stammte, ersuchte sie den Minister, von den deutschen Behörden in Erfahrung zu bringen, aus welchem Grund sie als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit eingestuft worden war. Mit Entscheidung vom 14. Mai 2018 wies der Minister diese Beschwerde zurück. 24 Am 28. Mai 2018 erhob K. A. beim vorlegenden Gericht Klage gegen diese Entscheidung. Sie machte u. a. geltend, dass ihr kein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz gewährt werde, da sie die Entscheidung des Ministers vom 15. Januar 2018 inhaltlich nicht anfechten könne. Sie trägt insbesondere vor, dass der in dieser Entscheidung angeführte Grund für die Verweigerung des Visums zu allgemein formuliert sei und dass der Minister von den deutschen Behörden die Gründe für deren Einwand gegen die Erteilung des Visums hätte erfragen müssen. Der Minister vertritt die Ansicht, dass ihn der Visakodex weder verpflichte, von den deutschen Behörden die Gründe für ihren Einwand gegen die Erteilung des Visums an K. A. zu erfragen, noch, K. A. diese Gründe zu übermitteln. 25 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass weder R. N. N. S. noch K. A. im VIS zur Verweigerung eines Visums ausgeschrieben seien, so dass sie keine Klage oder Beschwerde nach der VIS-Verordnung erheben könnten, um die Berichtigung oder Löschung unrichtiger Daten zu erreichen, die sich auf die Bearbeitung ihres Visumantrags ausgewirkt hätten. 26 Auch hätten zum einen weder R. N. N. S. noch K. A. Kenntnis von einer sie betreffenden Entscheidung der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, die Einwände gegen die Erteilung ihrer Visa erhoben hätten, im Bereich der öffentlichen Ordnung, der inneren Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder der internationalen Beziehungen gehabt. Zum anderen gebe es, selbst wenn solche Entscheidungen erlassen worden wären, in den Ausgangsverfahren keine Anhaltspunkte für die Prüfung, ob R. N. N. S. und K. A. in diesen Mitgliedstaaten ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen zur Verfügung gestanden habe. 27 Außerdem habe der Minister R. N. N. S. und K. A. in seinen Entscheidungen vom 19. Juni 2017 und vom 15. Januar 2018 nicht über die Möglichkeit informiert, gegen diese Entscheidungen in den Mitgliedstaaten, die Einwände gegen die Erteilung ihres jeweiligen Visums erhoben hätten, eine Klage zu erheben. 28 In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Verweigerungsgrund nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle im Rahmen des in Art. 32 Abs. 3 des Visakodex vorgesehenen Rechtsmittels gegen die endgültige Ablehnung eines Visumantrags sein kann und in welcher Weise diese Kontrolle gegebenenfalls ausgeübt werden muss, um den Anforderungen von Art. 47 der Charta zu genügen. 29 Außerdem möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass R. N. N. S. und K. A. in den Mitgliedstaaten, die Einwände gegen die Erteilung der Visa erhoben haben, Rechtsmittel einlegen müssten, um den Verweigerungsgrund nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex zu bestreiten, wissen, ob im Rahmen des in Art. 32 Abs. 3 des Visakodex vorgesehenen Rechtsmittels der Ausgang des Rechtsmittels, das die Antragsteller in diesen Mitgliedstaaten gegebenenfalls einlegen, abzuwarten ist. 30 Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem (Gericht Den Haag, Außenstelle Haarlem), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden, in den verbundenen Rechtssachen identischen, Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Liegt im Fall eines Rechtsmittels im Sinne von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex gegen eine endgültige Entscheidung über die Verweigerung eines Visums nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex ein wirksamer Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unter folgenden Umständen vor: – In der Begründung der Entscheidung hat der Mitgliedstaat lediglich ausgeführt: „Sie werden von einem oder mehreren Mitgliedstaaten als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit im Sinne von Art. 2 Nr. 19 bzw. Nr. 21 des Schengener Grenzkodex oder für die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten angesehen“, – weder in der Entscheidung noch im Rechtsbehelfsverfahren teilt der Mitgliedstaat mit, welcher konkrete Grund bzw. welche konkreten Gründe der vier in Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex genannten Gründe entgegengehalten werden, – im Rechtsbehelfsverfahren liefert der Mitgliedstaat weder nähere inhaltliche Informationen noch eine nähere inhaltliche Begründung hinsichtlich des Grundes bzw. der Gründe, die den Einwänden des anderen Mitgliedstaats (bzw. der anderen Mitgliedstaaten) zugrunde liegen? 2. Ist unter den in Frage 1 geschilderten Umständen das Recht auf eine gute Verwaltung im Sinne von Art. 41 der Charta gewahrt, insbesondere angesichts der Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen? 3. a) Fällt die Antwort auf die ersten beiden Fragen anders aus, wenn der Mitgliedstaat im endgültigen Bescheid über das Visum auf eine tatsächlich bestehende und hinreichend genau beschriebene Rechtsbehelfsmöglichkeit in dem anderen Mitgliedstaat gegen die namentlich genannte zuständige Behörde in diesem anderen Mitgliedstaat (bzw. in diesen anderen Mitgliedstaaten) hinweist, der (bzw. die) die in Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex genannten Einwände erhoben hat (bzw. haben), und der Verweigerungsgrund im Rahmen dieses Rechtsbehelfs überprüft werden kann? b) Ist für eine bejahende Antwort auf Frage 1 im Zusammenhang mit Frage 3 a erforderlich, dass die Entscheidung in dem Rechtsbehelfsverfahren, das in dem Mitgliedstaat, der die endgültige Entscheidung getroffen hat, und gegen diesen betrieben wird, ausgesetzt wird, bis der Antragsteller die Gelegenheit hatte, die Rechtsbehelfsmöglichkeit in dem anderen Mitgliedstaat (oder in den anderen Mitgliedstaaten) in Anspruch zu nehmen, und, falls der Antragsteller sie in Anspruch nimmt, die (endgültige) Entscheidung in Bezug auf diesen Rechtsbehelf ergangen ist? 4. Wirkt es sich auf die Beantwortung der Fragen aus, ob (der Behörde in) dem Mitgliedstaat (bzw. den Mitgliedstaaten), der (bzw. die) die Einwände gegen die Erteilung des Visums erhoben hat (bzw. haben), die Möglichkeit geboten werden kann, im Rechtsbehelfsverfahren gegen die endgültige Entscheidung über den Visumantrag als zweite Gegenpartei aufzutreten, und er (bzw. sie) in dieser Eigenschaft die Gelegenheit erhalten kann (bzw. können), darzulegen, auf welchem Grund bzw. welchen Gründen seine (bzw. ihre) Einwände beruhen? 31 Wegen der Gesundheitskrise im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus hat die Große Kammer des Gerichtshofs mit Beschluss vom 28. April 2020 die ursprünglich in den vorliegenden Rechtssachen vorgesehene mündliche Verhandlung abberaumt und die den Parteien und den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten, die schriftliche Erklärungen abgegeben hatten, übermittelten Fragen in Fragen zur schriftlichen Beantwortung umgewandelt. R. N. N. S., K. A., die niederländische, die deutsche und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben dem Gerichtshof ihre Antworten auf diese Fragen übermittelt. Zu den Vorlagefragen 32 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 32 Abs. 2 und 3 des Visakodex im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er zum einen den Mitgliedstaat, der wegen eines von einem anderen Mitgliedstaat gegen die Visumerteilung erhobenen Einwands eine endgültige Entscheidung über die Verweigerung eines Visums auf der Grundlage von Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex erlassen hat, verpflichtet, in dieser Entscheidung den Mitgliedstaat, der den Einwand erhoben hat, den auf diesen Einwand gestützten konkreten Verweigerungsgrund und die gegen diesen Einwand offenstehenden Rechtsbehelfe anzugeben, und zum anderen die Gerichte des Mitgliedstaats, der die Entscheidung erlassen hat, die materielle Rechtmäßigkeit des Einwands eines anderen Mitgliedstaats gegen die Visumerteilung prüfen können müssen, wenn gegen die Entscheidung ein Rechtsmittel nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex eingelegt wird. 33 Zunächst ist festzustellen, dass der vom vorlegenden Gericht angeführte Art. 41 der Charta für dessen Entscheidung über die Ausgangsrechtsstreitigkeiten nicht relevant ist. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht nämlich eindeutig hervor, dass sich diese nicht an die Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union richtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Hungeod u. a.,C‑496/18 und C‑497/18, EU:C:2020:240, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34 Soweit das vorlegende Gericht jedoch insbesondere wissen möchte, in welchem Ausmaß eine endgültige Entscheidung über die Visumverweigerung auf der Grundlage von Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex begründet werden muss, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 41 der Charta einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts widerspiegelt, der für die Mitgliedstaaten gelten soll, wenn sie dieses Recht umsetzen, und dem zufolge das Recht auf eine gute Verwaltung auch die Verpflichtung für die Verwaltung beinhaltet, ihre Entscheidungen zu begründen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2019, PI,C‑230/18, EU:C:2019:383, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 35 Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist darauf hinzuweisen, dass das mit dem Visakodex geschaffene System eine Angleichung der Voraussetzungen für die Erteilung einheitlicher Visa voraussetzt, die im Hinblick auf die Festlegung der Gründe für die Verweigerung solcher Visa Abweichungen zwischen den Mitgliedstaaten ausschließt, was bedeutet, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Erteilung eines einheitlichen Visums nicht unter Berufung auf einen anderen Grund als die in diesem Kodex vorgesehenen Gründe verweigern dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2013, Koushkaki,C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 45 und 47). 36 Gemäß Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex wird das Visum verweigert, wenn der Antragsteller als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit im Sinne von Art. 2 Nr. 21 des Schengener Grenzkodex oder für die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats eingestuft wird, insbesondere wenn er in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden ist. Bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, die sich auf die Bedrohung für einen Mitgliedstaat bezieht, ergibt sich, dass das Vorliegen einer solchen Gefahr einen Grund für die Verweigerung des Visums darstellt, unabhängig davon, ob es den Mitgliedstaat des zuständigen Konsulats oder einen anderen Mitgliedstaat betrifft. 37 Es ist Sache des zuständigen Konsulats, bei der Kontrolle, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen erfüllt, gemäß Art. 21 Abs. 3 Buchst. d des Visakodex u. a. zu prüfen, ob der Antragsteller keine solche Gefahr darstellt und ob er insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden ist. Zu diesem Zweck können sich die zentralen Behörden des Mitgliedstaats, der den Visumantrag prüft, außerdem veranlasst sehen, im Rahmen des in Art. 22 Abs. 1 und 2 des Visakodex beschriebenen Verfahrens der vorherigen Konsultation die zentralen Behörden anderer Mitgliedstaaten zu konsultieren, um es ihnen zu ermöglichen, gegebenenfalls aus denselben Gründen Einwände gegen die Erteilung des Visums zu erheben. 38 Nach Art. 32 Abs. 2 des Visakodex wird eine Entscheidung über die Visumverweigerung und die entsprechende Begründung dem Antragsteller unter Verwendung des einheitlichen Formblatts mitgeteilt. Wie aus Rn. 9 des vorliegenden Urteils hervorgeht, enthält das einheitliche Formblatt elf Kästchen – von denen jedes einem oder mehreren im Visakodex vorgesehenen Gründen für die Verweigerung, Annullierung oder Aufhebung eines Visums entspricht –, die die zuständigen nationalen Behörden ankreuzen, um dem Visumantragsteller mitzuteilen, aus welchen Gründen sein Antrag abgelehnt wird. 39 Insbesondere heißt es beim sechsten Kästchen des einheitlichen Formblatts, dass „ein oder mehrere Mitgliedstaaten … der Auffassung [sind]“, dass der Antragsteller aus einem der in Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex genannten Verweigerungsgründe eine Gefahr darstellt. Zwar kann die zuständige nationale Behörde bei der diesem Kästchen beigefügten Begründung weder den Mitgliedstaat, der einen Einwand gegen die Erteilung des Visums erhoben hat, angeben noch ihre Entscheidung näher begründen, indem sie insbesondere aus allen in dieser Bestimmung unterschiedslos genannten Gründen den konkreten Grund für ihre Entscheidung angibt, jedoch kann sie solche Angaben unter der Rubrik „Anmerkungen“ des einheitlichen Formblatts machen. 40 Nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex steht Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, ein Rechtsmittel zu, das gegen den Mitgliedstaat, der endgültig über den Visumantrag entschieden hat, und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats zu führen ist. 41 Der Gerichtshof hat entschieden, dass, wie sich aus dem 29. Erwägungsgrund des Visakodex ergibt, die Auslegung seiner Bestimmungen einschließlich des Rechts auf ein Rechtsmittel nach Art. 32 Abs. 3 dieses Kodex im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen erfolgen muss, die mit der Charta anerkannt worden sind, die anwendbar ist, wenn ein Mitgliedstaat eine Entscheidung erlässt, mit der er nach Art. 32 Abs. 1 des Visakodex ein Visum verweigert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Dezember 2017, El Hassani,C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 32 und 37, sowie vom 29. Juli 2019, Vethanayagam u. a.,C‑680/17, EU:C:2019:627, Rn. 79). 42 Die Merkmale des in Art. 32 Abs. 3 des Visakodex vorgesehenen Rechtsmittels sind daher im Einklang mit Art. 47 der Charta zu bestimmen, wonach jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. 43 Insoweit ist es nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle erforderlich, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann, entweder durch die Lektüre der Entscheidung selbst oder durch eine auf seinen Antrag hin erfolgte Mitteilung dieser Gründe, unbeschadet der Befugnis des zuständigen Gerichts, von der betreffenden Behörde die Übermittlung dieser Gründe zu verlangen, um es ihm zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, das zuständige Gericht anzurufen, und um dieses vollständig in die Lage zu versetzen, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der fraglichen nationalen Entscheidung auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Oktober 1987, Heylens u. a.,222/86, EU:C:1987:442, Rn. 15, und vom 4. Juni 2013, ZZ,C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 53). 44 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass der Minister nach Einwänden Ungarns und der Bundesrepublik Deutschland gegen die Erteilung von Visa an R. N. N. S. und K. A. ihre Visumanträge auf der Grundlage von Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex abgelehnt hat. Der Minister begründete diese ablehnenden Entscheidungen unter Verwendung des einheitlichen Formblatts, auf dem er das sechste Kästchen ankreuzte, zu dem die vordefinierte Begründung gehört, dass ein oder mehrere Mitgliedstaaten der Auffassung sind, dass der Antragsteller eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit gemäß Art. 2 Nr. 21 des Schengener Grenzkodex oder für die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten darstellt. 45 In Anbetracht der in den Rn. 34 und 43 des vorliegenden Urteils dargestellten Rechtsprechung ist jedoch festzustellen, dass das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bedeutet, dass der Antragsteller, dem die Erteilung eines Visums wegen eines Einwands eines Mitgliedstaats aus einem der in Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex genannten Gründe verweigert wurde, das Recht hat, zu erfahren, aus welchem konkreten Grund die Erteilung des Visums verweigert wurde und welcher Mitgliedstaat einen Einwand gegen die Visumerteilung erhoben hat. 46 Daher ist die zuständige nationale Behörde, auch wenn, wie aus Rn. 39 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Begründung neben dem sechsten Kästchen des einheitlichen Formblatts vordefiniert ist, im Fall der Heranziehung des Verweigerungsgrundes nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex verpflichtet, in der Rubrik „Anmerkungen“ des einheitlichen Formblatts anzugeben, welche(r) Mitgliedstaat(en) einen Einwand gegen die Erteilung des Visums erhoben hat bzw. haben und aus welchem auf diesen Einwand gestützten konkreten Grund das Visum verweigert wurde, wobei gegebenenfalls die Gründe für den Einwand näher zu erläutern sind. 47 Im Übrigen sieht, wie der Generalanwalt in Nr. 87 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Verordnung (EU) 2019/1155 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Änderung der Verordnung Nr. 810/2009 (ABl. 2019, L 188, S. 25) ein neues Standardformular vor, auf das die zuständigen Behörden bei der Begründung ihrer Entscheidungen über die Ablehnung eines Visums zurückgreifen müssen und in dem die verschiedenen Verweigerungsgründe nach Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex nunmehr voneinander unterschieden werden. 48 Zur Frage des Umfangs der gerichtlichen Kontrolle im Rahmen des in Art. 32 Abs. 3 des Visakodex vorgesehenen Rechtsmittels ist darauf hinzuweisen, dass die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta gegen die Entscheidung über die Visumverweigerung zu gewährleisten, bedeutet, dass die gerichtliche Kontrolle dieser Entscheidung nicht auf eine formale Prüfung der in Art. 32 Abs. 1 des Visakodex vorgesehenen Gründe beschränkt werden darf. Daher muss sich diese Kontrolle auch auf die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung erstrecken und dabei alle tatsächlichen und rechtlichen Angaben in den Akten berücksichtigen, auf die die zuständige nationale Behörde sie gestützt hat. 49 Insoweit verfügen die zuständigen nationalen Behörden bei der Prüfung von Visumanträgen in Bezug auf die Anwendungsvoraussetzungen der im Visakodex vorgesehenen Ablehnungsgründe und die Würdigung der relevanten Tatsachen über einen weiten Beurteilungsspielraum (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2013, Koushkaki,C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 60, und vom 13. Dezember 2017, El Hassani,C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 36). Die gerichtliche Kontrolle dieses Beurteilungsspielraums beschränkt sich daher auf die Prüfung, ob die angefochtene Entscheidung auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht und mit keinem offenkundigen Fehler behaftet ist (vgl. entsprechend Urteil vom 4. April 2017, Fahimian,C‑544/15, EU:C:2017:255, Rn. 45 und 46). 50 Allerdings ist zu unterscheiden zwischen einerseits der Kontrolle durch die Gerichte des Mitgliedstaats, der die endgültige Entscheidung über die Visumverweigerung erlassen hat, die die Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung gemäß Art. 32 Abs. 3 des Visakodex zum Gegenstand hat, und andererseits der Kontrolle der Begründetheit des Einwands gegen die Erteilung eines Visums, den ein anderer Mitgliedstaat im Rahmen des in Art. 22 des Visakodex vorgesehenen Verfahrens der vorherigen Konsultation erhoben hat, die den nationalen Gerichten dieses anderen Mitgliedstaats oder dieser anderen Mitgliedstaaten obliegt. 51 Insoweit müssen die Gerichte des Mitgliedstaats, der wegen der Erhebung eines Einwands gegen die Ausstellung dieses Dokuments durch einen anderen Mitgliedstaat oder durch mehrere andere Mitgliedstaaten eine endgültige Entscheidung über die Verweigerung des Visums erlassen hat, die Möglichkeit haben, sich zu vergewissern, dass das in Art. 22 des Visakodex beschriebene Verfahren der vorherigen Konsultation der zentralen Behörden der anderen Mitgliedstaaten ordnungsgemäß angewandt wurde – insbesondere, dass der Antragsteller zutreffend als von dem betreffenden Einwand erfasst identifiziert wurde – und dass die Verfahrensgarantien, wie die oben in Rn. 46 dargestellte Begründungspflicht, im vorliegenden Fall gewahrt wurden. 52 Dagegen kann die materielle Rechtmäßigkeit eines Einwands eines Mitgliedstaats gegen die Erteilung eines Visums von diesen Gerichten nicht überprüft werden. Damit der betreffende Visumantragsteller sein Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen einen solchen Einwand gemäß Art. 47 der Charta ausüben kann, haben die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, der die endgültige Entscheidung über die Visumverweigerung erlassen hat, anzugeben, an welche Behörde sich der Visumantragsteller wenden kann, um die hierfür in diesem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe in Erfahrung zu bringen. 53 Es ist noch darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber die Entscheidung, welche Art von Rechtsbehelf in welcher konkreten Ausgestaltung den Visumantragstellern zur Verfügung stehen soll, den Mitgliedstaaten überlassen hat, vorausgesetzt jedoch, dass der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz gewahrt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2017, El Hassani,C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 25 und 26). 54 Somit ist es Sache des Mitgliedstaats, der eine endgültige Entscheidung über die Visumverweigerung erlässt, Verfahrensvorschriften, die dazu beitragen, die Wahrung der Verteidigungsrechte und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf der Visumantragsteller zu gewährleisten, vorzusehen, wie z. B. das Auskunftsersuchen an die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, die einen Einwand gegen die Erteilung eines Visums erhoben haben, oder die Möglichkeit dieser Mitgliedstaaten, sich an dem nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex eingeleiteten Rechtsmittelverfahren zu beteiligen, oder jeden anderen Mechanismus, durch den sichergestellt wird, dass das Rechtsmittel der Antragsteller nicht endgültig zurückgewiesen wird, ohne dass sie die konkrete Möglichkeit gehabt haben, ihre Rechte auszuüben. 55 Hinzuzufügen ist, dass der betreffende Mitgliedstaat jedenfalls gemäß Art. 25 des Visakodex ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit erteilen kann. 56 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 32 Abs. 2 und 3 des Visakodex im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er zum einen den Mitgliedstaat, der wegen eines von einem anderen Mitgliedstaat gegen die Visumerteilung erhobenen Einwands eine endgültige Entscheidung über die Verweigerung eines Visums auf der Grundlage von Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi des Visakodex erlassen hat, verpflichtet, in dieser Entscheidung den Mitgliedstaat, der den Einwand erhoben hat, den auf diesen Einwand gestützten konkreten Verweigerungsgrund – wobei gegebenenfalls die Gründe für den Einwand näher zu erläutern sind – und die Behörde, an die sich der Visumantragsteller wenden kann, um die in diesem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe in Erfahrung zu bringen, anzugeben, und zum anderen die Gerichte des Mitgliedstaats, der die Entscheidung erlassen hat, die materielle Rechtmäßigkeit des Einwands eines anderen Mitgliedstaats gegen die Visumerteilung nicht prüfen können, wenn gegen die Entscheidung ein Rechtsmittel nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex eingelegt wird. Kosten 57 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 32 Abs. 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er zum einen den Mitgliedstaat, der wegen eines von einem anderen Mitgliedstaat gegen die Visumerteilung erhobenen Einwands eine endgültige Entscheidung über die Verweigerung des Visums auf der Grundlage von Art. 32 Abs. 1 Buchst. a Ziff. vi der Verordnung Nr. 810/2009 in der durch die Verordnung Nr. 610/2013 geänderten Fassung erlassen hat, verpflichtet, in dieser Entscheidung den Mitgliedstaat, der den Einwand erhoben hat, den auf diesen Einwand gestützten konkreten Verweigerungsgrund – wobei gegebenenfalls die Gründe für den Einwand näher zu erläutern sind – und die Behörde, an die sich der Visumantragsteller wenden kann, um die in diesem anderen Mitgliedstaat zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe in Erfahrung zu bringen, anzugeben, und zum anderen die Gerichte des Mitgliedstaats, der die Entscheidung erlassen hat, die materielle Rechtmäßigkeit des Einwands eines anderen Mitgliedstaats gegen die Visumerteilung nicht prüfen können, wenn gegen die Entscheidung ein Rechtsmittel nach Art. 32 Abs. 3 der Verordnung Nr. 810/2009 in der durch die Verordnung Nr. 610/2013 geänderten Fassung eingelegt wird. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 30. September 2020.#B. gegen Centre public d'action sociale de Líège.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour du travail de Liège.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – An einer schweren Krankheit leidender Drittstaatsangehöriger – Rückkehrentscheidung – Gerichtlicher Rechtsbehelf – Aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes – Voraussetzungen – Gewährung von Sozialhilfe – Art. 19 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-233/19.
62019CJ0233
ECLI:EU:C:2020:757
2020-09-30T00:00:00
Szpunar, Gerichtshof
62019CJ0233 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 30. September 2020 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – An einer schweren Krankheit leidender Drittstaatsangehöriger – Rückkehrentscheidung – Gerichtlicher Rechtsbehelf – Aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes – Voraussetzungen – Gewährung von Sozialhilfe – Art. 19 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ In der Rechtssache C‑233/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour du travail de Liège (Arbeitsgerichtshof Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 11. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 18. März 2019, in dem Verfahren B. gegen Centre public d’action sociale de Liège erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie des Richters N. Jääskinen, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2020, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von B., zunächst vertreten von D. Andrien und P. Ansay, avocats, dann von D. Andrien, avocat, – des Centre public d’action sociale de Liège, zunächst vertreten durch M. Delhaye und G. Dubois, avocats, dann durch M. Delhaye und J.‑P. Jacques, avocats, – der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, C. Pochet und C. Van Lul als Bevollmächtigte im Beistand von C. Piront und S. Matray, avocates, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten, – der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer, J. M. Hoogveld, M. K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azema und C. Cattabriga als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Mai 2020 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 5 und 13 sowie Art. 14 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen B., einer Drittstaatsangehörigen, und dem Centre public d’action sociale de Liège (Öffentliches Sozialhilfezentrum Lüttich, Belgien) (im Folgenden: CPAS) wegen dessen Entscheidungen, mit denen B. die Sozialhilfe gestrichen wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 definiert den Begriff „illegaler Aufenthalt“ als „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 der [Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats“. 4 Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt: „Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise: … c) den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen, und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“ 5 In Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie heißt es: „Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf: … b) solange nach Artikel 13 Absatz 2 aufschiebende Wirkung besteht.“ 6 Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor: „(1)   Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen. (2)   Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.“ 7 Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten stellen außer in Fällen nach Artikel 16 und 17 sicher, dass innerhalb der nach Artikel 7 für die freiwillige Ausreise gewährten Frist und der Fristen, während derer die Vollstreckung einer Abschiebung nach Artikel 9 aufgeschoben ist, die folgenden Grundsätze in Bezug auf Drittstaatsangehörige so weit wie möglich beachtet werden: a) Aufrechterhaltung der Familieneinheit mit den in demselben Hoheitsgebiet aufhältigen Familienangehörigen; b) Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten; c) Gewährleistung des Zugangs zum Grundbildungssystem für Minderjährige je nach Länge ihres Aufenthalts; d) Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen.“ Belgisches Recht 8 Art. 57 § 2 der Loi organique du 8 juillet 1976 des centres publics d’action sociale (Grundlagengesetz vom 8. Juli 1976 über die öffentlichen Sozialhilfezentren) bestimmt in seiner auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung: „Abweichend von den sonstigen Bestimmungen dieses Gesetzes beschränkt sich die Aufgabe des öffentlichen Sozialhilfezentrums auf: 1. die Gewährung dringender medizinischer Hilfe gegenüber einem Ausländer, der sich illegal im Königreich aufhält; … Ein Ausländer, der sich als Flüchtling gemeldet und die Anerkennung als solcher beantragt hat, hält sich illegal im Königreich auf, wenn der Asylantrag abgelehnt und dem betreffenden Ausländer eine Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, zugestellt worden ist. Die Sozialhilfe zugunsten eines Ausländers, der zu dem Zeitpunkt, zu dem ihm eine Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, zugestellt wird, tatsächlich Empfänger ist, wird mit Ausnahme der dringenden medizinischen Hilfe an dem Tag eingestellt, an dem dieser Ausländer das Staatsgebiet effektiv verlässt, und spätestens am Tag, an dem die Frist der Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, abläuft. …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 9 Am 4. September 2015 beantragte B. in Belgien Asyl. Dieser Antrag wurde von der zuständigen Behörde abgelehnt. Am 27. April 2016 wies der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) eine von B. gegen diese ablehnende Entscheidung eingelegte Klage ab. 10 Am 26. September 2016 beantragte B. eine Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen, die sie damit begründete, dass sie an mehreren schwerwiegenden Erkrankungen leide. 11 Da dieser Antrag am 22. Dezember 2016 für zulässig erklärt wurde, erhielt B. Sozialhilfe, für die der CPAS aufzukommen hatte. 12 Mit Entscheidungen vom 28. September 2017, die am 23. Oktober 2017 zugestellt wurden, wurde der von B. gestellte Antrag auf Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, und die Betroffene erhielt von der zuständigen Behörde die Anweisung, das belgische Hoheitsgebiet zu verlassen. 13 B. erhob am 28. November 2017 beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) Klage auf Aufhebung und Aussetzung dieser Entscheidungen. 14 Das CPAS strich B. mit zwei Entscheidungen vom 28. November 2017 die Sozialhilfe mit Wirkung vom 23. Oktober 2017. Dagegen gewährte es ihr dringende medizinische Hilfe ab dem 1. November 2017. 15 Am 28. Dezember 2017 erhob B. beim Tribunal du travail de Liège (Arbeitsgericht Lüttich, Belgien) Klage gegen die Entscheidungen des CPAS, mit denen ihr die Sozialhilfe gestrichen worden war, und beantragte bei diesem Gericht, ihre Ansprüche auf diese Hilfe ab dem 23. Oktober 2017 wiederherzustellen. 16 Mit Urteil vom 15. März 2018 wies dieses Gericht die Klage ab, soweit sie die Gewährung der Sozialhilfe betraf. 17 Am 16. April 2018 legte B. gegen dieses Urteil Berufung bei der Cour du travail de Liège (Arbeitsgerichtshof Lüttich, Belgien) ein. 18 Dieses Gericht weist darauf hin, dass im Hinblick auf den Zeitpunkt der Zustellung der Anweisung, das Hoheitsgebiet zu verlassen, und infolge einer weiteren Entscheidung des CPAS der Zeitraum, den die Klage erfasse, der Zeitraum vom 23. November 2017 bis zum 31. Januar 2018 sei. In diesem Zeitraum habe B. keinen Aufenthaltstitel gehabt. 19 Nachdem das vorlegende Gericht die Möglichkeit verneint hat, B. Sozialhilfe zu gewähren, und sich dabei darauf gestützt hat, dass eine Rückkehr im Sinne der belgischen Sozialhilfevorschriften eventuell medizinisch nicht möglich sei, stellt es fest, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits davon abhänge, wie sich die vom Gerichtshof im Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida (C‑562/13, EU:C:2014:2453), zugrunde gelegte Lösung auswirke. 20 Das vorlegende Gericht ist nämlich der Ansicht, dass es der Klage von B. stattgeben müsse, wenn der beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) erhobenen Klage auf Aufhebung und Aussetzung eine aufschiebende Wirkung zuerkannt werden müsse. Nach belgischem Recht habe die Klage keine aufschiebende Wirkung; diese könnte ihr aber auf der Grundlage des Urteils vom 18. Dezember 2014, Abdida (C‑562/13, EU:C:2014:2453), zuerkannt werden. Es sei jedoch schwierig, die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen ein Sozialgericht die aufschiebende Wirkung einer solchen Klage feststellen müsse, da die belgischen Gerichte in dieser Frage voneinander abweichende Entscheidungen erlassen hätten. 21 Unter diesen Umständen hat die Cour du travail de Liège (Arbeitsgerichtshof Lüttich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Sind die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Art. 14 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie im Licht des Urteils vom 18. Dezember 2014, Abdida (C‑562/13, EU:C:2014:2453), dahin auszulegen, dass sie einer Klage gegen eine Entscheidung, die einen von einer schweren Erkrankung betroffenen Drittstaatsangehörigen anweist, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen, aufschiebende Wirkung verleihen, wobei der Kläger vorbringt, dass die Vollstreckung dieser Entscheidung ihn der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, – ohne dass die Klage beurteilt zu werden brauchte, da ihre bloße Erhebung hinreicht, um die Vollstreckung der Entscheidung über die Anweisung zum Verlassen des Hoheitsgebiets aufzuschieben, – oder nach einer eingeschränkten Kontrolle betreffend das Vorliegen einer vertretbaren Rüge oder das Fehlen eines Unzulässigkeitsgrundes oder einer offensichtlichen Unbegründetheit der Klage vor dem Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) – oder nach einer umfassenden Kontrolle durch die Arbeitsgerichte, um festzustellen, ob die Vollstreckung dieser Entscheidung den Kläger tatsächlich der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte? Zur Vorlagefrage Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit der Vorlagefrage 22 Die belgische Regierung macht erstens geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, soweit es auf eine Auslegung des belgischen Rechts durch den Gerichtshof abziele. Zum einen unterlägen die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels und die Gewährung von Sozialhilfe im Ausgangsverfahren ausschließlich diesem Recht. Zum anderen sei es nicht Sache des Gerichtshofs, über die verschiedenen vom vorlegenden Gericht erwähnten nationalen Rechtsprechungslinien zu entscheiden. 23 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nicht Sache des Gerichtshofs ist, nationale Rechtsvorschriften auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2014, Pohotovosť, C‑470/12, EU:C:2014:101, Rn. 60, und vom 20. Januar 2016, DHL Express [Italy] und DHL Global Forwarding [Italy], C‑428/14, EU:C:2016:27, Rn. 70). 24 Im vorliegenden Fall fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof jedoch nicht nach der Auslegung der Vorschriften des belgischen Rechts über den Aufenthalt oder die Sozialhilfe, sondern nach der genauen Tragweite der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verfahrenspflicht, wonach in bestimmten Fällen einem gegen eine Rückkehrentscheidung eingelegten Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung zukommen muss. Der Umstand, dass die Tragweite dieser aus dem Unionsrecht abgeleiteten Verpflichtung von verschiedenen belgischen Gerichten unterschiedlich verstanden worden ist, schließt es nicht aus, dass der Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst werden kann, mit dem der Umfang dieser Verpflichtung geklärt werden soll. 25 Zweitens ist die belgische Regierung der Ansicht, dass es für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht erforderlich sei, die Vorlagefrage zu beantworten. Um über den Antrag von B. zu entscheiden, müsste das vorlegende Gericht nämlich lediglich ausschließen, dass eine Rückkehr medizinisch unmöglich sei, was es bereits getan habe, und es könnte darauf hinweisen, dass die Betroffene eine Verlängerung der ihr gewährten Frist für die freiwillige Ausreise beantragen könnte, die es B. ermöglichen würde, weiterhin Sozialhilfe zu erhalten. 26 Desgleichen ist die Erheblichkeit der Vorlagefrage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der belgischen Regierung in ihren mündlichen Erklärungen sowie von der tschechischen und der niederländischen Regierung mit der Begründung in Abrede gestellt worden, dass sich B. auch im Fall der Aussetzung der gegen sie ergangenen Rückkehrentscheidung weiterhin illegal im belgischen Hoheitsgebiet aufhalte. Die genannten Regierungen leiten daraus ab, dass ihr Antrag auf Sozialhilfe nach einer solchen Aussetzung immer noch abgelehnt werden könne, da das Unionsrecht nicht dem entgegenstehe, dass einem illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine geringere Sozialhilfe gewährt werde als einem legal aufhältigen Drittstaatsangehörigen. 27 Die belgische Regierung macht außerdem geltend, dass das vorlegende Gericht als Arbeitsgericht nicht zuständig sei, einer Klage aufschiebende Wirkung zu verleihen, die in die alleinige Zuständigkeit eines anderen belgischen Gerichts falle, und dass die Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) die vorgelegte Frage bereits in einem kürzlich ergangenen Urteil beantwortet habe. 28 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29 Demnach spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Im vorliegenden Fall ist zwar festzustellen, dass in Anbetracht der Definition des Begriffs „illegaler Aufenthalt“ in Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 eine etwaige Aussetzung der gegen B. ergangenen Rückkehrentscheidung nicht bedeuten würde, dass ihr Aufenthalt als „legal“ im Sinne dieser Richtlinie eingestuft werden müsste. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Unionsrecht das Königreich Belgien nach einer solchen Aussetzung verpflichtet, B. Rechte zu gewährleisten, die denen gleichwertig sind, die sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhaltende Drittstaatsangehörige genießen. 31 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass die belgischen Vorschriften für einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in dem die betroffene Person einen Asylantrag gestellt hat, der abgelehnt wurde, und keinen Aufenthaltstitel besitzt, vorsehen, dass der Bezug der Sozialhilfe erst nach Zustellung einer Rückkehrentscheidung an die betreffende Person beschränkt wird. Das vorlegende Gericht ist außerdem der Ansicht, dass diese Beschränkung nicht mit dem Tag beginnen könne, an dem die Illegalität des Aufenthalts von B. festgestellt worden sei, sondern frühestens mit dem Tag, an dem die Frist für die freiwillige Ausreise, die der Betroffenen in der gegen sie ergangenen Rückkehrentscheidung eingeräumt worden sei, abgelaufen sei. 32 Unter Berücksichtigung des somit vom vorlegenden Gericht festgestellten Zusammenhangs zwischen den Wirkungen einer Rückkehrentscheidung und der Beschränkung des Bezugs der nach den belgischen Vorschriften gewährten Sozialhilfe kann nicht davon ausgegangen werden, dass die erbetene Auslegung der Vorschriften des Unionsrechts über eine etwaige kraft Gesetzes eintretende Aussetzung der Wirkungen einer solchen Entscheidung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, es sei denn, man stellte die Auslegung des nationalen Rechts durch das vorlegende Gericht in Frage, die im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens ausschließlich seine Sache ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juni 2016, New Valmar, C‑15/15, EU:C:2016:464, Rn. 25, und vom 1. Oktober 2019, Blaise u. a., C‑616/17, EU:C:2019:800, Rn. 37). 33 An dieser Feststellung kann auch der Umstand nichts ändern, dass die Klage von B. gegen die gegen sie ergangene Rückkehrentscheidung erst am 28. November 2017 erhoben wurde, obwohl der Ausgangsrechtsstreit die Gewährung der Sozialhilfe für den Zeitraum vom 23. November 2017 bis zum 31. Januar 2018 betrifft. Dieser Umstand bedeutet nämlich jedenfalls nicht, dass die Vorlagefrage für den Zeitraum vom 28. November 2017 bis zum 31. Januar 2018 offensichtlich hypothetischer Natur wäre. 34 Im Übrigen leitet sich, wie die Kommission betont, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ab, dass bestimmte Garantien bis zur Rückkehr, die die Befriedigung der Grundbedürfnisse der betreffenden Person umfassen können, nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Fällen zu gewährleisten sind, in denen der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet ist, dieser Person gegen eine gegen sie ergangene Rückkehrentscheidung einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung zu bieten, auch wenn sie sich illegal im Hoheitsgebiet des in Rede stehenden Mitgliedstaats aufhält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 53, 55 und 58 bis 60). 35 Daher kann der Umstand, dass B. über etwaige andere in den belgischen Vorschriften vorgesehene verfahrensrechtliche Möglichkeiten verfügte, um Sozialhilfe zu erhalten, selbst wenn er erwiesen wäre, nicht zur Unzulässigkeit der Vorlagefrage führen. Da das vorlegende Gericht nicht der Ansicht war, dass dieser Umstand B. daran hindere, die Klage im Ausgangsverfahren wirksam zu erheben, lässt sich damit nämlich nicht ausschließen, dass eine Antwort auf diese Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich ist. 36 Auch die Ausführungen der belgischen Regierung, wonach das vorlegende Gericht nach den Regeln des nationalen Rechts nicht zuständig sei, um über die aufschiebende Wirkung eines gegen eine Rückkehrentscheidung eingelegten Rechtsbehelfs zu befinden, können nicht ausreichen, um zur Unzulässigkeit dieser Frage zu führen, da es nicht Sache des Gerichtshofs ist, die Beurteilung der nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren durch das vorlegende Gericht in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 26, sowie vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 30). 37 Sofern sich die belgische Regierung auf ein kürzlich ergangenes Urteil der Cour de cassation (Kassationshof) beruft, das die Fragen des vorlegenden Gerichts beantworten könne, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass dieser Umstand, selbst wenn das vorlegende Gericht an die in diesem Urteil enthaltene Entscheidung gebunden ist, ihm nicht das in Art. 267 AEUV vorgesehene Recht zu nehmen vermag, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, die es ihm ermöglichen sollen, ein unionsrechtskonformes Urteil zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 42). 38 Drittens macht die belgische Regierung geltend, dass der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache nicht zuständig sei, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) auszulegen. Dieser Artikel gelte nämlich nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Das vorlegende Gericht nenne zwar einige Bestimmungen der Richtlinie 2008/115, stelle aber keinen Zusammenhang zwischen diesen und den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften her, obwohl es hierzu nach Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs verpflichtet sei. 39 Insoweit ist daran zu erinnern, dass gemäß Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung das Vorabentscheidungsersuchen eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt, enthalten muss. 40 In der vorliegenden Rechtssache ist offensichtlich, dass das vorlegende Gericht der in Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung genannten Verpflichtung nachgekommen ist, indem es zum einen den im belgischen Recht bestehenden Zusammenhang zwischen den Wirkungen einer Rückkehrentscheidung und der Beschränkung des Bezugs von Sozialhilfe in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fall dargelegt und zum anderen seine Zweifel hinsichtlich der konkreten Schlussfolgerungen, die in diesem Fall aus dem Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida (C‑562/13, EU:C:2014:2453), zu ziehen sind, zum Ausdruck gebracht hat. 41 Da das vorlegende Gericht festgestellt hat, dass die Entscheidung des Ausgangsverfahrens von der Anwendung der in der Richtlinie 2008/115 aufgestellten Regeln über den Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung abhängt, kann zudem die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung von Art. 47 der Charta im vorliegenden Fall nicht in Frage gestellt werden. 42 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist die Vorlagefrage zu beantworten. Zur Beantwortung der Frage 43 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, unter welchen Voraussetzungen die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das mit einem sozialhilferechtlichen Rechtsstreit befasst ist, dessen Ausgang von einer etwaigen Aussetzung der Wirkungen einer gegen einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen ergangenen Rückkehrentscheidung abhängt, davon ausgehen muss, dass eine Klage auf Aufhebung und Aussetzung der Rückkehrentscheidung kraft Gesetzes die Aussetzung dieser Entscheidung nach sich zieht, auch wenn sich diese Aussetzung nicht aus der Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften ergibt. 44 Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass ein Drittstaatsangehöriger nach Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 über einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung verfügen muss, dieser Rechtsbehelf aber nicht notwendigerweise aufschiebende Wirkung hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 43 und 44). 45 Die Merkmale dieses Rechtsbehelfs sind jedoch im Einklang mit Art. 47 der Charta, wonach jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, sowie im Einklang mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung, der insbesondere in Art. 19 Abs. 2 der Charta und Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verankert ist, zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 45 und 46, sowie vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 52 und 53). 46 Der Gerichtshof hat aus den vorstehenden Überlegungen abgeleitet, dass der Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung haben muss, damit gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen die Einhaltung der sich aus Art. 47 der Charta und dem Grundsatz der Nichtzurückweisung ergebenden Anforderungen gewährleistet ist, da der Drittstaatsangehörige durch die Vollstreckung dieser Entscheidung insbesondere tatsächlich der Gefahr einer gegen Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 56). 47 Dies ist zumal dann der Fall, wenn die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung einen unter einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 53). 48 Es obliegt in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Verpflichtung nachzukommen. So hat er gegebenenfalls die Rechtslage zu ändern, um sicherzustellen, dass dem von einem Drittstaatsangehörigen eingelegten Rechtsbehelf in den in den Rn. 46 und 47 des vorliegenden Urteils genannten Fällen kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zukommt (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 65). 49 Da das Unionsrecht die konkreten Modalitäten des Rechtsbehelfs mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung, der gegen die Rückkehrentscheidung eröffnet sein muss, nicht genau festlegt, verfügen die Mitgliedstaaten insoweit über einen gewissen Spielraum. 50 Daher kann ein Mitgliedstaat im Rahmen der Regelung der Rechtsbehelfsverfahren gegen eine Rückkehrentscheidung hierfür einen spezifischen Rechtsbehelf zusätzlich zu einer Aufhebungsklage, der keine aufschiebende Wirkung zukommt und die ebenfalls gegen diese Entscheidung erhoben werden kann, vorsehen, sofern die anwendbaren nationalen Verfahrensregeln hinreichend genau, klar und vorhersehbar sind, damit der Rechtssuchende genau seine Rechte kennen kann (vgl. entsprechend Urteil vom 8. März 2017, Euro Park Service, C‑14/16, EU:C:2017:177, Rn. 40). 51 Da die belgische Regierung geltend macht, dass ein Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung nur gegen eine Abschiebungsentscheidung und nicht gegen eine Rückkehrentscheidung gewährleistet werden müsse, ist außerdem darauf hinzuweisen, dass aus den Rn. 44 bis 49 des heutigen Urteils, CPAS de Seraing (C‑402/19), hervorgeht, dass der Rechtsschutz, der einem Drittstaatsangehörigen gewährt wird, gegen den eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, durch deren Vollstreckung er tatsächlich der Gefahr einer gegen Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt sein könnte, unzureichend wäre, wenn dieser Drittstaatsangehörige nicht über einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen diese Entscheidung ab deren Zustellung verfügen würde. 52 Im Übrigen ist zum Vorbringen der belgischen Regierung, die belgische Regelung stehe im Einklang mit dem Unionsrecht, darauf hinzuweisen, dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene System der Zusammenarbeit auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht. Im Rahmen eines gemäß diesem Artikel eingeleiteten Verfahrens ist die Auslegung der nationalen Vorschriften Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten und nicht des Gerichtshofs, und es kommt diesem nicht zu, sich zur Vereinbarkeit von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu äußern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 1981, Frans‑Nederlandse Maatschappij voor Biologische Producten, 272/80, EU:C:1981:312, Rn. 9, und vom 30. April 2020, CTT – Correios de Portugal, C‑661/18, EU:C:2020:335, Rn. 28). 53 Insoweit ist es Sache der innerstaatlichen Gerichte, unter Berücksichtigung aller Vorschriften des nationalen Rechts und unter Anwendung der von diesem anerkannten Auslegungsmethoden diese Vorschriften im Einklang mit der Richtlinie 2008/115 auszulegen und dabei gegebenenfalls eine gefestigte Rechtsprechung abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen dieser Richtlinie unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2019, CCOO, C‑55/18, EU:C:2019:402, Rn. 69 und 70). 54 Hingegen ist nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht, sofern es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht, unangewendet zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und 61, sowie vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél‑alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 139). 55 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs entfaltet Art. 47 der Charta aus sich heraus Wirkung und muss nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 78, und vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél‑alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 140). 56 Das Gleiche gilt für Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, da die Merkmale des dort vorgesehenen Rechtsbehelfs im Einklang mit Art. 47 der Charta zu bestimmen sind, der den Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél‑alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 141). 57 Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass die belgischen Rechtsvorschriften einem Drittstaatsangehörigen, der sich in der in den Rn. 46 und 47 des vorliegenden Urteils beschriebenen Situation befindet, keinen Rechtsbehelf gegen die Rückkehrentscheidung bieten, der genauen, klaren und vorhersehbaren Regeln folgt und kraft Gesetzes die Aussetzung dieser Entscheidung nach sich zieht, hätte es daher die aufschiebende Wirkung der von diesem Drittstaatsangehörigen zur Aufhebung und Aussetzung der gegen ihn ergangenen Rückkehrentscheidung erhobenen Klage festzustellen, indem es nötigenfalls die nationalen Rechtsvorschriften, die ausschließen würden, dass diesem Rechtsbehelf eine solche Wirkung zukommen kann, unangewendet lässt (vgl. entsprechend Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 66, vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 77, und vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél‑alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 144). 58 Umgekehrt wäre das vorlegende Gericht für den Fall, dass es davon ausgehen sollte, dass es einen solchen Rechtsbehelf im belgischen Recht gebe und die betroffene Person davon keinen Gebrauch gemacht habe, obwohl dieser Rechtsbehelf kraft Gesetzes zur Aussetzung der gegen sie ergangenen Rückkehrentscheidung geführt hätte, nicht verpflichtet, die nationalen Verfahrensvorschriften unangewendet zu lassen, um festzustellen, dass die von dieser Person erhobene Klage auf Aufhebung und Aussetzung aufschiebende Wirkung hat. 59 Im Übrigen kann der Umstand, dass das vorlegende Gericht nach den belgischen Rechtsvorschriften für die Entscheidung über die Klage auf Aufhebung und Aussetzung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rückkehrentscheidung nicht zuständig ist, dieses Gericht nicht daran hindern, die Vorschriften des Unionsrechts unmittelbar anzuwenden, um über die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits erforderliche Vorfrage zu befinden, ob diese bei einem anderen Gericht erhobene Klage auf Aufhebung und Aussetzung nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 im Licht der Art. 19 und 47 der Charta möglicherweise kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung entfaltet. 60 Auch wenn das vorlegende Gericht in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht die Zuständigkeit zur Anordnung der Aussetzung einer Rückkehrentscheidung nach Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 auszuüben hat, die der belgische Gesetzgeber einem anderen Gericht zugewiesen hat, hat es doch allein zum Zweck der Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu prüfen, ob ein Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt, um mit einer aufschiebenden Wirkung ausgestattet zu sein, die kraft Gesetzes eintreten und somit von sämtlichen nationalen Behörden in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen, einschließlich der in Sozialhilfeangelegenheiten entscheidenden nationalen Gerichte, anerkannt werden muss. 61 Eine nationale Behörde, die in einem solchen Fall zu entscheiden hat, ist jedoch nicht notwendigerweise verpflichtet, aufgrund von Lücken in den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften davon auszugehen, dass jeder Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat, da, wie in Rn. 44 des vorliegenden Urteils ausgeführt, diese Art von Rechtsbehelf nach dem Unionsrecht nicht systematisch eine solche Wirkung entfaltet. 62 Folglich ist es Sache dieser Behörde, zu prüfen, ob die Voraussetzungen, von denen die Gewährleistung dieser Wirkung im Unionsrecht abhängt, in der bei ihr anhängigen Rechtssache je nach der Situation der betroffenen Person erfüllt sind. 63 Aus der in Rn. 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich allerdings, dass für Rechtsbehelfe gegen eine Rückkehrentscheidung, deren Vollstreckung einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen der „ernsthaften Gefahr“ einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen „könnte“, eine solche kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zwingend gewährleistet werden muss. 64 In diesem Zusammenhang ist eine nationale Behörde bei der Beurteilung, ob die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, gegen die sich ein Rechtsbehelf richtet, die betroffene Person einer solchen Gefahr aussetzen „könnte“, nicht aufgerufen, sich zu der Frage zu äußern, ob die Vollstreckung dieser Entscheidung tatsächlich diese Gefahr mit sich bringt. 65 Würde eine solche Lösung zugrunde gelegt, würden nämlich die Voraussetzungen für die Anwendung der kraft Gesetzes aufschiebenden Wirkung mit jenen verwechselt, von denen der Erfolg des Rechtsbehelfs gegen die Rückkehrentscheidung abhängt. Daraus würde zum einen folgen, dass die präventive Wirkung des gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelfs verkannt würde, und zum anderen, dass jede Behörde, die die Konsequenzen aus dieser aufschiebenden Wirkung zu ziehen hätte, in der Praxis selbst die Prüfung vornehmen müsste, die dem für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung zuständigen Gericht zukommt. 66 Daher muss sich eine solche Behörde darauf beschränken, zu prüfen, ob der Rechtsbehelf gegen die Rückkehrentscheidung ein Vorbringen zum Nachweis dessen, dass die Vollstreckung dieser Entscheidung einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen würde, enthält und dieses Vorbringen nicht offensichtlich unbegründet ist. Ist dies der Fall, muss sie davon ausgehen, dass die Rückkehrentscheidung ab Einlegung dieses Rechtsbehelfs kraft Gesetzes ausgesetzt ist, und daraus die Konsequenzen ziehen, die sich im Rahmen ihrer Zuständigkeit ergeben. 67 Diese Verpflichtung berührt nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten, die nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren festzulegen und in diesem Rahmen vorzusehen, dass eine Entscheidung über die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen eine Rückkehrentscheidung, die von einem für die Entscheidung über einen solchen Rechtsbehelf zuständigen Gericht erlassen wird, die Behörden und Gerichte bindet, die über die Garantien, die dem betreffenden Drittstaatsangehörigen im Bereich der Sozialhilfe zustehen, zu entscheiden haben. 68 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass ein nationales Gericht, das mit einem Rechtsstreit in Sozialhilfeangelegenheiten befasst ist, dessen Ausgang von einer etwaigen Aussetzung der Wirkungen einer gegen einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen ergangenen Rückkehrentscheidung abhängt, davon ausgehen muss, dass eine Klage auf Aufhebung und Aussetzung der Rückkehrentscheidung kraft Gesetzes zur Aussetzung dieser Entscheidung führt, auch wenn sich diese Aussetzung nicht aus der Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften ergibt, wenn – diese Klage ein Vorbringen zum Nachweis dessen, dass die Vollstreckung dieser Entscheidung den Drittstaatsangehörigen der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen würde, enthält und dieses Vorbringen nicht offensichtlich unbegründet ist und wenn – diese Rechtsvorschriften keinen anderen Rechtsbehelf vorsehen, der genauen, klaren und vorhersehbaren Regeln folgt und kraft Gesetzes die Aussetzung einer solchen Entscheidung nach sich zieht. Kosten 69 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sind im Licht von Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das mit einem Rechtsstreit in Sozialhilfeangelegenheiten befasst ist, dessen Ausgang von einer etwaigen Aussetzung der Wirkungen einer gegen einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen ergangenen Rückkehrentscheidung abhängt, davon ausgehen muss, dass eine Klage auf Aufhebung und Aussetzung der Rückkehrentscheidung kraft Gesetzes zur Aussetzung dieser Entscheidung führt, auch wenn sich diese Aussetzung nicht aus der Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften ergibt, wenn – diese Klage ein Vorbringen zum Nachweis dessen, dass die Vollstreckung dieser Entscheidung den Drittstaatsangehörigen der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen würde, enthält und dieses Vorbringen nicht offensichtlich unbegründet ist und wenn – diese Rechtsvorschriften keinen anderen Rechtsbehelf vorsehen, der genauen, klaren und vorhersehbaren Regeln folgt und der kraft Gesetzes die Aussetzung einer solchen Entscheidung nach sich zieht. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 30. September 2020.#LM gegen Centre public d'action sociale de Seraing.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour du travail de Liège.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Elternteil eines an einer schweren Krankheit leidenden volljährigen Kindes – Rückkehrentscheidung – Gerichtlicher Rechtsbehelf – Aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes – Garantien bis zur Rückkehr – Grundbedürfnisse – Art. 7, 19 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-402/19.
62019CJ0402
ECLI:EU:C:2020:759
2020-09-30T00:00:00
Gerichtshof, Pikamäe
62019CJ0402 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 30. September 2020 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Elternteil eines an einer schweren Krankheit leidenden volljährigen Kindes – Rückkehrentscheidung – Gerichtlicher Rechtsbehelf – Aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes – Garantien bis zur Rückkehr – Grundbedürfnisse – Art. 7, 19 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ In der Rechtssache C‑402/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour du travail de Liège (Arbeitsgerichtshof Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 17. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Mai 2019, in dem Verfahren LM gegen Centre public d’action sociale de Seraing erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie des Richters N. Jääskinen, Generalanwalt: P. Pikamäe, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und A. Azema als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. März 2020 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LM, einem Drittstaatsangehörigen, und dem Centre public d’action sociale de Seraing (Öffentliches Sozialhilfezentrum Seraing, Belgien) (im Folgenden: CPAS) wegen dessen Entscheidungen, mit denen LM die Sozialhilfe gestrichen wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Art. 3 der Richtlinie 2008/115 bestimmt: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke … 3. ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in – deren Herkunftsland oder – ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder – ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird; 4. ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird; 5. ‚Abschiebung‘: die Vollstreckung der Rückkehrverpflichtung, d. h. die tatsächliche Verbringung aus dem Mitgliedstaat“. 4 Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt: „Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise: … c) den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen, und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“ 5 Art. 8 Abs. 3 der genannten Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten können eine getrennte behördliche oder gerichtliche Entscheidung oder Maßnahme erlassen, mit der die Abschiebung angeordnet wird.“ 6 Art. 9 („Aufschub der Abschiebung“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf, a) wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde oder b) solange nach Artikel 13 Absatz 2 aufschiebende Wirkung besteht.“ 7 Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 lautet: „(1)   Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen. (2)   Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.“ 8 Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie lautet wie folgt: „Die Mitgliedstaaten stellen außer in Fällen nach Artikel 16 und 17 sicher, dass innerhalb der nach Artikel 7 für die freiwillige Ausreise gewährten Frist und der Fristen, während derer die Vollstreckung einer Abschiebung nach Artikel 9 aufgeschoben ist, die folgenden Grundsätze in Bezug auf Drittstaatsangehörige so weit wie möglich beachtet werden: a) Aufrechterhaltung der Familieneinheit mit den in demselben Hoheitsgebiet aufhältigen Familienangehörigen; b) Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten; c) Gewährleistung des Zugangs zum Grundbildungssystem für Minderjährige je nach Länge ihres Aufenthalts; d) Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen.“ Belgisches Recht 9 Art. 57 § 2 der Loi organique du 8 juillet 1976 des centres publics d’action sociale (Grundlagengesetz vom 8. Juli 1976 über die öffentlichen Sozialhilfezentren) bestimmt in seiner auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung: „Abweichend von den sonstigen Bestimmungen dieses Gesetzes beschränkt sich die Aufgabe des öffentlichen Sozialhilfezentrums auf: 1. die Gewährung dringender medizinischer Hilfe gegenüber einem Ausländer, der sich illegal im Königreich aufhält; …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 10 Am 20. August 2012 stellte LM für sich selbst und für R, seine damals minderjährige Tochter, Anträge auf Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen, weil R an mehreren schweren Krankheiten leide. 11 Da diese Anträge am 6. März 2013 für zulässig erklärt worden waren, erhielt LM Sozialhilfe, für die das CPAS aufzukommen hatte. 12 Die zuständige Behörde erließ nacheinander drei Entscheidungen über die Ablehnung der Anträge von LM auf Aufenthaltserlaubnis, die jeweils zurückgenommen wurden. Am 8. Februar 2016 erging eine vierte Entscheidung, mit der diese Anträge abgelehnt wurden. Diese Entscheidung war mit der Anweisung verbunden, das belgische Staatsgebiet zu verlassen. 13 Am 25. März 2016 erhob LM beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) Klage auf Aufhebung und Aussetzung dieser Entscheidung, mit der seine Anträge abgelehnt und die Anweisung, das Staatsgebiet zu verlassen, erteilt worden waren. 14 Das CPAS strich LM die Sozialhilfe ab dem 26. März 2016, dem Zeitpunkt, an dem die Frist für die freiwillige Ausreise ablief, die ihm in der Anweisung, das belgische Staatsgebiet zu verlassen, gewährt worden war. Das CPAS gewährte LM hingegen ab dem 22. März 2016 dringende medizinische Hilfe. 15 Infolge eines von LM vor dem Tribunal du travail de Liège (Arbeitsgericht Lüttich, Belgien) eingeleiteten Eilverfahrens wurden seine Ansprüche auf Sozialhilfe wiederhergestellt. 16 Mit zwei Entscheidungen vom 16. Mai 2017 entzog das CPAS diese Ansprüche auf Sozialhilfe ab dem 11. April 2017, dem Tag, an dem die Tochter von LM volljährig wurde. 17 LM erhob gegen diese Entscheidungen Klage beim Tribunal du travail de Liège (Arbeitsgericht Lüttich). Mit Urteil vom 16. April 2018 entschied dieses Gericht, der Entzug der Ansprüche auf Sozialhilfe sei ab dem Zeitpunkt, zu dem R volljährig geworden sei, rechtmäßig gewesen. 18 Am 22. Mai 2018 legte LM gegen dieses Urteil Berufung bei der Cour du travail de Liège (Arbeitsgerichtshof Lüttich, Belgien) ein. 19 Dieses Gericht stellt fest, dass die absehbare Verschlechterung des Gesundheitszustands von R im Fall ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland in allen Punkten dem Schweregrad zu entsprechen scheine, der erreicht werden müsse, um davon auszugehen, dass die Abschiebung für die Betroffene die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen würde. Zudem sei unter Berücksichtigung des Gesundheitszustands von R die Anwesenheit ihres Vaters an ihrer Seite weiterhin ebenso unabdingbar wie während ihrer Minderjährigkeit. 20 Unter diesen Umständen hat die Cour du travail de Liège (Arbeitsgerichtshof Lüttich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Verstößt Art. 57 § 2 Abs. 1 Nr. 1 der belgischen Loi du 8 juillet 1976 organique des centres publics d’action sociale (Grundlagengesetz vom 8. Juli 1976 über die öffentlichen Sozialhilfezentren) gegen die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Art. 14 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 und den Art. 7 und 12 der Charta der Grundrechte in ihrer Auslegung im Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida (C‑562/13, EU:C:2014:2453), – erstens, soweit er dazu führt, dass die im Rahmen des Möglichen erfolgende Befriedigung der Grundbedürfnisse eines Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, unterbleibt, während eine von ihm in seinem Namen und in seiner Eigenschaft als Vertreter seines damals noch minderjährigen Kindes erhobene Klage auf Aussetzung und Aufhebung einer Entscheidung anhängig ist, mit der sie zum Verlassen des Hoheitsgebiets eines Mitgliedstaats aufgefordert wurden, – zweitens, wenn zum einen das betreffende, mittlerweile volljährige Kind an einer schweren Krankheit leidet und sein Gesundheitszustand durch die Vollstreckung dieser Entscheidung der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung ausgesetzt sein könnte und zum anderen die Anwesenheit dieses Elternteils bei seinem volljährigen Kind wegen dessen Schutzbedürftigkeit, die sich aus seinem Gesundheitszustand (Sichelzellenanämie mit wiederholten Krisen und Erforderlichkeit eines chirurgischen Eingriffs zur Vermeidung einer Lähmung) ergibt, von den Ärzten für unabdingbar erachtet wird? Zur Vorlagefrage Zur Zulässigkeit 21 Die belgische Regierung macht geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, soweit es die Vereinbarkeit einer Regelung des belgischen Rechts mit mehreren Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) betreffe, da ihrer Ansicht nach kein Zusammenhang zwischen der Situation von LM und dem Unionsrecht bestehe. 22 LM habe daher keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Er werde nämlich nicht abgeschoben und befinde sich nicht in einer der in Art. 14 dieser Richtlinie genannten Situationen, da zum einen die ihm eingeräumte Frist für die freiwillige Ausreise abgelaufen sei und er sich zum anderen nicht in einem Zeitraum befinde, in dem die Abschiebung aufgeschoben worden sei. 23 Da LM nicht an einer schweren Krankheit leide, könne seine etwaige Abschiebung zudem keinen Verstoß gegen Art. 5 der Richtlinie in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Charta darstellen. Daher sei seine Situation nicht mit derjenigen in der Rechtssache vergleichbar, in der das Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida (C‑562/13, EU:C:2014:2453), ergangen sei. 24 Insoweit ist daran zu erinnern, dass das in Art. 267 AEUV errichtete System der Zusammenarbeit auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht. Im Rahmen eines gemäß diesem Artikel eingeleiteten Verfahrens ist die Auslegung der nationalen Vorschriften Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten und nicht des Gerichtshofs, und es kommt diesem nicht zu, sich zur Vereinbarkeit von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu äußern. Dagegen ist der Gerichtshof befugt, dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem Gericht ermöglichen, die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 1981, Frans-Nederlandse Maatschappij voor Biologische Producten, 272/80, EU:C:1981:312, Rn. 9, und vom 30. April 2020, CTT – Correios de Portugal, C‑661/18, EU:C:2020:335, Rn. 28). 25 Auch wenn sich der Gerichtshof nach dem Wortlaut der vom vorlegenden Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage zur Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht äußern soll, spricht daher nichts dagegen, dass der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort gibt, indem er ihm Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts liefert, anhand deren das Gericht selbst über die Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht entscheiden kann. Soweit die Vorlagefrage die Auslegung des Unionsrechts betrifft, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, über sie zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 2020, CTT – Correios de Portugal, C‑661/18, EU:C:2020:335, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 26 Im Übrigen ist festzustellen, dass mit der Vorlagefrage u. a. geklärt werden soll, ob Art. 14 der Richtlinie 2008/115 auf einen Drittstaatsangehörigen wie den Kläger des Ausgangsverfahrens anwendbar ist, auch wenn er nicht an einer schweren Krankheit leidet. Daher ist die Beurteilung des Vorbringens der belgischen Regierung, wonach die Situation von LM keinen Zusammenhang mit dem Unionsrecht aufweise, untrennbar mit der Antwort verbunden, die auf das Vorabentscheidungsersuchen zu geben ist, und kann folglich nicht zur Unzulässigkeit dieses Ersuchens führen (vgl. entsprechend Urteile vom 17. Januar 2019, KPMG Baltics, C‑639/17, EU:C:2019:31, Rn. 11, und vom 3. Dezember 2019, Iccrea Banca, C‑414/18, EU:C:2019:1036, Rn. 30). 27 Folglich ist die Vorlagefrage zulässig. Zur Beantwortung der Frage 28 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 5, 13 und 14 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7, Art. 19 Abs. 2 sowie den Art. 21 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die nicht vorsieht, dass die Grundbedürfnisse eines Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich befriedigt werden, wenn – dieser gegen eine gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung einen Rechtsbehelf eingelegt hat; – das volljährige Kind dieses Drittstaatsangehörigen an einer schweren Krankheit leidet; – die Anwesenheit des Drittstaatsangehörigen bei diesem volljährigen Kind für dieses unabdingbar ist und – im Namen des volljährigen Kindes gegen eine gegen dieses Kind ergangene Rückkehrentscheidung, deren Vollstreckung es der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, ein Rechtsbehelf eingelegt worden ist. 29 Art. 14 der Richtlinie 2008/115 sieht bestimmte Garantien bis zur Rückkehr vor, u. a. innerhalb der Fristen, während deren die Vollstreckung einer Abschiebung nach Art. 9 dieser Richtlinie aufgeschoben ist (Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 55). 30 Der Vorlageentscheidung ist zwar zu entnehmen, dass die belgischen Behörden über den Aufschub der Abschiebung des Klägers des Ausgangsverfahrens nicht förmlich entschieden haben, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch, dass die in Art. 9 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie enthaltene Verpflichtung des Aufschubs der Abschiebung für alle Situationen gilt, in denen ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung infolge der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung auszusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 57). 31 Daher müssen die in Art. 14 der Richtlinie 2008/115 aufgeführten Garantien bis zur Rückkehr in Fällen gewährleistet sein, in denen der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet ist, einem Drittstaatsangehörigen einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen eine gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung zu bieten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 53 und 58). 32 Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist daher zu prüfen, ob dem Vater eines schwer erkrankten volljährigen Kindes, dessen Anwesenheit bei diesem volljährigen Kind unabdingbar ist, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens ein solcher Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung eröffnet sein muss. 33 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass ein Drittstaatsangehöriger nach Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 über einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung verfügen muss, dieser Rechtsbehelf aber nicht notwendigerweise aufschiebende Wirkung hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 43 und 44). 34 Die Merkmale dieses Rechtsbehelfs sind jedoch im Einklang mit Art. 47 der Charta, wonach jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, sowie im Einklang mit dem Grundsatz der Nichtzurückweisung, der insbesondere in Art. 19 Abs. 2 der Charta und in Art. 5 der Richtlinie 2008/115 gewährleistet ist, zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 45 und 46, sowie vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 52 und 53). 35 Der Gerichtshof hat aus den vorstehenden Überlegungen abgeleitet, dass der gegen eine Rückkehrentscheidung eingelegte Rechtsbehelf kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung haben muss, damit gegenüber dem betreffenden Drittstaatsangehörigen die Einhaltung der sich aus dem Grundsatz der Nichtzurückweisung und Art. 47 der Charta ergebenden Anforderungen gewährleistet ist, da der Drittstaatsangehörige durch die Vollstreckung dieser Entscheidung insbesondere tatsächlich der Gefahr einer gegen Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßenden Behandlung ausgesetzt sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 56). 36 Dies ist zumal dann der Fall, wenn die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung einen an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 53). 37 Dagegen ist festzustellen, dass der Elternteil eines solchen Drittstaatsangehörigen nicht allein aufgrund dieser Eigenschaft unmittelbar Gefahr läuft, im Fall der Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung eine gegen Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßende Behandlung zu erleiden. 38 Es ist jedoch hervorzuheben, dass die Verpflichtung, in bestimmten Fällen einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen einen kraft Gesetzes mit aufschiebender Wirkung ausgestatteten Rechtsbehelf gegen die ihn betreffende Rückkehrentscheidung zu gewährleisten, letztlich sicherstellen soll, dass diese Entscheidung nicht vollstreckt wird, bevor das zur Stützung dieses Rechtsbehelfs geltend gemachte Vorbringen von einer zuständigen Behörde geprüft wurde, weil diese Vollstreckung die Rückkehr in einen Drittstaat bedeuten würde, in dem der Drittstaatsangehörige Gefahr läuft, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erleiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 49 und 50). 39 Diese Verpflichtung soll es der betroffenen Person somit ermöglichen, sich vorübergehend im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen hat, aufzuhalten. 40 Wenn diese Person aufgrund ihres Gesundheitszustands allerdings völlig auf einen Elternteil angewiesen ist, dessen Anwesenheit an ihrer Seite unabdingbar ist, könnte die Vollstreckung einer gegen diesen Elternteil ergangenen Rückkehrentscheidung, soweit sie dessen sofortige Ausreise in einen Drittstaat bedeuten würde, diese Person faktisch daran hindern, sich vorübergehend im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufzuhalten. 41 Würde die Vollstreckung einer solchen Rückkehrentscheidung zugelassen, bevor das auf die Lage dieses Kindes gestützte Vorbringen von einer zuständigen Behörde geprüft wurde, bestünde daher die Gefahr, dass diesem Kind in der Praxis der Schutz entzogen würde, der ihm nach den Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta zu gewähren ist. Um die Wirksamkeit dieses Schutzes zu gewährleisten, muss daher dem Elternteil dieses Kindes nach diesen Bestimmungen ein Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen die gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung zustehen. 42 Der Umstand, dass das betreffende Kind zum Zeitpunkt des Erlasses der Rückkehrentscheidung gegen seinen Elternteil volljährig war oder während des Verfahrens volljährig wurde, ist in diesem Zusammenhang unerheblich, sofern erwiesen ist, dass dieses Kind trotz seiner Volljährigkeit weiterhin auf seinen Elternteil angewiesen ist. 43 Da die belgische Regierung geltend macht, dass ein Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung jedenfalls nur gegen eine Abschiebungsentscheidung und nicht gegen eine Rückkehrentscheidung gewährleistet werden müsse, ist zudem klarzustellen, dass der gerichtliche Rechtsschutz, der einem Drittstaatsangehörigen gewährt wird, gegen den eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, deren Vollstreckung ihn der tatsächlichen Gefahr aussetzen könnte, eine gegen Art. 19 Abs. 2 der Charta verstoßende Behandlung zu erleiden, unzureichend wäre, wenn dieser Drittstaatsangehörige nicht über einen solchen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen diese Entscheidung ab deren Zustellung verfügen würde. 44 Zum einen ergibt sich nämlich aus Art. 3 Nrn. 3 bis 5 der Richtlinie 2008/115, dass mit einer Rückkehrentscheidung dem Drittstaatsangehörigen, auf den sie sich bezieht, definitionsgemäß eine Rückkehrverpflichtung in einen Drittstaat auferlegt oder eine solche festgestellt wird, während der Begriff „Abschiebung“ die tatsächliche Verbringung dieses Drittstaatsangehörigen aus dem betreffenden Mitgliedstaat bezeichnet. 45 Selbst in einem Mitgliedstaat, in dem nach Art. 8 Abs. 3 dieser Richtlinie nach der Rückkehrentscheidung eine gesonderte Maßnahme erlassen wird, mit der die Abschiebung angeordnet wird, hat die Rückkehrentscheidung als solche daher zur Folge, dass es dem betreffenden Drittstaatsangehörigen verwehrt ist, sich bis zur Prüfung des Vorbringens, das zur Stützung des gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelfs geltend gemacht wird, vorübergehend im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufzuhalten. Zur Erreichung des in Rn. 39 des vorliegenden Urteils dargestellten Ziels ist es folglich erforderlich, die Aussetzung der Rückkehrentscheidung zu gewährleisten, die durch eine Aussetzung der möglicherweise später erlassenen Abschiebungsentscheidung nicht wirksam ersetzt werden kann. 46 Zum anderen zeigt der vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich hergestellte Zusammenhang zwischen Art. 9 Abs. 1 Buchst. b, Art. 13 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115, dass die letztgenannte Bestimmung insbesondere den Zweck hat, Drittstaatsangehörigen Mindestgarantien während eines Zeitraums zu bieten, in dem die Erfüllung der ihnen gegenüber ausgesprochenen Rückkehrverpflichtung zwingend aufgeschoben werden muss. 47 Die von der belgischen Regierung vorgeschlagene Lösung würde es den Mitgliedstaaten jedoch im Gegenteil ermöglichen, solche Garantien nur in den Fällen zu bieten, in denen neben der Rückkehrentscheidung eine Abschiebungsentscheidung ergangen ist. So könnten die zuständigen Behörden die Gewährung dieser Garantien nach ihrem Ermessen dadurch verzögern, dass sie keine Abschiebungsentscheidung erlassen. 48 Der Gerichtshof hat im Übrigen in Rn. 56 des Urteils vom 19. Juni 2018, Gnandi (C‑181/16, EU:C:2018:465), klargestellt, dass die Verpflichtung, in bestimmten Fällen einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen eine Rückkehrentscheidung vorzusehen, erst recht bei einer etwaigen Abschiebungsentscheidung gilt, und somit entschieden, dass sich diese Verpflichtung nicht auf diesen letzteren Entscheidungstypus beschränkt. 49 Was ferner das Vorbringen der belgischen Regierung betrifft, mit dem dargetan werden soll, dass die belgischen Rechtsvorschriften über Rechtsbehelfe gegen Rückkehrentscheidungen unionsrechtskonform seien, ist darauf hinzuweisen, dass es nach der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen eines nach Art. 267 AEUV eingeleiteten Verfahrens nicht dem Gerichtshof zukommt, sich zur Vereinbarkeit von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu äußern. 50 Nach alledem müssen einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil eines schwer erkrankten, auf ihn angewiesenen volljährigen Kindes ist und gegen den eine Rückkehrentscheidung ergeht, deren Vollstreckung dieses volljährige Kind der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, die in Art. 14 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Garantien bis zur Rückkehr gewährt werden. 51 Im Rahmen dieser Garantien müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a, b und d dieser Richtlinie so weit wie möglich die Aufrechterhaltung der Familieneinheit mit den in demselben Hoheitsgebiet aufhältigen Familienangehörigen, die Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten sowie die Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen sicherstellen. 52 Die Einhaltung dieser Grundsätze setzt voraus, dass die Grundbedürfnisse eines Drittstaatsangehörigen wie des Klägers des Ausgangsverfahrens befriedigt werden, andernfalls wäre dieser Kläger, wie das vorlegende Gericht betont und der Generalanwalt in Nr. 93 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht in der Lage, bei seinem volljährigen Kind in dem Zeitraum, in dem es diesem erlaubt ist, sich vorübergehend im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufzuhalten, zu bleiben und ihm die nötige Unterstützung zu gewähren (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 60). 53 Diese Verpflichtung gilt jedoch nur dann, wenn dieser Drittstaatsangehörige über keine Mittel verfügt, um selbst für die Befriedigung seiner Bedürfnisse sorgen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 59). 54 Zudem ist es Sache der Mitgliedstaaten, festzulegen, in welcher Form diese Befriedigung der Grundbedürfnisse des betroffenen Drittstaatsangehörigen zu erfolgen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Abdida, C‑562/13, EU:C:2014:2453, Rn. 61). Folglich kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Befriedigung der Grundbedürfnisse die Form einer Sozialhilfe annehmen kann, die dem volljährigen Kind unmittelbar gewährt wird, sofern sie geeignet und ausreichend ist, um die Befriedigung der Grundbedürfnisse sicherzustellen und es dem Elternteil dieses Kindes zu ermöglichen, ihm die erforderliche Unterstützung zu gewähren, was gegebenenfalls vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist. 55 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 5, 13 und 14 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 7, Art. 19 Abs. 2 sowie den Art. 21 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die nicht vorsieht, dass die Grundbedürfnisse eines Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich befriedigt werden, wenn – dieser gegen eine gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung einen Rechtsbehelf eingelegt hat; – das volljährige Kind des Drittstaatsangehörigen an einer schweren Krankheit leidet; – die Anwesenheit des Drittstaatsangehörigen bei dem volljährigen Kind für dieses unabdingbar ist; – im Namen des volljährigen Kindes gegen die gegen dieses Kind ergangene Rückkehrentscheidung, deren Vollstreckung es der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, ein Rechtsbehelf eingelegt worden ist und – der Drittstaatsangehörige über keine Mittel verfügt, um selbst für die Befriedigung seiner Bedürfnisse sorgen zu können. Kosten 56 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Die Art. 5, 13 und 14 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit Art. 7, Art. 19 Abs. 2 sowie den Art. 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die nicht vorsieht, dass die Grundbedürfnisse eines Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich befriedigt werden, wenn – dieser gegen eine gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung einen Rechtsbehelf eingelegt hat; – das volljährige Kind dieses Drittstaatsangehörigen an einer schweren Krankheit leidet; – die Anwesenheit des Drittstaatsangehörigen bei dem volljährigen Kind für dieses unabdingbar ist; – im Namen des volljährigen Kindes gegen eine gegen dieses Kind ergangene Rückkehrentscheidung, deren Vollstreckung es der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, ein Rechtsbehelf eingelegt worden ist und – der Drittstaatsangehörige über keine Mittel verfügt, um selbst für die Befriedigung seiner Bedürfnisse sorgen zu können. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 23. September 2020.#BASF AS gegen Europäische Kommission.#Humanarzneimittel – Genehmigung für das Inverkehrbringen von Humanarzneimitteln, die Omega-3-Säurenethylester enthalten – Änderung der Bedingungen einer Genehmigung – Art. 116 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83/EG – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T-472/19.
62019TJ0472
ECLI:EU:T:2020:432
2020-09-23T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62019TJ0472 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62019TJ0472 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62019TJ0472 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Beschluss des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 2. Juli 2020.#S.A.D. Maler und Anstreicher OG gegen Magistrat der Stadt Wien und Bauarbeiter Urlaubs- und Abfertigungskasse.#Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wien.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Art. 267 AEUV – Zulässigkeit – Nationale Vorschriften über die Verteilung der Rechtssachen in einem Gericht – Rechtsbehelf – Auslegung, die für den Erlass des Urteils durch das vorlegende Gericht erforderlich ist – Offensichtliche Unzulässigkeit.#Rechtssache C-256/19.
62019CO0256
ECLI:EU:C:2020:523
2020-07-02T00:00:00
Bobek, Gerichtshof
62019CO0256 BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer) 2. Juli 2020 (*1) [Text berichtigt durch Beschluss vom 3. September 2020] „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Art. 267 AEUV – Zulässigkeit – Nationale Vorschriften über die Verteilung der Rechtssachen in einem Gericht – Rechtsbehelf – Auslegung, die für den Erlass des Urteils durch das vorlegende Gericht erforderlich ist – Offensichtliche Unzulässigkeit“ In der Rechtssache C‑256/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 27. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 26. März 2019, in dem Verfahren S.A.D. Maler und Anstreicher OG, Beteiligte: Magistrat der Stadt Wien, Bauarbeiter Urlaubs- und Abfertigungskasse, erlässt DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis (Berichterstatter) sowie der Richter M. Ilešič und C. Lycourgos, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: A. Calot Escobar, [Berichtigt durch Beschluss vom 3. September 2020] aufgrund des schriftlichen Verfahrens, [Berichtigt durch Beschluss vom 3. September 2020] unter Berücksichtigung der Erklärungen – der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll, M. Augustin und C. Drexel als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk und H. Shev als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Van Nuffel und F. Erlbacher als Bevollmächtigte, aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, folgenden Beschluss 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie des Grundsatzes der Effektivität. 2 Es ergeht im Rahmen eines von der S.A.D. Maler und Anstreicher OG (im Folgenden: Maler) eingeleiteten Verfahrens betreffend die Rechtmäßigkeit eines Bescheids, der Maler zur Zahlung von gesetzlich normierten Beiträgen verpflichtet. Rechtlicher Rahmen 3 Nach Art. 83 des Bundes-Verfassungsgesetzes (im Folgenden: B-VG) sind die Organisation und die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte durch Bundesgesetz zu regeln und darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. 4 Art. 87 B-VG lautet: „(1)   Die Richter sind in Ausübung ihres richterlichen Amtes unabhängig. (2)   In Ausübung seines richterlichen Amtes befindet sich ein Richter bei Besorgung aller ihm nach dem Gesetz und der Geschäftsverteilung zustehenden gerichtlichen Geschäfte, mit Ausschluss der Justizverwaltungssachen, die nicht nach Vorschrift des Gesetzes durch Senate oder Kommissionen zu erledigen sind. (3)   Die Geschäfte sind auf die Richter des ordentlichen Gerichtes für die durch Bundesgesetz bestimmte Zeit im Voraus zu verteilen. Eine nach dieser Geschäftsverteilung einem Richter zufallende Sache darf ihm nur durch Verfügung des durch Bundesgesetz hiezu berufenen Senates und nur im Fall seiner Verhinderung oder dann abgenommen werden, wenn er wegen des Umfangs seiner Aufgaben an deren Erledigung innerhalb einer angemessenen Frist gehindert ist.“ 5 Nach Art. 135 Abs. 2 B-VG sind die vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) zu besorgenden Geschäfte für die gesetzlich bestimmte Zeit im Voraus zu verteilen. Nach Art. 18 des Gesetzes über das Verwaltungsgericht Wien entspricht diese Zeit dem Kalenderjahr. 6 Nach Art. 135 Abs. 3 B-VG darf eine nach der Geschäftsverteilung einem Mitglied des Verwaltungsgerichts Wien zufallende Sache ihm nur durch das nach der Geschäftsverteilung zuständige Organ und nur im Fall seiner Verhinderung oder dann abgenommen werden, wenn das Mitglied wegen des Umfangs seiner Aufgaben an deren Erledigung innerhalb einer angemessenen Frist gehindert ist. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 7 Maler, ein Malerunternehmen, wurde durch zwei Bescheide der Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungskasse (im Folgenden: BUAK) zur Zahlung von gesetzlich normierten Beiträgen nach dem Bauarbeiter-Urlaubs- und Abfertigungsgesetz (BGBl. 414/1972) in der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgebenden Fassung (im Folgenden: BUAG) verpflichtet. 8 Mit diesem Gesetz wurde die BUAK errichtet, eine Körperschaft öffentlichen Rechts, der die Einhebung der Mittel für die Befriedigung von Ansprüchen nach dem BUAG obliegt. Sie ist für die Verwaltung und Auszahlung der Urlaubsentgelte für Bauarbeiter zuständig. 9 Da Maler diese Beiträge nicht gezahlt hatte, stellte die BUAK gegen sie zwei Rückstandsausweise aus. Maler brachte einen Einspruch beim Magistrat der Stadt Wien (Österreich) ein, der die Rückstandsausweise mit Bescheid vom 19. Juni 2018 bestätigte. Daraufhin wandte sich Maler mit einer Beschwerde gegen diesen Bescheid an das Verwaltungsgericht Wien. Das Unternehmen macht vor diesem Gericht geltend, dass sein Personal nicht in den Anwendungsbereich dieses Gesetzes falle und es deshalb nicht verpflichtet sei, die von der BUAK festgesetzten Zuschläge und Nebengebühren zu zahlen. 10 Das vorlegende Gericht, das als Einzelrichter tagt (im Folgenden: vorlegender Richter), führt aus, dass die BUAK die nach österreichischem Recht vorgesehene Garantieeinrichtung sei, um den Arbeitnehmern den Schutz zu gewährleisten, der sich aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) ergebe, wonach die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen hätten, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhalte, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen seien. 11 Am 26. Juli 2018 wurde das Ausgangsverfahren beim Verwaltungsgericht Wien unter einer einzigen Gerichtszahl eingetragen und dem vorlegenden Richter zugeteilt. 12 Der vorlegende Richter führt aus, dass der Magistrat der Stadt Wien die beiden von Maler zu verschiedenen Zeitpunkten gegen die von der BUAK ausgestellten Rückstandsausweise, mit denen gegen Maler Forderungen der BUAK geltend gemacht worden seien, eingelegten Einsprüche mit Bescheid vom 19. Juni 2018 abgewiesen habe. 13 Obwohl der vorlegende Richter formell nur mit einer Beschwerde gegen einen Bescheid befasst worden sei, sei in Wirklichkeit davon auszugehen, dass zwei Beschwerden gegen zwei verschiedene Bescheide eingereicht worden seien. Die Einlaufstelle des Verwaltungsgerichts Wien habe jedoch zwei Beschwerden als eine einzige Beschwerde eingetragen. Die im Voraus bestimmte feste Geschäftsverteilung innerhalb des Verwaltungsgerichts Wien sei verletzt worden, da durch die Eintragung von zwei verschiedenen Rechtsmitteln unter einer einzigen Gerichtszahl gegen die Regel über die Zuweisung der Rechtssachen verstoßen worden sei, die – wenn sie korrekt durchgeführt worden wäre – zu der Zuweisung der beiden Beschwerden an zwei verschiedene Richter geführt hätte. 14 Der vorlegende Richter gibt an, dass er die Einlaufstelle seines Gerichts über diesen „Irrtum“ informiert habe. 15 Am 31. Juli 2018 registrierte die Einlaufstelle die von Maler erhobene Beschwerde unter einer zweiten Gerichtszahl, soweit diese Beschwerde gegen einen anderen Spruchpunkt des Bescheids vom 19. Juni 2018 gerichtet sei. Diese zweite Rechtssache wurde jedoch erneut demselben Richter, nämlich dem vorlegenden Richter, zugewiesen. 16 Dieser legt dar, dass er am 3. August 2018 beim Präsidenten seines Gerichts eine „Unzuständigkeitseinrede“ eingelegt habe. Nach Ansicht des vorlegenden Richters hätte die Einlaufstelle die unter dieser zweiten Zahl eingetragene Rechtssache entsprechend der im Voraus bestimmten festen Geschäftsverteilung einem anderen Richter zuweisen müssen. 17 Nach Ansicht dieses Richters hat der Präsident des Gerichts dadurch, dass er die Einlaufstelle mündlich angewiesen habe, die ursprüngliche Zuweisung der ersten Rechtssache nicht zu ändern und die zweite Rechtssache mit ihr zu verbinden, gegen die Vorschriften über die im Voraus bestimmte feste Geschäftsverteilung verstoßen. 18 Der vorlegende Richter ist der Meinung, dass nur der Geschäftsverteilungsausschuss als Kollegialorgan befugt sei, eine solche Zuweisung vorzunehmen. 19 Der vorlegende Richter sei über diese „Vorgänge“ und die „versteckte“ Zuteilung der zweiten Rechtssache niemals unterrichtet worden. Gegen solch ein Vorgehen eines Gerichtspräsidenten sehe die österreichische Rechtsordnung kein Rechtsmittel vor. 20 Am 5. Oktober 2018 stellte der vorlegende Richter beim Präsidenten des Verwaltungsgerichts Wien als Vorsitzendem des Geschäftsverteilungsausschusses einen Antrag auf Feststellung, dass er zur Erledigung des Ausgangsverfahrens nicht zuständig sei. In diesem Antrag wies er ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs (Österreich) hin, wonach eine Entscheidung eines Richters, der unter Verletzung der innergerichtlichen Zuteilungsregelung für eine Rechtssache zuständig gemacht worden sei, als von einem unzuständigen Gerichtsorgan erlassen einzustufen sei. Der Verfassungsgerichtshof habe entschieden, dass eine solche Entscheidung gegen die Verfassungsbestimmungen des Art. 83 Abs. 2 B‑VG und gegen Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verstoße und daher verfassungswidrig sei. Zur Stützung dieses Antrags führte der vorlegende Richter weiter aus, dass er, wenn er eine verfassungswidrige Entscheidung treffe, mit dienstrechtlichen, disziplinarrechtlichen, strafrechtlichen und schadenersatzrechtlichen Sanktionen zu rechnen habe. Zudem sei er gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK verpflichtet, zu verhindern, dass eine verfassungswidrige Gerichtsentscheidung ergehe. 21 Mit Schreiben vom 10. Oktober 2018 teilte der Präsident des Gerichts, dem der vorlegende Richter angehört, diesem mit, dass er zur Erledigung des Ausgangsverfahrens zuständig und verpflichtet sei. In diesem Schreiben legte er dar, dass von der Beschwerde nur eine Verwaltungsentscheidung betroffen sei, so dass es sich auch nur um eine Rechtssache handle. 22 Da der vorlegende Richter dieses Schreiben als hoheitlichen Akt ansah, brachte er eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof (Österreich) ein. 23 Mit Beschluss vom 21. November 2018 wies der Verwaltungsgerichtshof die Revision im Wesentlichen mit der Begründung als unzulässig zurück, dass nur eine Verfahrenspartei vor einem Verwaltungsgericht ein subjektives Recht auf Schutz durch den gesetzlichen Richter geltend machen könne. Ein Mitglied des Verwaltungsgerichts könne hingegen durch eine fehlerhafte Zuteilung nicht in einem subjektiven Recht verletzt sein und sei folglich auch nicht befugt, eine Revision gegen eine solche Zuweisung zu erheben. 24 Dem vorlegenden Richter zufolge hat der Verwaltungsgerichtshof aber anerkannt, dass bei Zutreffen des Vorbringens dieses Richters die Gerichtsentscheidung, welche er als Richter im Ausgangsverfahren treffen würde, infolge seiner durch die rechtswidrige Zuweisung begründete Unzuständigkeit gegen die in Art. 83 Abs. 2 B‑VG verankerte Garantie des gesetzlichen Richters und gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen würde und dass diese Gerichtsentscheidung somit verfassungswidrig wäre. 25 Der vorlegende Richter ist weiter der Ansicht, dass bei den als Rechtsschutzinstanz im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK gesetzlich eingerichteten Gerichten die eingereichten Rechtssachen vor einer Zuteilung durch eine feste Geschäftsverteilung im Voraus bestimmt sein müssten, andernfalls werde gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßen. 26 Hierzu führt der vorlegende Richter aus, dass zum einen eine gegen die im Voraus bestimmte feste Geschäftsverteilung verstoßende Zuteilung einer Rechtssache an einen Richter nach österreichischem Recht nicht angefochten werden könne, so dass dieser Richter verpflichtet sei, wissentlich eine Entscheidung zu erlassen, die die nach Art. 6 Abs. 1 EMRK vorgesehenen Rechte der Parteien verletze, oder keine Entscheidung zu erlassen und auf diese Weise die Rechte der Parteien nach dieser Bestimmung zu verletzen. Zum anderen werde den Parteien nach österreichischem Recht aufgrund ihrer mangelnden Kenntnis der oft rein internen Unregelmäßigkeiten und Vorgänge, die eine Verletzung der im Voraus bestimmten festen Geschäftsverteilung darstellten, unter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK eine wirksame Garantie für ihre Rechte vorenthalten. 27 Seiner Ansicht nach erweckt die in Rede stehende österreichische Rechtslage ernsthafte Zweifel an der garantierten Unparteilichkeit von Richtern. Eine Partei könne nämlich die Unzuständigkeit eines Richters nicht geltend machen, bevor die Gerichtsentscheidung erlassen worden sei. Außerdem sei der mit einer Rechtssache befasste Richter verpflichtet, trotz seiner Unzuständigkeit zu entscheiden. Die österreichische Rechtslage verwehre damit sowohl dem zuständigen Richter als auch den Verfahrensparteien, vor Erlass einer Entscheidung geltend zu machen, dass diese wegen eines rechtswidrigen Eingriffs in die innergerichtliche Geschäftsverteilung des betreffenden Gerichts gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoße, wie es in der bei ihm anhängigen Rechtssache der Fall sei. 28 Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Wien beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta wie auch der Effektivitätsgrundsatz zumindest im Hinblick auf eine nationale Rechtsordnung, welche zum Zwecke der Absicherung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte in ihrer Verfassung ein Grundrecht auf die richterliche Geschäftszuteilung nach einer im Voraus nach allgemeinen Regeln bestimmten festen Geschäftsverteilung festschreibt, dahin gehend auszulegen, dass der Gesetzgeber sicherstellen muss, dass diese grundrechtliche Garantie effektiv und nicht bloß theoretisch ist? a) Zusatzfrage: im Fall der Verneinung der Frage 1: Gebieten Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta wie auch der Effektivitätsgrundsatz in einer das Grundrecht der festen Geschäftsverteilung in der Verfassung verankert habenden nationalen Rechtsordnung irgendwelche Gewährleistungspflichten des Gesetzgebers und, wenn ja, welche? b) Zusatzfragen: im Fall der Bejahung der Frage 1: Gebieten Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta wie auch der Effektivitätsgrundsatz zumindest hinsichtlich einer das Grundrecht der festen Geschäftsverteilung in der Verfassung verankert habenden nationalen Rechtsordnung – die Nichtbeachtung einer die Aktenzuweisung an einen Richter betreffenden Anweisung bzw. Handlung durch ein nach dem Gesetz zu dieser Anweisung bzw. Handlung unzuständiges Organ; – dass die innergerichtliche Geschäftsordnung einem mit der Zuteilung von Gerichtsakten befassten Organ, wenn überhaupt, dann nur ein bereits im Voraus bestimmter enger Ermessensspielraum im Hinblick auf die Zuteilungsentscheidung eingeräumt werden darf? 2. a) Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta wie auch der Effektivitätsgrundsatz zumindest im Hinblick auf eine nationale Rechtsordnung, welche zum Zwecke der Absicherung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte in ihrer Verfassung ein Grundrecht auf die richterliche Geschäftszuteilung nach einer im Voraus nach allgemeinen Regeln bestimmten festen Geschäftsverteilung festschreibt, dahin gehend auszulegen, dass ein Richter, welcher Bedenken 1) gegen die Rechtmäßigkeit einer innergerichtlichen Geschäftsverteilung bzw. 2) gegen die Rechtmäßigkeit einer eine innergerichtliche Geschäftsverteilung vollziehenden innergerichtlichen, die Tätigkeit dieses Richters unmittelbar tangierenden Entscheidung (insbesondere Geschäftssachenzuweisungsentscheidung) hat, im Hinblick auf dieses Bedenken ein (diesen Richter insbesondere nicht finanziell belastendes) Rechtsmittel an ein anderes Gericht erheben können muss, welches über die volle Kognition zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des als rechtswidrig eingestuften Rechtsakts verfügt? b) Verneinendenfalls: Gibt es irgendwelche andere vom Gesetzgeber zu gewährleistende Vorgaben, die sicherstellen, dass ein Richter in die Lage versetzt ist, die Rechtmäßigkeit der Einhaltung der ihn betreffenden gesetzlichen Vorgaben der Beachtung der gesetzlichen (insbesondere innergerichtlichen) Vorgaben der Geschäftszuteilung zu erreichen? 3. a) Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta wie auch der Effektivitätsgrundsatz zumindest im Hinblick auf eine nationalen Rechtsordnung, welche zum Zwecke der Absicherung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte in ihrer Verfassung ein Grundrecht auf die richterliche Geschäftszuteilung nach einer im Voraus nach allgemeinen Regeln bestimmten festen Geschäftsverteilung festschreibt, dahin gehend auszulegen, dass eine Partei eines Gerichtsverfahrens, welche Bedenken 1) gegen die Rechtmäßigkeit einer für die Erledigung ihres Verfahrens präjudiziellen Bestimmung der innergerichtlichen Geschäftsverteilung bzw. 2) gegen die Rechtmäßigkeit der Zuweisung dieses Verfahrens an einen bestimmten Richter hat, noch vor der Erlassung der Gerichtsentscheidung im Hinblick auf dieses Bedenken ein (diese Partei finanziell nicht übermäßig belastendes) Rechtsmittel an ein anderes Gericht erheben können muss, welches über die volle Kognition zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des als rechtswidrig eingestuften Rechtsakts verfügt? b) Verneinendenfalls: Gibt es irgendwelche andere vom Gesetzgeber zu gewährleistende Vorgaben, die sicherstellen, dass eine Partei noch vor Erlassung der Gerichtsentscheidung in die Lage versetzt ist, die Rechtmäßigkeit der Einhaltung deren Grundrechts auf Beachtung des „gesetzlichen Richters“ zu erreichen? 4. a) Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta wie auch der Effektivitätsgrundsatz zumindest im Hinblick auf eine nationale Rechtsordnung, welche zum Zwecke der Absicherung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte in ihrer Verfassung ein Grundrecht auf die richterliche Geschäftszuteilung nach einer im Voraus nach allgemeinen Regeln bestimmten festen Geschäftsverteilung festschreibt, dahin gehend auszulegen, dass die gerichtsinterne Geschäftsverteilung und die gerichtsinterne Akteneinlaufsdokumentation derart transparent und nachvollziehbar gestaltet sind, dass der Richter bzw. eine Partei ohne besonderen Aufwand in die Lage versetzt ist, die Übereinstimmung der konkreten Aktenzuteilung zu einem Richter bzw. einem bestimmten Richtersenat mit den Vorgaben der innergerichtlichen Geschäftseinteilung zu überprüfen? b) Verneinendenfalls: Gibt es irgendwelche andere vom Gesetzgeber zu gewährleistende Vorgaben, die sicherstellen, dass ein Richter bzw. eine Partei in die Lage versetzt ist, sich Kenntnis von der Rechtmäßigkeit einer bestimmten Gerichtssachenzuteilung verschaffen zu können? 5. a) Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta wie auch der Effektivitätsgrundsatz zumindest im Hinblick auf eine nationalen Rechtsordnung, welche zum Zwecke der Absicherung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte in ihrer Verfassung ein Grundrecht auf die richterliche Geschäftszuteilung nach einer im Voraus nach allgemeinen Regeln bestimmten festen Geschäftsverteilung festschreibt, dahin gehend auszulegen, dass die Verfahrensparteien und der Richter eines Gerichtsverfahrens ohne besonderes eigenes Zutun in die Lage versetzt sein müssen, die Regelungen der Geschäftsverteilung inhaltlich nachzuvollziehen, sowie dass die Verfahrensparteien und der Richter auf diese Weise in der Lage sein müssen, die Rechtmäßigkeit der erfolgten Zuteilung der Geschäftssache zu einem Richter bzw. bestimmten Richtersenat zu überprüfen? b) Verneinendenfalls: Gibt es irgendwelche andere vom Gesetzgeber zu gewährleistende Vorgaben, die sicherstellen, dass ein Richter bzw. eine Partei in die Lage versetzt wird, sich Kenntnis von der Rechtmäßigkeit einer bestimmten Gerichtssachenzuteilung verschaffen zu können? 6. Welche Handlungspflichten treffen einen Richter in Anbetracht seiner unionsrechtlichen Verpflichtung zur Beachtung der unionsrechtlichen Verfahrensvorgaben, welcher durch einen von ihm nicht bekämpfbaren (außergerichtlichen oder innergerichtlichen) Rechtsakt zu einer gegen das Unionsrecht verstoßenden und Parteienrechte verletzenden Handlung verpflichtet wird? Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens 29 Nach Art. 53 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn er für die Entscheidung über eine Rechtssache offensichtlich unzuständig ist oder wenn ein Ersuchen oder eine Klage offensichtlich unzulässig ist, nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, ohne das Verfahren fortzusetzen. 30 Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden. 31 Was die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens angeht, die von der österreichischen Regierung in Abrede gestellt wird, ist im Hinblick auf die Bestimmungen der Charta zunächst darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der ihm übertragenen Zuständigkeiten prüfen kann (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Der Anwendungsbereich der Charta ist, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). 33 Im vorliegenden Fall ist speziell zu Art. 47 der Charta, auf den sich das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen bezieht, festzustellen, dass der Rechtsstreit, mit dem der vorlegende Richter befasst ist, im Wesentlichen die Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsentscheidung der BUAK betrifft, die ihm zufolge die nach österreichischem Recht vorgesehene Garantieeinrichtung ist, um den Arbeitnehmern den Schutz zu gewährleisten, der aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88 folgt. Der vorlegende Richter wirft jedoch weder eine Frage nach der Auslegung von Art. 7 auf, noch legt er die Gründe dar, aus denen diese Bestimmung für das Ausgangsverfahren relevant sein soll. Der bloße Umstand, dass sich die BUAK nach Ansicht des vorlegenden Richters aus diesem Art. 7 „ergibt“, kann nicht für die Annahme ausreichen, dass der Ausgangsrechtsstreit im Sinne der in Rn. 32 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung dem Unionsrecht unterliegt. 34 Aus dem Vorstehenden folgt, dass nichts die Annahme zulässt, dass der Ausgangsrechtsstreit die Auslegung oder Anwendung einer auf nationaler Ebene durchgeführten Vorschrift des Unionsrechts betrifft. Somit ist der Gerichtshof für die Auslegung von Art. 47 der Charta in der vorliegenden Rechtssache nicht zuständig. 35 Zweitens ist in Bezug auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen haben, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten müssen daher ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorsehen, mit dem in diesen Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist (Urteil vom 26 März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Was den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV anbelangt, ergibt sich zudem aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese Bestimmung die „vom Unionsrecht erfassten Bereiche“ betrifft, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 37 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist daher u. a. auf jede nationale Einrichtung anwendbar, die als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Dies trifft auf den vorlegenden Richter zu, der nämlich in seiner Eigenschaft als Mitglied eines österreichischen Gerichts zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein kann und als „Gericht“ im Sinne dieses Rechts Bestandteil des österreichischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist, so dass dieser Richter den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache für die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zuständig ist. 41 Was die von der österreichischen und der polnischen Regierung sowie von der Europäischen Kommission aufgeworfene Frage der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens angeht, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 43 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Es entspricht indessen auch ständiger Rechtsprechung, dass das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen. Die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt jedoch nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Der Gerichtshof hat daher wiederholt darauf hingewiesen, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren berücksichtigt werden kann (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 45 In einem solchen Verfahren muss daher ein Bezug zwischen dem fraglichen Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen, so dass diese Auslegung für die Entscheidung, die das nationale Gericht zu treffen hat, objektiv erforderlich ist (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass in der Sache das Ausgangsverfahren keinen Bezug zum Unionsrecht, insbesondere nicht zu dem in den Vorlagefragen herangezogenen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, aufweist und dass aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht hervorgeht, dass der vorlegende Richter das Unionsrecht oder diese Vorschrift anwenden muss, um daraus die in diesem Verfahren zu treffende Entscheidung in der Sache herzuleiten. Insoweit unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache u. a. von der dem Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), zugrunde liegenden Rechtssache, in der beim vorlegenden Gericht eine Klage auf Aufhebung von Verwaltungsakten anhängig war, mit denen die Bezüge der Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal) in Anwendung eines nationalen Gesetzes gekürzt wurden, das eine solche Kürzung vorsah und dessen Vereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vor diesem vorlegenden Gericht gerügt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Zweitens hat der Gerichtshof zwar bereits zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen für zulässig erklärt, die sich auf die Auslegung von Verfahrensvorschriften des Unionsrechts beziehen, die das betreffende vorlegende Gericht zum Erlass seines Urteils anwenden muss (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 17. Februar 2011, Weryński, C‑283/09, EU:C:2011:85, Rn. 41 und 42); um dergleichen geht es jedoch nicht in den Fragen, die im Rahmen der vorliegenden Rechtssache gestellt worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 50). 48 Drittens erscheint eine Antwort des Gerichtshofs auf diese Fragen auch nicht geeignet, dem nationalen Gericht eine Auslegung des Unionsrechts an die Hand zu geben, die es ihm ermöglicht, über Verfahrensfragen des nationalen Rechts zu entscheiden, bevor es in dem bei ihm anhängigen Verfahren in der Sache entscheiden kann. Darin unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache beispielsweise auch von den Rechtssachen, die dem Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982), zugrunde liegen, in denen die Auslegung im Rahmen der Vorabentscheidung, um die der Gerichtshof ersucht wurde, wie insbesondere den Rn. 100, 112 und 113 dieses Urteils zu entnehmen ist, geeignet war, die Frage der Bestimmung des für die Sachentscheidung von Rechtsstreitigkeiten, die das Unionsrecht betrafen, zuständigen Gerichts zu beeinflussen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Wie nämlich in den Rn. 14 bis 17 des vorliegenden Beschlusses dargelegt wurde, hat der vorlegende Richter zunächst im Wege einer internen „Beschwerde“ und dann im Wege eines gerichtlichen Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof sowie nach den Angaben der österreichischen Regierung vor dem Bundesverwaltungsgericht (Österreich) die Zuweisung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtssache angefochten, aber ohne Erfolg. Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht auch hervor, dass der vorlegende Richter im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht darüber entscheiden kann, ob ihm diese Rechtssache rechtmäßig zugewiesen worden ist, da die Frage eines angeblichen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Geschäftsverteilung innerhalb des vorlegenden Gerichts nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits ist und die Frage der Zuständigkeit des vorlegenden Richters im Fall eines Rechtsmittels jedenfalls gerichtlich von der höheren Instanz geprüft wird. 50 Unter diesen Umständen ergibt sich aus der Vorlageentscheidung nicht, dass zwischen der unionsrechtlichen Vorschrift, auf die sich die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen beziehen, und dem Ausgangsverfahren ein Bezug bestünde, aufgrund dessen die Auslegung, um die ersucht wird, erforderlich werden könnte, damit der vorlegende Richter entsprechend den aus einer solchen Auslegung zu ziehenden Erkenntnissen eine Entscheidung treffen könnte, deren es bedürfte, um über den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens zu befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Die genannten Fragen betreffen daher keine Auslegung des Unionsrechts, die für die Entscheidungsfindung in dem genannten Rechtsstreit objektiv erforderlich wäre, sondern sind allgemeiner Natur. 52 Was im Übrigen den Effektivitätsgrundsatz betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der vorlegende Richter den Gerichtshof zwar auch im Hinblick auf diesen Grundsatz befragt, dass aber seine Vorlageentscheidung keine Ausführungen dazu enthält und daher nicht die Gründe darlegt, aus denen eine Auslegung dieses Grundsatzes für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erforderlich sein soll. 53 Nach alledem ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen unzulässig. Kosten 54 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit im Rahmen des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) beschlossen: Das vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 27. Februar 2019 eingereichte Vorabentscheidungsersuchen ist unzulässig. Luxemburg, den 2. Juli 2020 Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident der Zehnten Kammer I. Jarukaitis (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 25. Juni 2020.#A u. a. gegen Gewestelijke stedenbouwkundige ambtenaar van het departement Ruimte Vlaanderen, afdeling Oost-Vlaanderen.#Vorabentscheidungsersuchen des Raad voor Vergunningsbetwistingen.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2001/42/EG – Prüfung der Umweltauswirkungen – Städtebauliche Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen – Art. 2 Buchst. a – Begriff ‚Pläne und Programme‘ – Durch einen Erlass und ein Rundschreiben aufgestellte Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung – Art. 3 Abs. 2 Buchst. a – Nationale Rechtsakte, durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung von Projekten gesetzt wird – Fehlende Umweltprüfung – Aufrechterhaltung der Wirkungen der nationalen Rechtsakte und der auf ihrer Grundlage erteilten Genehmigungen nach Feststellung der Unionsrechtswidrigkeit dieser Rechtsakte – Voraussetzungen.#Rechtssache C-24/19.
62019CJ0024
ECLI:EU:C:2020:503
2020-06-25T00:00:00
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0024 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 25. Juni 2020 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2001/42/EG – Prüfung der Umweltauswirkungen – Städtebauliche Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen – Art. 2 Buchst. a – Begriff ‚Pläne und Programme‘ – Durch einen Erlass und ein Rundschreiben aufgestellte Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung – Art. 3 Abs. 2 Buchst. a – Nationale Rechtsakte, durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung von Projekten gesetzt wird – Fehlende Umweltprüfung – Aufrechterhaltung der Wirkungen der nationalen Rechtsakte und der auf ihrer Grundlage erteilten Genehmigungen nach Feststellung der Unionsrechtswidrigkeit dieser Rechtsakte – Voraussetzungen“ In der Rechtssache C‑24/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad voor Vergunningsbetwistingen (Rat für Genehmigungsstreitigkeiten, Belgien) mit Entscheidung vom 4. Dezember 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Januar 2019, in dem Verfahren A u. a. gegen Gewestelijke stedenbouwkundige ambtenaar van het departement Ruimte Vlaanderen, afdeling Oost-Vlaanderen, Beteiligte: Organisatie voor Duurzame Energie Vlaanderen VZW, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan und I. Jarukaitis, der Richter E. Juhász, M. Ilešič, J. Malenovský und L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie der Richter F. Biltgen, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl, Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona, Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Dezember 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von A u. a., vertreten durch T. Swerts, W.‑J. Ingels und L. Nijs, advocaten, – der Organisatie voor Duurzame Energie Vlaanderen VZW, vertreten durch T. Malfait und V. McClelland, advocaten, – der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs und P. Cottin als Bevollmächtigte im Beistand von J. Vanpraet, advocaat, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, M. Gijzen und M. Noort als Bevollmächtigte, – der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Lavery als Bevollmächtigte im Beistand von R. Warren, QC, und D. Blundell, Barrister, – der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Manhaeve und M. Noll‑Ehlers als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. März 2020 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (ABl. 2001, L 197, S. 30). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A u. a. und dem Gewestelijke stedenbouwkundige ambtenaar van het departement Ruimte Vlaanderen, afdeling Oost-Vlaanderen (Regionaler Städtebaubeamter für den Raum Flandern, Abteilung Ost-Flandern, Belgien) wegen dessen Entscheidung, einem Stromerzeuger und ‑lieferanten eine städtebauliche Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von fünf Windkraftanlagen auf einem Grundstück zu erteilen, dessen Anrainer A u. a. sind. Rechtlicher Rahmen Internationales Recht 3 Das Übereinkommen über die Umweltverträglichkeitsprüfung im grenzüberschreitenden Rahmen, das am 26. Februar 1991 in Espoo (Finnland) unterzeichnet wurde (im Folgenden: Übereinkommen von Espoo), wurde am 24. Juni 1997 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt und trat am 10. September 1997 in Kraft. 4 Art. 2 Abs. 7 des Übereinkommens von Espoo lautet: „Als Mindestforderung sind die nach diesem Übereinkommen geforderten Umweltverträglichkeitsprüfungen in der Projektplanungsphase durchzuführen. In angemessenem Umfang werden die Parteien bestrebt sein, die Grundsätze der Umweltverträglichkeitsprüfung auf Maßnahmen, Pläne und Programme anzuwenden.“ Unionsrecht 5 Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/42 lautet: „Die Umweltprüfung ist ein wichtiges Werkzeug zur Einbeziehung von Umwelterwägungen bei der Ausarbeitung und Annahme bestimmter Pläne und Programme, die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt in den Mitgliedstaaten haben können. Denn sie gewährleistet, dass derartige Auswirkungen aus der Durchführung von Plänen und Programmen bei der Ausarbeitung und vor der Annahme berücksichtigt werden.“ 6 Art. 1 („Ziele“) dieser Richtlinie sieht vor: „Ziel dieser Richtlinie ist es, im Hinblick auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen und dazu beizutragen, dass Umwelterwägungen bei der Ausarbeitung und Annahme von Plänen und Programmen einbezogen werden, indem dafür gesorgt wird, dass bestimmte Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, entsprechend dieser Richtlinie einer Umweltprüfung unterzogen werden.“ 7 In Art. 2 der Richtlinie heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck a) ‚Pläne und Programme‘ Pläne und Programme, einschließlich der von der Europäischen Gemeinschaft mitfinanzierten, sowie deren Änderungen, – die von einer Behörde auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene ausgearbeitet und/oder angenommen werden oder die von einer Behörde für die Annahme durch das Parlament oder die Regierung im Wege eines Gesetzgebungsverfahrens ausgearbeitet werden und – die aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen; b) ‚Umweltprüfung‘ die Ausarbeitung eines Umweltberichts, die Durchführung von Konsultationen, die Berücksichtigung des Umweltberichts und der Ergebnisse der Konsultationen bei der Entscheidungsfindung und die Unterrichtung über die Entscheidung gemäß den Artikeln 4 bis 9; …“ 8 Art. 3 („Geltungsbereich“) der Richtlinie bestimmt: „(1)   Die unter die Absätze 2 bis 4 fallenden Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, werden einer Umweltprüfung nach den Artikeln 4 bis 9 unterzogen. (2)   Vorbehaltlich des Absatzes 3 wird eine Umweltprüfung bei allen Plänen und Programmen vorgenommen, a) die in den Bereichen Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei, Energie, Industrie, Verkehr, Abfallwirtschaft, Wasserwirtschaft, Telekommunikation, Fremdenverkehr, Raumordnung oder Bodennutzung ausgearbeitet werden und durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung der in den Anhängen I und II der Richtlinie 85/337/EWG [des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 1985, L 175, S. 40)] aufgeführten Projekte gesetzt wird … …“ 9 Die Richtlinie 85/337 wurde durch die Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S. 1) aufgehoben und ersetzt. 10 In Anhang II Nr. 3 Buchst. i der Richtlinie 2011/92 werden „Anlagen zur Nutzung von Windenergie zur Stromerzeugung (Windfarmen)“ angeführt. Belgisches Recht Vlarem II 11 Der Besluit van de Vlaamse regering houdende algemene en sectorale bepalingen inzake milieuhygiëne (Erlass der Flämischen Regierung zur Festlegung der allgemeinen und sektoriellen Bestimmungen im Bereich der Umwelthygiene) vom 1. Juni 1995 (Belgisch Staatsblad, 31. Juli 1995, S. 20526) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Vlarem II) wurde u. a. in Durchführung des Decreet van de Vlaamse Raad betreffende de milieuvergunning (Dekret des Flämischen Rates über die Umweltgenehmigung) vom 28. Juni 1985 (Belgisch Staatsblad, 17. September 1985, S. 13304) und des Decreet van de Vlaamse Raad houdende algemene bepalingen inzake milieubeleid (Dekret des Flämischen Rates zur Festlegung der allgemeinen Bestimmungen im Bereich der Umweltpolitik) vom 5. April 1995 (Belgisch Staatsblad, 3. Juni 1995, S. 15971) erlassen. Der Vlarem II enthält allgemeine und sektorielle Umweltbedingungen hinsichtlich schädlicher Einwirkungen und Gefahren, die bestimmte Anlagen und Tätigkeiten hervorrufen können, sowie hinsichtlich der Wiedergutmachung etwaiger durch deren Betrieb bzw. Vornahme verursachter Umweltschäden. 12 Durch Art. 99 des Besluit van de Vlaamse regering tot wijziging van het besluit van de Vlaamse regering van 6 februari 1991 houdende de vaststelling van het Vlaams reglement betreffende de milieuvergunning en van [Vlarem II], wat betreft de actualisatie van voormelde besluiten aan de evolutie van de techniek (Erlass der Flämischen Regierung zur Änderung des Erlasses der Flämischen Regierung vom 6. Februar 1991 zur Festlegung der Flämischen Regelungen betreffend die Umweltgenehmigung und des [Vlarem II] in Bezug auf die Anpassung dieser Erlasse an die Entwicklung der Technik) vom 23. Dezember 2011 (Belgisch Staatsblad, 21. März 2012, S. 16474) wurde dem Vlarem II ein Abschnitt 5.20.6 über Anlagen zur Stromerzeugung durch Windenergie hinzugefügt. 13 Dieser Abschnitt („Anlagen zur Stromerzeugung durch Windenergie“) enthält u. a. Bestimmungen über den Schattenwurf durch Rotorblätter (Beschränkung der hierdurch hervorgerufenen stroboskopischen Effekte), die Sicherheit der Windkraftanlagen (Vorhandensein bestimmter Warn‑ bzw. Erkennungssysteme und Abschaltautomatiken) und Lärm (Durchführung akustischer Messungen). 14 Zum Schattenwurf bestimmt Art. 5.20.6.2.1 des Vlarem II: „Befindet sich ein gegen Schattenwurf empfindliches Objekt im Umkreis der Windkraftanlage mit einer erwarteten Beschattungsdauer von vier Stunden pro Jahr, wird die Windkraftanlage mit einem automatischen Abschaltmodul ausgerüstet.“ 15 Art. 5.20.6.2.2 des Vlarem II verpflichtet den Betreiber, für jede Windkraftanlage ein Protokoll zu führen, darin bestimmte Daten zum Schattenwurf anzugeben sowie mindestens in den ersten beiden Betriebsjahren einen Kontrollbericht zu erstellen. 16 Art. 5.20.6.2.3 des Vlarem II lautet: „Für relevante gegen Schattenwurf empfindliche Objekte in Industriegebieten, mit Ausnahme von Wohngebäuden, gilt ein Maximum von 30 Stunden effektiven Schattenwurfs pro Jahr, mit einem Maximum von 30 Minuten effektiven Schattenwurfs pro Tag. Für relevante gegen Schattenwurf empfindliche Objekte in allen anderen Gebieten und für Wohngebäude in Industriegebieten gilt ein Maximum von acht Stunden effektiven Schattenwurfs pro Jahr, mit einem Maximum von 30 Minuten effektiven Schattenwurfs pro Tag.“ 17 Auf dem Gebiet der Sicherheit sieht Art. 5.20.6.3.1 des Vlarem II vor, dass alle Windkraftanlagen entsprechend den Sicherheitsanforderungen der Norm IEC61400 oder einer gleichwertigen Norm errichtet und zertifiziert werden müssen. Gemäß Art. 5.20.6.3.2 des Vlarem II müssen alle Windkraftanlagen mit Sicherheitseinrichtungen ausgestattet sein, die insbesondere aus einer Schutzeinrichtung gegen die Gefahren im Zusammenhang mit Vereisung und Blitzschlag, einem Hilfsbremssystem und einem Onlinekontrollsystem, das Unregelmäßigkeiten erkennt und sie an die Kontrolleinheit der Windkraftanlage übermittelt, bestehen. 18 In Bezug auf Lärm legt Art. 5.20.6.4.2 des Vlarem II Lärmgrenzwerte im Freien in der Nähe von Wohngebäuden fest: „Das spezifische Geräusch einer Windkraftanlage im Freien ist, sofern die Umweltgenehmigung nichts anderes bestimmt, pro Bezugszeitraum und in der Nähe des nächstgelegenen nicht zur Anlage gehörenden Wohngebäudes oder des nächstgelegenen Wohngebiets auf den in Anhang 5.20.6.1 genannten Richtwert oder auf das in Anhang 4B Titel I Nr. F14, 3 des vorliegenden Erlasses: Lsp ≤ MAX (Richtwert, LA 95) genannte Hintergrundgeräusch begrenzt. Soll das Hintergrundgeräusch herangezogen werden, um eine höhere Norm festzulegen, muss der Abstand zwischen den Windkraftanlagen und den Wohngebäuden größer sein als das Dreifache des Rotordurchmessers.“ 19 Anhang 5.20.6.1 des Vlarem II enthält folgende Angaben: „Gebietsbestimmung gemäß der Genehmigung Richtwert für das spezifische Geräusch im Freien in dB(A) tagsüber abends nachts 1° Ländliche Gebiete und Ferienhausgebiete 44 39 39 2a° Gebiete oder Teile von Gebieten, mit Ausnahme von Wohngebieten oder Teilen von Wohngebieten, die weniger als 500 m von Industriegebieten entfernt sind 50 45 45 2b° Wohngebiete oder Teile von Wohngebieten, die weniger als 500 m von Industriegebieten entfernt sind 48 43 43 3a° Gebiete oder Teile von Gebieten, mit Ausnahme von Wohngebieten oder Teilen von Wohngebieten, die weniger als 500 m von Gebieten für Handwerksbetriebe und für kleine und mittlere Unternehmen, von Dienstleistungsgebieten oder von Abbaugebieten während des Abbaus entfernt sind 48 43 43 3b° Wohngebiete oder Teile von Wohngebieten, die weniger als 500 m von Gebieten für Handwerksbetriebe und für kleine und mittlere Unternehmen, von Dienstleistungsgebieten oder von Abbaugebieten während des Abbaus entfernt sind 44 39 39 4° Wohngebiete 44 39 39 5° Industriegebiete, Dienstleistungsgebiete, Gebiete für gemeinschaftliche Anlagen und öffentliche Versorgungseinrichtungen sowie Abbaugebiete während des Abbaus 60 55 55 5bis° Landwirtschaftliche Gebiete 48 43 43 6° Erholungsgebiete mit Ausnahme von Ferienhausgebieten 48 43 43 7° Alle anderen Gebiete mit Ausnahme von Puffergebieten, militärischen Bereichen und Gebieten, die Gegenstand von in speziellen Erlassen festgelegten Richtwerten sind 44 39 39 8° Pufferzonen 55 50 50 9° Gebiete oder Teile von Gebieten, die weniger als 500 m von Gebieten für den Abbau von Kies während des Abbaus entfernt sind 48 43 43 10° Landwirtschaftliche Gebiete 48 43 43“ Rundschreiben von 2006 20 Der Omzendbrief EME/2006/01-RO/2006/02 (Rundschreiben EME/2006/01‑RO/2006/02) („Abwägungsrahmen und Voraussetzungen für die Errichtung von Windkraftanlagen“) vom 12. Mai 2006 (Belgisch Staatsblad, 24. Oktober 2006, S. 56705) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Rundschreiben von 2006) stellt ausweislich seiner Nr. 3 eine Aktualisierung eines Rundschreibens vom 17. Juli 2000 dar. 21 Das Rundschreiben von 2006 enthält nach seiner Nr. 3.1 eine Reihe von Gesichtspunkten, die bei der Wahl des Standorts einer Windkraftanlage zu berücksichtigen sind. Die Nrn. 3.1.1 bis 3.1.14 enthalten verschiedene Erwägungen in den Bereichen Zusammenlegung, Bodennutzung, Wohnen, Landwirtschaft, Industriegebiete, Hafengebiete, Sport und Freizeit, Landschaft, Lärmbelastung, Schattenwurf und Lichtreflexe, Sicherheit, Natur, Umweltverträglichkeitsstudie und Luftfahrt. 22 Konkret lautet Nr. 3.1.9 („Lärmbelastung“) des Rundschreibens wie folgt: „Das Ausmaß potenzieller Belastungen durch Windkraftanlagen ist von verschiedenen Faktoren abhängig, wie etwa der Quellstärke der Turbinen, der Errichtungsform, der Achshöhe und der Anzahl der Windkraftanlagen. Auch die Art des Untergrundes (Wasser, Land), der Abstand zu den Anwohnern in der Umgebung und das Niveau des Hintergrundgeräuschs spielen eine Rolle. Im Allgemeinen nimmt das Hintergrundgeräusch bei zunehmendem Wind stärker zu als die Quellstärke der Turbine. Gemäß Titel II Art. 5.20 Abs. 2 des [Vlarem II] findet keine Geräuschpegelnorm Anwendung. Die Umweltgenehmigung kann jedoch nach Maßgabe der Umgebungssituation Lärmemissionsgrenzwerte festlegen. Die an der Quelle zu treffenden erforderlichen Maßnahmen müssen dem aktuellen Stand der Technik entsprechen. Zur Beurteilung des spezifischen Geräuschs der Windkraftanlagen können international anerkannte Softwareprogramme verwendet werden. Die Ermittlung des Hintergrundgeräuschs muss von einem in den Bereichen Lärm und Erschütterungen anerkannten Umweltsachverständigen durchgeführt werden. Befinden sich das nächstgelegene nicht zur Anlage gehörende Wohngebäude oder das nächstgelegene Wohngebiet in einem Abstand von mehr als 250 m zum Turm der Windkraftanlage, kann davon ausgegangen werden, dass die durch die Windkraftanlage oder die Windfarm verursachte Beeinträchtigung auf ein akzeptables Niveau begrenzt werden kann. Beträgt der Abstand weniger oder gleich 250 m, ist wie folgt vorzugehen: Das spezifische Geräusch wird in der Nähe des nächstgelegenen nicht zur Anlage gehörenden Wohngebäudes oder des nächstgelegenen Wohngebiets ermittelt. Um zu beurteilen, ob eine Windkraftanlage oder eine Windfarm an einem bestimmten Ort zulässig sind, ist das spezifische Geräusch in Abweichung von Titel II Anhang 2.2.1 des [Vlarem II] nach den folgenden Umweltqualitätsnormen für Lärm im Freien zu bewerten: Richtwerte in dB(A) im Freien Gebiet Umweltqualitätsnormen in dB(A) im Freien tagsüber abends nachts 1° Ländliche Gebiete und Ferienhausgebiete 49 44 39 2° Gebiete oder Teile von Gebieten, die weniger als 500 m von nicht in Nr. 3 genannten Industriegebieten oder von Gebieten für gemeinschaftliche Anlagen und öffentlichen Versorgungseinrichtungen entfernt sind 54 49 49 3° Gebiete oder Teile von Gebieten, die weniger als 500 m von Gebieten für Handwerksbetriebe und kleine und mittlere Unternehmen, von Dienstleistungsgebieten oder von Abbaugebieten während des Abbaus entfernt sind 54 49 44 4° Wohngebiete 49 44 39 5° Industriegebiete, Dienstleistungsgebiete, Gebiete für gemeinschaftliche Anlagen und öffentliche Versorgungseinrichtungen und Abbaugebiete während des Abbaus 64 59 59 6° Erholungsgebiete mit Ausnahme von Ferienhausgebieten 54 49 44 7° Alle anderen Gebiete mit Ausnahme von Pufferzonen, militärischen Bereichen und Gebieten, die Gegenstand von in speziellen Erlassen festgelegten Richtwerten sind 49 44 39 8° Pufferzonen 59 54 54 9° Gebiete oder Teile von Gebieten, die weniger als 500 m von Gebieten für den Abbau von Kies während des Abbaus entfernt sind 59 54 49 Die Ermittlung des spezifischen Geräuschs muss bei einer Windgeschwindigkeit von 8 Metern/Sekunde und in der ungünstigsten Windrichtung erfolgen, also wenn die Lärmauswirkung der Windkraftanlage(n) am betreffenden Punkt am höchsten ist. Entspricht das spezifische Geräusch den oben genannten Umweltqualitätsnormen oder liegt das spezifische Geräusch in der Nähe des nächstgelegenen nicht zur Anlage gehörenden Wohngebäudes oder des nächstgelegenen Wohngebiets um 5 dB(A) unter dem Hintergrundgeräusch, kann davon ausgegangen werden, dass die durch die Windkraftanlage oder die Windfarm verursachte Beeinträchtigung auf ein akzeptables Niveau beschränkt werden kann.“ 23 Nr. 3.1.10 („Schattenwurf – Lichtreflexe“) des Rundschreibens von 2006 lautet: „Die sich bewegenden Rotorblätter der Windkraftanlagen können durch Schattenwurf und Lichtreflexe sowohl für die in der Umgebung wohnenden und arbeitenden Personen als auch für den Gartenbau (Gewächshäuser) Beeinträchtigungen verursachen. Die Umrisse des Schattenwurfs können mit Hilfe international gebräuchlicher einschlägiger Softwareprogramme berechnet werden. Bei der Beurteilung der Beeinträchtigung durch Schattenwurf gelten höchstens 30 Stunden effektiven Schattenwurfs pro Jahr in einer bewohnten Wohnstätte als akzeptabel. Geht der Schattenwurfeffekt darüber hinaus, ist zu prüfen, inwieweit Abhilfemaßnahmen ergriffen werden können (etwa angepasster Sonnenschutz, Beschichtung der Fenster …). … Etwaige Auswirkungen sind im Standortvermerk zu beschreiben.“ 24 Was die Wahl des Standorts betrifft, wird im Rundschreiben von 2006 auch der Grundsatz des planerischen Ansatzes (Nr. 3.2.1) angesprochen, mit dem die aus städtebaulicher Perspektive, aus Umwelt- und Windgesichtspunkten optimalen Standorte eingegrenzt werden sollen; das Rundschreiben von 2006 gibt eine Übersicht über die Gebiete, die für die Errichtung von Windkraftanlagen in Betracht kommen (Nr. 3.2.2). Schließlich stellt das Rundschreiben die Rolle der Arbeitsgruppe zur Windenergie überblicksartig dar (Nr. 4). Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 25 Am 30. November 2016 erteilte der regionale Städtebaubeamte für den Raum Flandern, Abteilung Ost-Flandern, am Ende eines Verfahrens, das im Jahr 2011 begonnen hatte, der Electrabel SA unter einer Reihe von Auflagen eine städtebauliche Genehmigung (im Folgenden: Genehmigung vom 30. November 2016) für die Errichtung und den Betrieb von fünf Windkraftanlagen auf dem Gebiet der Gemeinden Aalter (Belgien) und Nevele (Belgien) (im Folgenden: Windfarmprojekt). Nach dieser Genehmigung war insbesondere erforderlich, dass bestimmte, durch die Regelungen in Abschnitt 5.20.6 des Vlarem II bzw. durch das Rundschreiben von 2006 (im Folgenden zusammen: der Erlass und das Rundschreiben von 2006) festgelegte Voraussetzungen erfüllt werden. 26 A u. a. erhoben in ihrer Eigenschaft als Anrainer des für die Verwirklichung des Windfarmprojekts vorgesehenen Grundstücks beim vorlegenden Gericht, dem Raad voor Vergunningsbetwistingen (Rat für Genehmigungsstreitigkeiten, Belgien), Klage auf Aufhebung der Genehmigung vom 30. November 2016. Zur Stützung ihrer Klage bringen sie vor, dass der Erlass und das Rundschreiben von 2006, auf deren Grundlage die Genehmigung erteilt worden sei, gegen Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 verstießen, da sie entgegen den Bestimmungen dieser Richtlinie in der Auslegung durch den Gerichtshof u. a. im Urteil vom 27. Oktober 2016, D’Oultremont u. a. (C‑290/15, EU:C:2016:816), nicht Gegenstand einer Umweltprüfung gewesen seien. Aus diesem Urteil gehe hervor, dass ein nationaler Rechtsakt, der eine Reihe von Bestimmungen hinsichtlich der Errichtung von Windkraftanlagen enthalte, die bei der Erteilung verwaltungsrechtlicher Genehmigungen über die Errichtung und den Betrieb solcher Anlagen zu beachten seien, unter den Begriff „Pläne und Programme“ im Sinne dieser Richtlinie falle und deshalb einer Umweltprüfung unterzogen werden müsse. 27 Der regionale Städtebaubeamte für den Raum Flandern, Abteilung Ost-Flandern, ist demgegenüber im Wesentlichen der Ansicht, der Erlass und das Rundschreiben von 2006 fielen nicht unter den Begriff „Pläne und Programme“ im Sinne der Richtlinie 2001/42, da diese Rechtsakte keinen hinreichend vollständigen Rahmen darstellten, um als kohärentes System für Projekte zur Errichtung von Windkraftanlagen angesehen zu werden. 28 Im Hinblick auf die durch das Urteil vom 27. Oktober 2016, D’Oultremont u. a. (C‑290/15, EU:C:2016:816), erfolgten Klarstellungen hegt das vorlegende Gericht Zweifel, ob der Erlass und das Rundschreiben von 2006 Gegenstand einer Umweltprüfung hätten sein müssen. Daher stellt es sich die Frage, ob sowohl diese Rechtsakte als auch die auf ihrer Grundlage erteilte Genehmigung vom 30. November 2016 mit der Richtlinie 2001/42 vereinbar sind. 29 Darüber hinaus regt das vorlegende Gericht an, der Gerichtshof möge seine ständige Rechtsprechung überdenken, die mit dem Urteil vom 22. März 2012, Inter-Environnement Bruxelles u. a. (C‑567/10, EU:C:2012:159), begonnen und seitdem in den Urteilen vom 7. Juni 2018, Inter-Environnement Bruxelles u. a. (C‑671/16, EU:C:2018:403), vom 7. Juni 2018, Thybaut u. a. (C‑160/17, EU:C:2018:401), vom 8. Mai 2019, Verdi Ambiente e Società (VAS) – Aps Onlus u. a. (C‑305/18, EU:C:2019:384), vom 12. Juni 2019, CFE (C‑43/18, EU:C:2019:483), sowie vom 12. Juni 2019, Terre wallonne (C‑321/18, EU:C:2019:484), bestätigt worden sei. Nach dieser Rechtsprechung sei die Wortfolge „die aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen“ in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 dahin auszulegen, dass im Sinne und zur Anwendung der Richtlinie 2001/42 die Pläne und Programme „erstellt werden müssen“ und somit der Umweltprüfung gemäß den von dieser Bestimmung festgelegten Bedingungen unterlägen, deren Erlass in nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften „geregelt“ sei. 30 Das vorlegende Gericht vertritt jedoch unter Bezugnahme auf die Nrn. 18 und 19 der Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Inter-Environnement Bruxelles u. a. (C‑567/10, EU:C:2011:755) die Auffassung, der Gerichtshof sollte einer Auslegung den Vorzug geben, die eher dem Willen des Unionsgesetzgebers entspreche und die darin bestehe, die Tragweite von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 auf die Rechtsakte zu beschränken, die nach Rechts‑ oder Verwaltungsvorschriften verpflichtend erlassen werden müssten. 31 Unter diesen Umständen hat der Raad vor Vergunningsbetwistingen (Rat für Genehmigungsstreitigkeiten) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Führen Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 dazu, dass Art. 99 des Erlasses der Flämischen Regierung zur Änderung des Erlasses der Flämischen Regierung vom 6. Februar 1991 zur Festlegung der Flämischen Regelungen betreffend die Umweltgenehmigung und des Vlarem II in Bezug auf die Anpassung dieser Erlasse an die Entwicklung der Technik, der Abschnitt 5.20.6 über Anlagen für die Erzeugung von Strom mittels Windenergie in Vlarem II einführt, und das Rundschreiben von 2006, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung von Windkraftanlagen enthalten, u. a. auch Sicherheitsmaßnahmen und je nach Planungsgebiet definierte Schattenwurf- und Geräuschpegelnormen, als „Pläne oder Programme“ im Sinne dieser Richtlinienvorschriften zu qualifizieren sind? 2. Wenn sich herausstellen sollte, dass vor der Annahme des Erlasses und dem Erlass des Rundschreibens von 2006 eine Umweltprüfung hätte vorgenommen werden müssen, darf der Raad voor Vergunningsbetwistingen (Rat für Genehmigungsstreitigkeiten) die Rechtsfolgen des dann rechtswidrigen Erlasses und des Rundschreibens von 2006 vorläufig aufrechterhalten? Dazu müssen einige Teilfragen gestellt werden: a) Kann eine politische Maßnahme, wie das Rundschreiben von 2006, bei der die Ausarbeitungsbefugnis auf den Ermessensspielraum und die politische Gestaltungsfreiheit der betreffenden Behörde zurückgeht, weshalb keine Festlegung der für die Ausarbeitung von „Plänen oder Programmen“ zuständigen Behörde im eigentlichen Sinne vorliegt, und für die auch kein förmliches Ausarbeitungsverfahren vorgesehen ist, als „Plan oder Programm“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 angesehen werden? b) Reicht es aus, dass eine politische Maßnahme oder eine allgemeine Regelung, wie der Erlass und das Rundschreiben von 2006, den Ermessensspielraum der für die Genehmigungserteilung zuständigen Behörde teilweise einschränkt, um als „Plan oder Programm“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 zu gelten, selbst wenn der Erlass und das Rundschreiben von 2006 kein Erfordernis bzw. keine notwendige Voraussetzung für die Erteilung der Genehmigung darstellen oder keinen Rahmen für künftige Genehmigungen setzen sollen, obwohl der Unionsgesetzgeber diesen Zweck als Bestandteil des Begriffs „Pläne und Programme“ betrachtet? c) Kann eine politische Maßnahme, wie das Rundschreiben von 2006, deren Ausarbeitung aus Gründen der Rechtssicherheit und daher vollständig freiwillig erfolgt, als „Plan oder Programm“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 angesehen werden, und widerspricht eine solche Auslegung womöglich der Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die teleologische Auslegung einer Richtlinie nicht wesentlich von dem eindeutig zum Ausdruck gebrachten Willen des Unionsgesetzgebers abweichen darf? d) Kann Abschnitt 5.20.6 des Vlarem II, der Regeln enthält, deren Erlass nicht vorgeschrieben war, als „Plan oder Programm“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 angesehen werden, und widerspricht eine solche Auslegung womöglich der Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die teleologische Auslegung einer Richtlinie nicht wesentlich von dem eindeutig zum Ausdruck gebrachten Willen des Unionsgesetzgebers abweichen darf? e) Können eine politische Maßnahme und ein normativer Regierungserlass, wie der Erlass und das Rundschreiben von 2006, die beschränkten indikativen Charakter haben oder zumindest keinen Rahmen setzen, aus dem ein Recht auf Durchführung eines Projekts hergeleitet werden kann, und die kein Recht auf einen Rahmen einräumen, in dem Projekte erlaubt werden können, als „Plan oder Programm“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 angesehen werden, „durch [den bzw. das] der Rahmen für die künftige Genehmigung der in den Anhängen I und II der Richtlinie 85/337 aufgeführten Projekte gesetzt wird“, und widerspricht eine solche Auslegung womöglich der Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die teleologische Auslegung einer Richtlinie nicht wesentlich von dem eindeutig zum Ausdruck gebrachten Willen des Unionsgesetzgebers abweichen darf? f) Können eine politische Maßnahme, wie das Rundschreiben von 2006, die rein indikativen Charakter hat, und/oder ein normativer Regierungserlass, wie Abschnitt 5.20.6 des Vlarem II, der bloß Mindestgrenzen für die Genehmigungserteilung festlegt und im Übrigen völlig autonom als allgemeine Regelung wirkt, – wobei beide nur eine beschränkte Anzahl an Kriterien und Modalitäten enthalten – und weder diese Maßnahme noch dieser Regierungserlass für irgendeines der Kriterien oder irgendeine der Modalitäten allein bestimmend ist und wobei folglich argumentiert werden könnte, dass anhand von objektiven Umständen ausgeschlossen werden kann, dass sie erhebliche Umweltauswirkungen haben können, als „Plan oder Programm“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2001/42 angesehen werden und daher als Rechtsakte, die durch die Festlegung der auf den betreffenden Bereich anzuwendenden Regeln und Kontrollverfahren eine signifikante Gesamtheit an Kriterien und Modalitäten für die Genehmigung und Durchführung eines oder mehrerer Projekte vorsehen, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben? g) Kann ein Gericht, falls Frage 2 Buchst. f verneint wird, dies selbst feststellen, nachdem der Erlass ergangen ist oder die Pseudorechtsvorschriften (wie der Erlass und das Rundschreiben von 2006) erlassen wurden? h) Kann ein Gericht, falls es nur mittelbar über eine inter partes geltende Einrede zuständig ist und falls sich aus der Beantwortung der Vorlagefragen ergibt, dass der Erlass und das Rundschreiben von 2006 rechtswidrig sind, anordnen, dass die Wirkungen des rechtswidrigen Erlasses und/oder Rundschreibens aufrechterhalten werden, wenn die rechtswidrigen Instrumente zu einem Umweltschutzziel, das auch von einer Richtlinie im Sinne von Art. 288 AEUV verfolgt wird, beitragen und die Voraussetzungen des Unionsrechts für eine solche Aufrechterhaltung (wie im Urteil vom 28. Juli 2016, Association France Nature Environnement [C‑379/15, EU:C:2016:603], aufgestellt) erfüllt sind? i) Kann ein Gericht, falls Frage 2 Buchst. h verneint wird, anordnen, dass die Wirkungen des angefochtenen Projekts aufrechterhalten werden, um so mittelbar die Voraussetzungen des Unionsrechts für die Aufrechterhaltung der Rechtsfolgen des der Richtlinie 2001/42 widersprechenden Plans oder Programms (wie im Urteil vom 28. Juli 2016, Association France Nature Environnement [C‑379/15, EU:C:2016:603], aufgestellt) zu erfüllen? Zu den Vorlagefragen Fragen 1 und 2 Buchst. a bis d: Begriff „Pläne und Programme“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 32 Mit seinen Fragen 1 und 2 Buchst. a bis d, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 dahin auszulegen ist, dass ein von der Regierung einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats angenommener Erlass und ein von ihr erlassenes Rundschreiben, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthalten, unter den Begriff „Pläne und Programme“ fallen. 33 Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 definiert die von ihm erfassten „Pläne und Programme“ anhand zweier kumulativer Voraussetzungen, die in den beiden Gedankenstrichen dieser Bestimmung niedergelegt sind, nämlich dass sie zum einen von einer Behörde auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene ausgearbeitet und/oder angenommen wurden oder von einer Behörde für die Annahme durch das Parlament oder die Regierung mittels eines Gesetzgebungsverfahrens ausgearbeitet wurden und zum anderen aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen. 34 Die erste dieser Voraussetzungen ist erfüllt, da den Angaben des vorlegenden Gerichts zu entnehmen ist, dass der Erlass und das Rundschreiben von 2006 von der flämischen Regierung, einer regionalen Behörde, erlassen wurden. 35 Hinsichtlich der in Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/42 genannten zweiten Voraussetzung ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass im Sinne und zur Anwendung der Richtlinie 2001/42 als Pläne und Programme, die „erstellt werden müssen“, jene Pläne und Programme anzusehen sind, deren Erlass in nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften geregelt ist, die die insoweit zuständigen Behörden und das Ausarbeitungsverfahren festlegen (Urteile vom 22. März 2012, Inter-Environnement Bruxelles u. a., C‑567/10, EU:C:2012:159, Rn. 31, vom 7. Juni 2018, Thybaut u. a., C‑160/17, EU:C:2018:401, Rn. 43, sowie vom 12. Juni 2019, Terre wallonne, C‑321/18, EU:C:2019:484, Rn. 34). Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass zur Wahrung der praktischen Wirksamkeit dieser Bestimmung angesichts ihres Ziels eine Maßnahme als Maßnahme, die „erstellt werden muss“, anzusehen ist, wenn die Befugnis zu ihrem Erlass ihre Rechtsgrundlage in einer besonderen Bestimmung findet, auch wenn die Ausarbeitung der Maßnahme eigentlich nicht verpflichtend ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2018, Inter-Environnement Bruxelles u. a., C‑671/16, EU:C:2018:403, Rn. 38 bis 40). 36 Vorab ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen ebenso wie die Regierung des Vereinigten Königreichs in ihren schriftlichen Erklärungen den Gerichtshof ersuchen, diese Rechtsprechung zu überdenken. 37 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Die Entstehungsgeschichte einer Bestimmung des Unionsrechts kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Oktober 2019, BGL BNP Paribas, C‑548/18, EU:C:2019:848, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Was zunächst den Wortlaut von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ein Vergleich der Sprachfassungen von Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/42 Bedeutungsunterschiede zwischen den Fassungen aufzeigt. Während der in der französischen Fassung verwendete Begriff „exigés“ ebenso wie insbesondere die Begriffe in der spanischen („exigidos“), der deutschen („erstellt werden müssen“), der englischen („required“), der niederländischen („zijn voorgeschreven“), der portugiesischen („exigido“) und der rumänischen („impuse“) Sprachfassung nämlich auf eine Art Erfordernis oder Verpflichtung verweisen, verwendet die italienische Sprachfassung den weniger zwingenden Begriff „previsti“ („vorgesehen“). 39 Allerdings sind alle Fassungen der Handlungen in den Amtssprachen der Union maßgebend, so dass grundsätzlich allen Sprachfassungen einer Unionshandlung der gleiche Wert beizumessen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. November 2011, Homawoo, C‑412/10, EU:C:2011:747, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 20. Februar 2018, Belgien/Kommission, C‑16/16 P, EU:C:2018:79, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Folglich führt die Prüfung des Wortlauts von Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/42 zu keinem eindeutigen Ergebnis, da sich durch sie nicht feststellen lässt, ob die „Pläne und Programme“ im Sinne dieser Bestimmung nur solche sind, die von den nationalen Behörden kraft Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erlassen werden müssen. 41 Was sodann die Entstehungsgeschichte von Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/42 angeht, so wurde diese Bestimmung, die weder im ursprünglichen Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission noch in dessen geänderter Fassung enthalten war, durch den Gemeinsamen Standpunkt (EG) Nr. 25/2000 vom 30. März 2000, vom Rat festgelegt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (ABl. 2000, C 137, S. 11) hinzugefügt. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 62 und 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, wollte der Unionsgesetzgeber durch diese Ergänzung die Pflicht zur Durchführung einer Umweltprüfung nur auf bestimmte Pläne und Programme begrenzen, ohne aber wohl die Absicht gehabt zu haben, sie ausschließlich auf Pläne und Programme zu beschränken, deren Annahme vorgeschrieben ist. 42 Hinsichtlich des Zusammenhangs, in den sich diese Bestimmung einfügt, ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 und 67 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, erstens zu betonen, dass ein binäres Konzept, das eine Unterscheidung danach vornimmt, ob die Annahme eines Plans oder eines Programms verpflichtend oder freiwillig ist, nicht geeignet wäre, die unterschiedlichen Gegebenheiten und die heterogene Praxis der nationalen Behörden hinreichend genau und daher zufriedenstellend zu erfassen. Die Annahme von Plänen und Programmen, die auf eine Vielzahl von Fallgestaltungen zurückgehen kann, ist nämlich häufig weder generell vorgeschrieben noch zur Gänze dem Ermessen der zuständigen Behörden überlassen. 43 Zweitens schließt Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 nicht nur die Ausarbeitung oder Annahme von „Plänen und Programmen“, sondern auch ihre Änderungen ein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 2012, Inter-Environnement Bruxelles u. a., C‑567/10, EU:C:2012:159, Rn. 36, sowie vom 10. September 2015, Dimos Kropias Attikis, C‑473/14, EU:C:2015:582, Rn. 44). Wie der Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, liegt jedoch der letztgenannte Fall, in dem auch die Änderung des betreffenden Plans oder Programms erhebliche Umweltauswirkungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/42 haben kann, am häufigsten dann vor, wenn eine Behörde von sich aus entscheidet, eine solche Änderung vorzunehmen, ohne dazu verpflichtet zu sein. 44 Die vorausgehenden Erwägungen stehen im Einklang mit dem Ziel der Richtlinie 2001/42, die sich ihrerseits in den in Art. 37 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgesehenen Rahmen einfügt, wonach ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität in die Politik der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden müssen. 45 Ausweislich des Art. 1 der Richtlinie 2001/42 besteht deren Ziel nämlich darin, im Hinblick auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen und dazu beizutragen, dass Umwelterwägungen bei der Ausarbeitung und Annahme von Plänen und Programmen einbezogen werden. 46 Das Hauptziel der Richtlinie 2001/42 besteht nach ihrem Art. 1 darin, dass Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, bei ihrer Ausarbeitung und vor ihrer Annahme einer Umweltprüfung unterzogen werden (Urteile vom 22. September 2011, Valčiukienė u. a., C‑295/10, EU:C:2011:608, Rn. 37, sowie vom 7. Juni 2018, Thybaut u. a., C‑160/17, EU:C:2018:401, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Ferner wurde die Richtlinie 2001/42 auf der Grundlage von Art. 175 Abs. 1 EG erlassen, der das Tätigwerden der Gemeinschaft in der Umweltpolitik zur Erreichung der in Art. 174 EG genannten Ziele betrifft. Gemäß Art. 191 AEUV, der Art. 174 EG entspricht, Abs. 2 zielt die Umweltpolitik der Union unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Regionen der Union auf ein „hohes Schutzniveau“ ab. Art. 191 Abs. 1 AEUV erlaubt den Erlass von Maßnahmen, die insbesondere bestimmte Aspekte der Umwelt betreffen, wie die Erhaltung und den Schutz der Umwelt sowie die Verbesserung ihrer Qualität, den Schutz der menschlichen Gesundheit sowie die umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen. Im gleichen Sinne heißt es in Art. 3 Abs. 3 EUV, dass die Union insbesondere auf „ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität“ hinwirkt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2016, Associazione Italia Nostra Onlus, C‑444/15, EU:C:2016:978, Rn. 41 bis 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 48 Würde Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 dahin ausgelegt, dass nur die Pläne oder Programme, deren Annahme verpflichtend ist, von der in dieser Richtlinie festgelegten Pflicht zu einer Umweltprüfung erfasst wären, bestünde jedoch die Gefahr, dass diese Ziele konterkariert würden. Zum einen ist nämlich, wie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, die Annahme solcher Pläne oder Programme häufig nicht generell vorgeschrieben. Zum anderen hätte ein Mitgliedstaat bei dieser Auslegung die Möglichkeit, die Pflicht zur Umweltprüfung leicht dadurch zu umgehen, dass er bewusst keine Pflicht der zuständigen Behörden zur Annahme solcher Pläne oder Programme vorsieht. 49 Darüber hinaus steht die weite Auslegung des Begriffs „Pläne und Programme“ im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen der Union, wie sie sich insbesondere aus Art. 2 Abs. 7 des Übereinkommens von Espoo ergeben. 50 Folglich hat der Gerichtshof, während bei einer engen Auslegung, die die zweite Voraussetzung von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 allein auf „Pläne und Programme“ beschränkte, deren Annahme verpflichtend ist, die Gefahr bestünde, die Tragweite dieser Voraussetzung zu marginalisieren, der Notwendigkeit den Vorzug gegeben, die praktische Wirksamkeit dieser Voraussetzung sicherzustellen, indem eine weitere Konzeption des Begriffs „erstellt werden müssen“ zugrunde gelegt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2012, Inter-Environnement Bruxelles u. a., C‑567/10, EU:C:2012:159, Rn. 30). 51 Mithin gibt es keinen Anhaltspunkt, der eine Änderung der entsprechenden Rechtsprechung des Gerichtshofs rechtfertigen kann. 52 Hieraus ergibt sich, dass Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/42 dahin auszulegen ist, dass im Sinne und zur Anwendung dieser Richtlinie als Pläne und Programme, die „erstellt werden müssen“, jene Pläne und Programme anzusehen sind, deren Erlass in nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften geregelt ist, die die insoweit zuständigen Behörden und das Ausarbeitungsverfahren festlegen. 53 Hinsichtlich der Frage, ob der Erlass und das Rundschreiben von 2006 diese Voraussetzung erfüllen, ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass der Vlarem II ein Erlass ist, der von der Exekutive einer föderalen Einheit Belgiens, nämlich der flämischen Regierung, in Durchführung von höherrangigen Vorschriften der Legislative derselben föderalen Einheit, nämlich des flämischen Parlaments, erlassen wurde. Aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts zum Dekret des Flämischen Rates über die Umweltgenehmigung und zum Dekret des Flämischen Rates zur Festlegung der allgemeinen Bestimmungen im Bereich der Umweltpolitik geht jedoch hervor, dass diese Dekrete den Erlass des Vlarem II durch die flämische Regierung insbesondere dadurch regelten, dass sie der flämischen Regierung die Befugnis zum Erlass dieses Rechtsakts übertrugen und vorgaben, dass die darin vorgesehenen sektoriellen Voraussetzungen dazu dienen sollten, inakzeptable Beeinträchtigungen und Gefahren der betreffenden Anlagen und Tätigkeiten für die Umwelt zu verhindern und zu begrenzen. 54 Zum Rundschreiben von 2006 ist dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen, dass das Rundschreiben im vorliegenden Fall von der flämischen Regierung stammt und vom Ministerpräsidenten und zwei in diesem Bereich zuständigen Ministern unterzeichnet wurde. 55 Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass das Rundschreiben von 2006, das wie der Vlarem II dazu beitrage, die Ziele und zu erfüllenden Vorschriften der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG (ABl. 2009, L 140, S. 16) zu verwirklichen bzw. umzusetzen, seine Rechtsgrundlage in der Verwaltungs- und Beurteilungskompetenz finde, über die die Behörden gemäß den einschlägigen nationalen Vorschriften verfügten, um sogenannte „Umweltgenehmigungen“ im Sinne dieser Vorschriften zu erteilen. 56 So gehe das Rundschreiben von 2006 auf die Entscheidung der Ministerialbehörden der genannten föderalen Einheit zurück, ihr eigenes Ermessen dadurch zu begrenzen, dass sie sich zur Befolgung der auf diese Weise selbst festgelegten Regeln verpflichtet hätten. Es zeigt sich mithin, dass sich der Erlass des Rundschreibens von 2006, vorbehaltlich der Prüfung, die im vorliegenden Fall das vorlegende Gericht hinsichtlich der genauen Rechtsnatur eines solchen Rundschreibens in der Rechtsordnung dieses Mitgliedstaats durchzuführen haben wird, in den Rahmen der Befugnisse einfügt, die diesen Ministerialbehörden nach belgischem Recht zustehen. 57 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Begriff „Pläne und Programme“ nicht nur ihre Ausarbeitung, sondern auch ihre Änderung einschließt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juni 2019, CFE, C‑43/18, EU:C:2019:483, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Der Gerichtshof hat insbesondere bereits entschieden, dass, obwohl ein Rechtsakt keine positiven Vorschriften enthält und auch nicht enthalten kann, die durch ihn eröffnete Möglichkeit zur einfacheren Bewilligung von Abweichungen von geltenden Bestimmungen die Rechtslage ändert und zur Folge hat, dass ein solcher Rechtsakt in den Anwendungsbereich von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2018, Thybaut u. a., C‑160/17, EU:C:2018:401, Rn. 58). 59 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 108 und 109 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und wie sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, hat es jedoch den Anschein, dass Nr. 3 des Rundschreibens von 2006 den Einschluss von Gebieten gestattet, die ursprünglich nicht für die Erzeugung von Windenergie in Betracht gezogen worden waren. Außerdem scheint der Anhang dieses Rundschreibens weniger strenge Werte im Vergleich zu den Werten zu enthalten, die im Anhang zu Abschnitt 5.20.6.1 des Vlarem II auf dem Gebiet der Umweltqualität hinsichtlich Lärm und Schattenwurf in Wohngebieten vorgesehen sind, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird. 60 Daher ändert, wie sinngemäß der Generalanwalt in Nr. 80 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht, das Rundschreiben von 2006 die Bestimmungen des Vlarem II, indem es sie weiterentwickelt oder aufhebt, so dass davon ausgegangen werden kann, dass es die in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung erfüllt. 61 Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass der allgemeine Charakter des Erlasses und des Rundschreibens von 2006 der Einstufung dieser Rechtsakte als „Pläne und Programme“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 nicht entgegensteht. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung kann nämlich der Begriff „Pläne und Programme“ zwar Rechtsetzungsakte umfassen, die im Gesetzgebungs- oder Verordnungsweg erlassen wurden, jedoch enthält diese Richtlinie gerade keine besonderen Bestimmungen über Politiken oder allgemeine Regelungen, die eine Abgrenzung gegenüber Plänen und Programmen im Sinne der Richtlinie erforderten. Der Umstand, dass ein nationaler Rechtsakt ein gewisses Abstraktionsniveau aufweist und das Ziel einer Umgestaltung eines geografischen Gebiets verfolgt, zeugt von seiner programmatischen bzw. planerischen Dimension und hindert seine Einbeziehung in den Begriff „Pläne und Programme“ nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2018, Inter-Environnement Bruxelles u. a., C‑671/16, EU:C:2018:403, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Folglich erfüllen der Vlarem II und, vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht durchzuführenden Prüfung, das Rundschreiben von 2006 auch die zweite Voraussetzung des Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/42. 63 Nach alledem ist auf die Fragen 1 und 2 Buchst. a bis d zu antworten, dass Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 dahin auszulegen ist, dass ein von der Regierung einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats angenommener Erlass und ein von ihr erlassenes Rundschreiben, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthalten, unter den Begriff „Pläne und Programme“ fallen. Frage 2 Buchst. e bis g: Begriff „Pläne und Programme“, die einer Umweltprüfung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 unterworfen sind 64 Mit seiner zweiten Frage Buchst. e bis g möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 dahin auszulegen ist, dass ein Erlass und ein Rundschreiben, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthalten, darunter Maßnahmen in Bezug auf Schattenwurf, Sicherheit und Geräuschpegelnormen, Pläne und Programme darstellen, die nach dieser Bestimmung einer Umweltprüfung unterzogen werden müssen. 65 Art. 3 der Richtlinie 2001/42 knüpft die Pflicht, einen bestimmten Plan oder ein bestimmtes Programm einer Umweltprüfung zu unterziehen, an die Voraussetzung, dass der Plan bzw. das Programm, der bzw. das unter diese Bestimmung fällt, voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen hat (Urteil vom 7. Juni 2018, Inter-Environnement Bruxelles u. a., C‑671/16, EU:C:2018:403, Rn. 30). Konkret werden gemäß Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie Pläne und Programme einer systematischen Umweltprüfung unterzogen, die in bestimmten Bereichen ausgearbeitet werden und durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung der in den Anhängen I und II der Richtlinie 2011/92 aufgeführten Projekte gesetzt wird (Urteil vom 8. Mai 2019, Verdi Ambiente e Società [VAS] – Aps Onlus u. a., C‑305/18, EU:C:2019:384, Rn. 47). 66 Als Erstes ist im vorliegenden Fall unstreitig, dass der Erlass und das Rundschreiben von 2006 den in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 erwähnten Energiesektor betreffen und dass diese nationalen Rechtsake Windfarmprojekte betreffen, die zu den in Anhang II Nr. 3 Ziff. i der Richtlinie 2011/92 angeführten Projekten gehören. 67 Als Zweites ist hinsichtlich der Frage, ob durch diese Rechtsakte der Rahmen für die künftige Genehmigung von Projekten gesetzt wird, darauf hinzuweisen, dass sich der Begriff „Pläne und Programme“ auf jeden Rechtsakt bezieht, der dadurch, dass er die in dem betreffenden Bereich anwendbaren Regeln und Verfahren zur Kontrolle festlegt, eine signifikante Gesamtheit von Kriterien und Modalitäten für die Genehmigung und Durchführung eines oder mehrerer Projekte aufstellt, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben (Urteile vom 27. Oktober 2016, D’Oultremont u. a., C‑290/15, EU:C:2016:816, Rn. 49, vom 7. Juni 2018, Inter-Environnement Bruxelles u. a., C‑671/16, EU:C:2018:403, Rn. 53, sowie vom 12. Juni 2019, CFE, C‑43/18, EU:C:2019:483, Rn. 61). 68 Diese Auslegung soll die Umweltprüfung von Vorgaben sicherstellen, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen verursachen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Februar 2012, Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne, C‑41/11, EU:C:2012:103, Rn. 42, sowie vom 7. Juni 2018, Inter-Environnement Bruxelles u. a., C‑671/16, EU:C:2018:403, Rn. 54). 69 Im vorliegenden Fall stellen der Erlass und das Rundschreiben von 2006 Bedingungen für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen in der Region Flandern auf, die insbesondere den Schattenwurf, die Sicherheitsvorschriften und die Lärmemissionen betreffen. 70 Auch wenn der Erlass und das Rundschreiben von 2006 keine vollständige Gesamtheit an Vorschriften über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen darzustellen scheinen, hat der Gerichtshof bereits klargestellt, dass der Begriff „signifikante Gesamtheit von Kriterien und Modalitäten“ qualitativ und nicht quantitativ zu verstehen ist. Es sollen nämlich mögliche Strategien zur Umgehung der in der Richtlinie 2001/42 genannten Verpflichtungen, die die Maßnahmen zerstückeln könnten und so die praktische Wirksamkeit dieser Richtlinie verringern, vermieden werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2018, Inter-Environnement Bruxelles u. a., C‑671/16, EU:C:2018:403, Rn. 55, und vom 12. Juni 2019, CFE, C‑43/18, EU:C:2019:483, Rn. 64). 71 Wie der Generalanwalt in Nr. 94 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zeigen das Gewicht und das Ausmaß der von diesem Erlass und diesem Rundschreiben festgelegten Vorgaben, dass diese Rechtsakte zwar keinen erschöpfenden, wohl aber einen hinreichend signifikanten Rahmen für die Bestimmung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung zur Errichtung von Windfarmen – Projekten, die unbestreitbar Umweltauswirkungen haben – im betreffenden geografischen Gebiet darstellen. 72 In diesem Zusammenhang ist zudem darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 50 des Urteils vom 27. Oktober 2016, D’Oultremont u. a. (C‑290/15, EU:C:2016:816), entschieden hat, dass ein Rechtsakt, der Vorschriften ähnlich denen des Erlasses und des Rundschreibens von 2006 über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthielt, ein hinreichend signifikantes Gewicht und Ausmaß hatte, um die in dem betreffenden Bereich geltenden Voraussetzungen zu regeln, und dass die mit diesen Normen getroffenen Entscheidungen insbesondere umweltpolitischer Art dazu beitragen sollen, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die konkreten Projekte der Errichtung und des Betriebs von Windkraftanlagen künftig genehmigt werden können. 73 In Anbetracht dieser Umstände ist davon auszugehen, dass der Erlass und, vorbehaltlich der Prüfungen, auf die in den Rn. 60 und 62 des vorliegenden Urteils verwiesen worden ist, das Rundschreiben von 2006 unter den Begriff „Pläne und Programme“ fallen, die gemäß Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/42 einer Prüfung der Umweltauswirkungen unterzogen werden müssen. 74 Diese Auslegung kann durch die besondere Rechtsnatur des Rundscheibens von 2006 nicht in Frage gestellt werden. 75 Die in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 enthaltene Wortfolge „durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung [von] Projekte[n] gesetzt wird“ verweist nämlich nicht auf nationale Rechtsvorschriften und stellt daher einen autonomen Begriff des Unionsrechts dar, der im Unionsgebiet einheitlich auszulegen ist. 76 Auch wenn keine Gewissheit besteht, dass ein Rechtsakt wie das Rundschreiben von 2006 verbindliche Rechtswirkungen für Dritte entfalten kann, kann dieses Rundschreiben, vorbehaltlich einer Prüfung seiner genauen rechtlichen Tragweite durch das vorlegende Gericht, jedoch nicht Bestimmungen mit bloßem Richtwertcharakter gleichgestellt werden, die die in der vorstehenden Randnummer genannte Voraussetzung nicht erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juni 2019, Terre wallonne, C‑321/18, EU:C:2019:484, Rn. 44). 77 Abgesehen davon, dass der Titel des Rundschreibens von 2006 „Abwägungsrahmen und Voraussetzungen für die Errichtung von Windkraftanlagen“ lautet, geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die Genehmigung vom 30. November 2016 klarstellt, dass diese zu jedem Zeitpunkt die Voraussetzungen dieses Rundschreibens erfüllen muss, was nahelegt, dass das Rundschreiben zumindest für die im Bereich der Genehmigungserteilung zuständigen Behörden verbindlich ist. 78 Im Übrigen scheint, wie der Generalanwalt in Nr. 95 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die belgische Regierung selbst den verbindlichen Charakter des Erlasses und des Rundschreibens von 2006 insgesamt für diese Behörden einzuräumen, wenn sie vorträgt, dass es, sollten die nach diesen Rechtsakten vorgesehenen Umweltbedingungen eventuell nicht mit dem Unionsrecht in Einklang stehen, dazu führen würde, dass die zuvor erteilten Genehmigungen ungültig würden, so dass die Wirkungen des vom vorlegenden Gericht zu erlassenden Urteils zeitlich zu begrenzen wären. 79 Nach alledem ist auf die zweite Frage Buchst. e bis g zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 dahin auszulegen ist, dass ein Erlass und ein Rundschreiben, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthalten, darunter Maßnahmen in Bezug auf Schattenwurf, Sicherheit und Geräuschpegelnormen, Pläne und Programme darstellen, die nach dieser Bestimmung einer Umweltprüfung unterzogen werden müssen. Frage 2 Buchst. h und i: Möglichkeit des vorlegenden Gerichts, die Wirkungen des Erlasses, des Rundschreibens von 2006 und der Genehmigung vom 30. November 2016 aufrechtzuerhalten 80 Mit seiner zweiten Frage Buchst. h und i möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen es, wenn sich herausstellt, dass vor der Annahme des Erlasses und des Rundschreibens, auf die eine vor ihm angefochtene Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen gestützt ist, eine Umweltprüfung im Sinne der Richtlinie 2001/42 hätte vorgenommen werden müssen, so dass die beiden Rechtsakte und die Genehmigung nicht mit dem Unionsrecht in Einklang stehen, die Wirkungen dieser beiden Rechtsakte und dieser Genehmigung aufrechterhalten kann. 81 Zunächst einmal besteht nach ihrem Art. 1 das Ziel der Richtlinie 2001/42 darin, dass Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, bei ihrer Ausarbeitung und vor ihrer Annahme einer Umweltprüfung unterzogen werden. 82 Da die Richtlinie 2001/42 keine Bestimmungen hinsichtlich der Konsequenzen enthält, die aus einem Verstoß gegen die von ihr aufgestellten Verfahrensvorschriften zu ziehen wären, ist es Sache der Mitgliedstaaten, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten alle erforderlichen allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, damit sämtliche „Pläne“ und „Programme“, die „erhebliche Umweltauswirkungen“ im Sinne dieser Richtlinie haben können, Gegenstand einer Umweltprüfung gemäß den von der Richtlinie vorgesehenen Verfahrensmodalitäten und Kriterien sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juli 2016, Association France Nature Environnement, C‑379/15, EU:C:2016:603, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). 83 Die Mitgliedstaaten sind nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines solchen Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben. Hieraus ergibt sich, dass die zuständigen nationalen Behörden einschließlich der nationalen Gerichte, die mit Klagen gegen einen innerstaatlichen Rechtsakt befasst sind, der unter Verstoß gegen das Unionsrecht erlassen wurde, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten alle erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, um dem Unterbleiben einer Umweltprüfung abzuhelfen. Bei einem unter Verstoß gegen die Pflicht zur Durchführung einer Umweltprüfung erlassenen „Plan“ oder „Programm“ könnte dies etwa darin bestehen, Maßnahmen zur Aussetzung oder Aufhebung des Plans oder Programms zu ergreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juli 2016, Association France Nature Environnement, C‑379/15, EU:C:2016:603, Rn. 31 und 32) sowie eine bereits erteilte Genehmigung zurückzunehmen oder auszusetzen, damit die Prüfung durchgeführt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. November 2019, Kommission/Irland [Windfarm Derrybrien], C‑261/18, EU:C:2019:955, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung). 84 Zudem kann nur der Gerichtshof in Ausnahmefällen und aus zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit eine vorübergehende Aussetzung der Verdrängungswirkung herbeiführen, die eine unionsrechtliche Vorschrift gegenüber mit ihr unvereinbarem nationalem Recht ausübt. Wären nämlich nationale Gerichte befugt, auch nur vorübergehend nationalen Bestimmungen Vorrang vor dem Unionsrecht einzuräumen, gegen das sie verstoßen, würde die einheitliche Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigt (Urteil vom 29. Juli 2019, Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen, C‑411/17, EU:C:2019:622, Rn. 177 und die dort angeführte Rechtsprechung). 85 Zur Argumentation der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen, wonach die ausnahmsweise Aufrechterhaltung der Wirkungen der mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Maßnahmen nur im Rahmen einer direkten Klage gegen die potenziell unzulänglichen Maßnahmen möglich sei, nicht aber im Rahmen einer Einrede, wenn sich die vor dem nationalen Gericht erhobene Klage gegen in Durchführung dieser Maßnahmen erlassene Rechtsakte richte, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, wie der Generalanwalt in den Nrn. 126 bis 128 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in seiner Rechtsprechung keine derartige Unterscheidung vorgenommen hat und dass diese Aufrechterhaltung durch den Gerichtshof im Rahmen beider Klagen möglich ist. 86 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass es zwar das Decreet betreffende de organisatie en de rechtspleging van sommige Vlaamse bestuursrechtscolleges (Dekret über die Organisation und das Verfahren bestimmter flämischer Verwaltungsgerichte) vom 4. April 2014 (Belgisch Staatsblad, 1. Oktober 2014, S. 77620) dem vorlegenden Gericht nicht gestattet, die Wirkungen des Erlasses und des Rundschreibens von 2006 vorübergehend aufrechtzuerhalten, ihm jedoch die belgische Verfassung in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung das Recht einräumen würde, diese nationalen Regelungen unangewendet zu lassen, wenn sie gegen höherrangige Vorschriften verstoßen. Art. 36 Abs. 1 und 2 des Dekrets über die Organisation und das Verfahren bestimmter flämischer Verwaltungsgerichte würde dem vorlegenden Gericht gestatten, die Wirkungen der Genehmigung vom 30. November 2016 vorübergehend aufrechtzuerhalten, auch wenn sie in Anwendung von unionsrechtswidrigen nationalen Rechtsakten erteilt wurde. 87 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ausweislich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte das Windfarmprojekt offenbar noch nicht abgeschlossen ist, ja mit seiner Durchführung noch nicht einmal begonnen wurde. 88 Sollte es zutreffen, dass die Durchführung des Windfarmprojekts noch nicht begonnen hat, wäre es aber jedenfalls wohl nicht erforderlich, die Wirkungen der Genehmigung vom 30. November 2016 während der Dauer der durch den Erlass und das Rundschreiben von 2006 vorgeschriebenen Umweltprüfung aufrechtzuerhalten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Juli 2017, Comune di Corridonia u. a., C‑196/16 und C‑197/16, EU:C:2017:589, Rn. 43, sowie vom 28. Februar 2018, Comune di Castelbellino, C‑117/17, EU:C:2018:129, Rn. 30). Daher wäre es Sache des vorlegenden Gerichts, die Genehmigung aufzuheben, die auf der Grundlage des „Plans“ oder „Programms“ erteilt wurde, der bzw. das seinerseits unter Verstoß gegen die Pflicht zur Vornahme einer Umweltprüfung angenommen worden war (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Februar 2012, Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne, C‑41/11, EU:C:2012:103, Rn. 46). 89 Eine solche Aufhebung müsste nach den in Rn. 83 des vorliegenden Urteils dargelegten Grundsätzen auch erfolgen, sollte sich herausstellen, dass mit der Durchführung des Windfarmprojekts begonnen wurde oder diese gar beendet ist. 90 Abgesehen davon ist erstens entschieden worden, dass unter Berücksichtigung des Vorliegens einer zwingenden Erwägung im Zusammenhang mit dem Umweltschutz ein nationales Gericht ausnahmsweise berechtigt sein kann, eine nationale Rechtsvorschrift wie die in Rn. 86 des vorliegenden Urteils genannte anzuwenden, die es ihm gestattet, bestimmte Wirkungen eines nationalen Rechtsakts aufrechtzuerhalten, bei dem das Verfahren zu seinem Erlass gegen die Richtlinie 2001/42 verstoßen hat, wenn die Gefahr besteht, dass die Aufhebung dieses Rechtsakts ein rechtliches Vakuum schaffen würde, das mit der Pflicht des betreffenden Mitgliedstaats unvereinbar wäre, die Maßnahmen zur Umsetzung eines anderen Unionsrechtsakts zum Schutz der Umwelt, wie der Richtlinie 91/676/EWG des Rates vom 12. Dezember 1991 zum Schutz der Gewässer vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen (ABl. 1991, L 375, S. 1), zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Februar 2012, Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne, C‑41/11, EU:C:2012:103, Rn. 56 und 63). 91 Insoweit führt das vorlegende Gericht aus, dass der Erlass und das Rundschreiben von 2006 zur Umsetzung der Ziele der Richtlinie 2009/28 betreffend die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen beitrügen. Auch wenn diese Art der Stromerzeugung von Umweltschutzerwägungen geleitet wird und ein übergeordnetes Ziel der Union im Energiebereich darstellt, kann jedoch nicht schon jedes Hindernis in deren Entwicklung auf dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, wie dasjenige, das sich aus der Aufhebung einer städtebaulichen Genehmigung ergeben kann, die einem Stromerzeuger und ‑lieferanten für die Errichtung einer begrenzten Anzahl von Windkraftanlagen erteilt wurde, ausreichen, um die Umsetzung der Richtlinie in diesem Mitgliedstaat allgemein zu gefährden. 92 Zweitens hat der Gerichtshof in Rn. 179 des Urteils vom 29. Juli 2019, Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen (C‑411/17, EU:C:2019:622), befunden, dass auch die Stromversorgungssicherheit des betreffenden Mitgliedstaats eine zwingende Erwägung darstellt. Gleichzeitig hat er jedoch klargestellt, dass die Stromversorgungssicherheit betreffende Erwägungen die Aufrechterhaltung der Wirkungen nationaler Maßnahmen, die unter Verstoß gegen die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Pflichten erlassen wurden, nur dann rechtfertigen können, wenn im Fall einer Aufhebung oder Aussetzung der Wirkungen dieser Maßnahmen die tatsächliche und schwerwiegende Gefahr einer Unterbrechung der Stromversorgung des betreffenden Mitgliedstaats bestünde, der nicht mit anderen Mitteln und Alternativen, insbesondere im Rahmen des Binnenmarkts, entgegengetreten werden kann. 93 Allerdings ist, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof vorgebracht hat und wie der Generalanwalt in Nr. 132 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht sicher, dass sich die Einstellung des Betriebs einer begrenzten Anzahl von Windkraftanlagen signifikant auf die Stromversorgung des gesamten betreffenden Mitgliedstaats auswirken kann. 94 Jedenfalls darf eine etwaige Aufrechterhaltung der Wirkungen dieser Rechtsakte nur für den Zeitraum gelten, der absolut notwendig ist, um die festgestellte Rechtswidrigkeit zu beseitigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Februar 2012, Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne, C‑41/11, EU:C:2012:103, Rn. 62, sowie vom 29. Juli 2019, Inter-Environnement Wallonie und Bond Beter Leefmilieu Vlaanderen, C‑411/17, EU:C:2019:622, Rn. 181). 95 Nach alledem ist auf die zweite Frage Buchst. h und i zu antworten, dass ein nationales Gericht, wenn sich herausstellt, dass vor der Annahme des Erlasses und des Rundschreibens, auf die eine vor ihm angefochtene Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen gestützt ist, eine Umweltprüfung im Sinne der Richtlinie 2001/42 hätte vorgenommen werden müssen, so dass die beiden Rechtsakte und die Genehmigung nicht mit dem Unionsrecht in Einklang stehen, die Wirkungen dieser Rechtsakte und dieser Genehmigung nur dann aufrechterhalten kann, wenn ihm dies im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits durch das innerstaatliche Recht gestattet ist und wenn sich die Aufhebung der Genehmigung signifikant auf die Stromversorgung des gesamten betreffenden Mitgliedstaats auswirken könnte, und zwar nur während des Zeitraums, der absolut notwendig ist, um dieser Rechtswidrigkeit abzuhelfen. Dies wird gegebenenfalls das vorlegende Gericht im Ausgangsrechtsstreit zu beurteilen haben. Kosten 96 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme ist dahin auszulegen, dass ein von der Regierung einer föderalen Einheit eines Mitgliedstaats angenommener Erlass und ein von ihr erlassenes Rundschreiben, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthalten, unter den Begriff „Pläne und Programme“ fallen. 2. Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 ist dahin auszulegen, dass ein Erlass und ein Rundschreiben, die jeweils unterschiedliche Bestimmungen über die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen enthalten, darunter Maßnahmen in Bezug auf Schattenwurf, Sicherheit und Geräuschpegelnormen, Pläne und Programme darstellen, die nach dieser Bestimmung einer Umweltprüfung unterzogen werden müssen. 3. Ein nationales Gericht kann, wenn sich herausstellt, dass vor der Annahme des Erlasses und des Rundschreibens, auf die eine vor ihm angefochtene Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb von Windkraftanlagen gestützt ist, eine Umweltprüfung im Sinne der Richtlinie 2001/42 hätte vorgenommen werden müssen, so dass die beiden Rechtsakte und die Genehmigung nicht mit dem Unionsrecht in Einklang stehen, die Wirkungen dieser Rechtsakte und dieser Genehmigung nur dann aufrechterhalten, wenn ihm dies im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits durch das innerstaatliche Recht gestattet ist und wenn sich die Aufhebung der Genehmigung signifikant auf die Stromversorgung des gesamten betreffenden Mitgliedstaats auswirken könnte, und zwar nur während des Zeitraums, der absolut notwendig ist, um dieser Rechtswidrigkeit abzuhelfen. Dies wird gegebenenfalls das vorlegende Gericht im Ausgangsrechtsstreit zu beurteilen haben. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 11. Juni 2020.#Strafverfahren gegen JI.#Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy w Słupsku.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2004/757/JI – Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels – Art. 2 Abs. 1 Buchst. c – Art. 4 Abs. 2 Buchst. a – Begriff ‚große Mengen von Drogen‘ – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gleichbehandlung – Art. 20 und 21 – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Art. 49.#Rechtssache C-634/18.
62018CJ0634
ECLI:EU:C:2020:455
2020-06-11T00:00:00
Sharpston, Gerichtshof
62018CJ0634 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 11. Juni 2020 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2004/757/JI – Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels – Art. 2 Abs. 1 Buchst. c – Art. 4 Abs. 2 Buchst. a – Begriff ‚große Mengen von Drogen‘ – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gleichbehandlung – Art. 20 und 21 – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Art. 49“ In der Rechtssache C‑634/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy w Słupsku (Bezirksgericht Słupsk, Polen) mit Entscheidung vom 20. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Oktober 2018, in dem Strafverfahren gegen JI, Beteiligte: Prokuratura Rejonowa w Słupsku, erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader, Generalanwältin: E. Sharpston, Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Oktober 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Prokuratura Rejonowa w Słupsku, vertreten durch P. Nierebiński, K. Nowicki und A. Klawitter, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, J. Sawicka und S. Żyrek als Bevollmächtigte, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Kasalická als Bevollmächtigte, – der spanischen Regierung, zunächst vertreten durch M. J. García-Valdecasas Dorrego, dann durch M. J. Ruiz Sánchez, als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte, – der schwedischen Regierung, vertreten durch H. Eklinder, A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev und J. Lundberg als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Szmytkowska und S. Grünheid als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 22. Januar 2020 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels (ABl. 2004, L 335, S. 8) in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c sowie mit den Art. 20, 21 und 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen JI wegen illegalen Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln und psychotropen Stoffen. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Die Erwägungsgründe 3 und 4 des Rahmenbeschlusses 2004/757 lauten: „(3) Es ist erforderlich, Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen im Bereich des illegalen Handels mit Drogen und Grundstoffen festzulegen, die einen gemeinsamen Ansatz auf der Ebene der Europäischen Union bei der Bekämpfung dieses illegalen Handels ermöglichen. (4) Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips sollten sich die Maßnahmen der Europäischen Union auf die schwersten Arten von Drogendelikten konzentrieren. Dass bestimmte Verhaltensweisen in Bezug auf den persönlichen Konsum aus dem Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses ausgenommen sind, stellt keine Leitlinie des Rates [der Europäischen Union] dafür dar, wie die Mitgliedstaaten diese anderen Fälle im Rahmen der nationalen Rechtsvorschriften regeln sollten.“ 4 Art. 2 („Straftaten in Verbindung mit illegalem Handel mit Drogen und Grundstoffen“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt: „(1)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass folgende vorsätzliche Handlungen unter Strafe gestellt werden, wenn sie ohne entsprechende Berechtigung vorgenommen wurden: a) das Gewinnen, Herstellen, Ausziehen, Zubereiten, Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Verkaufen, Liefern – gleichviel zu welchen Bedingungen –, Vermitteln, Versenden – auch im Transit –, Befördern, Einführen oder Ausführen von Drogen; … c) das Besitzen oder Kaufen von Drogen mit dem Ziel, eine der unter Buchstabe a) aufgeführten Handlungen vorzunehmen; … (2)   Die Handlungen nach Absatz 1 fallen nicht in den Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses, wenn die Täter sie ausschließlich für ihren persönlichen Konsum im Sinne des nationalen Rechts begangen haben.“ 5 Art. 4 („Strafen“) des Rahmenbeschlusses sieht vor: „(1)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 2 und 3 genannten Straftaten mit wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen bedroht sind. Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 2 genannten Straftaten mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens einem bis drei Jahren bedroht sind. (2)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben a), b) und c) genannten Straftaten mit Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens fünf bis zehn Jahren bedroht sind, wenn einer der folgenden Umstände vorliegt: a) [D]ie Straftat betrifft große Mengen von Drogen; …“ Polnisches Recht 6 Gemäß Art. 62 Abs. 1 der Ustawy o przeciwdziałaniu narkomanii (Gesetz zur Bekämpfung der Drogensucht) vom 29. Juli 2005 (Dz. U. 2005, Nr. 179, Position 1485) wird der Besitz von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen mit Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft. 7 Nach Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht wird der Besitz einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 8 Die Prokuratura Rejonowa w Słupsku (Bezirksstaatsanwaltschaft Słupsk, Polen) hat gegen JI beim vorlegenden Gericht, dem Sąd Rejonowy w Słupsku (Bezirksgericht Słupsk, Polen), am 7. November 2016 nach Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht ein Strafverfahren u. a. wegen der Straftat des Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln und psychotropen Stoffen eingeleitet. 9 Nach der Vorlageentscheidung besaß JI diese Substanzen für seinen persönlichen Gebrauch. 10 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Rahmenbeschluss 2004/757 den Ausdruck „große Mengen von Drogen“ im Sinne seines Art. 4 Abs. 2 Buchst. a nicht definiere. 11 Der Rahmenbeschluss 2004/757 sei durch das Gesetz zur Bekämpfung der Drogensucht umgesetzt worden, insbesondere durch dessen Art. 62 Abs. 2, nach dem der Besitz einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft werde. 12 Allerdings definiere auch diese Bestimmung nicht den Begriff der „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“, der im innerstaatlichen Umsetzungsrecht jenem der „große[n] Mengen von Drogen“ nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 entspreche. Die nationale Rechtsprechung habe bestimmte Kriterien für die Beurteilung herausgearbeitet, ob die Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen im Besitz des Täters unter den Tatbestand des Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht falle. Dieser Begriff sei jedoch weiterhin unscharf und werde von den innerstaatlichen Gerichten im Einzelfall unterschiedlich ausgelegt. 13 Dies habe zur Folge, dass Personen, die vergleichbare Mengen von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen besäßen, je nach Auslegung dieses Begriffs durch das für den jeweiligen Fall zuständige Gericht unterschiedlich behandelt werden könnten, was dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz zuwiderlaufen könnte. Da der Rahmenbeschluss 2004/757 keine Definition des Begriffs „große Mengen von Drogen“ im Sinne seines Art. 4 Abs. 2 Buchst. a enthalte, behielten die Mitgliedstaaten ferner einen beträchtlichen Ermessensspielraum bei der Umsetzung dieses Begriffs, was zu einer Ungleichbehandlung von Unionsbürgern je nach Tatbegehungsmitgliedstaat führen könne. 14 Im Übrigen hegt das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit von Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht mit dem in Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) festgeschriebenen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. 15 Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy w Słupsku (Bezirksgericht Słupsk) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist die unionsrechtliche Norm in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c dahin auszulegen, dass diese Vorschrift dem nicht entgegensteht, dass der Begriff „erhebliche Menge von Drogen“ in jedem Einzelfall im Rahmen einer individuellen Bewertung durch das nationale Gericht ausgelegt wird und dass diese Bewertung nicht die Anwendung irgendeines objektiven Kriteriums erfordert, insbesondere nicht die Feststellung, dass der Täter die Drogen für die Vornahme von Handlungen im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a dieses Rahmenbeschlusses besitzt, d. h. für das Gewinnen, Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Vermitteln, Liefern – gleichviel zu welchen Bedingungen? 2. Sind die zur Gewährleistung der Wirksamkeit und der Effektivität der im Rahmenbeschluss 2004/757, insbesondere in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. c dieses Rahmenbeschlusses, enthaltenen unionsrechtlichen Normen erforderlichen Maßnahmen des gerichtlichen Rechtsschutzes, soweit das Gesetz zur Bekämpfung der Drogensucht keine genaue Formulierung bezüglich der erheblichen Menge von Drogen enthält und diese Frage im Rahmen des sogenannten richterlichen Ermessens der Auslegung durch die in den konkreten Sachen entscheidenden Spruchkörper überlässt, ausreichend, um polnischen Staatsbürgern einen aus den unionsrechtlichen Normen, die Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels festlegen, folgenden wirksamen Schutz zu garantieren? 3. Ist die nationale Rechtsnorm in Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht mit dem Unionsrecht und insbesondere mit den Rechtsnormen in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c vereinbar, und, falls ja, steht der von polnischen nationalen Gerichten vorgenommenen Auslegung des Begriffs der erheblichen Menge von psychotropen Stoffen und Suchtmitteln nicht die unionsrechtliche Norm entgegen, wonach einer höheren Strafe unterliegt, wer eine strafbare Handlung des Besitzes großer Mengen von Drogen begeht, um in Art. 2 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2004/757 genannte Handlungen vorzunehmen? 4. Stehen Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht, der für die Tat des Besitzes von psychotropen Stoffen und Suchtmitteln in einer erheblichen Menge im Sinne der Auslegung durch polnische nationale Gerichte eine höhere Strafe vorsieht, nicht der Gleichheitsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK sowie Art. 20 und 21 der Charta in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EUV) entgegen? Zuständigkeit des Gerichtshofs 16 Als Erstes bestreitet die Bezirksstaatsanwaltschaft Słupsk die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen, weil das vorlegende Gericht mit seinen Fragen nicht auf die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof abziele, sondern zum einen auf die Auslegung einer Bestimmung des innerstaatlichen Rechts, nämlich Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht, und zum anderen auf eine Entscheidung über die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Rahmenbeschluss 2004/757. 17 Dazu ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit einigen seiner Fragen den Gerichtshof ersucht, sich zur Vereinbarkeit von Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht mit dem Unionsrecht zu äußern. 18 Zwar ist es nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV die Vereinbarkeit innerstaatlicher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen oder nationale Rechtsvorschriften auszulegen, jedoch ist er befugt, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteil vom 18. September 2019, VIPA, C‑222/18, EU:C:2019:751, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 19 Somit hat der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache seine Prüfung auf die Bestimmungen des Unionsrechts zu beschränken und diese Bestimmungen in einer für das vorlegende Gericht sachdienlichen Weise auszulegen; diesem obliegt es, im Hinblick auf die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen (Urteil vom 26. Juli 2017, Europa Way und Persidera, C‑560/15, EU:C:2017:593, Rn. 36). 20 Somit sind die vorgelegten Fragen im Hinblick auf ihren Wortlaut und auf die Begründung der Vorlageentscheidung so zu verstehen, dass sie auf die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c und Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 sowie der Art. 20, 21 und 49 der Charta abzielen, so dass die von der Bezirksstaatsanwaltschaft Słupsk erhobene Unzuständigkeitseinrede zurückzuweisen ist. 21 Als Zweites sind die Bezirksstaatsanwaltschaft Słupsk, die polnische, die spanische und die schwedische Regierung sowie die Europäische Kommission der Auffassung, dass die vorgelegten Fragen nicht zu beantworten seien, weil der JI betreffende Sachverhalt nicht in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2004/757 falle. Sie machen geltend, dass JI nach der Vorlageentscheidung ausschließlich wegen des Besitzes von Drogen für den persönlichen Konsum verfolgt werde, was gemäß Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2004/757 eine Handlung darstelle, die nicht in dessen Anwendungsbereich falle. 22 Gemäß Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2004/757 ist in diesem Zusammenhang der Besitz von Drogen ausschließlich für den persönlichen Konsum im Sinne des nationalen Rechts vom Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses ausgenommen. 23 Im vorliegenden Fall wird JI nach der Vorlageentscheidung die Straftat des Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln und psychotropen Stoffen gemäß Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht vorgeworfen, wobei er diese Substanzen für den persönlichen Konsum besessen haben soll. Dieser Sachverhalt fällt somit nicht in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses 2004/757. 24 Allerdings hat der Gerichtshof wiederholt seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht, die Unionsvorschriften in Fällen betrafen, in denen der betreffende Sachverhalt nicht unter das Unionsrecht und daher allein in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fiel, aber diese Unionsvorschriften aufgrund eines Verweises im nationalen Recht auf ihren Inhalt galten (Urteil vom 12. Juli 2012, SC Volksbank România, C‑602/10, EU:C:2012:443, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung). 25 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang insbesondere darauf hingewiesen, dass dann, wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten sollen, um beispielsweise zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, oder um sicherzustellen, dass in vergleichbaren Fällen ein einheitliches Verfahren angewandt wird, ein klares Interesse daran besteht, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern (Urteil vom 12. Juli 2012, SC Volksbank România, C‑602/10, EU:C:2012:443, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung). 26 Somit rechtfertigt sich eine Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts durch den Gerichtshof in Sachverhalten, die nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen, wenn diese Vorschriften vom nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für auf diese Sachverhalte anwendbar erklärt worden sind, um zu gewährleisten, dass diese Sachverhalte und die durch das Unionsrecht geregelten Sachverhalte gleich behandelt werden (Urteil vom 18. Oktober 2012, Nolan, C‑583/10, EU:C:2012:638, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 27 Im vorliegenden Fall lässt sich der Vorlageentscheidung entnehmen, dass der Rahmenbeschluss 2004/757 durch das Gesetz zur Bekämpfung der Drogensucht in polnisches Recht umgesetzt wurde. Konkret geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts sowie aus den Ausführungen der polnischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hervor, dass Art. 62 Abs. 2 dieses Gesetzes Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses sowie den Begriff „große Mengen von Drogen“ in dessen Art. 4 Abs. 2 Buchst. a in innerstaatliches Recht umgesetzt hat. 28 Wie die Bezirksstaatsanwaltschaft Słupsk und die polnische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof dargelegt haben, sanktioniert Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht jeden Besitz einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen, sei es für den persönlichen Konsum oder zu anderen Zwecken, d. h. insbesondere im Hinblick auf die Vornahme einer der in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 aufgezählten Handlungen. 29 Da der Erschwerungsgrund des Besitzes von „große[n] Mengen von Drogen“ im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 im Wege des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht auf vom Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses ausgenommene Handlungen, nämlich den Drogenbesitz ausschließlich für den persönlichen Konsum, Anwendung findet, besteht ein klares Interesse an einer einheitlichen Auslegung dieser unionsrechtlichen Bestimmung. 30 Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zuständig. Zu den Vorlagefragen 31 Mit seinen Fragen, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c sowie mit den Art. 20, 21 und 49 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Qualifizierung des Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen sowohl für den persönlichen Konsum als auch zum Zweck des illegalen Drogenhandels als strafbare Handlung durch einen Mitgliedstaat entgegensteht, wenn die Auslegung des Begriffs der „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“ der Einzelfallbeurteilung der innerstaatlichen Gerichte überlassen wird. 32 Dazu ist festzuhalten, dass der Rahmenbeschluss 2004/757 insbesondere auf der Grundlage von Art. 31 Abs. 1 Buchst. e EU erlassen wurde, nach dem das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen die schrittweise Annahme von Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels einschloss. 33 Darüber hinaus geht aus dem dritten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2004/757 hervor, dass dieser Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Handels mit Drogen und Grundstoffen festlegt, die auf die Schaffung eines gemeinsamen Ansatzes auf der Ebene der Union bei der Bekämpfung dieses illegalen Handels abzielen. 34 Im Besonderen ist gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c sowie Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2004/757 das Besitzen von Drogen mit dem Ziel, das Gewinnen, Herstellen, Ausziehen, Zubereiten, Anbieten, Feilhalten, Verteilen, Verkaufen, Liefern – gleichviel zu welchen Bedingungen –, Vermitteln, Versenden – auch im Transit –, Befördern, Einführen oder Ausführen vorzunehmen, als strafbare Handlung zu qualifizieren, die mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens einem bis drei Jahren bedroht ist. 35 Im Übrigen sieht Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses vor, dass die Mitgliedstaaten diese Straftat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens fünf bis zehn Jahren ahnden müssen, wenn sie „große Mengen von Drogen“ betrifft. 36 Allerdings schließt zum einen, wie Rn. 22 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2004/757 u. a. den Besitz von Drogen ausschließlich für den persönlichen Konsum im Sinne des nationalen Rechts vom Anwendungsbereich dieses Rahmenbeschlusses aus. Zum anderen heißt es im vierten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2004/757, dass der Ausschluss bestimmter Verhaltensweisen in Bezug auf den persönlichen Konsum aus dem Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses keine Leitlinie des Rates dafür darstellt, wie die Mitgliedstaaten diese anderen Fälle im Rahmen der nationalen Rechtsvorschriften regeln sollten. 37 Daraus folgt, wie die Generalanwältin in Nr. 47 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, den Besitz großer Mengen von Drogen für den Eigenbedarf als schwere Straftat zu behandeln. 38 Für das vorlegende Gericht stellt sich jedoch, wie in den Rn. 12 bis 14 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Frage, ob die in den Art. 20, 21 und 49 der Charta niedergelegten Grundsätze der Gleichheit vor dem Gesetz, der Nichtdiskriminierung sowie der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass der nationale Gesetzgeber die nähere Bestimmung des Begriffs der „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“ in Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht – der den Begriff „große Mengen von Drogen“ in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 in innerstaatliches Recht umsetzt – der Einzelfallauslegung durch die nationalen Gerichte überlässt. 39 Dazu ist darauf hinzuweisen, dass die Rahmenbeschlüsse für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind, den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und der Mittel überlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 69). 40 In diesem Zusammenhang verpflichten Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c sowie Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 die Mitgliedstaaten nur dann zur Ahndung von mit dem illegalen Handel verbundenem Drogenbesitz mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens fünf bis zehn Jahren, wenn „große Mengen von Drogen“ involviert sind. 41 Dieser Rahmenbeschluss enthält aber zum einen keine Definition des Begriffs „große Mengen von Drogen“ im Sinne seines Art. 4 Abs. 2 Buchst. a. Zum anderen stellt der Rahmenbeschluss, wie aus den Rn. 32 und 33 des vorliegenden Urteils hervorgeht, nur ein Mindestharmonisierungsinstrument dar. Folglich verfügen die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Umsetzung dieses Tatbestands in ihr innerstaatliches Recht über einen großen Ermessensspielraum. 42 Bei der Durchführung des Unionsrechts sind die Mitgliedstaaten gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta zur Einhaltung der von dieser gewährleisteten Grundrechte verpflichtet, darunter insbesondere jener nach den Art. 20, 21 und 49 der Charta (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17 und 18). 43 In diesem Zusammenhang ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass die Grundsätze der Gleichheit vor dem Gesetz und der Nichtdiskriminierung nach den Art. 20 und 21 der Charta verlangen, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C‑303/05, EU:C:2007:261, Rn. 56). 44 Im vorliegenden Fall ist festzuhalten, dass erstens Art. 62 Abs. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung der Drogensucht keine Ungleichbehandlung zwischen möglichen Tätern normiert, wenn er vorsieht, dass der Besitz einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft wird. 45 Zweitens stellt, wie die Generalanwältin in Nr. 62 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, der Umstand, dass die nationalen Gerichte bei der Auslegung und Anwendung einer Bestimmung des nationalen Rechts über ein gewisses Ermessen verfügen, als solcher keinen Verstoß gegen die Art. 20 und 21 der Charta dar. 46 Drittens schließlich legt der Rahmenbeschluss 2004/757, wie aus den Rn. 32 und 33 des vorliegenden Urteils hervorgeht, nur Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Handels mit Drogen und Grundstoffen fest. Folglich kann das Bestehen von Unterschieden zwischen den Maßnahmen zur Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses in den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsordnungen nicht als Verstoß gegen den Nichtdiskriminierungsgrundsatz angesehen werden (vgl. entsprechend Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C‑303/05, EU:C:2007:261, Rn. 59 und 60). 47 Als Zweites ist festzustellen, dass der in Art. 49 Abs. 1 der Charta niedergelegte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen u. a. in Art. 7 Abs. 1 EMRK festgeschrieben worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 53). Gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta hat das in ihrem Art. 49 gewährleistete Recht die gleiche Bedeutung und Tragweite wie jenes nach der EMRK. 48 Nach diesem Grundsatz müssen Strafvorschriften hinsichtlich der Definition sowohl des Straftatbestands als auch des Strafmaßes bestimmten Anforderungen an die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit genügen (Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Daraus folgt, dass die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen im Gesetz klar definiert sein müssen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a., C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 71, sowie vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 56). 50 Im Übrigen darf der Bestimmtheitsgrundsatz nicht so verstanden werden, dass er die schrittweise Klärung der Vorschriften über die strafrechtliche Verantwortlichkeit durch Auslegung seitens der Gerichte untersagt, sofern sie hinreichend vorhersehbar ist (Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 167 und die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Somit ist der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen dahin auszulegen, dass er dem nicht entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat verschärfte strafrechtliche Sanktionen für die Straftat des Besitzes einer „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“ vorsieht und die Auslegung dieses Begriffs den innerstaatlichen Gerichten im Einzelfall überlässt, sofern diese Beurteilung den in den Rn. 48 bis 50 des vorliegenden Urteils dargelegten Anforderungen an die Vorhersehbarkeit entspricht. 52 In Anbetracht der gesamten vorstehenden Erwägungen ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757 in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c sowie mit den Art. 20, 21 und 49 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Qualifizierung des Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen sowohl für den persönlichen Konsum als auch zum Zweck des illegalen Drogenhandels als strafbare Handlung durch einen Mitgliedstaat nicht entgegensteht, wenn die Auslegung des Begriffs der „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“ der Einzelfallbeurteilung der innerstaatlichen Gerichte überlassen wird, sofern diese Beurteilung hinreichend vorhersehbar ist. Kosten 53 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Art. 4 Abs. 2 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels in Verbindung mit dessen Art. 2 Abs. 1 Buchst. c sowie mit den Art. 20, 21 und 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er der Qualifizierung des Besitzes einer erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen sowohl für den persönlichen Konsum als auch zum Zweck des illegalen Drogenhandels als strafbare Handlung durch einen Mitgliedstaat nicht entgegensteht, wenn die Auslegung des Begriffs der „erheblichen Menge von Suchtmitteln oder psychotropen Stoffen“ der Einzelfallbeurteilung der innerstaatlichen Gerichte überlassen wird, sofern diese Beurteilung hinreichend vorhersehbar ist. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
Beschluss des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 2. April 2020.#Petrus Kerstens gegen Europäische Kommission.#Wiederaufnahmeantrag – Art. 159 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Voraussetzungen – Keine Beweise – Keine Tatsache von entscheidender Bedeutung – Unzulässigkeit.#Rechtssache C-577/18 P-REV.
62018CO0577(01)
ECLI:EU:C:2020:250
2020-04-02T00:00:00
Hogan, Gerichtshof
EUR-Lex - CELEX:62018CO0577(01) - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62018CO0577(01) - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62018CO0577(01) Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 2. April 2020.#Caisse de retraite du personnel navigant professionnel de l'aéronautique civile (CRPNPAC) gegen Vueling Airlines SA und Vueling Airlines SA gegen Jean-Luc Poignant.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal de grande instance de Bobigny und der Cour de cassation (Frankreich).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Wanderarbeitnehmer – Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Art. 14 Nr. 1 Buchst. a – Entsendung von Arbeitnehmern – Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i – Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist und von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die das Unternehmen außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem es seinen Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält – Verordnung (EWG) Nr. 574/72 – Art. 11 Abs. 1 Buchst. a – Art. 12a Abs. 1a – Bescheinigung E 101 – Bindungswirkung – Auf betrügerische Weise erlangte oder geltend gemachte Bescheinigung – Befugnis der Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats, den Betrug festzustellen und die Bescheinigung außer Acht zu lassen – Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 – Zusammenarbeit der zuständigen Träger – Bindung der Zivilgerichte an die Rechtskraft einer strafgerichtlichen Entscheidung – Vorrang des Unionsrechts.#Verbundene Rechtssachen C-370/17 und C-37/18.
62017CJ0370
ECLI:EU:C:2020:260
2020-04-02T00:00:00
Gerichtshof, Saugmandsgaard Øe
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62017CJ0370 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 2. April 2020 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Wanderarbeitnehmer – Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Art. 14 Nr. 1 Buchst. a – Entsendung von Arbeitnehmern – Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i – Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist und von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die das Unternehmen außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem es seinen Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält – Verordnung (EWG) Nr. 574/72 – Art. 11 Abs. 1 Buchst. a – Art. 12a Abs. 1a – Bescheinigung E 101 – Bindungswirkung – Auf betrügerische Weise erlangte oder geltend gemachte Bescheinigung – Befugnis der Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats, den Betrug festzustellen und die Bescheinigung außer Acht zu lassen – Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 – Zusammenarbeit der zuständigen Träger – Bindung der Zivilgerichte an die Rechtskraft einer strafgerichtlichen Entscheidung – Vorrang des Unionsrechts“ In den verbundenen Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18 betreffend zwei Ersuchen um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de grande instance de Bobigny (Regionalgericht Bobigny, Frankreich) mit Entscheidung vom 30. März 2017 (C‑370/17) und von der Cour de cassation (Kassationshof, Frankreich) mit Entscheidung vom 10. Januar 2018 (C‑37/18), beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juni 2017 und am 19. Januar 2018, in den Verfahren Caisse de retraite du personnel navigant professionnel de l’aéronautique civile (CRPNPAC) gegen Vueling Airlines SA (C‑370/17) und Vueling Airlines SA gegen Jean-Luc Poignant (C‑37/18) erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan (Berichterstatter), M. Safjan, S. Rodin und I. Jarukaitis, des Richters M. Ilešič, der Richterin C. Toader sowie der Richter D. Šváby und F. Biltgen, Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe, Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. Januar 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Caisse de retraite du personnel navigant professionnel de l’aéronautique civile (CRPNPAC), vertreten durch A. Lyon-Caen und S. Guedes, avocats, – der Vueling Airlines SA, vertreten durch D. Calciu, B. Le Bret, F. de Rostolan und E. Logeais, avocats, – von Herrn Poignant, vertreten durch A. Lyon-Caen und S. Guedes, avocats, – der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, A. Alidière, A. Daly und A.‑L. Desjonquères als Bevollmächtigte, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Pavliš als Bevollmächtigte, – Irlands, vertreten durch M. Browne, G. Hodge, K. Skelly, N. Donnelly und A. Joyce als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Van Hoof und D. Martin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juli 2019 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a und Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. 2004, L 100, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) sowie von Art. 11 Abs. 1 und Art. 12a Abs. 1a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. 2005, L 117, S. 1) (im Folgenden: Verordnung Nr. 574/72). 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen der Caisse de retraite du personnel navigant professionnel de l’aéronautique civile (CRPNPAC) und der Vueling Airlines SA (im Folgenden: Vueling) sowie zwischen Vueling und Herrn Jean-Luc Poignant wegen Bescheinigungen E 101, die vom zuständigen spanischen Träger in Bezug auf das am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle (Frankreich) tätige fliegende Personal von Vueling ausgestellt wurden. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Verordnung Nr. 1408/71 3 Titel II („Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“) der Verordnung Nr. 1408/71 enthielt ihre Art. 13 bis 17. 4 Art. 13 („Allgemeine Regelung“) der Verordnung Nr. 1408/71 sah vor: „(1)   Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel. (2)   Vorbehaltlich der Artikel 14 bis 17 gilt Folgendes: a) Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat; …“ 5 In Art. 14 („Sonderregelung für andere Personen als Seeleute, die eine abhängige Beschäftigung ausüben“) der Verordnung hieß es: „Vom Grundsatz des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a) gelten folgende Ausnahmen und Besonderheiten: 1. a) Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, abhängig beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist. … 2. Eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist, unterliegt den wie folgt bestimmten Rechtsvorschriften: a) Eine Person, die als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines Unternehmens beschäftigt wird, das für Rechnung Dritter oder für eigene Rechnung im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen oder Gütern im Schienen‑, Straßen‑, Luft- oder Binnenschifffahrtsverkehr durchführt und seinen Sitz im Gebiet des Mitgliedstaats hat, unterliegt den Rechtsvorschriften des letzten Mitgliedstaats mit folgender Einschränkung: i) Eine Person, die von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die das Unternehmen außerhalb des Gebietes des Mitgliedstaats, in dem es seinen Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält, unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich die Zweigstelle oder die ständige Vertretung befindet; …“ 6 Der zu Titel IV („Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer“) der Verordnung Nr. 1408/71 gehörende Art. 80 („Zusammensetzung und Arbeitsweise“) sah in Abs. 1 vor: „Der bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften eingesetzten Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer – im Folgenden ‚Verwaltungskommission‘ genannt – gehört je ein Regierungsvertreter jedes Mitgliedstaats an, der gegebenenfalls von Fachberatern unterstützt wird. Ein Vertreter der Kommission der Europäischen Gemeinschaften nimmt mit beratender Stimme an den Sitzungen der Verwaltungskommission teil.“ 7 Der zu Titel VI („Verschiedene Vorschriften“) der Verordnung gehörende Art. 84a („Beziehungen zwischen Trägern und Personen im Geltungsbereich dieser Verordnung“) bestimmte in Abs. 3: „Werden durch Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung dieser Verordnung die Rechte einer Person im Geltungsbereich dieser Verordnung in Frage gestellt, so setzt sich der Träger des zuständigen Staates bzw. des Wohnstaats der betreffenden Person mit dem Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats oder den Trägern der anderen betroffenen Mitgliedstaaten in Verbindung. Wird binnen einer angemessenen Frist keine Lösung gefunden, so können die betreffenden Behörden die Verwaltungskommission befassen.“ Verordnung (EG) Nr. 883/2004 8 Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde zum 1. Mai 2010 durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt im ABl. 2004, L 200, S. 1), geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 465/2012 des Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4) (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004), aufgehoben und ersetzt. Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung, der ihre Art. 11 bis 16 enthält, ersetzt die Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71, während Art. 71 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 im Wesentlichen Art. 80 und Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 entsprechen. Verordnung Nr. 574/72 9 Art. 11 („Formvorschriften bei Entsendung eines Arbeitnehmers gemäß Artikel 14 [Nr.] 1 und Artikel 14b [Nr.] 1 der Verordnung und bei Vereinbarungen gemäß Artikel 17 der Verordnung“) der Verordnung Nr. 574/72 bestimmte in Abs. 1: „Der Träger, den die zuständige Behörde desjenigen Mitgliedstaats bezeichnet, dessen Rechtsvorschriften weiterhin anzuwenden sind, stellt a) auf Antrag des Arbeitnehmers oder seines Arbeitgebers in den Fällen des Artikels 14 [Nr.] 1 und des Artikels 14b [Nr.] 1 der Verordnung, … eine Bescheinigung darüber aus, dass und bis zu welchem Zeitpunkt diese Rechtsvorschriften weiterhin für den Arbeitnehmer gelten.“ 10 Art. 12a („Vorschriften für die in Artikel 14 [Nrn.] 2 und 3, Artikel 14a [Nrn.] 2 bis 4 und Artikel 14c der Verordnung genannten Personen, die eine Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausüben“) der Verordnung Nr. 574/72 sah in Abs. 1a vor: „Gelten nach Artikel 14 [Nr.] 2 Buchstabe a der Verordnung für eine Person, die als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines internationalen Transportunternehmens beschäftigt wird, die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich entweder der Sitz, die Zweigstelle oder die ständige Vertretung des Unternehmens, das sie beschäftigt, oder aber der Ort befindet, an dem sie wohnt und überwiegend beschäftigt ist, so stellt der von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats bezeichnete Träger der betroffenen Person eine Bescheinigung darüber aus, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für sie gelten.“ Verordnung (EG) Nr. 987/2009 11 Die Verordnung Nr. 574/72 wurde zum 1. Mai 2010 durch die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 1) aufgehoben und ersetzt. 12 Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 lautet: „(1)   Vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, sind für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden. (2)   Bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt, wendet sich der Träger des Mitgliedstaats, der das Dokument erhält, an den Träger, der das Dokument ausgestellt hat, und ersucht diesen um die notwendige Klarstellung oder gegebenenfalls um den Widerruf dieses Dokuments. Der Träger, der das Dokument ausgestellt hat, überprüft die Gründe für die Ausstellung und widerruft das Dokument gegebenenfalls. (3)   Bei Zweifeln an den Angaben der betreffenden Personen, der Gültigkeit eines Dokuments oder der Belege oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, nimmt der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts, soweit dies möglich ist, nach Absatz 2 auf Verlangen des zuständigen Trägers die nötige Überprüfung dieser Angaben oder dieses Dokuments vor. (4)   Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden frühestens einen Monat nach dem Zeitpunkt, zu dem der Träger, der das Dokument erhalten hat, sein Ersuchen vorgebracht hat, die Verwaltungskommission anrufen. Die Verwaltungskommission bemüht sich nach ihrer Befassung binnen sechs Monaten um eine Annäherung der Standpunkte.“ Französisches Recht Code du travail 13 Art. L. 1262-3 des Code du travail (Arbeitsgesetzbuch) bestimmte in seiner auf den Sachverhalt der Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung: „Ein Arbeitgeber kann sich nicht auf die für die Entsendung von Arbeitnehmern geltenden Bestimmungen berufen, wenn seine Tätigkeit vollständig auf das Inland ausgerichtet ist oder wenn sie in Geschäftsräumen oder mittels Einrichtungen im Inland stattfindet, von wo aus sie gewöhnlich, dauerhaft und fortgesetzt ausgeübt wird. Er kann sich insbesondere nicht auf diese Bestimmungen berufen, wenn seine Tätigkeit das Anwerben und die Akquisition von Kunden oder die Einstellung von Arbeitnehmern im Inland umfasst. In diesen Fällen unterliegt der Arbeitgeber den für Unternehmen mit Sitz im Inland geltenden Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuchs.“ 14 Art. L. 8221-3 des Arbeitsgesetzbuchs sah vor: „Als Schwarzarbeit durch Verschleierung einer Tätigkeit gilt die gewinnorientierte Ausübung einer Produktions‑, Verarbeitungs‑, Reparatur- oder Dienstleistungstätigkeit oder die Durchführung von Handelsgeschäften durch eine natürliche oder juristische Person, die, indem sie sich vorsätzlich ihren Pflichten entzieht, … 2. … es unterlassen hat, die bei den Sozialversicherungsträgern oder der Abgabenverwaltung gemäß den geltenden Rechtsvorschriften abzugebenden Anmeldungen einzureichen.“ Code de l’aviation civile 15 Art. R. 330-2-1 des Code de l’aviation civile (Gesetzbuch über die Zivilluftfahrt) lautet: „Artikel [L. 1262-3] des Arbeitsgesetzbuchs ist auf Luftverkehrsunternehmen in Bezug auf ihre Betriebsstützpunkte im französischen Hoheitsgebiet anwendbar. Ein Betriebsstützpunkt ist eine Gesamtheit von Geschäftsräumen oder Einrichtungen, von denen aus ein Unternehmen dauerhaft, gewöhnlich und fortgesetzt eine Beförderungstätigkeit im Luftverkehr mit Arbeitnehmern ausübt, die dort den tatsächlichen Mittelpunkt ihrer beruflichen Tätigkeit haben. Im Sinne der vorstehenden Bestimmungen ist als Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit eines Arbeitnehmers der Ort anzusehen, an dem er gewöhnlich arbeitet, oder der Ort, an dem er seinen Dienst antritt und an den er nach Erfüllung seiner Aufgaben zurückkehrt.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen Rechtssache C‑370/17 16 Vueling ist eine Fluggesellschaft mit Sitz in Barcelona (Spanien), die wegen der Errichtung eines Geschäftsbetriebs für den Luftverkehr und die Selbstabfertigung der Bodendienste am Terminal I des Flughafens Roissy – Charles de Gaulle in das Handels- und Gesellschaftsregister von Bobigny (Frankreich) eingetragen wurde. Am 21. Mai 2007 nahm sie den Flugbetrieb zwischen mehreren spanischen Städten und diesem Flughafen auf. 17 Am 28. Mai 2008 erstellte die Gewerbeaufsicht Roissy III Flughafen (Frankreich) (im Folgenden: Gewerbeaufsicht) im Anschluss an Kontrollen, die ab Januar 2008 stattgefunden hatten, ein Protokoll wegen Schwarzarbeit gegenüber Vueling. 18 In diesem Protokoll stellte sie fest, dass Vueling am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle Geschäftsräume für die Betriebsführung und die Geschäftsleitung, Räume für die Erholung und die Flugvorbereitung des fliegenden Personals sowie ein Überwachungsbüro für den Ticket- und Eincheck-Schalter der Fluggäste unterhalte. Sie beschäftige dort 50 Personen als Kabinenpersonal und 25 Personen als technisches Flugpersonal, deren Arbeitsverträge spanischem Recht unterlägen, sowie Bodenpersonal, darunter einen kaufmännischen Direktor, deren Arbeitsverträge französischem Recht unterlägen. 19 Die Gewerbeaufsicht führte aus, nur das Bodenpersonal sei bei den französischen Sozialversicherungsträgern angemeldet worden; das fliegende Personal habe von der Tesorería general de la seguridad social de Cornellà de Llobregat (Allgemeine Sozialversicherungsanstalt von Cornellà de Llobregat, Spanien) (im Folgenden: ausstellender spanischer Träger) ausgestellte Bescheinigungen E 101 vorgewiesen, die bestätigt hätten, dass sie gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 vorübergehend nach Frankreich entsandt worden seien. Sie stellte fest, dass 48 Beschäftigte weniger als 30 Tage vor ihrer tatsächlichen Entsendung nach Frankreich eingestellt worden seien, einige von ihnen am selben Tag oder am Vortag, und schloss daraus, dass sie im Hinblick auf ihre Entsendung eingestellt worden seien. Bei 21 dieser Beschäftigten sei auf dem Gehaltszettel eine Adresse in Frankreich angegeben worden, und eine beträchtliche Zahl von Entsendemeldungen habe unrichtige Wohnsitzangaben enthalten, die verschleiert hätten, dass die meisten entsandten Arbeitnehmer ihren Wohnsitz nicht in Spanien gehabt hätten; einige hätten nie in Spanien gelebt. 20 Die Gewerbeaufsicht fügte hinzu, Vueling habe am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle über einen Betriebsstützpunkt im Sinne von Art. R. 330‑2‑1 des Gesetzbuchs über die Zivilluftfahrt verfügt, da das fliegende Personal dieser Gesellschaft seinen Dienst dort angetreten und beendet habe. Sie schloss daraus, dass sich Vueling gemäß Art. L. 1262‑3 des Arbeitsgesetzbuchs nicht auf die Rechtsvorschriften über die Entsendung von Arbeitnehmern berufen könne. 21 Die Gewerbeaufsicht schloss daraus ferner, dass die betreffenden Arbeitnehmer dem französischen Arbeitsgesetzbuch unterlägen und nicht als entsandte Arbeitnehmer eingestuft werden könnten. Es liege ein Missbrauch der Entsendung sowie ein Schaden für die entsandten Arbeitnehmer vor, die insbesondere vom Zugang zu den Ansprüchen des französischen Sozialversicherungssystems ausgeschlossen würden; es bestehe aber auch ein Schaden für die Allgemeinheit, da der Arbeitgeber die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge nicht entrichtet habe. Die Bescheinigung E 101 begründe zwar die Vermutung einer sozialversicherungsrechtlichen Eingliederung, sei aber kein Beleg für die Rechtmäßigkeit der Entsendung. 22 Auf der Basis dieses Protokolls erhob die CRPNPAC am 11. August 2008 beim Tribunal de grande instance de Bobigny (Regionalgericht Bobigny, Frankreich) Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr dadurch entstanden sein soll, dass das von Vueling am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle beschäftigte fliegende Personal nicht an das von ihr betriebene Zusatzrentensystem angeschlossen worden sei. 23 Überdies wurde Vueling beim Tribunal correctionnel de Bobigny (Strafgericht Bobigny, Frankreich) wegen des Delikts der Schwarzarbeit durch Verschleierung einer Tätigkeit im Sinne von Art. L. 8221‑3 des Arbeitsgesetzbuchs angeklagt, weil sie am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle in der Zeit vom 21. Mai 2007 bis zum 16. Mai 2008 vorsätzlich die Tätigkeit der Beförderung von Fluggästen im Luftverkehr ausgeübt habe, ohne die erforderlichen Anmeldungen bei den Sozialversicherungsträgern oder der Steuerverwaltung vorzunehmen, wobei sie insbesondere die in Frankreich ausgeübte Tätigkeit verschleiert und widerrechtlich als Arbeitnehmerentsendung getarnt habe, obwohl die Arbeitnehmer allein zu dem Zweck eingestellt worden seien, von Betriebsstützpunkten, die sich in Frankreich befänden, aus im französischen Hoheitsgebiet tätig zu werden. 24 Das Tribunal de grande instance de Bobigny (Regionalgericht Bobigny) beschloss, das Verfahren wegen der von der CRPNPAC gegen Vueling erhobenen Zivilklage bis zum Erlass einer rechtskräftigen Entscheidung in dem genannten Strafverfahren auszusetzen. 25 Mit Urteil vom 1. Juli 2010 sprach das Tribunal correctionnel de Bobigny (Strafgericht Bobigny) Vueling frei. 26 Mit Urteil vom 31. Januar 2012 hob die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) dieses Urteil auf und verurteilte Vueling wegen Schwarzarbeit zu einer Geldstrafe in Höhe von 100000 Euro. 27 Das Berufungsgericht führte zur Begründung seines Urteils aus, nachdem Vueling in Spanien technisches Flugpersonal und Kabinenpersonal eingestellt habe und diesen Arbeitnehmern vom ausstellenden spanischen Träger auf der Grundlage von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 Bescheinigungen E 101 ausgestellt worden seien, habe die Gesellschaft ihre Tätigkeit gleichwohl am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle im Rahmen einer Zweigstelle oder zumindest eines Betriebsstützpunkts im Sinne von Art. R. 330‑2‑1 des Gesetzbuchs über die Zivilluftfahrt ausgeübt. Dieser Betrieb verfüge über funktionelle Autonomie, und deshalb könne Vueling nicht geltend machen, dass eine organische Verbindung zwischen ihr und dem betreffenden Personal fortbestanden habe. 28 Die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) führte weiter aus, Vueling habe vorsätzlich gegen die geltenden Bestimmungen verstoßen, insbesondere indem sie bei 41 der betreffenden Arbeitnehmer die Adresse ihres eigenen Sitzes als Wohnsitz angegeben habe, ohne dass sie in der Lage gewesen wäre, dafür eine nachvollziehbare, den Betrugsverdacht entkräftende Erklärung zu liefern, so dass die Gesellschaft nicht geltend machen könne, einen unvermeidlichen Rechtsirrtum begangen zu haben, weil sie an die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens geglaubt habe. Die Bescheinigungen E 101 begründeten zwar eine die zuständigen französischen Sozialversicherungsträger bindende Vermutung der Eingliederung der Arbeitnehmer in das spanische Sozialversicherungssystem; sie könnten es den französischen Strafgerichten aber nicht verwehren, einen vorsätzlichen Verstoß gegen die in Frankreich für die Gültigkeit der Arbeitnehmerentsendung maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen festzustellen. 29 Am 4. April 2012 unterrichtete die Union de recouvrement des cotisations de sécurité sociale et d’allocations familiales de Seine-et-Marne (Verband für die Erhebung der Beiträge der sozialen Sicherheit und der Familienbeihilfen des Departements Seine-et-Marne, Frankreich) (im Folgenden: Urssaf) den spanischen Träger, der die fraglichen Bescheinigungen E 101 ausgestellt hatte, über die Vorgänge und ersuchte ihn, die Bescheinigungen für ungültig zu erklären. 30 Mit Urteil vom 11. März 2014 wies die Kammer für Strafsachen der Cour de cassation (Kassationshof, Frankreich) die von Vueling gegen das Urteil der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) vom 31. Januar 2012 eingelegte Kassationsbeschwerde zurück. Sie führte aus, die Tätigkeit von Vueling am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle sei gewöhnlich, dauerhaft und fortgesetzt in Geschäftsräumen oder mittels Einrichtungen im Inland ausgeübt worden, so dass Vueling im Inland über eine Zweigstelle oder zumindest einen Betriebsstützpunkt verfügt habe. Vueling könne sich daher nicht auf die Bescheinigungen E 101 berufen, um die Rechtmäßigkeit der fraglichen Entsendungen nachzuweisen und es den nationalen Gerichten zu verwehren, einen vorsätzlichen Verstoß gegen französische Rechtsvorschriften festzustellen. 31 Mit Bescheid vom 17. April 2014 erklärte der ausstellende spanische Träger im Anschluss an das Ersuchen der Urssaf vom 4. April 2012 die Bescheinigungen E 101 für ungültig. 32 Am 29. Mai 2014 legte Vueling gegen diesen Bescheid Beschwerde ein. 33 Die zuständige Beschwerdeinstanz wies diese Beschwerde mit Entscheidung vom 1. August 2014 zurück. Mit Änderungsentscheidung vom 5. Dezember 2014 setzte sie jedoch die Ungültigerklärung der Bescheinigungen E 101 außer Kraft. Dabei stützte sie sich darauf, dass es wegen der mittlerweile verstrichenen Zeit und aufgrund der Tatsache, dass die zuvor entrichteten Beiträge wegen Verjährung nicht erstattet werden könnten, nicht zweckmäßig sei, die Zugehörigkeit der betreffenden Arbeitnehmer zur spanischen Sozialversicherung für rechtsgrundlos zu erklären. Die betreffenden Arbeitnehmer hätten zudem aufgrund dieser Beiträge möglicherweise Leistungen der sozialen Sicherheit in Anspruch genommen, so dass sie, wenn ihre Versicherungszugehörigkeit für ungültig erklärt würde, ihren sozialen Schutz verlieren könnten. Schließlich sei es nicht gerechtfertigt, die fraglichen Bescheinigungen E 101 für ungültig zu erklären, da ihre Ausstellung die bloße Folge der Zugehörigkeit der betreffenden Arbeitnehmer zum System der spanischen Sozialversicherung gewesen sei. 34 Im Anschluss an das Urteil der Cour de cassation (Kassationshof) vom 11. März 2014 wurde das von der CRPNPAC vor dem Tribunal de grande instance de Bobigny (Regionalgericht Bobigny) eingeleitete Zivilverfahren fortgesetzt. 35 In diesem Kontext wirft das genannte Gericht die Frage auf, ob den Bescheinigungen E 101 auch dann Bindungswirkung beizumessen sei, wenn die Strafgerichte des Mitgliedstaats, der die betreffenden Arbeitnehmer aufgenommen habe, den Arbeitgeber wegen Schwarzarbeit verurteilt hätten. Zweifel bestünden insbesondere hinsichtlich der Tragweite von Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und Art. 12a Abs. 1a der Verordnung Nr. 574/72 und hinsichtlich der Implikationen einer missbräuchlichen oder betrügerischen Berufung auf solche Bescheinigungen. 36 Unter diesen Umständen hat das Tribunal de grande instance de Bobigny (Regionalgericht Bobigny) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist die Wirkung einer Bescheinigung E 101, die gemäß Art. 11 Abs. 1 und Art. 12a Abs. 1a der Verordnung Nr. 574/72 von dem Träger ausgestellt wurde, den die Behörde des Mitgliedstaats bezeichnet hat, dessen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit weiterhin auf die Situation des Arbeitnehmers anzuwenden sind, auch dann aufrechtzuerhalten, wenn die Bescheinigung E 101 nach den rechtskräftigen Feststellungen eines Gerichts des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer seine Tätigkeit ausübt oder ausüben soll, infolge einer betrügerischen Handlung oder eines Rechtsmissbrauchs erlangt wurde? 2. Für den Fall der Bejahung dieser Frage: Steht die Ausstellung von Bescheinigungen E 101 dem entgegen, dass Personen, die durch das betrügerische Verhalten des Arbeitgebers geschädigt wurden, dieser Schaden ersetzt wird, ohne dass die Eingliederung der Arbeitnehmer in das von der Bescheinigung E 101 bezeichnete System durch die Schadensersatzklage gegen den Arbeitgeber in Frage gestellt wird? Rechtssache C‑37/18 37 Am 21. April 2007 wurde Herr Poignant von Vueling mit einem Vertrag, der in englischer Sprache abgefasst war und spanischem Recht unterlag, als Co-Pilot eingestellt. Aufgrund eines Nachtrags vom 14. Juni 2007 wurde er an den Flughafen Roissy – Charles de Gaulle entsandt. Diese ursprünglich für sechs Monate vorgesehene Entsendung wurde einmal für die gleiche Dauer bis zum 16. Juni 2008 verlängert. 38 Mit Schreiben vom 30. Mai 2008 kündigte Herr Poignant, wobei er u. a. geltend machte, seine vertragliche Situation sei nach französischem Recht rechtswidrig. Mit E‑Mail vom 2. Juni 2008 nahm er die Kündigung wieder zurück. Mit Schreiben vom 9. Juni 2008 nahm er unter erneuter Berufung auf diese Rechtswidrigkeit die Beendigung seines Arbeitsvertrags zur Kenntnis. 39 Am 11. Juni 2008 beantragte Herr Poignant beim Conseil des prud’hommes de Bobigny (Arbeitsgericht Bobigny, Frankreich) die Umqualifizierung seiner Kündigung in die Kenntnisnahme der Vertragsbeendigung mit den Wirkungen einer Entlassung ohne wahren und triftigen Grund, die Zahlung u. a. einer pauschalen Entschädigung wegen Schwarzarbeit sowie den Ersatz des Schadens, der ihm dadurch entstanden sei, dass vom 1. Juli 2007 bis zum 31. Juli 2008 keine Beiträge an die französische Sozialversicherung abgeführt worden seien. 40 Mit Urteil vom 14. April 2011 wies dieses Gericht alle gestellten Anträge zurück. Es kam zu dem Ergebnis, Vueling sei den geltenden Verwaltungsformalitäten ordnungsgemäß nachgekommen, indem sie insbesondere bei den spanischen Sozialversicherungsträgern die Ausstellung von Bescheinigungen E 101 für ihre Arbeitnehmer beantragt habe. Herr Poignant sei auch nicht länger als ein Jahr entsandt worden und habe keine andere nach Frankreich entsandte Person abgelöst. 41 Mit Urteil vom 4. März 2016 hob die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris), gestützt auf das in Rn. 30 des vorliegenden Urteils erwähnte Urteil der Cour de cassation (Kassationshof) vom 11. März 2014, das Urteil des Conseil des prud’hommes de Bobigny (Arbeitsgericht Bobigny) auf und verurteilte Vueling, Herrn Poignant u. a. eine pauschale Entschädigung wegen Schwarzarbeit zu zahlen und ihm den durch die unterbliebene Abführung von Beiträgen an die französische Sozialversicherung entstandenen Schaden zu ersetzen. 42 Dieses Gericht führte aus, Herr Poignant habe hinreichende Nachweise dafür erbracht, dass sein Vertragsverhältnis gegen französisches Recht verstoßen habe. Insbesondere habe sich seine persönliche Anschrift stets in Frankreich befunden, während in seinem Arbeitsvertrag und in dem seine Entsendung betreffenden Nachtrag ein fiktiver Wohnsitz in Barcelona angegeben worden sei. Desgleichen seien seine Gehaltsabrechnungen an eine fiktive Adresse in Barcelona gerichtet worden. 43 Vueling hat gegen das Urteil der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) vom 4. März 2016 eine Kassationsbeschwerde bei der Cour de cassation (Kassationshof) eingelegt. 44 Im Rahmen der Prüfung dieses Rechtsmittels möchte die Cour de cassation (Kassationshof) insbesondere wissen, ob die vom Gerichtshof im Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff (C‑620/15, EU:C:2017:309), das einen Rechtsstreit betraf, in dem Bescheinigungen E 101 gemäß Art. 14 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestellt worden waren, vorgenommene Auslegung auch für einen Rechtsstreit gilt, in dem es um das Delikt der Schwarzarbeit geht und der Bescheinigungen betrifft, die Arbeitnehmern, die ihre Tätigkeit im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ausüben, dessen Staatangehörige sie sind und in dem das Luftverkehrsunternehmen, für das sie tätig sind, über eine Zweigstelle verfügt, gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung ausgestellt wurden, wenn schon der Inhalt der Bescheinigungen den Schluss zuließ, dass sie auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt wurden. 45 Überdies hat das Gericht Zweifel daran, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass es einem nationalen, als Zivilgericht nach innerstaatlichem Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenen Gericht verwehrt ist, die Konsequenzen aus einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Entscheidung eines Strafgerichts zu ziehen, indem es einen Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung wegen Schwarzarbeit zivilrechtlich zur Zahlung von Schadensersatz an einen Arbeitnehmer verurteilt. 46 Unter diesen Umständen hat die Chambre sociale (Kammer für Sozialsachen) der Cour de cassation (Kassationshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist die Auslegung von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 durch den Gerichtshof in seinem Urteil vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff (C‑620/15, EU:C:2017:309), auf einen Rechtsstreit über das Delikt der Schwarzarbeit – in dem die Bescheinigungen E 101 in Anwendung von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestellt wurden, obwohl die Situation unter Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 fiel – auf Arbeitnehmer anwendbar, die ihre Tätigkeit im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats ausüben, dessen Staatangehörige sie sind und in dem das in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Luftverkehrsunternehmen über eine Zweigstelle verfügt, wenn schon der Inhalt der Bescheinigung E 101 selbst, in der ein Flughafen als Tätigkeitsort des Arbeitnehmers und ein Luftfahrtunternehmen als Arbeitgeber angegeben werden, den Schluss zuließ, dass sie auf betrügerische Weise erlangt worden war? 2. Wenn ja, ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass es einem nationalen, als Zivilgericht nach innerstaatlichem Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenen Gericht verwehrt ist, die Konsequenzen aus einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren Entscheidung eines Strafgerichts zu ziehen, indem es einen Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung wegen Schwarzarbeit zivilrechtlich zur Zahlung von Schadensersatz an einen Arbeitnehmer verurteilt? 47 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. Februar 2018 sind die Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamem Endurteil verbunden worden. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage in den Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18 48 Mit ihrer ersten Frage möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 dahin auszulegen ist, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats, die mit einem gerichtlichen Verfahren gegen einen Arbeitgeber befasst sind, dem zur Last gelegt wird, Bescheinigungen E 101, die gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 für Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeiten in diesem Mitgliedstaat ausüben, ausgestellt wurden, auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt zu haben, diese Bescheinigungen außer Acht lassen dürfen. 49 Aus den Angaben, die dem Gerichtshof vorliegen, geht hervor, dass diese Frage im Kontext von Rechtsstreitigkeiten gestellt wird, in denen französische Strafgerichte zu dem Ergebnis kamen, dass Bescheinigungen E 101 für das fliegende Personal einer Fluggesellschaft (Vueling) mit Sitz in Spanien, die vom ausstellenden spanischen Träger auf der Grundlage des die Entsendung von Arbeitnehmern betreffenden Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestellt worden waren, gemäß Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung hätten ausgestellt werden müssen, der u. a. Arbeitnehmer betrifft, die als Angehörige des fliegenden Personals eines Unternehmens, das im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen im Luftverkehr durchführt, im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten tätig sind und von einer Zweigstelle beschäftigt werden, die das Unternehmen außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem es seinen Hauptsitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält. Die nationalen Gerichte stellten fest, dass die betreffenden Arbeitnehmer nach der letztgenannten Bestimmung der französischen und nicht der spanischen Sozialversicherung hätten angeschlossen werden müssen. Außerdem habe die Fluggesellschaft betrügerisch gehandelt, um die rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Bescheinigungen zu umgehen. 50 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Rechtsunterworfenen nach einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf Rechtsvorschriften der Union berufen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 48 und 49 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Verordnung Nr. 1408/71 beruht die Feststellung, dass im Zusammenhang mit der Ausstellung einer Bescheinigung E 101 ein Betrug vorliegt, auf einem Bündel übereinstimmender Indizien, aus denen sich das Vorliegen eines objektiven und eines subjektiven Elements ergibt, wobei das objektive Element darin besteht, dass die in Titel II der Verordnung vorgesehenen Voraussetzungen für den Erhalt und die Geltendmachung einer Bescheinigung E 101 nicht erfüllt sind, und das subjektive Element in der Absicht der Beteiligten, die Voraussetzungen für die Ausstellung dieser Bescheinigung zu umgehen, um den damit verbundenen Vorteil zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 50 bis 52). 52 Die betrügerische Erlangung einer Bescheinigung E 101 kann sich somit aus einer willentlichen Handlung – wie der unzutreffenden Darstellung der tatsächlichen Situation des entsandten Arbeitnehmers oder des ihn entsendenden Unternehmens – oder einer willentlichen Unterlassung – wie dem Verschweigen einer relevanten Information in der Absicht, die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 zu umgehen – ergeben (Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 53). 53 Im vorliegenden Fall ist zum einen in Bezug auf das objektive Element, das vorliegen muss, um einen Betrug feststellen zu können, darauf hinzuweisen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheinigungen E 101 vom ausstellenden spanischen Träger gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestellt wurden, der vorsieht, dass entsandte Arbeitnehmer weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegen, in dem der Arbeitgeber ansässig ist. 54 Nach Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71, den die vorlegenden Gerichte angesprochen haben, unterliegt eine Person, die zum fliegenden Personal einer Fluggesellschaft, die internationale Flüge durchführt, gehört und von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die diese Gesellschaft außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich die Zweigstelle oder die ständige Vertretung befindet. 55 Die Anwendung dieser Bestimmung hängt somit davon ab, dass zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind: Die betreffende Fluggesellschaft muss in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihren Sitz hat, eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung haben, und die betreffende Person muss von dieser Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt werden. 56 Zur ersten Voraussetzung hat der Generalanwalt in den Nrn. 139 bis 142 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt, dass die Verordnung Nr. 1408/71 weder eine Definition der Begriffe „Zweigstelle“ und „ständige Vertretung“ enthält noch insoweit auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, so dass sie autonom auszulegen sind. Wie identische oder ähnliche Begriffe in anderen Bestimmungen des Unionsrechts sind sie so zu verstehen, dass mit ihnen eine Form der dauerhaft und fortgesetzt betriebenen Zweitniederlassung gemeint ist, mit der eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt werden soll und die zu diesem Zweck über organisierte materielle und personelle Mittel verfügt sowie über eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Hauptniederlassung (vgl. entsprechend Urteile vom 30. November 1995, Gebhard, C‑55/94, EU:C:1995:411, Rn. 28, und vom 11. April 2019, Ryanair, C‑464/18, EU:C:2019:311, Rn. 33). 57 In Bezug auf die zweite Voraussetzung ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Bestimmung des für Individualarbeitsverträge geltenden Rechts im Sinne von Art. 19 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1), dass das Arbeitsverhältnis des fliegenden Personals einer Fluggesellschaft eine enge Verknüpfung mit dem Ort aufweist, von dem aus dieses Personal den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber erfüllt. Dabei handelt es sich um den Ort, von dem aus das Personal seine Verkehrsdienste erbringt, an den es danach zurückkehrt, an dem es Anweisungen dazu erhält und seine Arbeit organisiert und an dem sich die Arbeitsmittel befinden; er kann seiner Heimatbasis entsprechen (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a., C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 60, 63, 69, 73 und 77). 58 Hier deuten die dem Gerichtshof vorliegenden Angaben darauf hin, dass Vueling während des in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums am Flughafen Roissy – Charles de Gaulle über einen Betriebsstützpunkt im Sinne des nationalen Rechts verfügte, der eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung im Sinne von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 darstellen kann, da diese Gesellschaft ihre Beförderungstätigkeit im Luftverkehr dauerhaft und fortgesetzt von Geschäftsräumen und Einrichtungen aus ausübte, die einen solchen Betriebsstützpunkt darstellen. Da der Betriebsstützpunkt einen kaufmännischen Direktor hatte, verfügte er offenbar über einen gewissen Grad an Eigenständigkeit. Ferner deuten diese Angaben darauf hin, dass das betreffende fliegende Personal von der Einrichtung im Sinne der genannten Vorschrift beschäftigt wurde, da sie sich an dem Ort befand, von dem aus dieses Personal den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber im Sinne der vorstehenden Randnummer erfüllte. 59 Zum anderen ergibt sich in Bezug auf das subjektive Element des Betrugs aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass Vueling selbst bei der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) ein Informationsdokument eingereicht hat, aus dem klar hervorgeht, dass Arbeitnehmer, die einer von ihrem Arbeitgeber in Frankreich gehaltenen Einrichtung zugeteilt werden, dem französischen System der sozialen Sicherheit angeschlossen werden müssen. Überdies deuten diese Akten darauf hin, dass Vueling bei einem erheblichen Teil der betreffenden Arbeitnehmer die Adresse ihres eigenen Sitzes in Spanien angab, obwohl die meisten von ihnen nie in diesem Mitgliedstaat gelebt hatten und in Frankreich wohnten. 60 In Anbetracht dessen hatten die zuständigen französischen Träger und Gerichte bei vernünftiger Betrachtung Anlass zu der Annahme, dass sie über konkrete Anhaltspunkte dafür verfügten, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, vom ausstellenden spanischen Träger auf der Grundlage von Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 ausgestellten Bescheinigungen E 101 von Vueling auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt worden waren, da ihr betroffenes fliegendes Personal in Wirklichkeit unter die Sonderregel in Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 fiel und infolgedessen dem französischen System der sozialen Sicherheit hätte unterworfen werden müssen. 61 Das Vorliegen von Indizien, wie sie in den Ausgangsverfahren in Rede stehen, kann allerdings nicht als Rechtfertigung dafür ausreichen, dass der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats oder die nationalen Gerichte dieses Mitgliedstaats bestands- oder rechtskräftig das Vorliegen eines Betrugs feststellen und die betreffenden Bescheinigungen E 101 außer Acht lassen. 62 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der auch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens impliziert, die Bescheinigung E 101, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und den freien Dienstleistungsverkehr fördern soll, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich den zuständigen Träger und die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats bindet, indem sie eine Vermutung dafür begründet, dass der Anschluss des betreffenden Arbeitnehmers an das System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, dessen zuständiger Träger diese Bescheinigung ausgestellt hat, ordnungsgemäß ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 35 bis 40, sowie entsprechend Urteil vom 6. September 2018, Alpenrind u. a., C‑527/16, EU:C:2018:669, Rn. 47). 63 Solange die Bescheinigung E 101 nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, müssen deshalb der zuständige Träger und die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats dem Umstand Rechnung tragen, dass der betreffende Arbeitnehmer bereits dem Recht der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats unterliegt, dessen zuständiger Träger diese Bescheinigung ausgestellt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 41). 64 Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit muss der zuständige Träger des Mitgliedstaats, der die Bescheinigung E 101 ausgestellt hat, jedoch überprüfen, ob ihre Ausstellung zu Recht erfolgt ist, und die Bescheinigung gegebenenfalls zurückziehen, wenn der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats im Rahmen des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Verfahrens Zweifel an der Richtigkeit des der Bescheinigung zugrunde liegenden Sachverhalts und somit der darin gemachten Angaben äußert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 42 und 43). 65 Nach der letztgenannten Bestimmung können sich die betreffenden Träger, wenn sie im Einzelfall namentlich bei der Beurteilung des Sachverhalts und damit der Frage, nach welcher Bestimmung der Verordnung Nr. 1408/71 sich richtet, welches Recht der sozialen Sicherheit anwendbar ist, zu keiner Übereinstimmung gelangen, an die aufgrund von Art. 80 der Verordnung eingerichtete Verwaltungskommission wenden, damit sie zwischen ihren Standpunkten vermittelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 44). 66 Gerade im Kontext eines Betrugsverdachts kommt der Durchführung des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Verfahrens vor einer etwaigen bestandskräftigen Feststellung eines Betrugs durch die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats besondere Bedeutung zu, da dies geeignet ist, den zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Aufnahmemitgliedstaats die Aufnahme eines Dialogs und eine enge Zusammenarbeit zu ermöglichen, damit sie unter Rückgriff auf die ihnen nach ihrem nationalen Recht jeweils zustehenden Befugnisse alle relevanten tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkte sammeln und prüfen können, die die Zweifel des zuständigen Trägers des Aufnahmemitgliedstaats in Bezug auf die Umstände der Erteilung der betreffenden Bescheinigungen E 101 zerstreuen oder im Gegenteil erhärten können. 67 Desgleichen eröffnet ein solches Verfahren, indem es in einem frühen Stadium die Einbeziehung des zuständigen Trägers des Ausstellungsmitgliedstaats gestattet, diesem die Möglichkeit, in kontradiktorischer Weise seinen Standpunkt zu etwaigen vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats angeführten konkreten Indizien für das Vorliegen eines Betrugs vorzubringen, und kann ihn gegebenenfalls dazu veranlassen, die betreffenden Bescheinigungen E 101 für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen, sofern er zu dem Ergebnis kommt, dass diese Indizien belegen, dass die Bescheinigungen tatsächlich auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden. 68 Insoweit ist insbesondere hervorzuheben, dass die Gefahr zunehmen würde, dass – entgegen dem in den Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 verankerten Grundsatz, dass nur eine nationale Rechtsordnung anwendbar sein sollte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 29) – Beiträge zum System der sozialen Sicherheit des Aufnahmemitgliedstaats geschuldet würden, obwohl für dieselben Arbeitnehmer bereits Beiträge an das System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats entrichtet wurden, dessen Bescheinigungen bestätigen, dass seine nationalen Rechtsvorschriften anwendbar sind, wenn der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats allein aufgrund des Vorliegens konkreter Indizien für einen Betrug die vom zuständigen Träger eines anderen Mitgliedstaats ausgestellten Bescheinigungen E 101 einseitig außer Acht lassen könnte, obwohl in diesem Stadium nicht definitiv festgestellt werden konnte, ob tatsächlich ein Betrug begangen wurde, weil der ausstellende Träger nicht einbezogen wurde und weil es an einer eingehenden Prüfung der relevanten Umstände ihrer Ausstellung fehlt. 69 Überdies besteht, falls sich später herausstellen sollte, dass zu Unrecht Beiträge an das System der sozialen Sicherheit des Ausstellungsmitgliedstaats entrichtet wurden, die Gefahr, dass diese Beiträge – z. B., wie hier, wegen der in diesem Mitgliedstaat bestehenden Verjährungsvorschriften – nicht erstattet werden können, obwohl letztlich kein Betrug feststellbar war. 70 Desgleichen würde sich, wenn das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren nicht durchgeführt würde, die Gefahr erhöhen, dass die betreffenden Arbeitnehmer den Systemen der sozialen Sicherheit mehrerer Mitgliedstaaten unterworfen würden, mit allen Komplikationen, die mit einer solchen Kumulierung verbunden sein könnten. Dies würde den Grundsatz des Anschlusses der Arbeitnehmer an ein einziges nationales System der sozialen Sicherheit sowie die Vorhersehbarkeit des anwendbaren Systems und damit die Rechtssicherheit beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C‑2/05, EU:C:2006:69, Rn. 25). 71 Dieses Verfahren stellt somit eine obligatorische Vorbedingung für die Klärung der Frage dar, ob die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Betrugs erfüllt sind, und damit für jede sachgerechte Konsequenz in Bezug auf die Gültigkeit der fraglichen Bescheinigungen E 101 und die für die betreffenden Arbeitnehmer geltenden Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit. 72 Daraus folgt, dass das Vorliegen konkreter Indizien dafür, dass Bescheinigungen E 101 auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden, den zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats nicht dazu veranlassen sollte, einseitig das Vorliegen eines Betrugs festzustellen und die Bescheinigungen außer Acht zu lassen, sondern dazu, unverzüglich das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren einzuleiten, damit der vom Träger des Aufnahmemitgliedstaats befasste Träger, der die Bescheinigungen ausgestellt hat, innerhalb einer angemessenen Frist im Einklang mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Licht dieser Indizien erneut prüft, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt wurden, und sie gegebenenfalls für ungültig erklärt oder zurückzieht, wie aus der in Rn. 64 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervorgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 54). 73 In diesem Kontext darf auch ein Gericht des Aufnahmemitgliedstaats, wenn es mit einem Verfahren gegen einen Arbeitgeber, der im Verdacht steht, Bescheinigungen E 101 auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht zu haben, befasst ist, das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren und dessen Ergebnis nicht außer Acht lassen (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juli 2018, Kommission/Belgien, C‑356/15, EU:C:2018:555, Rn. 96 bis 105). 74 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Verordnung wie die Verordnung Nr. 1408/71 gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung hat, in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt. Überdies verpflichtet der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der besagt, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht, alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung nicht beeinträchtigen darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 53 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 75 Könnte ein Gericht des Aufnahmemitgliedstaats, das im Rahmen eines von einer Strafverfolgungsbehörde, vom zuständigen Träger dieses Mitgliedstaats oder von einer anderen Person eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens angerufen wird, eine Bescheinigung E 101 unabhängig von der Einleitung oder Durchführung des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Verfahrens allein deshalb für ungültig erklären, weil es konkrete Indizien dafür gibt, dass die Bescheinigung auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurde, wäre das mit der Verordnung geschaffene, auf der loyalen Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten beruhende System gefährdet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. April 2017, A‑Rosa Flussschiff, C‑620/15, EU:C:2017:309, Rn. 47, sowie vom 6. September 2018, Alpenrind u. a., C‑527/16, EU:C:2018:669, Rn. 46). Die in den Rn. 66 und 67 des vorliegenden Urteils hervorgehobene besondere Bedeutung der Durchführung dieses Verfahrens im Kontext eines Betrugsverdachts würde dabei verkannt. 76 Außerdem kann das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren, dessen Einleitung den ausstellenden Träger dazu veranlassen kann, die betreffenden Bescheinigungen E 101 für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen, unter Umständen, wie der Generalanwalt in Nr. 86 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zu Prozessökonomien führen, da sich die Befassung der Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats infolgedessen als überflüssig erweisen könnte. 77 Nur wenn dieses Verfahren vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats eingeleitet wurde und wenn der Träger, der die Bescheinigungen E 101 ausgestellt hat, es unterlassen hat, erneut zu prüfen, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt wurden, und innerhalb einer angemessenen Frist zu dem dahin gehenden Ersuchen des zuständigen Trägers des Aufnahmemitgliedstaats Stellung zu nehmen, müssen deshalb die konkreten Indizien dafür, dass die Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden, im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens vorgebracht werden können, um zu erreichen, dass das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats die Bescheinigungen außer Acht lässt, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Personen, denen im Rahmen eines solchen Verfahrens zur Last gelegt wird, die Bescheinigungen in betrügerischer Weise erlangt oder geltend gemacht zu haben, unter Beachtung der mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien die Möglichkeit erhalten, die Beweise, auf die sich dieses Verfahren stützt, zu entkräften (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 54 bis 56). 78 Somit darf ein Gericht des Aufnahmemitgliedstaats Bescheinigungen E 101 im Rahmen eines solchen gerichtlichen Verfahrens nur dann außer Acht lassen, wenn zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind: Zum einen muss der Träger, der die Bescheinigungen ausgestellt hat, vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats unverzüglich mit einem Ersuchen um erneute Prüfung, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt wurden, befasst worden sein und es unterlassen haben, innerhalb einer angemessenen Frist im Licht der ihm vom letztgenannten Träger übermittelten Anhaltspunkte eine solche erneute Prüfung vorzunehmen und die Bescheinigungen gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen, und zum anderen müssen die genannten Anhaltspunkte es dem Gericht ermöglichen, unter Beachtung der mit dem Recht auf ein faires Verfahren zusammenhängenden Garantien festzustellen, dass die fraglichen Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 61). 79 Folglich ist ein mit der Frage der Gültigkeit von Bescheinigungen E 101 befasstes Gericht des Aufnahmemitgliedstaats verpflichtet, vorab zu klären, ob vor seiner Befassung das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats mittels eines an den ausstellenden Träger gerichteten Ersuchens um erneute Prüfung und um Rücknahme der Bescheinigungen eingeleitet wurde und, wenn dies nicht der Fall war, alle ihm zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel einzusetzen, um sicherzustellen, dass der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats dieses Verfahren in Gang setzt. 80 Infolgedessen kann sich das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats im Rahmen eines Verfahrens, das gegen einen Arbeitgeber eingeleitet wurde, weil er Bescheinigungen E 101 auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht haben soll, nur dann definitiv zum Vorliegen eines solchen Betrugs äußern und die Bescheinigungen außer Acht lassen, wenn es – nachdem es, soweit erforderlich, das gerichtliche Verfahren im Einklang mit seinem nationalen Recht ausgesetzt hat – feststellt, dass unverzüglich das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Verfahren eingeleitet wurde und dass der Träger, der die Bescheinigungen E 101 ausgestellt hat, es unterlassen hat, sie zu überprüfen und innerhalb einer angemessenen Frist zu den vom Träger des Aufnahmemitgliedstaats übermittelten Anhaltspunkten Stellung zu nehmen und die Bescheinigungen gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen. 81 Nur eine solche Auslegung vermag die praktische Wirksamkeit des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Verfahrens zu gewährleisten, indem sie dafür sorgt, dass die zuständigen Träger der betreffenden Mitgliedstaaten unverzüglich in den dort vorgesehenen Dialog eintreten, damit das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats gegebenenfalls im Rahmen des bei ihm anhängig gemachten Verfahrens über alle für die Feststellung eines etwaigen Betrugs erforderlichen Angaben verfügt, und zugleich den Trägern, die Bescheinigungen E 101 ausgestellt haben, einen Anreiz bietet, innerhalb einer angemessenen Frist auf ein Ersuchen um erneute Prüfung und um Rücknahme der Bescheinigungen zu antworten, weil diese nach Ablauf einer solchen Frist von dem genannten Gericht außer Acht gelassen würden. 82 Im vorliegenden Fall geht allerdings aus den Angaben, über die der Gerichtshof verfügt, hervor, dass die Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) in ihrem Urteil vom 31. Januar 2012 das Vorliegen eines Betrugs festgestellt und die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheinigungen E 101 außer Acht gelassen hat, bevor das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 und sodann, ab dem 1. Mai 2010, in Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehene Verfahren, dessen Anwendungsmodalitäten in Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 näher geregelt sind, eingeleitet wurde und ohne vorab auch nur geprüft zu haben, ob dies der Fall war, so dass der ausstellende spanische Träger in die Lage versetzt worden wäre, die Bescheinigungen zu überprüfen und gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen. 83 Es steht nämlich fest, dass der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats der betreffenden Arbeitnehmer – die Urssaf – die von der Gewerbeaufsicht gesammelten Anhaltspunkte für einen Betrug erst mit Schreiben vom 4. April 2012, also nach der Verkündung des Urteils der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) und fast vier Jahre nach dem 28. Mai 2008, an dem die Gewerbeaufsicht gegenüber Vueling ein Protokoll wegen Schwarzarbeit erstellt hatte, dem ausstellenden spanischen Träger übermittelte, um zu erwirken, dass er die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheinigungen E 101 überprüft und gegebenenfalls für ungültig erklärt oder zurückzieht. 84 Überdies war das in den seinerzeit geltenden Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehene Verfahren zwar bereits eingeleitet worden, als die gegen das Urteil der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) eingelegte Kassationsbeschwerde am 11. März 2014 von der Cour de cassation (Kassationshof) zurückgewiesen wurde, doch steht fest, dass Letztere ihre Entscheidung traf, ohne Anstrengungen unternommen zu haben, um sich über den Stand des zwischen dem ausstellenden spanischen Träger und dem zuständigen französischen Träger eingeleiteten Dialogs zu informieren oder den Ausgang dieses Verfahrens abzuwarten. 85 Insoweit trifft es zu, dass der ausstellende spanische Träger das Ersuchen des zuständigen französischen Trägers um Überprüfung und Rücknahme nicht mit der gebotenen Schnelligkeit bearbeitete, denn seine Reaktion auf das Ersuchen, die mehr als zwei Jahre auf sich warten ließ, kann insbesondere angesichts der Bedeutung für die Betroffenen und der Art der zu prüfenden Fragen nicht als innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt angesehen werden. Das ändert jedoch nichts daran, dass der spanische Träger vom französischen Träger ebenfalls verspätet befasst wurde, nämlich etwa vier Jahre, nachdem der zuständige französische Träger Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Betrugs erhielt. 86 Nach alledem ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18 zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 dahin auszulegen ist, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats, die mit einem gerichtlichen Verfahren gegen einen Arbeitgeber befasst sind, dem zur Last gelegt wird, Bescheinigungen E 101, die gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 für Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeiten in diesem Mitgliedstaat ausüben, ausgestellt wurden, auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt zu haben, nur dann das Vorliegen eines Betrugs feststellen und infolgedessen diese Bescheinigungen außer Acht lassen dürfen, wenn sie sich zuvor vergewissert haben, – dass das in Art. 84a Abs. 3 dieser Verordnung vorgesehene Verfahren unverzüglich eingeleitet wurde, so dass der zuständige Träger des Ausstellungsmitgliedstaats in die Lage versetzt wurde, im Licht der vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats übermittelten konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden, zu überprüfen, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt worden waren, und – dass der zuständige Träger des Ausstellungsmitgliedstaats es unterlassen hat, eine solche Überprüfung vorzunehmen und innerhalb einer angemessenen Frist zu diesen Anhaltspunkten Stellung zu nehmen und die fraglichen Bescheinigungen gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen. Zur zweiten Frage in den Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18 87 Mit ihrer zweiten Frage möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie in einem Fall, in dem ein Arbeitgeber im Aufnahmemitgliedstaat wegen eines dort als Betrug eingestuften Delikts unter Verstoß gegen das Unionsrecht rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, ein nach dem innerstaatlichen Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenes Zivilgericht dieses Mitgliedstaats daran hindern, den Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung an die Arbeitnehmer oder eine Versorgungseinrichtung dieses Mitgliedstaats, die dem Betrug zum Opfer gefallen sind, zu verurteilen. 88 Insoweit ist zunächst auf die Bedeutung hinzuweisen, die der Grundsatz der Rechtskraft nicht nur in der Unionsrechtsordnung, sondern auch in den nationalen Rechtsordnungen hat. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteile vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 28, vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 52, sowie vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 26). 89 Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (Urteile vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 29, vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 53, sowie vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 27). 90 Das Unionsrecht verlangt somit nicht, dass ein nationales Rechtsprechungsorgan seine rechtskräftig gewordene Entscheidung grundsätzlich rückgängig machen muss, um der Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof Rechnung zu tragen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 38, vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 54, sowie vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 28). 91 Fehlen einschlägige unionsrechtliche Vorschriften, ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft festzulegen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). 92 Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob die Auslegung des Grundsatzes, wonach strafgerichtliche Entscheidungen für die Zivilgerichte bindend sind, im betreffenden nationalen Recht mit dem Grundsatz der Effektivität vereinbar ist. Nach nationalem Recht sind die Zivilgerichte, die über den gleichen Sachverhalt zu befinden haben wie das Strafgericht, nicht nur an die strafrechtliche Verurteilung des Arbeitgebers als solche gebunden, sondern auch an die tatsächlichen Feststellungen sowie die rechtlichen Qualifikationen und Auslegungen des Strafgerichts, selbst wenn diese, weil sich das Strafgericht vor der rechtskräftigen Feststellung eines Betrugs und der daraus folgenden Außerachtlassung der betreffenden Bescheinigungen E 101 nicht mit der Einleitung und dem Ablauf des in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Dialogverfahrens befasst hatte, unter Verstoß gegen das Unionsrecht zustande gekommen sind. 93 Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen innerstaatlichen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 94 In den vorliegenden Rechtssachen ist festzustellen, dass die in Rn. 92 des vorliegenden Urteils erwähnte Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft die Infragestellung nicht nur einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Entscheidung, selbst wenn darin gegen das Unionsrecht verstoßen wird, verhindert, sondern auch, anlässlich eines den gleichen Sachverhalt betreffenden zivilgerichtlichen Verfahrens, jeder in einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Entscheidung enthaltenen Feststellung zu einem gemeinsamen grundlegenden Punkt (vgl. entsprechend Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 29). 95 Eine solche Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft hätte daher zur Folge, dass sich dann, wenn eine in Rechtskraft erwachsene strafgerichtliche Entscheidung auf der Feststellung eines Betrugs durch dieses Gericht, bei der das in Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Dialogverfahren außer Acht gelassen wurde, sowie auf einer gegen das Unionsrecht verstoßenden Auslegung der Bestimmungen über die Bindungswirkung der Bescheinigungen E 101 beruht, die unrichtige Anwendung dieses Rechts in jeder von den Zivilgerichten getroffenen Entscheidung über den gleichen Sachverhalt wiederholen würde, ohne dass diese Feststellung und diese unionsrechtswidrige Auslegung korrigiert werden könnten (vgl. entsprechend Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 30). 96 Daraus ist zu schließen, dass solche Hindernisse für die effektive Anwendung der das genannte Verfahren sowie die Bindungswirkung der Bescheinigungen E 101 betreffenden Regeln des Unionsrechts bei vernünftiger Betrachtung nicht durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden können und daher als im Widerspruch zum Grundsatz der Effektivität stehend angesehen werden müssen (vgl. entsprechend Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 31). 97 Im vorliegenden Fall kann daher angesichts der in den Rn. 88 bis 90 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung die rechtskräftige Verurteilung von Vueling durch die Strafgerichte des Aufnahmemitgliedstaats trotz ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht nicht in Frage gestellt werden. Weder diese Verurteilung noch die rechtskräftige Feststellung eines Betrugs und die unter Verstoß gegen das Unionsrecht vorgenommenen Rechtsauslegungen, auf denen die Verurteilung beruht, können es hingegen den Zivilgerichten dieses Mitgliedstaats ermöglichen, Schadensersatzbegehren von Arbeitnehmern oder einer Versorgungseinrichtung dieses Mitgliedstaats, die den Handlungen der genannten Gesellschaft zum Opfer gefallen sind, stattzugeben. 98 Nach alledem ist auf die zweite Frage in den Rechtssachen C‑370/17 und C‑37/18 zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sind, dass sie in einem Fall, in dem ein Arbeitgeber im Aufnahmemitgliedstaat wegen eines dort als Betrug eingestuften Delikts unter Verstoß gegen das Unionsrecht rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, ein nach dem innerstaatlichen Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenes Zivilgericht dieses Mitgliedstaats daran hindern, den Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung an die Arbeitnehmer oder eine Versorgungseinrichtung dieses Mitgliedstaats, die dem Betrug zum Opfer gefallen sind, zu verurteilen. Kosten 99 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005, ist dahin auszulegen, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats, die mit einem gerichtlichen Verfahren gegen einen Arbeitgeber befasst sind, dem zur Last gelegt wird, Bescheinigungen E 101, die gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004, für Arbeitnehmer, die ihre Tätigkeiten in diesem Mitgliedstaat ausüben, ausgestellt wurden, auf betrügerische Weise erlangt oder benutzt zu haben, nur dann das Vorliegen eines Betrugs feststellen und infolgedessen diese Bescheinigungen außer Acht lassen dürfen, wenn sie sich zuvor vergewissert haben, – dass das in Art. 84a Abs. 3 dieser Verordnung vorgesehene Verfahren unverzüglich eingeleitet wurde, so dass der zuständige Träger des Ausstellungsmitgliedstaats in die Lage versetzt wurde, im Licht der vom zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats übermittelten konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Bescheinigungen auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurden, zu überprüfen, ob die Bescheinigungen zu Recht ausgestellt worden waren, und – dass der zuständige Träger des Ausstellungsmitgliedstaats es unterlassen hat, eine solche Überprüfung vorzunehmen und innerhalb einer angemessenen Frist zu diesen Anhaltspunkten Stellung zu nehmen und die fraglichen Bescheinigungen gegebenenfalls für ungültig zu erklären oder zurückzuziehen. 2. Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 in ihrer durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung Nr. 647/2005, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts sind dahin auszulegen, dass sie in einem Fall, in dem ein Arbeitgeber im Aufnahmemitgliedstaat wegen eines dort als Betrug eingestuften Delikts unter Verstoß gegen das Unionsrecht rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, ein nach dem innerstaatlichen Recht an die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen gebundenes Zivilgericht dieses Mitgliedstaats daran hindern, den Arbeitgeber allein aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilung zur Zahlung einer Entschädigung an die Arbeitnehmer oder eine Versorgungseinrichtung dieses Mitgliedstaats, die dem Betrug zum Opfer gefallen sind, zu verurteilen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 12. November 2019.#Zubair Haqbin gegen Federaal Agentschap voor de opvang van asielzoekers.#Vorabentscheidungsersuchen des Arbeidshof te Brussel.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 20 Abs. 4 und 5 – Grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätiges Verhalten – Reichweite des Rechts der Mitgliedstaaten, die anwendbaren Sanktionen festzulegen – Unbegleiteter Minderjähriger – Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen.#Rechtssache C-233/18.
62018CJ0233
ECLI:EU:C:2019:956
2019-11-12T00:00:00
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
62018CJ0233 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 12. November 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 20 Abs. 4 und 5 – Grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätiges Verhalten – Reichweite des Rechts der Mitgliedstaaten, die anwendbaren Sanktionen festzulegen – Unbegleiteter Minderjähriger – Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“ In der Rechtssache C‑233/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Arbeidshof te Brussel (Arbeitsgerichtshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 22. März 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2018, in dem Verfahren Zubair Haqbin gegen Federaal Agentschap voor de opvang van asielzoekers erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, M. Vilaras (Berichterstatter), M. Safjan und S. Rodin, der Richter L. Bay Larsen und T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter D. Šváby und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos, Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona, Kanzler: M.‑A. Gaudissart, Beigeordneter Kanzler, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. März 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Haqbin, vertreten durch B. Dhont und K. Verstrepen, advocaten, – der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul, C. Pochet und P. Cottin als Bevollmächtigte im Beistand von S. Ishaque und A. Detheux, advocaten, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte, – der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Fadoju als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und G. Wils als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Juni 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Zubair Haqbin und der Federaal Agentschap voor de opvang van asielzoekers (Föderalagentur für die Aufnahme von Asylbewerbern, Belgien) (im Folgenden: Fedasil) wegen eines Schadensersatzanspruchs, den Herr Haqbin gegen die Fedasil geltend macht, nachdem diese ihm mit zwei Entscheidungen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen zeitweilig entzogen hat. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2013/33 3 Gemäß Art. 32 der Richtlinie 2013/33 wurde die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 31, S. 18) im Verhältnis zu den durch diese Richtlinie gebundenen Mitgliedstaaten durch erstere Richtlinie aufgehoben und ersetzt. 4 Die Erwägungsgründe 7, 25 und 35 der Richtlinie 2013/33 lauten: „(7) Angesichts der Bewertungsergebnisse in Bezug auf die Umsetzung der Instrumente der ersten Phase empfiehlt es sich in dieser Phase, die der Richtlinie [2003/9] zugrunde liegenden Prinzipien im Hinblick auf die Gewährleistung verbesserter im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährter Vorteile für die Personen, die internationalen Schutz beantragen … (im Folgenden ‚Antragsteller‘)[,] zu bestätigen. … (25) Die Möglichkeiten für einen Missbrauch des Aufnahmesystems sollten dadurch beschränkt werden, dass die Umstände festgelegt werden, unter denen die den Antragstellern im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt oder entzogen werden dürfen, wobei gleichzeitig ein menschenwürdiger Lebensstandard für alle Antragsteller zu gewährleisten ist. … (35) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Sie zielt vor allem darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Artikel 1, 4, 6, 7, 18, 21, 24 und 47 der Charta [der Grundrechte] zu fördern, und muss entsprechend umgesetzt werden.“ 5 Zweck der Richtlinie 2013/33 ist nach ihrem Art. 1 die Festlegung von Normen für die Aufnahme von Antragstellern in den Mitgliedstaaten. 6 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck: … d) ‚Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren; e) ‚unbegleiteter Minderjähriger‘ einen Minderjährigen, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem einzelstaatlichen Recht oder den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt Minderjährige ein, die nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wurden; f) ‚im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährte Vorteile‘ sämtliche Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Richtlinie zugunsten von Antragstellern treffen; g) ‚im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen‘ Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs; … i) ‚Unterbringungszentrum‘ jede Einrichtung, die als Sammelunterkunft für Antragsteller dient; …“ 7 Art. 8 („Haft“) der Richtlinie 2013/33 sieht in Abs. 3 vor: „Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden, … e) wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist, …“ 8 Art. 14 („Grundschulerziehung und weiterführende Bildung Minderjähriger“) dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten gestatten minderjährigen Kindern von Antragstellern und minderjährigen Antragstellern in ähnlicher Weise wie den eigenen Staatsangehörigen den Zugang zum Bildungssystem, solange keine Ausweisungsmaßnahme gegen sie selbst oder ihre Eltern vollstreckt wird. Der Unterricht kann in Unterbringungszentren erfolgen. Die betreffenden Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der Zugang auf das öffentliche Bildungssystem beschränkt bleiben muss. Die Mitgliedstaaten dürfen eine weiterführende Bildung nicht mit der alleinigen Begründung verweigern, dass die Volljährigkeit erreicht wurde. (2)   Der Zugang zum Bildungssystem darf nicht um mehr als drei Monate, nachdem ein Antrag auf internationalen Schutz von einem Minderjährigen oder in seinem Namen gestellt wurde, verzögert werden. Bei Bedarf werden Minderjährigen Vorbereitungskurse, einschließlich Sprachkursen, angeboten, um ihnen, wie in Absatz 1 vorgesehen, den Zugang zum und die Teilnahme am Bildungssystem zu erleichtern. (3)   Ist der Zugang zum Bildungssystem nach Absatz 1 aufgrund der spezifischen Situation des Minderjährigen nicht möglich, so bietet der betroffene Mitgliedstaat im Einklang mit seinen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten andere Unterrichtsformen an.“ 9 Art. 17 („Allgemeine Bestimmungen zu materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme und zur medizinischen Versorgung“) der Richtlinie sieht in den Abs. 1 bis 4 vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können. (2)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet. Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass dieser Lebensstandard gewährleistet ist, wenn es sich um schutzbedürftige Personen im Sinne von Artikel 21 und um in Haft befindliche Personen handelt. (3)   Die Mitgliedstaaten können die Gewährung aller oder bestimmter materieller Leistungen sowie die medizinische Versorgung davon abhängig machen, dass die Antragsteller nicht über ausreichende Mittel für einen Lebensstandard verfügen, der ihre Gesundheit und ihren Lebensunterhalt gewährleistet. (4)   Die Mitgliedstaaten können von den Antragstellern verlangen, dass sie für die Kosten der in dieser Richtlinie im Rahmen der Aufnahme vorgesehenen materiellen Leistungen sowie der medizinischen Versorgung gemäß Absatz 3 ganz oder teilweise aufkommen, sofern sie über ausreichende Mittel verfügen, beispielsweise wenn sie über einen angemessenen Zeitraum gearbeitet haben. Stellt sich heraus, dass ein Antragsteller zum Zeitpunkt der Gewährung der materiellen Leistungen sowie der medizinischen Versorgung über ausreichende Mittel verfügt hat, um diese Grundbedürfnisse zu decken, können die Mitgliedstaaten eine Erstattung von dem Antragsteller verlangen.“ 10 Art. 18 („Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1: „Sofern die Unterbringung als Sachleistung erfolgt, sollte eine der folgenden Unterbringungsmöglichkeiten oder eine Kombination davon gewählt werden: a) Räumlichkeiten zur Unterbringung von Antragstellern für die Dauer der Prüfung eines an der Grenze oder in Transitzonen gestellten Antrags auf internationalen Schutz; b) Unterbringungszentren, die einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten; c) Privathäuser, Wohnungen, Hotels oder andere für die Unterbringung von Antragstellern geeignete Räumlichkeiten.“ 11 Art. 20 („Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“), die einzige Bestimmung von Kapitel III der Richtlinie 2013/33, lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller a) den von der zuständigen Behörde bestimmten Aufenthaltsort verlässt, ohne diese davon zu unterrichten oder erforderlichenfalls eine Genehmigung erhalten zu haben; oder b) seinen Melde- und Auskunftspflichten oder Aufforderungen zu persönlichen Anhörungen im Rahmen des Asylverfahrens während einer im einzelstaatlichen Recht festgesetzten angemessenen Frist nicht nachkommt; oder c) einen Folgeantrag nach Artikel 2 Buchstabe q der Richtlinie 2013/32/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60)] gestellt hat. Wird in den unter den Buchstaben a und b genannten Fällen ein Antragsteller aufgespürt oder meldet er sich freiwillig bei der zuständigen Behörde, so ergeht unter Berücksichtigung der Motive des Untertauchens eine ordnungsgemäß begründete Entscheidung über die erneute Gewährung einiger oder aller im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen, die entzogen oder eingeschränkt worden sind. (2)   Die Mitgliedstaaten können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken, wenn sie nachweisen können, dass der Antragsteller ohne berechtigten Grund nicht so bald wie vernünftigerweise möglich nach der Ankunft in dem betreffenden Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. (3)   Die Mitgliedstaaten können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller verschwiegen hat, dass er über Finanzmittel verfügt, und dadurch bei der Aufnahme zu Unrecht in den Genuss von materiellen Leistungen gekommen ist. (4)   Die Mitgliedstaaten können Sanktionen für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten festlegen. (5)   Entscheidungen über die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder über Sanktionen nach den Absätzen 1, 2, 3 und 4 dieses Artikels werden jeweils für den Einzelfall, objektiv und unparteiisch getroffen und begründet. Die Entscheidungen sind aufgrund der besonderen Situation der betreffenden Personen, insbesondere im Hinblick auf die in Artikel 21 genannten Personen, unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu treffen. Die Mitgliedstaaten gewährleisten im Einklang mit Artikel 19 in jedem Fall Zugang zur medizinischen Versorgung und gewährleisten einen würdigen Lebensstandard für alle Antragsteller. (6)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen nicht entzogen oder eingeschränkt werden, bevor eine Entscheidung nach Maßgabe von Absatz 5 ergeht.“ 12 Art. 21 („Allgemeiner Grundsatz“) der Richtlinie 2013/33 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten im einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie u. a. Minderjährigen und unbegleiteten Minderjährigen berücksichtigen. 13 Art. 22 („Beurteilung der besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen bei der Aufnahme“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1 Unterabs. 3 und Abs. 3: „(1)   … Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Unterstützung, die Personen mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme nach dieser Richtlinie gewährt wird, ihren Bedürfnissen während der gesamten Dauer des Asylverfahrens Rechnung trägt und ihre Situation in geeigneter Weise verfolgt wird. … (3)   Nur schutzbedürftige Personen nach Maßgabe von Artikel 21 können als Personen mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme betrachtet werden und erhalten dann die in dieser Richtlinie vorgesehene spezifische Unterstützung.“ 14 In Art. 23 („Minderjährige“) der Richtlinie 2013/33 heißt es: „(1)   Bei der Anwendung der Minderjährige berührenden Bestimmungen der Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten vorrangig das Wohl des Kindes. … (2)   Bei der Würdigung des Kindeswohls tragen die Mitgliedstaaten insbesondere folgenden Faktoren Rechnung: … b) dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen unter besonderer Berücksichtigung seines Hintergrunds; c) Erwägungen der Sicherheit und der Gefahrenabwehr, vor allem wenn es sich bei dem Minderjährigen um ein Opfer des Menschenhandels handeln könnte; …“ 15 Art. 24 („Unbegleitete Minderjährige“) Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor: „Unbegleitete Minderjährige, die internationalen Schutz beantragt haben, werden ab dem Zeitpunkt der Zulassung in das Hoheitsgebiet bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist oder geprüft wird, verlassen müssen, untergebracht: … c) in Aufnahmezentren mit speziellen Einrichtungen für Minderjährige; d) in anderen für Minderjährige geeigneten Unterkünften. …“ Richtlinie 2013/32 16 Ein „Folgeantrag“ ist in Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 definiert als ein weiterer Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Art. 28 Abs. 1 dieser Richtlinie abgelehnt hat. Belgisches Recht 17 Art. 45 der Wet betreffende de opvang van asielzoekers en van bepaalde andere categorieën van vreemdelingen (Gesetz über die Aufnahme von Asylsuchenden und von bestimmten anderen Kategorien von Ausländern) vom 12. Januar 2007 (Belgisch Staatsblad vom 7. Mai 2007, S. 24027, und, amtliche deutsche Übersetzung, vom 19. Oktober 2007, S. 54236) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Aufnahmegesetz) bestimmte: „Begeht ein Aufnahmebegünstigter einen schweren Verstoß gegen die in Artikel 19 erwähnten Vorschriften und Funktionsregeln, die auf Aufnahmestrukturen anwendbar sind, kann ihm eine Sanktion auferlegt werden. Bei der Wahl der Sanktion werden Art und Umfang des Verstoßes und die konkreten Umstände, unter denen dieser Verstoß begangen wurde, berücksichtigt. Nur folgende Sanktionen dürfen auferlegt werden: … 7. zeitweiliger Ausschluss vom Anspruch auf materielle Hilfe in einer Aufnahmestruktur für eine Dauer von höchstens einem Monat. Die Sanktionen werden vom Direktor oder Verantwortlichen der Aufnahmestruktur auferlegt. Die in Absatz 2 Nr. 7 erwähnte Sanktion ist binnen drei Werktagen, nachdem der Direktor oder der Verantwortliche der Aufnahmestruktur diese Sanktion auferlegt hat, vom Generaldirektor der [Fedasil] zu bestätigen. Wird die Sanktion des zeitweiligen Ausschlusses nicht innerhalb dieser Frist bestätigt, wird sie automatisch aufgehoben. Sanktionen können während ihrer Ausführung von der Behörde, die sie auferlegt hat, gemildert oder aufgehoben werden. Der Beschluss, eine Sanktion aufzuerlegen, wird auf objektive und unparteiische Weise gefasst und muss mit Gründen versehen werden. Vorbehaltlich der in Absatz 2 Nr. 7 erwähnten Sanktion darf die Ausführung einer Sanktion auf keinen Fall die vollständige Streichung der materiellen Hilfe, die aufgrund des vorliegenden Gesetzes gewährt wird, oder die Verminderung des Zugangs zu medizinischer Betreuung zur Folge haben. Die in Absatz 2 Nr. 7 erwähnte Sanktion hat für die betroffene Person zur Folge, dass sie keine andere Form der Aufnahme mit Ausnahme der in den Artikeln 24 und 25 des [Aufnahmegesetzes] erwähnten medizinischen Betreuung in Anspruch nehmen darf. Die in Absatz 2 Nr. 7 erwähnte Sanktion darf nur bei sehr schwerem Verstoß gegen die Hausordnung der Aufnahmestruktur auferlegt werden, der das Personal oder die anderen Bewohner der Aufnahmestruktur in Gefahr bringt oder bedeutende Risiken für die Sicherheit oder die Wahrung der öffentlichen Ordnung in der Aufnahmestruktur birgt. Die Person, der ein zeitweiliger Ausschluss auferlegt werden soll, muss vor der Auferlegung der Sanktion angehört worden sein. …“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 18 Herr Haqbin, der die afghanische Staatsangehörigkeit besitzt, reiste als unbegleiteter Minderjähriger nach Belgien ein und stellte am 23. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Ihm wurde ein Vormund zugewiesen, und er wurde nacheinander in den Unterbringungszentren von Sugny und von Broechem untergebracht. In letzterem Unterbringungszentrum war er am 18. April 2016 an einer Schlägerei zwischen Bewohnern unterschiedlicher ethnischer Herkunft beteiligt. Die Polizei musste eingreifen, um die Schlägerei zu beenden. Sie nahm Herrn Haqbin mit der Begründung fest, dass er zu den Verursachern der Schlägerei gezählt habe. Am nächsten Tag wurde Herr Haqbin freigelassen. 19 Mit Entscheidung des Leiters des Unterbringungszentrums von Broechem vom 19. April 2016, bestätigt durch Entscheidung des Generaldirektors der Fedasil vom 21. April 2016, wurde Herr Haqbin gemäß Art. 45 Abs. 2 Nr. 7 des Aufnahmegesetzes für die Dauer von 15 Tagen vom Anspruch auf materielle Hilfe in einer Aufnahmestruktur ausgeschlossen. 20 Nach seinen eigenen Angaben und denen seines Vormunds verbrachte Herr Haqbin die Nächte vom 19. bis zum 21. April 2016 und vom 24. April bis zum 1. Mai 2016 in einem Brüsseler Park, die übrigen Nächte bei Freunden oder Bekannten. 21 Am 25. April 2016 stellte der Vormund von Herrn Haqbin bei der Arbeidsrechtbank te Antwerpen (Arbeitsgericht Antwerpen, Belgien) einen Antrag auf Aussetzung der Ausschlussmaßnahme, die mit den in Rn. 19 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidungen verhängt worden war. Dieser Antrag wurde mangels Dringlichkeit zurückgewiesen, da Herr Haqbin nicht habe nachweisen können, dass er obdachlos sei. 22 Ab dem 4. Mai 2016 wurde Herr Haqbin in einem anderen Unterbringungszentrum untergebracht. 23 Der Vormund von Herrn Haqbin erhob bei der Nederlandstalige arbeidsrechtbank te Brussel (Niederländischsprachiges Arbeitsgericht Brüssel, Belgien) Klage auf Aufhebung der Entscheidungen vom 19. und vom 21. April 2016 sowie auf Schadensersatz. Mit Urteil vom 21. Februar 2017 wies das Gericht die Klage als unbegründet ab. 24 Gegen dieses Urteil legte der Vormund von Herrn Haqbin am 27. März 2017 beim vorlegenden Gericht, dem Arbeidshof te Brussel (Arbeitsgerichtshof Brüssel, Belgien), Berufung ein. Ab dem 11. Dezember 2017 führte Herr Haqbin, der mittlerweile volljährig geworden war, das Verfahren im eigenen Namen. 25 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Auslegung von Art. 20 der Richtlinie 2013/33 Schwierigkeiten aufwerfe. Der bei der Europäischen Kommission eingerichtete Kontaktausschuss zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2013/33 habe in einer Sitzung vom 12. September 2013 die Meinung vertreten, dass Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie andere Arten von Sanktionen betreffe als Maßnahmen zur Einschränkung oder zum Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen. Nach Ansicht dieses Ausschusses ergebe sich diese Auslegung daraus, dass Art. 20 Abs. 1 bis 3 dieser Richtlinie eine abschließende Aufzählung der Gründe enthalte, aus denen die Einschränkung oder der Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen gerechtfertigt sei. Hingegen habe der Raad van State (Staatsrat, Belgien) im Rahmen der Vorarbeiten zum Gesetz vom 6. Juli 2016 zur Änderung des Aufnahmegesetzes (Belgisch Staatsblad vom 5. August 2016, S. 47647), das zur teilweisen Umsetzung der Richtlinie 2013/33 verabschiedet worden sei, in einem Gutachten die Auffassung vertreten, dass diese Auslegung von Art. 20 der Richtlinie 2013/33 nicht die einzig mögliche sei, wenn man den Wortlaut der Abs. 4 bis 6 dieses Artikels und den Zusammenhang zwischen diesen Absätzen berücksichtige. 26 Das vorlegende Gericht führt aus, die Antwort auf die in der vorstehenden Randnummer dargelegte Auslegungsfrage sei für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits relevant. Sollte Art. 20 der Richtlinie 2013/33 nämlich dahin auszulegen sein, dass ein Ausschluss von den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen nur in den Fällen der Abs. 1 bis 3 dieses Artikels, nicht aber mittels einer auf Abs. 4 dieses Artikels gestützten Sanktionsmaßnahme möglich sei, würde dies bereits genügen, um festzustellen, dass die Entscheidungen vom 19. und vom 21. April 2016 rechtswidrig seien und die Fedasil eine gesetzeswidrige Sanktion verhängt habe. 27 Auch die konkrete Umsetzung der den Mitgliedstaaten nach Art. 20 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/33 obliegenden Verpflichtung, einen würdigen Lebensstandard für alle Antragsteller zu gewährleisten, werfe Fragen auf. Insoweit ergebe sich aus den in Rn. 25 des vorliegenden Urteils erwähnten Vorarbeiten zum Gesetz vom 6. Juli 2016, namentlich aus der Begründung des Gesetzentwurfs, dass das Ziel der Richtlinie 2013/33 nach Auffassung der zuständigen Minister dadurch erreicht werden könne, dass Antragsteller, denen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen zeitweilig oder endgültig entzogen worden seien, die Möglichkeit hätten, sich an eines der privaten Obdachlosenheime zu wenden, von denen ihnen eine Liste ausgehändigt werde. 28 Im Hinblick auf die Gewährleistung eines würdigen Lebensstandards für die Antragsteller sei fraglich, ob die für ihre Aufnahme zuständige Behörde die erforderlichen Maßnahmen ergreifen müsse, damit ein Asylbewerber, dem die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen sanktionsweise entzogen worden seien, gleichwohl einen würdigen Lebensstandard genieße, oder ob sie sich darauf beschränken könne, auf private Hilfe zu bauen und nur dann tätig zu werden, wenn diese dem Betroffenen keinen solchen Lebensstandard garantieren könne. 29 Für den Fall, dass Sanktionen im Sinne von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 in Form des Ausschlusses von den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen zulässig seien, sei schließlich zu klären, ob solche Sanktionen auch gegen einen Minderjährigen, insbesondere einen unbegleiteten Minderjährigen, verhängt werden könnten. 30 Unter diesen Umständen hat der Arbeidshof te Brussel (Arbeitsgerichtshof Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 20 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen, dass er die Fälle abschließend festlegt, in denen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt oder entzogen werden können, oder geht aus Art. 20 Abs. 4 und 5 dieser Richtlinie hervor, dass das Recht auf diese Leistungen auch im Wege einer Sanktion für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten entzogen werden kann? 2. Ist Art. 20 Abs. 5 und 6 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten vor dem Erlass einer Entscheidung über die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder über Sanktionen und im Rahmen dieser Entscheidungen die erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung des Rechts auf einen würdigen Lebensstandard während der Zeit des Ausschlusses festlegen müssen, oder kann diesen Bestimmungen durch ein System nachgekommen werden, bei dem – nach Erlass der Entscheidung über die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistung – geprüft wird, ob für die Person, die Gegenstand der Entscheidung ist, ein würdiger Lebensstandard gewährleistet wird, und gegebenenfalls zu diesem Zeitpunkt Abhilfemaßnahmen getroffen werden? 3. Ist Art. 20 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit ihren Art. 14 und 21 bis 24 sowie den Art. 1, 3, 4 und 24 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen, dass eine Maßnahme oder Sanktion zum zeitweiligen (oder endgültigen) Ausschluss vom Recht auf die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen gegenüber einem Minderjährigen, insbesondere einem unbegleiteten Minderjährigen, möglich ist oder nicht möglich ist? Zu den Vorlagefragen 31 Mit seinen zusammen zu prüfenden Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, auch die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie vorsehen kann, und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen eine solche Sanktion verhängt werden kann, insbesondere wenn sie sich gegen einen Minderjährigen, speziell einen unbegleiteten Minderjährigen im Sinne der Buchst. d und e dieses Artikels, richtet. 32 Wie sich aus den Begriffsbestimmungen in Art. 2 Buchst. f und g der Richtlinie 2013/33 ergibt, bezeichnet der Ausdruck „im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen“ sämtliche Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Richtlinie zugunsten von Antragstellern treffen und zu denen Unterkunft, Verpflegung und Kleidung – in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon – sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs gehören. 33 Nach Art. 17 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/33 müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können und diese Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der ihren Lebensunterhalt sowie den Schutz ihrer physischen und psychischen Gesundheit gewährleistet. 34 In Bezug auf „schutzbedürftige Personen“ im Sinne von Art. 21 dieser Richtlinie, zu denen unbegleitete Minderjährige – wie Herr Haqbin zum Zeitpunkt der Verhängung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sanktion – zählen, bestimmt Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen müssen, dass für diese Personen ein solcher Lebensstandard „gewährleistet“ ist. 35 Allerdings gilt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass Antragsteller im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können, nicht absolut. Der Unionsgesetzgeber hat nämlich in Art. 20 („Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“) der Richtlinie 2013/33, der zu deren identisch überschriebenem Kapitel III gehört, Umstände vorgesehen, unter denen solche Leistungen eingeschränkt oder entzogen werden können. 36 Wie vom vorlegenden Gericht festgestellt, beziehen sich die ersten drei Absätze dieses Artikels ausdrücklich auf die „im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“. 37 Insoweit bestimmt Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen können, wenn ein Antragsteller ohne Genehmigung oder Benachrichtigung den von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bestimmten Aufenthaltsort verlässt, seinen Melde- und Auskunftspflichten oder Aufforderungen zu persönlichen Anhörungen im Rahmen des Asylverfahrens nicht nachkommt oder einen „Folgeantrag“ nach Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 stellt. 38 Nach Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt werden, wenn nachgewiesen ist, dass der Antragsteller ohne berechtigten Grund nicht so bald wie vernünftigerweise möglich nach der Ankunft im betreffenden Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. 39 Ferner können die Mitgliedstaaten nach Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller verschwiegen hat, dass er über Finanzmittel verfügt, und dadurch zu Unrecht in den Genuss dieser Leistungen gekommen ist. 40 Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 bestimmt seinerseits, dass die Mitgliedstaaten „Sanktionen“ für grobe Verstöße des Antragstellers gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätiges Verhalten des Antragstellers festlegen können. 41 Da der u. a. in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verwendete Begriff „Sanktion“ in der Richtlinie nicht definiert und auch nicht näher geregelt ist, welche Art von Sanktionen nach dieser Vorschrift gegen einen Antragsteller verhängt werden kann, verfügen die Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Sanktionen über ein weites Ermessen. 42 In Anbetracht dessen, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts, wie sie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils umformuliert worden sind, allein anhand des Wortlauts von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 nicht beantwortet werden können, sind zur Auslegung dieser Vorschrift auch ihr Kontext sowie der allgemeine Aufbau und die Ziele dieser Richtlinie zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Was die Frage betrifft, ob eine „Sanktion“ im Sinne von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 die „im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“ betreffen kann, ist zum einen festzustellen, dass eine Maßnahme, mit der einem Antragsteller wegen grober Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätigen Verhaltens die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt oder entzogen werden, angesichts ihres Zwecks und ihrer für den Antragsteller nachteiligen Folgen eine „Sanktion“ im herkömmlichen Wortsinn darstellt, und zum anderen, dass diese Vorschrift zu Kapitel III der Richtlinie gehört, in dem die Einschränkung und der Entzug solcher Leistungen geregelt sind. Daraus folgt, dass sich die von dieser Vorschrift erfassten Sanktionen grundsätzlich auf die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen beziehen können. 44 Es ist zwar richtig, dass die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einzuschränken bzw., je nach Fall, zu entziehen, nur in den Abs. 1 bis 3 von Art. 20 der Richtlinie 2013/33 ausdrücklich vorgesehen ist, in denen es, wie der 25. Erwägungsgrund der Richtlinie verdeutlicht, hauptsächlich um Fälle geht, in denen zu befürchten ist, dass die Antragsteller das mit der Richtlinie eingeführte Aufnahmesystem missbrauchen. Jedoch schließt Abs. 4 dieses Artikels nicht ausdrücklich aus, dass eine Sanktion die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen betreffen kann. Zudem müssen, wie insbesondere die Kommission geltend gemacht hat, die Mitgliedstaaten, wenn sie zum Schutz vor Missbrauch ihres Aufnahmesystems Maßnahmen in Bezug auf diese Leistungen ergreifen können, auch dann über diese Möglichkeit verfügen, wenn es um grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätiges Verhalten geht. Solche Handlungen sind nämlich geeignet, die öffentliche Ordnung zu stören und die Sicherheit von Personen und Sachen zu gefährden. 45 Allerdings ist hervorzuheben, dass nach Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33 jede Sanktion im Sinne von Abs. 4 dieses Artikels objektiv, unparteiisch, begründet und im Hinblick auf die besondere Situation des Antragstellers verhältnismäßig sein und dem Antragsteller in jedem Fall Zugang zur medizinischen Versorgung und einen würdigen Lebensstandard belassen muss. 46 Was speziell das Erfordernis anbelangt, dass die Würde des Lebensstandards gewahrt bleibt, geht aus dem 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 hervor, dass diese darauf abzielt, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung u. a. von Art. 1 der Charta der Grundrechte zu fördern, und entsprechend umgesetzt werden muss. Insoweit verlangt die Achtung der Menschenwürde im Sinne dieses Artikels, dass der Betroffene nicht in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Die Verhängung einer Sanktion, mit der allein aus einem in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Grund sämtliche im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder die in diesem Rahmen gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung entzogen werden, und sei es nur zeitweilig, wäre mit der Verpflichtung gemäß Art. 20 Abs. 5 Satz 3 dieser Richtlinie, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar, weil sie ihm die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie sie in der vorstehenden Randnummer näher dargelegt wurden. 48 Eine solche Sanktion würde zudem das in Art. 20 Abs. 5 Satz 2 der Richtlinie 2013/33 genannte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit verkennen, da selbst die härtesten Sanktionen zur strafrechtlichen Ahndung der von Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie erfassten Verstöße oder Verhaltensweisen dem Antragsteller nicht die Möglichkeit nehmen können, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. 49 Dies wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass, wie das vorlegende Gericht ausführt, einem Antragsteller, gegen den die Sanktion des Ausschlusses von einem belgischen Unterbringungszentrum verhängt wird, zu diesem Zeitpunkt eine Liste privater Obdachlosenheime ausgehändigt wird, die ihn aufnehmen könnten. Die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats dürfen sich nämlich nicht darauf beschränken, einem Antragsteller, der infolge einer gegen ihn verhängten Sanktion von einem Unterbringungszentrum ausgeschlossen wird, eine Liste der Aufnahmestrukturen auszuhändigen, an die er sich wenden könnte, um dort im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen zu empfangen, die den ihm entzogenen gleichwertig sind. 50 Ganz im Gegenteil bedeutet zum einen die in Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33 vorgesehene Pflicht, einen würdigen Lebensstandard zu gewährleisten, wie sich bereits aus der Verwendung des Verbs „gewährleisten“ ergibt, dass die Mitgliedstaaten einen solchen Lebensstandard dauerhaft und ohne Unterbrechung sicherstellen müssen. Zum anderen müssen die Behörden der Mitgliedstaaten den zur Gewährleistung eines solchen Lebensstandards geeigneten Zugang zu den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in geordneter Weise und eigener Verantwortlichkeit anbieten, auch wenn sie unter Umständen auf natürliche oder juristische Personen des Privatrechts zurückgreifen, damit diese Pflicht unter ihrer Hoheit erfüllt wird. 51 Was eine Sanktion anbelangt, mit der aus einem in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Grund die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt werden, einschließlich des Entzugs oder der Einschränkung von Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs, so obliegt es den zuständigen Behörden, unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass eine solche Sanktion gemäß Art. 20 Abs. 5 dieser Richtlinie im Hinblick auf die besondere Situation des Antragstellers und auf sämtliche Umstände des Einzelfalls mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht und die Würde des Antragstellers nicht verletzt. 52 Ferner ist klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten in den in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 bezeichneten Fällen je nach den Umständen des Einzelfalls und vorbehaltlich der Einhaltung der in Art. 20 Abs. 5 dieser Richtlinie genannten Anforderungen Sanktionen verhängen können, die nicht dazu führen, dass dem Antragsteller die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen entzogen werden, wie etwa sein Verbleib in einem separaten Teil des Unterbringungszentrums in Verbindung mit dem Verbot, mit bestimmten Bewohnern des Zentrums in Kontakt zu treten, oder seine Verbringung in ein anderes Unterbringungszentrum oder eine andere Unterkunft im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie. Desgleichen hindert Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33 nicht an der Inhaftnahme des Antragstellers gemäß Art. 8 Abs. 3 Buchst. e dieser Richtlinie, sofern die Voraussetzungen der Art. 8 bis 11 der Richtlinie erfüllt sind. 53 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Behörden der Mitgliedstaaten, wenn der Antragsteller wie im Ausgangsverfahren ein unbegleiteter Minderjähriger und damit eine „schutzbedürftige Person“ im Sinne von Art. 21 der Richtlinie 2013/33 ist, bei der Verhängung von Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie, wie aus deren Art. 20 Abs. 5 Satz 2 hervorgeht, verstärkt die besondere Situation des Minderjährigen und das Verhältnismäßigkeitsprinzip berücksichtigen müssen. 54 Im Übrigen heißt es in Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33, dass die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Minderjährige berührenden Bestimmungen der Richtlinie vorrangig das Wohl des Kindes berücksichtigen. Nach Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten bei der Würdigung des Kindeswohls insbesondere Faktoren wie dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen unter besonderer Berücksichtigung seines Hintergrundes oder Erwägungen der Sicherheit und der Gefahrenabwehr Rechnung tragen. Ferner wird im 35. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgehoben, dass diese darauf abzielt, die Anwendung u. a. von Art. 24 der Charta der Grundrechte zu fördern, und entsprechend umgesetzt werden muss. 55 In diesem Zusammenhang muss – über die in den Rn. 47 bis 52 des vorliegenden Urteils dargelegten allgemeinen Erwägungen hinaus – bei der Verhängung einer Sanktion nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit Abs. 5 dieses Artikels unter allen Umständen besonderes Augenmerk auf die Situation des Minderjährigen gelegt werden. Im Übrigen hindern diese beiden Bestimmungen die Behörden eines Mitgliedstaats nicht daran, den betreffenden Minderjährigen der Obhut der für Jugendschutz zuständigen Dienststellen oder Justizbehörden anzuvertrauen. 56 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 1 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, keine Sanktion vorsehen kann, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie, die sich auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung beziehen, auch nur zeitweilig entzogen werden, weil diese Sanktion dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Bei der Verhängung anderer Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie sind unter allen Umständen die in Abs. 5 dieses Artikels genannten Voraussetzungen, insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde, zu beachten. Im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen müssen die Sanktionen im Hinblick insbesondere auf Art. 24 der Charta der Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ergehen. Kosten 57 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist im Licht von Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, keine Sanktion vorsehen kann, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie, die sich auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung beziehen, auch nur zeitweilig entzogen werden, weil diese Sanktion dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Bei der Verhängung anderer Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie sind unter allen Umständen die in Abs. 5 dieses Artikels genannten Voraussetzungen, insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde, zu beachten. Im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen müssen die Sanktionen im Hinblick insbesondere auf Art. 24 der Charta der Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ergehen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 24. September 2019.#Google LLC gegen Commission nationale de l'informatique et des libertés (CNIL).#Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État (Frankreich).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Personenbezogene Daten – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46/EG – Verordnung (EU) 2016/679 – Suchmaschinen im Internet – Verarbeitung von Daten, die sich auf Websites befinden – Räumliche Reichweite des Rechts auf Auslistung.#Rechtssache C-507/17.
62017CJ0507
ECLI:EU:C:2019:772
2019-09-24T00:00:00
Szpunar, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62017CJ0507 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 24. September 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Personenbezogene Daten – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46/EG – Verordnung (EU) 2016/679 – Suchmaschinen im Internet – Verarbeitung von Daten, die sich auf Websites befinden – Räumliche Reichweite des Rechts auf Auslistung“ In der Rechtssache C‑507/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 19. Juli 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 21. August 2017, in dem Verfahren Google LLC, Rechtsnachfolgerin der Google Inc., gegen Commission nationale de l’informatique et des libertés (CNIL), Beteiligte: Wikimedia Foundation Inc., Fondation pour la liberté de la presse, Microsoft Corp., Reporters Committee for Freedom of the Press u. a., Article 19 u. a., Internet Freedom Foundation u. a., Défenseur des droits, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, E. Regan und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin C. Toader und des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), L. Bay Larsen, M. Safjan, D. Šváby, C. G. Fernlund, C. Vajda und S. Rodin, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. September 2018, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Google LLC, vertreten durch P. Spinosi, Y. Pelosi und W. Maxwell, avocats, – der Commission nationale de l’informatique et des libertés (CNIL), vertreten durch I. Falque-Pierrotin, J. Lessi und G. Le Grand als Bevollmächtigte, – der Wikimedia Foundation Inc., vertreten durch C. Rameix-Seguin, avocate, – der Fondation pour la liberté de la presse, vertreten durch T. Haas, avocat, – der Microsoft Corp., vertreten durch E. Piwnica, avocat, – des Reporters Committee for Freedom of the Press u. a., vertreten durch F. Louis, avocat, sowie Rechtsanwälte H.‑G. Kamann, C. Schwedler und M. Braun, – der Article 19 u. a., vertreten durch G. Tapie, avocat, G. Facenna, QC, und E. Metcalfe, Barrister, – der Internet Freedom Foundation u. a., vertreten durch T. Haas, avocat, – des Défenseur des droits, vertreten durch J. Toubon als Bevollmächtigten, – der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, R. Coesme, E. de Moustier und S. Ghiandoni als Bevollmächtigte, – von Irland, vertreten durch M. Browne, G. Hodge, J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, BL, – der griechischen Regierung, vertreten durch E.‑M. Mamouna, G. Papadaki, E. Zisi und S. Papaioannou als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von R. Guizzi, avvocato dello Stato, – der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard und G. Kunnert als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Pawlicka und J. Sawicka als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Buchet, H. Kranenborg und D. Nardi als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Januar 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Google LLC als Nachfolgerin der Google Inc. und der Commission nationale de l’informatique et des libertés (CNIL, Nationaler Ausschuss für Informatik und Freiheitsrechte, Frankreich) über eine von dieser gegen Google verhängte Sanktion von 100000 Euro wegen der Weigerung des Unternehmens, in Fällen, in denen es einem Auslistungsantrag stattgibt, die Auslistung auf sämtliche Domains seiner Suchmaschine anzuwenden. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 95/46 3 Gegenstand der Richtlinie 95/46 ist nach ihrem Art. 1 Abs. 1 der Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere der Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sowie die Beseitigung der Hemmnisse für den freien Verkehr dieser Daten. 4 In den Erwägungsgründen 2, 7, 10, 18, 20 und 37 der Richtlinie 95/46 heißt es: „(2) Die Datenverarbeitungssysteme stehen im Dienste des Menschen; sie haben, ungeachtet der Staatsangehörigkeit oder des Wohnorts der natürlichen Personen, deren Grundrechte und ‑freiheiten und insbesondere deren Privatsphäre zu achten und … zum Wohlergehen der Menschen beizutragen. … (7) Das unterschiedliche Niveau des Schutzes der Rechte und Freiheiten von Personen, insbesondere der Privatsphäre, bei der Verarbeitung personenbezogener Daten in den Mitgliedstaaten kann die Übermittlung dieser Daten aus dem Gebiet eines Mitgliedstaats in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verhindern. Dieses unterschiedliche Schutzniveau kann somit ein Hemmnis für die Ausübung einer Reihe von Wirtschaftstätigkeiten auf Gemeinschaftsebene darstellen, … … (10) Gegenstand der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über die Verarbeitung personenbezogener Daten ist die Gewährleistung der Achtung der Grundrechte und ‑freiheiten, insbesondere des auch in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und in den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts anerkannten Rechts auf die Privatsphäre. Die Angleichung dieser Rechtsvorschriften darf deshalb nicht zu einer Verringerung des durch diese Rechtsvorschriften garantierten Schutzes führen, sondern muss im Gegenteil darauf abzielen, in der Gemeinschaft ein hohes Schutzniveau sicherzustellen. … (18) Um zu vermeiden, dass einer Person der gemäß dieser Richtlinie gewährleistete Schutz vorenthalten wird, müssen auf jede in der Gemeinschaft erfolgte Verarbeitung personenbezogener Daten die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats angewandt werden. … … (20) Die Niederlassung des für die Verarbeitung Verantwortlichen in einem Drittland darf dem Schutz der Personen gemäß dieser Richtlinie nicht entgegenstehen. In diesem Fall sind die Verarbeitungen dem Recht des Mitgliedstaats zu unterwerfen, in dem sich die für die betreffenden Verarbeitungen verwendeten Mittel befinden, und Vorkehrungen zu treffen, um sicherzustellen, dass die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte und Pflichten tatsächlich eingehalten werden. … (37) Für die Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen, literarischen oder künstlerischen Zwecken, insbesondere im audiovisuellen Bereich, sind Ausnahmen von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie vorzusehen, soweit sie erforderlich sind, um die Grundrechte der Person mit der Freiheit der Meinungsäußerung und insbesondere der Freiheit, Informationen zu erhalten oder weiterzugeben, die insbesondere in Artikel 10 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten garantiert ist, in Einklang zu bringen. Es obliegt deshalb den Mitgliedstaaten, unter Abwägung der Grundrechte Ausnahmen und Einschränkungen festzulegen, die bei den allgemeinen Maßnahmen zur Rechtmäßigkeit der Verarbeitung von Daten … erforderlich sind …“ 5 Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck a) ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person (‚betroffene Person‘) … b) ‚Verarbeitung personenbezogener Daten‘ (‚Verarbeitung‘) jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Speichern, die Organisation, die Aufbewahrung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Benutzung, die Weitergabe durch Übermittlung, Verbreitung oder jede andere Form der Bereitstellung, die Kombination oder die Verknüpfung sowie das Sperren, Löschen oder Vernichten; … d) ‚für die Verarbeitung Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder jede andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet … …“ 6 Art. 4 („Anwendbares einzelstaatliches Recht“) der Richtlinie lautet: „(1)   Jeder Mitgliedstaat wendet die Vorschriften, die er zur Umsetzung dieser Richtlinie erlässt, auf alle Verarbeitungen personenbezogener Daten an, a) die im Rahmen der Tätigkeiten einer Niederlassung ausgeführt werden, die der für die Verarbeitung Verantwortliche im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats besitzt. Wenn der Verantwortliche eine Niederlassung im Hoheitsgebiet mehrerer Mitgliedstaaten besitzt, ergreift er die notwendigen Maßnahmen, damit jede dieser Niederlassungen die im jeweils anwendbaren einzelstaatlichen Recht festgelegten Verpflichtungen einhält; b) die von einem für die Verarbeitung Verantwortlichen ausgeführt werden, der nicht in seinem Hoheitsgebiet, aber an einem Ort niedergelassen ist, an dem das einzelstaatliche Recht dieses Mitgliedstaats gemäß dem internationalen öffentlichen Recht Anwendung findet; c) die von einem für die Verarbeitung Verantwortlichen ausgeführt werden, der nicht im Gebiet der Gemeinschaft niedergelassen ist und zum Zwecke der Verarbeitung personenbezogener Daten auf automatisierte oder nicht automatisierte Mittel zurückgreift, die im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats belegen sind, es sei denn, dass diese Mittel nur zum Zweck der Durchfuhr durch das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft verwendet werden. (2)   In dem in Absatz 1 Buchstabe c) genannten Fall hat der für die Verarbeitung Verantwortliche einen im Hoheitsgebiet des genannten Mitgliedstaats ansässigen Vertreter zu benennen, unbeschadet der Möglichkeit eines Vorgehens gegen den für die Verarbeitung Verantwortlichen selbst.“ 7 Art. 9 („Verarbeitung personenbezogener Daten und Meinungsfreiheit“) der Richtlinie 95/46 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten sehen für die Verarbeitung personenbezogener Daten, die allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgt, Abweichungen und Ausnahmen von diesem Kapitel sowie von den Kapiteln IV und VI nur insofern vor, als sich dies als notwendig erweist, um das Recht auf Privatsphäre mit den für die Freiheit der Meinungsäußerung geltenden Vorschriften in Einklang zu bringen.“ 8 Art. 12 („Auskunftsrecht“) dieser Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten garantieren jeder betroffenen Person das Recht, vom für die Verarbeitung Verantwortlichen folgendes zu erhalten: … b) je nach Fall die Berichtigung, Löschung oder Sperrung von Daten, deren Verarbeitung nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie entspricht, insbesondere wenn diese Daten unvollständig oder unrichtig sind; …“ 9 Art. 14 („Widerspruchsrecht der betroffenen Person“) der Richtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten erkennen das Recht der betroffenen Person an, a) zumindest in den Fällen von Artikel 7 Buchstaben e) und f) jederzeit aus überwiegenden, schutzwürdigen, sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen dagegen Widerspruch einlegen zu können, dass sie betreffende Daten verarbeitet werden; dies gilt nicht bei einer im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen entgegenstehenden Bestimmung. Im Fall eines berechtigten Widerspruchs kann sich die vom für die Verarbeitung Verantwortlichen vorgenommene Verarbeitung nicht mehr auf diese Daten beziehen; …“ 10 Art. 24 („Sanktionen“) der Richtlinie 95/46 sieht vor: „Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen, um die volle Anwendung der Bestimmungen dieser Richtlinie sicherzustellen, und legen insbesondere die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften anzuwenden sind.“ 11 In Art. 28 („Kontrollstelle“) dieser Richtlinie heißt es: „(1)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass eine oder mehrere öffentliche Stellen beauftragt werden, die Anwendung der von den Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen einzelstaatlichen Vorschriften in ihrem Hoheitsgebiet zu überwachen. … (3)   Jede Kontrollstelle verfügt insbesondere über: – Untersuchungsbefugnisse, wie das Recht auf Zugang zu Daten, die Gegenstand von Verarbeitungen sind, und das Recht auf Einholung aller für die Erfüllung ihres Kontrollauftrags erforderlichen Informationen; – wirksame Einwirkungsbefugnisse, wie beispielsweise … die Befugnis, die Sperrung, Löschung oder Vernichtung von Daten oder das vorläufige oder endgültige Verbot einer Verarbeitung anzuordnen, … … Gegen beschwerende Entscheidungen der Kontrollstelle steht der Rechtsweg offen. (4)   Jede Person oder ein sie vertretender Verband kann sich zum Schutz der die Person betreffenden Rechte und Freiheiten bei der Verarbeitung personenbezogener Daten an jede Kontrollstelle mit einer Eingabe wenden. Die betroffene Person ist darüber zu informieren, wie mit der Eingabe verfahren wurde. … (6)   Jede Kontrollstelle ist im Hoheitsgebiet ihres Mitgliedstaats für die Ausübung der ihr gemäß Absatz 3 übertragenen Befugnisse zuständig, unabhängig vom einzelstaatlichen Recht, das auf die jeweilige Verarbeitung anwendbar ist. Jede Kontrollstelle kann von einer Kontrollstelle eines anderen Mitgliedstaats um die Ausübung ihrer Befugnisse ersucht werden. Die Kontrollstellen sorgen für die zur Erfüllung ihrer Kontrollaufgaben notwendige gegenseitige Zusammenarbeit, insbesondere durch den Austausch sachdienlicher Informationen. …“ Verordnung (EU) 2016/679 12 Die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46 (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, und Berichtigungen im ABl. 2016, L 314, S. 72, und ABl. 2018, L 127, S. 2) gilt ausweislich ihres Art. 99 Abs. 2 seit dem 25. Mai 2018. Gemäß Art. 94 Abs. 1 dieser Verordnung wird die Richtlinie 95/46 mit Wirkung von diesem Datum aufgehoben. 13 In den Erwägungsgründen 1, 4, 9 bis 11, 13, 22 bis 25 und 65 dieser Verordnung heißt es: „(1) Der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ist ein Grundrecht. Gemäß Artikel 8 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden ‚Charta‘) sowie Artikel 16 Absatz 1 [AEUV] hat jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten. … (4) Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der Charta anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere Achtung des Privat- und Familienlebens, … Schutz personenbezogener Daten, Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, unternehmerische Freiheit, … … (9) Die … Richtlinie 95/46… hat … nicht verhindern können, dass der Datenschutz in der Union unterschiedlich gehandhabt wird, … Unterschiede beim Schutzniveau … in den Mitgliedstaaten, … können den unionsweiten freien Verkehr solcher Daten behindern. Diese Unterschiede im Schutzniveau können daher ein Hemmnis für die unionsweite Ausübung von Wirtschaftstätigkeiten darstellen … (10) Um ein gleichmäßiges und hohes Datenschutzniveau für natürliche Personen zu gewährleisten und die Hemmnisse für den Verkehr personenbezogener Daten in der Union zu beseitigen, sollte das Schutzniveau für die Rechte und Freiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung dieser Daten in allen Mitgliedstaaten gleichwertig sein. … (11) Ein unionsweiter wirksamer Schutz personenbezogener Daten erfordert die Stärkung und präzise Festlegung der Rechte der betroffenen Personen sowie eine Verschärfung der Verpflichtungen für diejenigen, die personenbezogene Daten verarbeiten und darüber entscheiden, ebenso wie – in den Mitgliedstaaten – gleiche Befugnisse bei der Überwachung und Gewährleistung der Einhaltung der Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten sowie gleiche Sanktionen im Falle ihrer Verletzung. … (13) Damit in der Union ein gleichmäßiges Datenschutzniveau für natürliche Personen gewährleistet ist und Unterschiede, die den freien Verkehr personenbezogener Daten im Binnenmarkt behindern könnten, beseitigt werden, ist eine Verordnung erforderlich, die für die Wirtschaftsteilnehmer … Rechtssicherheit und Transparenz schafft, natürliche Personen in allen Mitgliedstaaten mit demselben Niveau an durchsetzbaren Rechten ausstattet, dieselben Pflichten und Zuständigkeiten für die Verantwortlichen und Auftragsverarbeiter vorsieht und eine gleichmäßige Kontrolle der Verarbeitung personenbezogener Daten und gleichwertige Sanktionen in allen Mitgliedstaaten sowie eine wirksame Zusammenarbeit zwischen den Aufsichtsbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten gewährleistet. Das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erfordert, dass der freie Verkehr personenbezogener Daten in der Union nicht aus Gründen des Schutzes natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten eingeschränkt oder verboten wird. … … (22) Jede Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der Tätigkeiten einer Niederlassung eines Verantwortlichen oder eines Auftragsverarbeiters in der Union sollte gemäß dieser Verordnung erfolgen, gleich, ob die Verarbeitung in oder außerhalb der Union stattfindet. … (23) Damit einer natürlichen Person der gemäß dieser Verordnung gewährleistete Schutz nicht vorenthalten wird, sollte die Verarbeitung personenbezogener Daten von betroffenen Personen, die sich in der Union befinden, durch einen nicht in der Union niedergelassenen Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter dieser Verordnung unterliegen, wenn die Verarbeitung dazu dient, diesen betroffenen Personen gegen Entgelt oder unentgeltlich Waren oder Dienstleistungen anzubieten. Um festzustellen, ob dieser Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter betroffenen Personen, die sich in der Union befinden, Waren oder Dienstleistungen anbietet, sollte festgestellt werden, ob der Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter offensichtlich beabsichtigt, betroffenen Personen in einem oder mehreren Mitgliedstaaten der Union Dienstleistungen anzubieten. … (24) Die Verarbeitung personenbezogener Daten von betroffenen Personen, die sich in der Union befinden, durch einen nicht in der Union niedergelassenen Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter sollte auch dann dieser Verordnung unterliegen, wenn sie dazu dient, das Verhalten dieser betroffenen Personen zu beobachten, soweit ihr Verhalten in der Union erfolgt. Ob eine Verarbeitungstätigkeit der Beobachtung des Verhaltens von betroffenen Personen gilt, sollte daran festgemacht werden, ob ihre Internetaktivitäten nachvollzogen werden, einschließlich der möglichen nachfolgenden Verwendung von Techniken zur Verarbeitung personenbezogener Daten, durch die von einer natürlichen Person ein Profil erstellt wird, das insbesondere die Grundlage für sie betreffende Entscheidungen bildet oder anhand dessen ihre persönlichen Vorlieben, Verhaltensweisen oder Gepflogenheiten analysiert oder vorausgesagt werden sollen. (25) Ist nach Völkerrecht das Recht eines Mitgliedstaats anwendbar, z. B. in einer diplomatischen oder konsularischen Vertretung eines Mitgliedstaats, so sollte die Verordnung auch auf einen nicht in der Union niedergelassenen Verantwortlichen Anwendung finden. … (65) Eine betroffene Person sollte … ein ‚Recht auf Vergessenwerden‘ [besitzen], wenn die Speicherung ihrer Daten gegen diese Verordnung oder gegen das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt, verstößt. … Die weitere Speicherung der personenbezogenen Daten sollte jedoch rechtmäßig sein, wenn dies für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information … erforderlich ist.“ 14 Art. 3 („Räumlicher Anwendungsbereich“) der Verordnung 2016/679 lautet: „(1)   Diese Verordnung findet Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten, soweit diese im Rahmen der Tätigkeiten einer Niederlassung eines Verantwortlichen oder eines Auftragsverarbeiters in der Union erfolgt, unabhängig davon, ob die Verarbeitung in der Union stattfindet. (2)   Diese Verordnung findet Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten von betroffenen Personen, die sich in der Union befinden, durch einen nicht in der Union niedergelassenen Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter, wenn die Datenverarbeitung im Zusammenhang damit steht a) betroffenen Personen in der Union Waren oder Dienstleistungen anzubieten, unabhängig davon, ob von diesen betroffenen Personen eine Zahlung zu leisten ist; b) das Verhalten betroffener Personen zu beobachten, soweit ihr Verhalten in der Union erfolgt. (3)   Diese Verordnung findet Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten durch einen nicht in der Union niedergelassenen Verantwortlichen an einem Ort, der aufgrund Völkerrechts dem Recht eines Mitgliedstaats unterliegt.“ 15 Art. 4 Nr. 23 dieser Verordnung definiert den Begriff „grenzüberschreitende Verarbeitung“ wie folgt: „a) eine Verarbeitung personenbezogener Daten, die im Rahmen der Tätigkeiten von Niederlassungen eines Verantwortlichen oder eines Auftragsverarbeiters in der Union in mehr als einem Mitgliedstaat erfolgt, wenn der Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter in mehr als einem Mitgliedstaat niedergelassen ist, oder b) eine Verarbeitung personenbezogener Daten, die im Rahmen der Tätigkeiten einer einzelnen Niederlassung eines Verantwortlichen oder eines Auftragsverarbeiters in der Union erfolgt, die jedoch erhebliche Auswirkungen auf betroffene Personen in mehr als einem Mitgliedstaat hat oder haben kann.“ 16 Art. 17 („Recht auf Löschung [‚Recht auf Vergessenwerden‘]“) der Verordnung bestimmt: „(1)   Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, und der Verantwortliche ist verpflichtet, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, sofern einer der folgenden Gründe zutrifft: a) Die personenbezogenen Daten sind für die Zwecke, für die sie erhoben oder auf sonstige Weise verarbeitet wurden, nicht mehr notwendig. b) Die betroffene Person widerruft ihre Einwilligung, auf die sich die Verarbeitung gemäß Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a oder Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a stützte, und es fehlt an einer anderweitigen Rechtsgrundlage für die Verarbeitung. c) Die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 1 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein und es liegen keine vorrangigen berechtigten Gründe für die Verarbeitung vor, oder die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 2 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein. d) Die personenbezogenen Daten wurden unrechtmäßig verarbeitet. e) Die Löschung der personenbezogenen Daten ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten erforderlich, dem der Verantwortliche unterliegt. f) Die personenbezogenen Daten wurden in Bezug auf angebotene Dienste der Informationsgesellschaft gemäß Artikel 8 Absatz 1 erhoben. … (3)   Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, soweit die Verarbeitung erforderlich ist: a) zur Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information; …“ 17 Art. 21 („Widerspruchsrecht“) der Verordnung sieht in Abs. 1 vor: „Die betroffene Person hat das Recht, aus Gründen, die sich aus ihrer besonderen Situation ergeben, jederzeit gegen die Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten, die aufgrund von Artikel 6 Absatz 1 Buchstaben e oder f erfolgt, Widerspruch einzulegen; dies gilt auch für ein auf diese Bestimmungen gestütztes Profiling. Der Verantwortliche verarbeitet die personenbezogenen Daten nicht mehr, es sei denn, er kann zwingende schutzwürdige Gründe für die Verarbeitung nachweisen, die die Interessen, Rechte und Freiheiten der betroffenen Person überwiegen, oder die Verarbeitung dient der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen.“ 18 Art. 55 („Zuständigkeit“) in Kapitel VI („Unabhängige Aufsichtsbehörden“) der Verordnung 2016/679 bestimmt in Abs. 1: „Jede Aufsichtsbehörde ist für die Erfüllung der Aufgaben und die Ausübung der Befugnisse, die ihr mit dieser Verordnung übertragen wurden, im Hoheitsgebiet ihres eigenen Mitgliedstaats zuständig.“ 19 Art. 56 („Zuständigkeit der federführenden Aufsichtsbehörde“) dieser Verordnung lautet: „(1)   Unbeschadet des Artikels 55 ist die Aufsichtsbehörde der Hauptniederlassung oder der einzigen Niederlassung des Verantwortlichen oder des Auftragsverarbeiters gemäß dem Verfahren nach Artikel 60 die zuständige federführende Aufsichtsbehörde für die von diesem Verantwortlichen oder diesem Auftragsverarbeiter durchgeführte grenzüberschreitende Verarbeitung. (2)   Abweichend von Absatz 1 ist jede Aufsichtsbehörde dafür zuständig, sich mit einer bei ihr eingereichten Beschwerde oder einem etwaigen Verstoß gegen diese Verordnung zu befassen, wenn der Gegenstand nur mit einer Niederlassung in ihrem Mitgliedstaat zusammenhängt oder betroffene Personen nur ihres Mitgliedstaats erheblich beeinträchtigt. (3)   In den in Absatz 2 des vorliegenden Artikels genannten Fällen unterrichtet die Aufsichtsbehörde unverzüglich die federführende Aufsichtsbehörde über diese Angelegenheit. Innerhalb einer Frist von drei Wochen nach der Unterrichtung entscheidet die federführende Aufsichtsbehörde, ob sie sich mit dem Fall gemäß dem Verfahren nach Artikel 60 befasst oder nicht, wobei sie berücksichtigt, ob der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter in dem Mitgliedstaat, dessen Aufsichtsbehörde sie unterrichtet hat, eine Niederlassung hat oder nicht. (4)   Entscheidet die federführende Aufsichtsbehörde, sich mit dem Fall zu befassen, so findet das Verfahren nach Artikel 60 Anwendung. Die Aufsichtsbehörde, die die federführende Aufsichtsbehörde unterrichtet hat, kann dieser einen Beschlussentwurf vorlegen. Die federführende Aufsichtsbehörde trägt diesem Entwurf bei der Ausarbeitung des Beschlussentwurfs nach Artikel 60 Absatz 3 weitestgehend Rechnung. (5)   Entscheidet die federführende Aufsichtsbehörde, sich mit dem Fall nicht selbst zu befassen, so befasst die Aufsichtsbehörde, die die federführende Aufsichtsbehörde unterrichtet hat, sich mit dem Fall gemäß den Artikeln 61 und 62. (6)   Die federführende Aufsichtsbehörde ist der einzige Ansprechpartner der Verantwortlichen oder der Auftragsverarbeiter für Fragen der von diesem Verantwortlichen oder diesem Auftragsverarbeiter durchgeführten grenzüberschreitenden Verarbeitung.“ 20 Art. 58 („Befugnisse“) der Verordnung sieht in Abs. 2 vor: „Jede Aufsichtsbehörde verfügt über sämtliche folgenden Abhilfebefugnisse, die es ihr gestatten, … g) die … Löschung von personenbezogenen Daten … gemäß den Artikeln … 17 … anzuordnen, … i) eine Geldbuße … zu verhängen, zusätzlich zu oder anstelle von in diesem Absatz genannten Maßnahmen, je nach den Umständen des Einzelfalls.“ 21 In Kapitel VII („Zusammenarbeit und Kohärenz“) der Verordnung 2016/679 umfasst der Abschnitt I („Zusammenarbeit“) die Art. 60 bis 62 dieser Verordnung. Art. 60 („Zusammenarbeit zwischen der federführenden Aufsichtsbehörde und den anderen betroffenen Aufsichtsbehörden“) bestimmt: „(1)   Die federführende Aufsichtsbehörde arbeitet mit den anderen betroffenen Aufsichtsbehörden im Einklang mit diesem Artikel zusammen und bemüht sich dabei, einen Konsens zu erzielen. Die federführende Aufsichtsbehörde und die betroffenen Aufsichtsbehörden tauschen untereinander alle zweckdienlichen Informationen aus. (2)   Die federführende Aufsichtsbehörde kann jederzeit andere betroffene Aufsichtsbehörden um Amtshilfe gemäß Artikel 61 ersuchen und gemeinsame Maßnahmen gemäß Artikel 62 durchführen, insbesondere zur Durchführung von Untersuchungen oder zur Überwachung der Umsetzung einer Maßnahme in Bezug auf einen Verantwortlichen oder einen Auftragsverarbeiter, der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist. (3)   Die federführende Aufsichtsbehörde übermittelt den anderen betroffenen Aufsichtsbehörden unverzüglich die zweckdienlichen Informationen zu der Angelegenheit. Sie legt den anderen betroffenen Aufsichtsbehörden unverzüglich einen Beschlussentwurf zur Stellungnahme vor und trägt deren Standpunkten gebührend Rechnung. (4)   Legt eine der anderen betroffenen Aufsichtsbehörden innerhalb von vier Wochen, nachdem sie gemäß Absatz 3 des vorliegenden Artikels konsultiert wurde, gegen diesen Beschlussentwurf einen maßgeblichen und begründeten Einspruch ein und schließt sich die federführende Aufsichtsbehörde dem maßgeblichen und begründeten Einspruch nicht an oder ist der Ansicht, dass der Einspruch nicht maßgeblich oder nicht begründet ist, so leitet die federführende Aufsichtsbehörde das Kohärenzverfahren gemäß Artikel 63 für die Angelegenheit ein. (5)   Beabsichtigt die federführende Aufsichtsbehörde, sich dem maßgeblichen und begründeten Einspruch anzuschließen, so legt sie den anderen betroffenen Aufsichtsbehörden einen überarbeiteten Beschlussentwurf zur Stellungnahme vor. Der überarbeitete Beschlussentwurf wird innerhalb von zwei Wochen dem Verfahren nach Absatz 4 unterzogen. (6)   Legt keine der anderen betroffenen Aufsichtsbehörden Einspruch gegen den Beschlussentwurf ein, der von der federführenden Aufsichtsbehörde innerhalb der in den Absätzen 4 und 5 festgelegten Frist vorgelegt wurde, so gelten die federführende Aufsichtsbehörde und die betroffenen Aufsichtsbehörden als mit dem Beschlussentwurf einverstanden und sind an ihn gebunden. (7)   Die federführende Aufsichtsbehörde erlässt den Beschluss und teilt ihn der Hauptniederlassung oder der einzigen Niederlassung des Verantwortlichen oder gegebenenfalls des Auftragsverarbeiters mit und setzt die anderen betroffenen Aufsichtsbehörden und den Ausschuss von dem betreffenden Beschluss einschließlich einer Zusammenfassung der maßgeblichen Fakten und Gründe in Kenntnis. Die Aufsichtsbehörde, bei der eine Beschwerde eingereicht worden ist, unterrichtet den Beschwerdeführer über den Beschluss. (8)   Wird eine Beschwerde abgelehnt oder abgewiesen, so erlässt die Aufsichtsbehörde, bei der die Beschwerde eingereicht wurde, abweichend von Absatz 7 den Beschluss, teilt ihn dem Beschwerdeführer mit und setzt den Verantwortlichen in Kenntnis. (9)   Sind sich die federführende Aufsichtsbehörde und die betreffenden Aufsichtsbehörden darüber einig, Teile der Beschwerde abzulehnen oder abzuweisen und bezüglich anderer Teile dieser Beschwerde tätig zu werden, so wird in dieser Angelegenheit für jeden dieser Teile ein eigener Beschluss erlassen. … (10)   Nach der Unterrichtung über den Beschluss der federführenden Aufsichtsbehörde gemäß den Absätzen 7 und 9 ergreift der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter die erforderlichen Maßnahmen, um die Verarbeitungstätigkeiten all seiner Niederlassungen in der Union mit dem Beschluss in Einklang zu bringen. Der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter teilt der federführenden Aufsichtsbehörde die Maßnahmen mit, die zur Einhaltung des Beschlusses ergriffen wurden; diese wiederum unterrichtet die anderen betroffenen Aufsichtsbehörden. (11)   Hat – in Ausnahmefällen – eine betroffene Aufsichtsbehörde Grund zu der Annahme, dass zum Schutz der Interessen betroffener Personen dringender Handlungsbedarf besteht, so kommt das Dringlichkeitsverfahren nach Artikel 66 zur Anwendung. …“ 22 Art. 61 („Gegenseitige Amtshilfe“) Abs. 1 der Verordnung lautet: „Die Aufsichtsbehörden übermitteln einander maßgebliche Informationen und gewähren einander Amtshilfe, um diese Verordnung einheitlich durchzuführen und anzuwenden, und treffen Vorkehrungen für eine wirksame Zusammenarbeit. Die Amtshilfe bezieht sich insbesondere auf Auskunftsersuchen und aufsichtsbezogene Maßnahmen, beispielsweise Ersuchen um vorherige Genehmigungen und eine vorherige Konsultation, um Vornahme von Nachprüfungen und Untersuchungen.“ 23 Art. 62 („Gemeinsame Maßnahmen der Aufsichtsbehörden“) sieht vor: „(1)   Die Aufsichtsbehörden führen gegebenenfalls gemeinsame Maßnahmen einschließlich gemeinsamer Untersuchungen und gemeinsamer Durchsetzungsmaßnahmen durch, an denen Mitglieder oder Bedienstete der Aufsichtsbehörden anderer Mitgliedstaaten teilnehmen. (2)   Verfügt der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter über Niederlassungen in mehreren Mitgliedstaaten oder werden die Verarbeitungsvorgänge voraussichtlich auf eine bedeutende Zahl betroffener Personen in mehr als einem Mitgliedstaat erhebliche Auswirkungen haben, ist die Aufsichtsbehörde jedes dieser Mitgliedstaaten berechtigt, an den gemeinsamen Maßnahmen teilzunehmen. …“ 24 In Kapitel VII der Verordnung 2016/679 enthält Abschnitt 2 („Kohärenz“) die Art. 63 bis 67 dieser Verordnung. Art. 63 („Kohärenzverfahren“) lautet: „Um zur einheitlichen Anwendung dieser Verordnung in der gesamten Union beizutragen, arbeiten die Aufsichtsbehörden im Rahmen des in diesem Abschnitt beschriebenen Kohärenzverfahrens untereinander und gegebenenfalls mit der Kommission zusammen.“ 25 Art. 65 („Streitbeilegung durch den Ausschuss“) der Verordnung sieht in Abs. 1 vor: „Um die ordnungsgemäße und einheitliche Anwendung dieser Verordnung in Einzelfällen sicherzustellen, erlässt der Ausschuss in den folgenden Fällen einen verbindlichen Beschluss: a) wenn eine betroffene Aufsichtsbehörde in einem Fall nach Artikel 60 Absatz 4 einen maßgeblichen und begründeten Einspruch gegen einen Beschlussentwurf der federführenden Behörde eingelegt hat oder die federführende Behörde einen solchen Einspruch als nicht maßgeblich oder nicht begründet abgelehnt hat. Der verbindliche Beschluss betrifft alle Angelegenheiten, die Gegenstand des maßgeblichen und begründeten Einspruchs sind, insbesondere die Frage, ob ein Verstoß gegen diese Verordnung vorliegt; b) wenn es widersprüchliche Standpunkte dazu gibt, welche der betroffenen Aufsichtsbehörden für die Hauptniederlassung zuständig ist, …“ 26 Art. 66 („Dringlichkeitsverfahren“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1: „Unter außergewöhnlichen Umständen kann eine betroffene Aufsichtsbehörde abweichend vom Kohärenzverfahren nach Artikel 63, 64 und 65 oder dem Verfahren nach Artikel 60 sofort einstweilige Maßnahmen mit festgelegter Geltungsdauer von höchstens drei Monaten treffen, die in ihrem Hoheitsgebiet rechtliche Wirkung entfalten sollen, wenn sie zu der Auffassung gelangt, dass dringender Handlungsbedarf besteht, um Rechte und Freiheiten von betroffenen Personen zu schützen. Die Aufsichtsbehörde setzt die anderen betroffenen Aufsichtsbehörden, den Ausschuss und die Kommission unverzüglich von diesen Maßnahmen und den Gründen für deren Erlass in Kenntnis.“ 27 In Art. 85 („Verarbeitung und Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit“) der Verordnung 2016/679 heißt es: „(1)   Die Mitgliedstaaten bringen durch Rechtsvorschriften das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten gemäß dieser Verordnung mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, einschließlich der Verarbeitung zu journalistischen Zwecken und zu wissenschaftlichen, künstlerischen oder literarischen Zwecken, in Einklang. (2)   Für die Verarbeitung, die zu journalistischen Zwecken oder zu wissenschaftlichen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgt, sehen die Mitgliedstaaten Abweichungen oder Ausnahmen von Kapitel II (Grundsätze), Kapitel III (Rechte der betroffenen Person), Kapitel IV (Verantwortlicher und Auftragsverarbeiter), Kapitel V (Übermittlung personenbezogener Daten an Drittländer oder an internationale Organisationen), Kapitel VI (Unabhängige Aufsichtsbehörden), Kapitel VII (Zusammenarbeit und Kohärenz) und Kapitel IX (Vorschriften für besondere Verarbeitungssituationen) vor, wenn dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen. …“ Französisches Recht 28 Die Richtlinie 95/46 ist mit der Loi no 78‑17 du 6 janvier 1978 relative à l’informatique, aux fichiers et aux libertés (Gesetz Nr. 78‑17 vom 6. Januar 1978 über Informatik, Dateien und Freiheiten) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 6. Januar 1978) in französisches Recht umgesetzt worden. 29 Nach Art. 45 dieses Gesetzes kann der Präsident der CNIL, wenn der für die Datenverarbeitung Verantwortliche den Verpflichtungen aus diesem Gesetz nicht nachkommt, diesen auffordern, den festgestellten Verstoß innerhalb einer von ihm gesetzten Frist abzustellen. Kommt der für die Datenverarbeitung Verantwortliche der an ihn gerichteten Aufforderung nicht nach, kann der kleine Senat der CNIL nach einem kontradiktorischen Verfahren u. a. eine Geldbuße verhängen. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 30 Mit Beschluss vom 21. Mai 2015 forderte die Präsidentin der CNIL Google auf, in Fällen, in denen diese einem Antrag einer natürlichen Person stattgibt, der auf die Entfernung von Links zu Websites aus der im Anschluss an eine Suche anhand ihres Namens angezeigten Ergebnisliste gerichtet ist, die Links auf sämtlichen Domains ihrer Suchmaschine zu entfernen. 31 Google weigerte sich, dieser Aufforderung nachzukommen, und entfernte die betreffenden Links nur aus den Ergebnissen, die bei Sucheingaben auf Domains angezeigt wurden, die den Versionen ihrer Suchmaschine in den Mitgliedstaaten entsprachen. 32 Die CNIL erachtete darüber hinaus den von Google nach Ablauf der Aufforderungsfrist gemachten zusätzlichen Vorschlag des Geoblockings für unzureichend, das darin besteht, dass die Möglichkeit wegfällt, von einer im Wohnsitzstaat der betroffenen Person verorteten IP(Internet Protocol)-Adresse die streitigen Ergebnisse im Anschluss an eine Suche anhand des Namens dieser Person abzurufen, und zwar unabhängig von der länderspezifischen Version der Suchmaschine, die der Internetnutzer verwendet hat. 33 Im Anschluss an die Feststellung, dass Google der genannten Aufforderung nicht fristgerecht nachgekommen sei, verhängte die CNIL mit Beschluss vom 10. März 2016 gegen diese eine öffentlich gemachte Sanktion von 100000 Euro. 34 Google erhob beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) Klage auf Nichtigerklärung dieses Beschlusses. 35 Der Conseil d’État (Staatsrat) stellt fest, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die von Google betriebene Suchmaschine in Anbetracht der von ihrer Tochtergesellschaft Google France in Frankreich ausgeübten Tätigkeiten der Förderung des Verkaufs von Werbeflächen und dieses Verkaufs selbst in den Anwendungsbereich des Gesetzes vom 6. Januar 1978 falle. 36 Die von Google betriebene Suchmaschine sei in verschiedene Domains mit länderspezifischen Top-Level-Domains aufgespalten, um die angezeigten Ergebnisse an die – insbesondere sprachlichen – Eigenheiten der verschiedenen Länder, in denen sie ihre Tätigkeit ausübe, anzupassen. Erfolge die Suche von „google.com“ aus, leite Google diese Suche grundsätzlich automatisch zu der jeweiligen Domain des Landes weiter, von dem aus diese Suche anhand der Identifizierung der IP-Adresse des Internetnutzers als erfolgt gelte. Doch unabhängig von seinem Standort stehe es dem Internetnutzer frei, seine Recherchen auf anderen Domains der Suchmaschine vorzunehmen. Darüber hinaus könnten zwar die Ergebnisse je nach Domain, von der aus die Suche in der Suchmaschine durchgeführt werde, variieren, es stehe jedoch fest, dass die als Ergebnis einer Suche angezeigten Links aus gemeinsamen Datenbanken und gemeinsamer Indexierung stammten. 37 Die Suchmaschine von Google, die im Übrigen nur Gegenstand einer einzigen Anzeige bei der CNIL gewesen sei, sei im Sinne des Gesetzes vom 6. Januar 1978 als einheitliche Verarbeitung personenbezogener Daten anzusehen, zum einen im Hinblick darauf, dass die Domains dieser Suchmaschine alle vom französischen Hoheitsgebiet aus abrufbar seien und zum anderen darauf, dass Verbindungen zwischen diesen unterschiedlichen Domains bestünden, wie u. a. die automatische Weiterleitung zeige, und dass zudem Cookies auf anderen Top-Level-Domains der Suchmaschine als auf jener, auf der sie ursprünglich abgelegt worden seien, existierten. Daher erfolge die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die von Google betriebene Suchmaschine im Rahmen einer ihrer Niederlassungen, nämlich der im französischen Hoheitsgebiet belegenen Google France, und unterliege somit dem Gesetz vom 6. Januar 1978. 38 Google trägt vor dem Conseil d’État (Staatsrat) vor, dass die streitige Sanktion auf einer falschen Auslegung der Bestimmungen des Gesetzes vom 6. Januar 1978 beruhe, die Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 umsetzten, auf deren Grundlage der Gerichtshof in seinem Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google (C‑131/12, EU:C:2014:317), ein „Recht auf Auslistung“ anerkannt habe. Dieses Recht setze nicht zwangsläufig voraus, dass die streitigen Links ohne geografische Beschränkung auf sämtlichen Domains ihrer Suchmaschine entfernt würden. Durch die Heranziehung dieser Auslegung habe die CNIL auch gegen die völkerrechtlich anerkannten Grundsätze der Courtoisie und der Nichteinmischung verstoßen und in unverhältnismäßiger Weise in die Freiheit der Meinungsäußerung, die Informationsfreiheit, die Kommunikationsfreiheit und die Pressefreiheit eingegriffen, die u. a. in Art. 11 der Charta verbürgt seien. 39 Nachdem der Conseil d’État (Staatsrat) festgestellt hat, dass diese Argumentation mehrere ernste Schwierigkeiten bei der Auslegung der Richtlinie 95/46 aufwerfe, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist das Recht auf „Auslistung“, wie es der Gerichtshof in seinem Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google (C‑131/12, EU:C:2014:317), auf der Grundlage der Bestimmungen der Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 anerkannt hat, dahin auszulegen, dass der Betreiber einer Suchmaschine, wenn er einem Auslistungsantrag stattgibt, diese Auslistung auf sämtlichen Domains seiner Suchmaschine vorzunehmen hat, so dass die streitigen Links unabhängig von dem Ort, an dem eine Suche anhand des Namens des Antragstellers durchgeführt wird, auch außerhalb des räumlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie 95/46, nicht mehr angezeigt werden? 2. Ist das Recht auf „Auslistung“, wie es der Gerichtshof in seinem oben angeführten Urteil anerkannt hat, im Fall der Verneinung der ersten Frage dahin auszulegen, dass der Betreiber einer Suchmaschine, wenn er einem Auslistungsantrag stattgibt, nur verpflichtet ist, die streitigen Links aus den Ergebnissen zu entfernen, die im Anschluss an eine Suche anhand des Namens des Antragstellers auf der Domain angezeigt werden, die dem Staat entspricht, in dem die Suche als erfolgt gilt, oder weitgreifender, auf den Domains der Suchmaschine, die den jeweiligen länderspezifischen Top-Level-Domains für sämtliche Mitgliedstaaten, entsprechen? 3. Ist das „Recht auf Auslistung“, wie es vom Gerichtshof in seinem oben angeführten Urteil anerkannt wurde, ergänzend zu der in Frage 2 angesprochenen Verpflichtung dahin auszulegen, dass der Betreiber einer Suchmaschine, wenn er einem Auslistungsantrag stattgibt, verpflichtet ist, durch die sogenannte Geoblocking-Technik ausgehend von einer im Wohnsitzstaat desjenigen, dem das „Recht auf Auslistung“ zusteht, verorteten IP-Adresse die streitigen Ergebnisse der anhand des Namens des Berechtigten durchgeführten Suche zu entfernen, oder dies umfassender ausgehend von einer in einem der Mitgliedstaaten, für die die Richtlinie 95/46 gilt, verorteten IP-Adresse tun muss, und zwar unabhängig von der Domain, die der Internetnutzer, der die Suche durchführt, verwendet? Zu den Vorlagefragen 40 Das Ausgangsverfahren hat seinen Ursprung in einem Rechtsstreit zwischen Google und der CNIL darüber, wie der Betreiber einer Suchmaschine, wenn er feststellt, dass die betroffene Person verlangen kann, dass ein oder mehrere Links zu Websites, die sie betreffende personenbezogene Daten enthalten, aus der im Anschluss an eine Suche anhand ihres Namens angezeigten Ergebnisliste gelöscht werden, dieses Recht auf Auslistung umzusetzen hat. Zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens war zwar die Richtlinie 95/46 anwendbar, doch wurde sie mit Wirkung vom 25. Mai 2018, dem Zeitpunkt, ab dem die Verordnung 2016/679 gilt, aufgehoben. 41 Der Gerichtshof wird die vorgelegten Fragen sowohl im Hinblick auf die Richtlinie als auch im Hinblick auf die Verordnung prüfen, um sicherzustellen, dass seine Antworten dem vorlegenden Gericht auf jeden Fall von Nutzen sein werden. 42 Im Laufe des Verfahrens vor dem Gerichtshof hat Google erklärt, dass sie nach Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens eine neue Darstellung der nationalen Versionen ihrer Suchmaschine eingeführt habe, bei der der vom Internetnutzer eingegebene Domainname nicht mehr die nationale Version der Suchmaschine bestimme, auf die er Zugriff habe. So werde der Internetnutzer nun automatisch auf die nationale Version der Suchmaschine von Google geleitet, die dem Ort entspreche, bei dem davon ausgegangen werde, dass er die Suche von ihm aus durchführe, und die Ergebnisse der Suche würden nach Maßgabe dieses Ortes angezeigt, der von Google mittels Geolokalisierung ermittelt werde. 43 Vor diesem Hintergrund sind die vorgelegten Fragen, die gemeinsam zu behandeln sind, dahin zu verstehen, dass mit ihnen geklärt werden soll, ob Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 sowie Art. 17 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 dahin auszulegen sind, dass der Betreiber einer Suchmaschine, wenn er in Anwendung dieser Bestimmungen einem Auslistungsantrag stattgibt, die Auslistung in allen Versionen seiner Suchmaschine, nur in allen mitgliedstaatlichen Versionen oder nur in der Version für den Mitgliedstaat, in dem der Auslistungsantrag gestellt wurde, vorzunehmen hat, gegebenenfalls in Verbindung mit der sogenannten „Geoblocking“-Technik, um sicherzustellen, dass ein Internetnutzer unabhängig von der verwendeten nationalen Version der Suchmaschine bei einer Suche von einer IP-Adresse aus, die im Wohnsitzmitgliedstaat des Inhabers des Rechts auf Auslistung oder allgemein in einem Mitgliedstaat verortet wird, nicht auf die von der Auslistung erfassten Links zugreifen kann. 44 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass der Suchmaschinenbetreiber zur Wahrung der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Rechte, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind, dazu verpflichtet ist, von der Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand des Namens einer Person durchgeführte Suche angezeigt wird, Links zu von Dritten veröffentlichten Websites mit Informationen zu dieser Person zu entfernen, auch wenn der Name oder die Informationen auf diesen Websites nicht vorher oder gleichzeitig gelöscht werden und gegebenenfalls auch dann, wenn ihre Veröffentlichung auf den Websites als solche rechtmäßig ist (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 88). 45 Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass im Rahmen der Beurteilung der Anwendungsvoraussetzungen der genannten Bestimmungen u. a. zu prüfen ist, ob die betroffene Person ein Recht darauf hat, dass die Information über sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr durch eine Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand ihres Namens durchgeführte Suche angezeigt wird, mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wird, wobei die Feststellung eines solchen Rechts nicht voraussetzt, dass der betroffenen Person durch die Einbeziehung der betreffenden Information in die Ergebnisliste ein Schaden entsteht. Da die betroffene Person in Anbetracht ihrer Grundrechte aus den Art. 7 und 8 der Charta verlangen kann, dass die betreffende Information der breiten Öffentlichkeit nicht mehr durch Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste zur Verfügung gestellt wird, überwiegen diese Rechte grundsätzlich nicht nur gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu der Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche. Dies wäre jedoch nicht der Fall, wenn sich aus besonderen Gründen – wie der Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben – ergeben sollte, dass der Eingriff in die Grundrechte dieser Person durch das überwiegende Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, über die Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste Zugang zu der betreffenden Information zu haben, gerechtfertigt ist (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 99). 46 Im Rahmen der Verordnung 2016/679 ergibt sich das Auslistungsrecht der betroffenen Person nun aus Art. 17 der Verordnung, der speziell das „Recht auf Löschung“ regelt, das in der Überschrift dieses Artikels auch als „Recht auf Vergessenwerden“ bezeichnet wird. 47 Nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 hat die betroffene Person das Recht, von dem für die Datenverarbeitung Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, und der Verantwortliche ist verpflichtet, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, sofern einer der in dieser Bestimmung genannten Gründe zutrifft. Nach Art. 17 Abs. 3 dieser Verordnung gilt Art. 17 Abs. 1 nicht, soweit die Verarbeitung aus einem der in Abs. 3 angeführten Gründe erforderlich ist. Zu diesen Gründen gehört nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung u. a. die Ausübung des Rechts der Internetnutzer auf freie Information. 48 Aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 und Art. 3 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 folgt, dass sowohl die Richtlinie als auch die Verordnung es den betroffenen Personen ermöglichen, ihr Recht auf Auslistung gegenüber demjenigen Suchmaschinenbetreiber geltend zu machen, der eine oder mehrere Niederlassungen im Gebiet der Union besitzt, bei deren Tätigkeit er diese Personen betreffende personenbezogene Daten verarbeitet, und zwar unabhängig davon, ob die Verarbeitung in der Union stattfindet. 49 Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der Tätigkeiten einer Niederlassung, die der für die Verarbeitung Verantwortliche im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats besitzt, ausgeführt wird, wenn der Suchmaschinenbetreiber in einem Mitgliedstaat für die Förderung des Verkaufs der Werbeflächen der Suchmaschine und diesen Verkauf selbst eine Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft gründet, deren Tätigkeit auf die Einwohner dieses Staates ausgerichtet ist (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 60). 50 Unter solchen Umständen sind nämlich die Tätigkeiten des Suchmaschinenbetreibers und die seiner Niederlassung in der Union untrennbar miteinander verbunden, da die die Werbeflächen betreffenden Tätigkeiten das Mittel darstellen, um die in Rede stehende Suchmaschine wirtschaftlich rentabel zu machen, und die Suchmaschine gleichzeitig das Mittel ist, das die Durchführung dieser Tätigkeiten ermöglicht, da zusammen mit den Ergebnissen auf derselben Seite die mit den Suchbegriffen verknüpften Werbeanzeigen angezeigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 56 und 57). 51 Daher kann der Umstand, dass die Suchmaschine von einem Unternehmen eines Drittstaats betrieben wird, nicht dazu führen, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten, die zum Betrieb der Suchmaschine im Rahmen der gewerblichen und Werbetätigkeit einer Niederlassung des für die Verarbeitung Verantwortlichen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ausgeführt wird, den in der Richtlinie 95/46 und der Verordnung 2016/679 vorgesehenen Verpflichtungen und Garantien entzogen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 58). 52 Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben in der Vorlageentscheidung hervor, dass die Niederlassung, die Google im französischen Hoheitsgebiet besitzt, Tätigkeiten ausübt, insbesondere gewerbliche und Werbetätigkeiten, die untrennbar mit der Verarbeitung personenbezogener Daten zum Betrieb der betreffenden Suchmaschine verbunden sind, und dass die Suchmaschine vor allem unter Berücksichtigung der Verbindungen zwischen ihren verschiedenen nationalen Versionen eine einheitliche Verarbeitung personenbezogener Daten ausführt. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Verarbeitung unter diesen Umständen im Rahmen der Niederlassung von Google erfolge, die ihren Sitz im französischen Hoheitsgebiet habe, was darauf hindeute, dass eine solche Situation in den räumlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 95/46 und der Verordnung 2016/679 falle. 53 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht die räumliche Reichweite einer Auslistung in einer solchen Situation klären. 54 Insoweit geht aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 95/46 und den Erwägungsgründen 10, 11 und 13 der auf der Grundlage von Art. 16 AEUV erlassenen Verordnung 2016/679 hervor, dass das Ziel dieser Richtlinie und Verordnung darin besteht, ein hohes Schutzniveau für personenbezogene Daten in der gesamten Union sicherzustellen. 55 Mit einer Auslistung aus allen Versionen einer Suchmaschine kann dieses Ziel zwar vollständig erreicht werden. 56 Das Internet ist nämlich ein weltweites Netz ohne Grenzen und die Suchmaschinen verleihen den Informationen und Links in einer im Anschluss an eine Suche anhand des Namens einer natürlichen Person angezeigten Ergebnisliste Ubiquität (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 80, sowie vom 17. Oktober 2017, Bolagsupplysningen und Ilsjan, C‑194/16, EU:C:2017:766, Rn. 48). 57 In einer globalisierten Welt kann daher der Zugriff von Internetnutzern, insbesondere derjenigen, die sich außerhalb der Union befinden, auf die Listung eines Links, der zu Informationen über eine Person führt, deren Interessenschwerpunkt in der Union liegt, auch innerhalb der Union unmittelbare und erhebliche Auswirkungen auf diese Person haben. 58 Diese Erwägungen können die Befugnis des Unionsgesetzgebers rechtfertigen, die Verpflichtung des Suchmaschinenbetreibers vorzusehen, in Fällen, in denen er einem von einer solchen Person gestellten Auslistungsantrag stattgibt, die Auslistung in allen Versionen seiner Suchmaschine vorzunehmen. 59 Es ist jedoch zu beachten, dass zahlreiche Drittstaaten kein Recht auf Auslistung kennen oder bei diesem Recht einen anderen Ansatz verfolgen. 60 Außerdem ist das Recht auf Schutz personenbezogener Daten kein uneingeschränktes Recht, sondern muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 48, sowie Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU–Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 136). Auch kann die Abwägung zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten einerseits und der Informationsfreiheit der Internetnutzer andererseits weltweit sehr unterschiedlich ausfallen. 61 Der Unionsgesetzgeber hat zwar für die Union eine Abwägung zwischen diesem Recht und dieser Freiheit vorgenommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom heutigen Tag, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, Rn. 59), doch hat er eine solche Abwägung nach derzeitigem Stand nicht in Bezug auf die Reichweite einer Auslistung über die Union hinaus durchgeführt. 62 Insbesondere ergibt sich aus Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 oder Art. 17 der Verordnung 2016/679 nicht, dass der Unionsgesetzgeber zur Sicherstellung der Erreichung des in Rn. 54 des vorliegenden Urteils genannten Ziels entschieden hätte, den in diesen Bestimmungen verankerten Rechten eine Reichweite zu verleihen, die über das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten hinausgeht, und dass er einem Wirtschaftsteilnehmer, der wie Google in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie oder Verordnung fällt, eine Pflicht zur Auslistung hätte auferlegen wollen, die auch für die nicht mitgliedstaatlichen nationalen Versionen seiner Suchmaschine gilt. 63 Im Übrigen ist festzustellen, dass zwar die Art. 56 und 60 bis 66 der Verordnung 2016/679 den Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten die Instrumente und Mechanismen zur Verfügung stellen, die ihnen gegebenenfalls ermöglichen, zusammenzuarbeiten, um eine gemeinsame Entscheidung zu treffen, die auf einer Abwägung zwischen dem Recht der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten und dem öffentlichen Interesse der verschiedenen Mitgliedstaaten am Zugang zu einer Information beruht, das Unionsrecht derzeit jedoch keine solchen Instrumente und Kooperationsmechanismen im Hinblick auf die Reichweite einer Auslistung über die Union hinaus vorsieht. 64 Daraus folgt, dass nach derzeitigem Stand ein Suchmaschinenbetreiber, der einem Auslistungsantrag der betroffenen Person – gegebenenfalls auf Anordnung einer Aufsichts- oder Justizbehörde eines Mitgliedstaats – stattgibt, nicht aus dem Unionsrecht verpflichtet ist, eine solche Auslistung in allen Versionen seiner Suchmaschine vorzunehmen. 65 Nach alledem kann keine Verpflichtung des Suchmaschinenbetreibers aus Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 und Art. 17 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 bestehen, eine Auslistung in allen Versionen seiner Suchmaschine vorzunehmen. 66 Zu der Frage, ob die Auslistung in den mitgliedstaatlichen Versionen der Suchmaschine zu erfolgen hat oder nur in der Version für den Wohnsitzmitgliedstaat desjenigen, der die Auslistung verlangen kann, ergibt sich insbesondere aus der Tatsache, dass sich der Unionsgesetzgeber nun dafür entschieden hat, den Datenschutz durch eine Verordnung zu regeln, die in allen Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar ist, und dies, wie im zehnten Erwägungsgrund der Verordnung 2016/679 ausgeführt, mit dem Ziel, ein gleichmäßiges und hohes Datenschutzniveau in der gesamten Union zu gewährleisten und die Hemmnisse für den Verkehr personenbezogener Daten in der Union zu beseitigen, dass die Auslistung grundsätzlich für alle Mitgliedstaaten erfolgen sollte. 67 Es ist jedoch festzustellen, dass das öffentliche Interesse am Zugang zu einer Information auch innerhalb der Union von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat variieren kann, so dass das Ergebnis der Abwägung zwischen diesem Interesse einerseits und dem Recht der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten andererseits nicht unbedingt für alle Mitgliedstaaten gleich ist, zumal es nach Art. 9 der Richtlinie 95/46 und Art. 85 der Verordnung 2016/679 Sache der Mitgliedstaaten ist, etwa für die Datenverarbeitung allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken, die Abweichungen und Ausnahmen vorzusehen, die erforderlich sind, um diese Rechte u. a. mit der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen. 68 Den Art. 56 und 60 der Verordnung 2016/679 ist im Einzelnen zu entnehmen, dass für die grenzüberschreitende Verarbeitung im Sinne von Art. 4 Nr. 23 und vorbehaltlich von Art. 56 Abs. 2 dieser Verordnung die verschiedenen betroffenen nationalen Aufsichtsbehörden nach dem in diesen Bestimmungen vorgesehenen Verfahren zusammenarbeiten müssen, um einen Konsens zu erzielen und einen einheitlichen Beschluss zu fassen, der alle diese Behörden bindet und mit dem der für die Verarbeitung Verantwortliche die Verarbeitungstätigkeiten all seiner Niederlassungen in der Union in Einklang bringen muss. Darüber hinaus verpflichtet Art. 61 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 die Aufsichtsbehörden u. a. dazu, einander maßgebliche Informationen zu übermitteln und Amtshilfe zu gewähren, um die Verordnung in der gesamten Union einheitlich durchzuführen und anzuwenden, und Art. 63 der Verordnung besagt, dass zu diesem Zweck das in den Art. 64 und 65 der Verordnung vorgesehene Kohärenzverfahren vorgesehen ist. Schließlich ermöglicht das Dringlichkeitsverfahren nach Art. 66 der Verordnung 2016/679 unter außergewöhnlichen Umständen, dass eine betroffene Aufsichtsbehörde sofort einstweilige Maßnahmen mit festgelegter Geltungsdauer von höchstens drei Monaten treffen kann, die in ihrem Hoheitsgebiet rechtliche Wirkung entfalten sollen, wenn sie zu der Auffassung gelangt, dass dringender Handlungsbedarf besteht, um Rechte und Freiheiten von betroffenen Personen zu schützen. 69 Dieser Regelungsrahmen bietet den nationalen Aufsichtsbehörden somit die notwendigen Instrumente und Mechanismen, um die Rechte der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten mit dem Interesse der gesamten Öffentlichkeit in den Mitgliedstaaten am Zugang zu der betreffenden Information in Einklang zu bringen und somit gegebenenfalls einen Beschluss über die Auslistung erlassen zu können, der alle Suchen umfasst, die anhand des Namens dieser Person vom Gebiet der Union aus durchgeführt werden. 70 Darüber hinaus obliegt es dem Suchmaschinenbetreiber, erforderlichenfalls hinreichend wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um einen wirkungsvollen Schutz der Grundrechte der betroffenen Person sicherzustellen. Diese Maßnahmen müssen ihrerseits alle gesetzlichen Anforderungen erfüllen und bewirken, dass die Internetnutzer in den Mitgliedstaaten daran gehindert oder zumindest zuverlässig davon abgehalten werden, auf die betreffenden Links über eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person zuzugreifen (vgl. entsprechend Urteile vom 27. März 2014, UPC Telekabel Wien, C‑314/12, EU:C:2014:192, Rn. 62, und vom 15. September 2016, Mc Fadden, C‑484/14, EU:C:2016:689, Rn. 96). 71 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die von Google getroffenen oder vorgeschlagenen Maßnahmen auch im Hinblick auf die in Rn. 42 des vorliegenden Urteils dargestellten jüngsten Änderungen an ihrer Suchmaschine diesen Anforderungen genügen. 72 Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht zwar, wie in Rn. 64 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nach derzeitigem Stand nicht vorschreibt, dass die Auslistung, die möglicherweise gewährt wird, für alle Versionen der Suchmaschine gilt, doch verbietet es dies auch nicht. Daher bleibt eine Aufsichts- oder Justizbehörde eines Mitgliedstaats befugt, anhand von nationalen Schutzstandards für die Grundrechte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29, und vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107 Rn. 60), eine Abwägung zwischen dem Recht der betroffenen Person auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten einerseits und dem Recht auf freie Information andererseits vorzunehmen und nach erfolgter Abwägung gegebenenfalls dem Suchmaschinenbetreiber aufzugeben, eine Auslistung in allen Versionen seiner Suchmaschine vorzunehmen. 73 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 sowie Art. 17 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 dahin auszulegen sind, dass der Betreiber einer Suchmaschine, wenn er in Anwendung dieser Bestimmungen einem Auslistungsantrag stattgibt, die Auslistung nicht in allen Versionen seiner Suchmaschine vorzunehmen hat, sondern nur in allen mitgliedstaatlichen Versionen, erforderlichenfalls in Verbindung mit Maßnahmen, die den gesetzlichen Anforderungen entsprechen und es tatsächlich erlauben, die Internetnutzer, die von einem Mitgliedstaat aus eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person durchführen, daran zu hindern oder zumindest zuverlässig davon abzuhalten, über die im Anschluss an diese Suche angezeigte Ergebnisliste auf die Links zuzugreifen, die Gegenstand des Auslistungsantrags sind. Kosten 74 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr sowie Art. 17 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46 (Datenschutz-Grundverordnung) sind dahin auszulegen, dass der Betreiber einer Suchmaschine, wenn er in Anwendung dieser Bestimmungen einem Auslistungsantrag stattgibt, die Auslistung nicht in allen Versionen seiner Suchmaschine vorzunehmen hat, sondern nur in allen mitgliedstaatlichen Versionen, erforderlichenfalls in Verbindung mit Maßnahmen, die den gesetzlichen Anforderungen entsprechen und es tatsächlich erlauben, die Internetnutzer, die von einem Mitgliedstaat aus eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person durchführen, daran zu hindern oder zumindest zuverlässig davon abzuhalten, über die im Anschluss an diese Suche angezeigte Ergebnisliste auf die Links zuzugreifen, die Gegenstand des Auslistungsantrags sind. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 5. September 2019.#Strafverfahren gegen AH u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 4 Abs. 1 – Unschuldsvermutung – Öffentliche Bezugnahme auf die Schuld – Vereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und dem Täter einer Straftat – Nationale Rechtsprechung, die die Identifizierung der beschuldigten Personen vorsieht, die eine solche Vereinbarung nicht abgeschlossen haben – Charta der Grundrechte – Art. 48.#Rechtssache C-377/18.
62018CJ0377
ECLI:EU:C:2019:670
2019-09-05T00:00:00
Gerichtshof, Saugmandsgaard Øe
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62018CJ0377 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 5. September 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 4 Abs. 1 – Unschuldsvermutung – Öffentliche Bezugnahme auf die Schuld – Vereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und dem Täter einer Straftat – Nationale Rechtsprechung, die die Identifizierung der beschuldigten Personen vorsieht, die eine solche Vereinbarung nicht abgeschlossen haben – Charta der Grundrechte – Art. 48“ In der Rechtssache C‑377/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 31. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 2018, in dem Strafverfahren gegen AH, PB, CX, KM, PH, Beteiligter: MH, erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter T. von Danwitz und C. Vajda (Berichterstatter), Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe, Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. März 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze, E. Lankenau und M. Hellmann als Bevollmächtigte, dann durch E. Lankenau und M. Hellmann als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, avvocato dello Stato, – der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und Y. Marinova als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Juni 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen (ABl. 2016, L 65, S. 1) in Verbindung mit dem 16. Erwägungsgrund Satz 1 und dem 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie. 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen AH, PB, CX, KM und PH wegen ihrer mutmaßlichen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Charta 3 Art. 48 („Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet: „(1)   Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig. (2)   Jedem Angeklagten wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet.“ 4 In den Erläuterungen zur Charta (ABl. 2007, C 303, S. 17) heißt es zu deren Art. 48, dass diese Bestimmung Art. 6 Abs. 2 und 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entspricht. 5 Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) Abs. 3 der Charta lautet: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“ Richtlinie 2016/343 6 Die Erwägungsgründe 1, 4, 5, 9, 10, 16 und 48 der Richtlinie 2016/343 lauten: „(1) Die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren sind in den Artikeln 47 und 48 der Charta …, in Artikel 6 der [EMRK], in Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und in Artikel 11 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verankert. … (4) Die Umsetzung des Grundsatzes [der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und anderer gerichtlicher Entscheidungen] beruht auf dem Grundgedanken, dass die Mitgliedstaaten gegenseitiges Vertrauen in ihre jeweilige Strafrechtspflege haben. Das Ausmaß des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen und von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindeststandards, die erforderlich sind, um die Anwendung dieses Grundsatzes zu erleichtern. (5) Zwar sind die Mitgliedstaaten Vertragsparteien der EMRK und des IPbpR, doch hat die Erfahrung gezeigt, dass dies allein nicht immer ein hinreichendes Maß an Vertrauen in die Strafrechtspflege anderer Mitgliedstaaten schafft. … (9) Mit dieser Richtlinie soll das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden. (10) Durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften zum Schutz der Verfahrensrechte Verdächtiger und beschuldigter Personen zielt diese Richtlinie darauf ab, das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu stärken und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern. Auch können durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften Hindernisse für die Freizügigkeit der Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beseitigt werden. … (16) Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung läge vor, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person in einer öffentlichen Erklärung einer Behörde oder in einer gerichtlichen Entscheidung, bei der es sich nicht um eine Entscheidung über die Schuld handelt, als schuldig dargestellt wird, solange die Schuld dieser Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde. Solche Erklärungen und gerichtlichen Entscheidungen sollten nicht den Eindruck vermitteln, dass die betreffende Person schuldig ist. Davon sollten Strafverfolgungsmaßnahmen unberührt bleiben, die darauf abzielen, den Verdächtigen oder die beschuldigte Person zu überführen, wie etwa die Anklage, ebenso wie gerichtliche Entscheidungen, mit denen die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung widerrufen wird, soweit dabei die Rechte der Verteidigung gewahrt werden. Ebenso unberührt bleiben sollten vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen, wie etwa Entscheidungen über Untersuchungshaft, soweit der Verdächtige oder die beschuldigte Personen darin nicht als schuldig bezeichnet wird. Bevor eine vorläufige Entscheidung verfahrensrechtlicher Art getroffen wird, müsste die zuständige Stelle unter Umständen zunächst prüfen, ob das gegen den Verdächtigen oder die beschuldigte Person vorliegende belastende Beweismaterial ausreicht, um die betreffende Entscheidung zu rechtfertigen; in der Entscheidung könnte auf dieses Beweismaterial Bezug genommen werden. … (48) Da mit dieser Richtlinie Mindestvorschriften festgelegt werden, sollten die Mitgliedstaaten die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten können, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Das durch die Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau sollte nie unter den Standards der Charta oder der EMRK, wie sie vom Gerichtshof der Europäischen Union und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden, liegen.“ 7 Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt: „Diese Richtlinie enthält gemeinsame Mindestvorschriften für a) bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung in Strafverfahren, b) das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren.“ 8 Art. 2 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie sieht vor: „Diese Richtlinie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.“ 9 Art. 4 („Öffentliche Bezugnahme auf die Schuld“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass, solange die Schuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde, in öffentlichen Erklärungen von Behörden und in nicht die Frage der Schuld betreffenden gerichtlichen Entscheidungen nicht so auf die betreffende Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig. Dies gilt unbeschadet der Strafverfolgungsmaßnahmen, die dazu dienen, den Verdächtigen oder die beschuldigte Person zu überführen, sowie unbeschadet der vorläufigen Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen.“ 10 Art. 14 („Umsetzung“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor: „Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 1. April 2018 nachzukommen. Sie setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis. Bei Erlass dieser Vorschriften nehmen die Mitgliedstaaten in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf die vorliegende Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten dieser Bezugnahme.“ Bulgarisches Recht 11 Nach Art. 381 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) kann jeder Beschuldigte, der sich schuldig bekennt, nach Abschluss der Ermittlungen durch seinen Verteidiger eine Strafvereinbarung mit dem Staatsanwalt schließen. 12 Art. 381 Abs. 5 NPK sieht vor: „Die Strafvereinbarung wird schriftlich ausgefertigt und enthält das Einvernehmen zu folgenden Fragen: 1. wurde eine Tat begangen, wurde sie von der beschuldigten Person begangen, wurde sie schuldhaft begangen, stellt sie eine Straftat dar, und unter welchen Tatbestand fällt sie? …“ 13 Art. 381 Abs. 7 NPK bestimmt: „Wird das Verfahren gegen mehrere Personen … geführt, kann die Strafvereinbarung für einige der Personen … geschlossen werden.“ 14 Art. 382 Abs. 5 NPK lautet: „Das Gericht kann Änderungen an der Strafvereinbarung vorschlagen, die mit dem Staatsanwalt und dem Verteidiger erörtert werden. Zuletzt wird der Beschuldigte angehört.“ 15 Gemäß Art. 382 Abs. 7 NPK genehmigt das Gericht die Strafvereinbarung, wenn sie nicht gegen das Gesetz und die guten Sitten verstößt. 16 Nach Art. 383 Abs. 1 NPK hat die Strafvereinbarung die Folgen eines rechtskräftigen Urteils. 17 Gemäß den Art. 12 bis 14 des Zakon za grazhdanskata registratsia (Gesetz über das Personenstandsregister) haben die bulgarischen Staatsbürger drei Namen, nämlich den Vornamen, den Vatersnamen und den Familiennamen. Sie haben nach Art. 11 Abs. 1 dieses Gesetzes auch eine persönliche Identifikationsnummer als Verwaltungskennzahl, mit der die betreffende Person eindeutig bestimmt wird. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 18 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass AH, PB, CX, KM, PH und MH der mutmaßlichen Beteiligung an einer in Sofia (Bulgarien) agierenden kriminellen Vereinigung von November 2014 bis November 2015 beschuldigt werden. In dieser Vereinigung sollen sie zum Zweck der Bereicherung falsche offizielle Urkunden, nämlich Ausweisdokumente und Führerscheine, ausgestellt oder den Inhalt solcher Urkunden verfälscht haben. Laut Anklageschrift schlossen sich diese sechs Personen zu einer kriminellen Vereinigung zusammen und teilten dabei die Aufgaben zur Erreichung des gemeinsamen kriminellen Ziels untereinander auf. 19 Nur eine dieser Personen, MH, äußerte den Wunsch, eine Vereinbarung mit dem Staatsanwalt zu schließen, in welcher sie sich im Gegenzug für eine Strafmilderung für schuldig bekannte. 20 Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung erklärten die fünf anderen Angeschuldigten (im Folgenden: fünf Angeschuldigte) ihre „verfahrensrechtliche Zustimmung“ zum Abschluss einer solchen Vereinbarung durch MH und den Staatsanwalt, wiesen dabei jedoch ausdrücklich darauf hin, dass sie damit weder ihre Schuld eingestehen noch auf ihr Recht verzichten würden, auf unschuldig zu plädieren. 21 Aus der Sachverhaltsdarstellung in der Strafvereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und MH ergibt sich, dass dieser Teil einer mit den fünf Angeschuldigten gebildeten kriminellen Vereinigung war. Alle Angeschuldigten werden in dieser Vereinbarung auf dieselbe Weise identifiziert, nämlich mit ihren Vornamen, ihrem Vatersnamen, ihrem Familiennamen und ihrer nationalen Identifikationsnummer. Der einzige Unterschied besteht insoweit darin, dass MH zusätzlich auch noch mit Geburtsdatum und Geburtsort, Anschrift, Staatsangehörigkeit, Volkszugehörigkeit, Familienstand und Stand des Strafregisters kenntlich gemacht wurde. 22 Gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften wurde diese Vereinbarung dem vorlegenden Gericht, das befugt ist, Änderungen vorzunehmen, zur Genehmigung vorgelegt. 23 Insoweit fragt sich das vorlegende Gericht, ob es mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 vereinbar sei, dass die fünf Angeschuldigten, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vereinbarung nicht geschlossen hätten und gegen die das ordentliche Strafverfahren fortgeführt werde, in der Vereinbarung klar und unmissverständlich als Mitglieder der in Rede stehenden kriminellen Vereinigung bezeichnet und mit ihrem Vornamen, ihrem Vatersnamen, ihrem Familiennamen und ihrer nationalen Identifikationsnummer identifiziert würden. 24 Es stellt zum einen fest, dass nach ständiger nationaler Rechtsprechung der Wortlaut der Strafvereinbarung vollständig dem Wortlaut der Anklageschrift entsprechen müsse, in der alle Angeschuldigten als Mittäter genannt würden. Außerdem könne die Nennung der Mittäter von wesentlicher Bedeutung für die Tatbestandsmäßigkeit der betreffenden strafbaren Handlung sein, da nach bulgarischem Recht für das Bestehen einer kriminellen Vereinigung die Beteiligung von mindestens drei Personen erforderlich sei. 25 Zum anderen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 es einem Gericht verbiete, auf einen Angeschuldigten in einer nicht die Frage seiner Schuld betreffenden Entscheidung so Bezug zu nehmen, als sei er schuldig. Es stellt sich die Frage, ob auf die fünf Angeschuldigten, gegen die das ordentliche Verfahren fortgeführt werde, so Bezug genommen werde, als seien sie schuldig, indem sie in der offiziellen gerichtlichen Entscheidung mit ihrem Vornamen, ihrem Vatersnamen, ihrem Familiennamen und ihrer nationalen Identifikationsnummer als Mittäter der in Rede stehenden Straftat genannt würden. 26 Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Steht eine nationale Rechtsprechung, die verlangt, dass im Wortlaut einer (im Rahmen eines Strafverfahrens geschlossenen) Strafvereinbarung als Täter der jeweiligen Straftat nicht nur der Angeschuldigte genannt wird, der sich schuldig bekannt und diese Vereinbarung geschlossen hat, sondern auch andere Angeschuldigte, seine Mittäter, die keine solche Vereinbarung geschlossen haben, die sich nicht schuldig bekannt haben und gegen die das ordentliche Strafverfahren fortgeführt wird, die aber zugestimmt haben, dass der erstere Angeschuldigte die Strafvereinbarung schließt, mit Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren 16. Erwägungsgrund Satz 1 und ihrem 17. Erwägungsgrund in Einklang? 27 Mit Entscheidung vom 22. Juni 2018 hat der Präsident des Gerichtshofs dieser Rechtssache eine vorrangige Behandlung gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs gewährt. Zur Vorlagefrage 28 Einleitend ist festzustellen, dass im Vorabentscheidungsersuchen zwar ausgeführt wird, dass die fünf Angeschuldigten ihre „verfahrensrechtliche Zustimmung“ zum Abschluss einer Vereinbarung zwischen MH und dem Staatsanwalt gegeben hätten, in der sich MH im Gegenzug für eine Strafmilderung schuldig bekenne, der Gerichtshof aber nicht gefragt worden ist, ob eine nationale Regelung, die gegebenenfalls die gerichtliche Genehmigung einer solchen Vereinbarung von der Zustimmung dieser Personen abhängig macht, mit dem Unionsrecht vereinbar sein könnte. 29 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er es verbietet, dass eine von einem nationalen Gericht zu genehmigende Vereinbarung, in der die beschuldigte Person sich im Gegenzug für eine Strafmilderung für schuldig bekennt, als Mittäter der betreffenden Straftat ausdrücklich nicht nur diese beschuldigte Person nennt, sondern auch andere beschuldigte Personen, die sich nicht schuldig bekannt haben und gegen die ein gesondertes Strafverfahren geführt wird. Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2016/343 30 Vorab ist zu prüfen, ob die Richtlinie 2016/343 unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren gegebenen anwendbar ist. 31 Erstens steht fest, dass diese Richtlinie in zeitlicher Hinsicht anwendbar ist. Hierzu genügt die Feststellung, dass das vorlegende Gericht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vereinbarung noch nicht genehmigt hat und eine etwaige Genehmigung somit zwangsläufig nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2016/343, d. h. nach dem 1. April 2018, erfolgen wird. 32 Zweitens ist die Richtlinie 2016/343 auch in persönlicher Hinsicht anwendbar. Nach ihrem Art. 2 gilt diese Richtlinie für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat. 33 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass es sich bei den fünf Angeschuldigten im Ausgangsverfahren um beschuldigte Personen in einem Strafverfahren handelt und dass noch keine Entscheidung über die endgültige Feststellung ihrer Schuld in Bezug auf die betreffende Straftat ergangen ist. 34 Drittens ist diese Richtlinie in sachlicher Hinsicht anwendbar, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vereinbarung in die Kategorie „nicht die Frage der Schuld betreffende gerichtliche Entscheidungen“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 fällt. Zum einen stellt nämlich – wie der Generalanwalt in den Nrn. 37 bis 42 seiner Schlussanträge dargelegt hat – eine solche Vereinbarung, die zwischen dem Staatsanwalt und der beschuldigten Person geschlossen wird, nach der Genehmigung durch einen Richter eine gerichtliche Entscheidung dar. 35 Zum anderen betrifft die im Ausgangsverfahren fragliche Vereinbarung nicht die Frage der Schuld der fünf Angeschuldigten. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die bloße Tatsache, dass diese Vereinbarung über die Schuld von MH entscheidet, die Einstufung der Entscheidung als in Bezug auf die fünf Angeschuldigten „nicht die Frage der Schuld betreffend“ nicht auszuschließen vermag. Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, kann nämlich ein und dieselbe Vereinbarung eine Sachentscheidung für die Person darstellen, die sie geschlossen hat, und auf die darin daher so Bezug genommen werden kann, als sei sie schuldig, für die anderen beschuldigten Personen, die keine Vereinbarung geschlossen haben, aber nicht. Eine andere Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 hätte zur Folge, dass die fünf Angeschuldigten nicht mehr über die in dieser Bestimmung enthaltenen Garantien verfügten. Eine solche Auslegung liefe dem in ihrem neunten Erwägungsgrund genannten Ziel der Richtlinie, das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren zu stärken, zuwider. Zu der in Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2016/343 angesprochenen Verpflichtung 36 Gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2016/343 haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass, solange die Schuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde, u. a. in nicht die Frage der Schuld betreffenden gerichtlichen Entscheidungen nicht so auf die betreffende Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig. 37 Aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 geht hervor, dass diese Bestimmung die Beachtung der Unschuldsvermutung gewährleisten soll. Solche gerichtlichen Entscheidungen sollten daher, so heißt es dort, nicht den Eindruck vermitteln, dass die betreffende Person schuldig ist. 38 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2016/343, wie aus ihrem Art. 1 und ihrem neunten Erwägungsgrund hervorgeht, zum Gegenstand hat, gemeinsame Mindestvorschriften für Strafverfahren in Bezug auf bestimme Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festzulegen (Urteil vom 19. September 2018, Milev, C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 45). 39 Diese Richtlinie soll somit das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege stärken, wie aus ihren Erwägungsgründen 4, 5 und 10 hervorgeht. 40 Obwohl Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 den Mitgliedstaaten beim Erlass der für die Zwecke dieser Bestimmung erforderlichen Maßnahmen einen Ermessensspielraum belässt, sollte, wie sich aus dem 48. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, das durch die Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau nie unter den – u. a. auf die Unschuldsvermutung bezogenen – Standards der Charta oder der EMRK liegen. 41 Insoweit ist festzustellen, dass die Unschuldsvermutung in Art. 48 der Charta verankert ist, der Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK entspricht, wie den Erläuterungen zur Charta zu entnehmen ist. Folglich ist Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK nach Art. 52 Abs. 3 der Charta bei der Auslegung ihres Art. 48 als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen (vgl. entsprechend in Bezug auf Art. 17 der Charta Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen], C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Mangels genauer Angaben in der Richtlinie 2016/343 und in der Rechtsprechung zu Art. 48 der Charta hinsichtlich der Frage, wie festzustellen ist, ob in einer gerichtlichen Entscheidung so auf eine Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig, ist es angezeigt, sich bei der Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 Abs. 2 EMRK zu orientieren. 43 Insoweit hat der EGMR festgestellt, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt ist, wenn eine gerichtliche Entscheidung oder eine amtliche Erklärung über einen Angeklagten, ohne dass eine rechtskräftige Verurteilung vorläge, eine eindeutige Erklärung enthält, dass die Person die in Rede stehende Straftat begangen hat. In diesem Zusammenhang hat der EGMR die Bedeutung betont, die der Wortwahl der Justizbehörden sowie den besonderen Umständen, unter denen die Äußerung getätigt wurde, und der Art und dem Kontext des fraglichen Verfahrens zukommt (vgl. in diesem Sinne EGMR, 27. Februar 2014, Karaman/Deutschland, CE:ECHR:20140227JUD001710310, § 63). 44 Der EGMR hat anerkannt, dass es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Verdächtigen, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, für die Bewertung der Schuld der Angeklagten unerlässlich sein kann, dass das nationale Gericht auf die Beteiligung Dritter Bezug nimmt, gegen die später womöglich ein gesondertes Verfahren geführt wird. Er hat jedoch weiter ausgeführt, dass, wenn Tatsachen in Bezug auf die Beteiligung Dritter eingeführt werden müssen, das betreffende Gericht es vermeiden sollte, mehr Informationen zu geben als für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der in dem betreffenden Verfahren angeklagten Personen nötig. Zudem hat der EGMR betont, dass die Begründung der Gerichtsentscheidungen in einer Art und Weise zu formulieren ist, die eine mögliche vorzeitige Beurteilung der Schuld der betroffenen Dritten vermeidet, die die faire Prüfung der gegen sie in einem gesonderten Verfahren erhobenen Vorwürfe gefährden könnte (vgl. in diesem Sinne EGMR, 27. Februar 2014, Karaman/Deutschland, CE:ECHR:20140227JUD001710310, §§ 64 und 65; vgl. auch EGMR, 23. Februar 2016, Navalnyy und Ofitserov/Russland, CE:ECHR:2016:0223JUD004663213‚ § 99). 45 Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung und der vom Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 91 seiner Schlussanträge getroffenen Feststellungen ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass er es nicht verbietet, dass eine Vereinbarung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die von einem nationalen Gericht genehmigt werden muss, die Beteiligung anderer beschuldigter Personen als der Person, die die Vereinbarung geschlossen und damit ihre Schuld anerkannt hat, erwähnt, über die aber ein gesondertes Urteil ergeht, und diese identifiziert, sofern diese Angabe erstens für die Einordnung der rechtlichen Verantwortlichkeit der Person, die diese Vereinbarung geschlossen hat, erforderlich ist und zweitens diese Vereinbarung eindeutig darauf hinweist, dass gegen diese anderen Personen ein gesondertes Strafverfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist. 46 Insoweit ist bei der Kontrolle der Beachtung der Unschuldsvermutung eine gerichtliche Entscheidung und ihre Begründung immer in ihrer Gesamtheit und im Licht der besonderen Umstände, unter denen sie erlassen worden ist, zu prüfen. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, verlöre jeder ausdrückliche Hinweis auf die fehlende Schuld der Mitangeklagten in einem Abschnitt einer gerichtlichen Entscheidung seinen Sinn, wenn andere Abschnitte dieser Entscheidung wie eine vorzeitige Feststellung ihrer Schuld verstanden werden könnten. 47 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach dem nationalen Recht für die Bildung einer kriminellen Vereinigung die Beteiligung von mindestens drei Personen erforderlich sei. Aus der Vorlageentscheidung scheint somit, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, hervorzugehen, dass die Erwähnung der fünf Angeschuldigten als Mittäter der Straftat in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vereinbarung erforderlich war, um die Strafbarkeit von MH in Bezug auf seine Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung festzustellen. 48 Allerdings weist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vereinbarung, wie sie dem vorlegenden Gericht zur Genehmigung vorgelegt worden ist, offenbar nicht eindeutig darauf hin, dass gegen die fünf Angeschuldigten ein gesondertes Verfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Ohne eine solche Klarstellung könnte in dieser Vereinbarung entgegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 so auf diese Personen Bezug genommen worden sein, als seien sie schuldig, obwohl ihre Schuld noch nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde. 49 Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass das vorlegende Gericht nach nationalem Recht im Rahmen des Verfahrens zur Genehmigung die Möglichkeit hat, den Wortlaut dieser Vereinbarung zu ändern. Unter diesen Umständen verlangt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vereinbarung gegebenenfalls erst nach einer Änderung dahin genehmigt wird, dass eindeutig darauf hingewiesen wird, dass gegen die fünf Angeschuldigten ein gesondertes Strafverfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist. 50 Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er es nicht verbietet, dass eine Vereinbarung, in der die beschuldigte Person sich im Gegenzug für eine Strafmilderung schuldig bekennt, die von einem nationalen Gericht genehmigt werden muss, als Mittäter der betreffenden Straftat ausdrücklich nicht nur diese beschuldigte Person nennt, sondern auch andere beschuldigte Personen, die sich nicht schuldig bekannt haben und gegen die ein gesondertes Strafverfahren geführt wird, sofern diese Angabe erstens für die Einordnung der rechtlichen Verantwortlichkeit der Person, die diese Vereinbarung geschlossen hat, erforderlich ist und zweitens diese Vereinbarung eindeutig darauf hinweist, dass gegen diese anderen Personen ein gesondertes Strafverfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist. Kosten 51 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen ist dahin auszulegen, dass er es nicht verbietet, dass eine Vereinbarung, in der die beschuldigte Person sich im Gegenzug für eine Strafmilderung schuldig bekennt, die von einem nationalen Gericht genehmigt werden muss, als Mittäter der betreffenden Straftat ausdrücklich nicht nur diese beschuldigte Person nennt, sondern auch andere beschuldigte Personen, die sich nicht schuldig bekannt haben und gegen die ein gesondertes Strafverfahren geführt wird, sofern diese Angabe erstens für die Einordnung der rechtlichen Verantwortlichkeit der Person, die diese Vereinbarung geschlossen hat, erforderlich ist und zweitens diese Vereinbarung eindeutig darauf hinweist, dass gegen diese anderen Personen ein gesondertes Strafverfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 29. Juli 2019.#Strafverfahren gegen Massimo Gambino und Shpetim Hyka.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Bari.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/29/EU – Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten – Art. 16 und 18 – Vernehmung des Opfers durch ein erstinstanzliches Strafgericht – Änderung in der Besetzung des Spruchkörpers – Wiederholung der Vernehmung des Opfers auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Recht auf ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte – Grundsatz der Unmittelbarkeit – Bedeutung – Recht des Opfers auf Schutz während des Strafverfahrens.#Rechtssache C-38/18.
62018CJ0038
ECLI:EU:C:2019:628
2019-07-29T00:00:00
Gerichtshof, Bot
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62018CJ0038 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 29. Juli 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/29/EU – Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten – Art. 16 und 18 – Vernehmung des Opfers durch ein erstinstanzliches Strafgericht – Änderung in der Besetzung des Spruchkörpers – Wiederholung der Vernehmung des Opfers auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 und 48 – Recht auf ein faires Verfahren und Verteidigungsrechte – Grundsatz der Unmittelbarkeit – Bedeutung – Recht des Opfers auf Schutz während des Strafverfahrens“ In der Rechtssache C‑38/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Bari (Gericht Bari, Italien) mit Entscheidung vom 10. Oktober 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Januar 2018, in dem Strafverfahren gegen Massimo Gambino, Shpetim Hyka, Beteiligte: Procura della Repubblica presso il Tribunale di Bari, Ernesto Lappostato, Banca Carige SpA – Cassa di Risparmio di Genova e Imperia, erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richterin C. Toader sowie der Richter A. Rosas, L. Bay Larsen und M. Safjan (Berichterstatter), Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. G. Marrone und D. Di Giorgio, avvocati dello Stato, – der tschechischen Regierung, vertreten durch A. Kasalická, J. Vláčil und M. Smolek als Bevollmächtigte, – der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze, M. Hellmann und E. Lankenau, dann durch M. Hellmann und E. Lankenau als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. A. M. de Ree als Bevollmächtigte, – der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und S. Grünheid als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. März 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 16, 18 und 20 Buchst. b der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (ABl. 2012, L 315, S. 57). 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Geldwäsche und Betrugs gegen Herrn Massimo Gambino und Herrn Shpetim Hyka. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Die Erwägungsgründe 11, 12, 20, 58 und 66 der Richtlinie 2012/29 lauten: „(11) Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften festgelegt. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um ein höheres Maß an Schutz vorzusehen. (12) Die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte berühren nicht die Rechte des Straftäters. Der Begriff ‚Straftäter‘ bezieht sich auf eine Person, die wegen einer Straftat verurteilt wurde. Für die Zwecke dieser Richtlinie bezieht er sich jedoch auch auf eine verdächtige oder angeklagte Person, bevor ein Schuldeingeständnis oder eine Verurteilung erfolgt ist, und berührt nicht die Unschuldsvermutung. … (20) Die Stellung von Opfern in der Strafrechtsordnung und die Frage, ob sie aktiv am Strafverfahren teilnehmen können, sind im Einklang mit der jeweiligen nationalen Rechtsordnung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich und richten sich nach einem oder mehreren der folgenden Kriterien: ob in der nationalen Rechtsordnung die Rechtsstellung als Partei im Strafverfahren vorgesehen ist; danach, ob das Opfer gesetzlich zur aktiven Teilnahme am Strafverfahren – z. B. als Zeuge – verpflichtet ist oder dazu aufgefordert wird; und/oder danach, ob das Opfer nach einzelstaatlichem Recht einen Rechtsanspruch auf aktive Teilnahme am Strafverfahren hat und diesen Anspruch auch wahrnehmen will, wenn in der nationalen Rechtsordnung eine Rechtsstellung des Opfers als Partei im Strafverfahren nicht vorgesehen ist. Die Mitgliedstaaten sollten festlegen, welche dieser Kriterien einschlägig sind, um den Anwendungsbereich der in dieser Richtlinie festgelegten Rechte zu bestimmen, wenn Bezugnahmen auf die Stellung des Opfers in der einschlägigen Strafrechtsordnung vorhanden sind. … (58) Opfer, deren besonderer Bedarf an Schutz vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und vor Vergeltung festgestellt wurde, sollten während des Strafverfahrens durch angemessene Maßnahmen geschützt werden. Die genaue Art solcher Maßnahmen sollte durch die individuelle Begutachtung und unter Berücksichtigung der Wünsche des Opfers festgelegt werden. Der Umfang solcher Maßnahmen sollte unbeschadet der Verteidigungsrechte und im Einklang mit den Regelungen über den gerichtlichen Ermessensspielraum festgelegt werden. Die Bedenken und Befürchtungen des Opfers, was das Verfahren anbelangt, sollten bei der Feststellung, ob besondere Maßnahmen für das Opfer erforderlich sind, von zentraler Bedeutung sein. … (66) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Sie soll insbesondere das Recht auf Achtung der Würde des Menschen, das Recht auf Leben, körperliche und geistige Unversehrtheit, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, das Eigentumsrecht, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung, die Gleichheit von Frauen und Männern, die Rechte des Kindes, älterer Menschen und von Menschen mit Behinderung und das Recht auf ein faires Verfahren stärken.“ 4 Art. 1 („Ziele“) dieser Richtlinie bestimmt in Abs. 1: „Ziel dieser Richtlinie ist es sicherzustellen, dass Opfer von Straftaten angemessene Informationen, angemessene Unterstützung und angemessenen Schutz erhalten und sich am Strafverfahren beteiligen können. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer anerkannt werden und bei allen Kontakten mit Opferunterstützungs- und Wiedergutmachungsdiensten oder zuständigen Behörden, die im Rahmen des Strafverfahrens tätig werden, eine respektvolle, einfühlsame, individuelle, professionelle und diskriminierungsfreie Behandlung erfahren. Die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte gelten für die Opfer ohne Diskriminierung, auch in Bezug auf ihren Aufenthaltsstatus.“ 5 Art. 10 („Anspruch auf rechtliches Gehör“) der Richtlinie sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer im Strafverfahren gehört werden und Beweismittel beibringen können. Soll ein Opfer im Kindesalter gehört werden, so ist seinem Alter und seiner Reife Rechnung zu tragen. (2)   Die Verfahrensvorschriften, nach denen die Opfer in den Strafverfahren gehört werden und Beweismittel beibringen können, richten sich nach dem einzelstaatlichen Recht.“ 6 Art. 16 („Recht auf Entscheidung über Entschädigung durch den Straftäter im Rahmen des Strafverfahrens“) der Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Opfer einer Straftat das Recht haben, im Rahmen des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Straftäter zu erwirken, es sei denn, dass diese Entscheidung nach einzelstaatlichem Recht im Rahmen eines anderen gerichtlichen Verfahrens ergehen muss. (2)   Die Mitgliedstaaten unterstützen Maßnahmen, um die angemessene Entschädigung der Opfer durch die Straftäter zu fördern.“ 7 In Art. 18 („Schutzanspruch“) der Richtlinie 2012/29 heißt es: „Unbeschadet der Verteidigungsrechte stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Maßnahmen zum Schutz der Opfer und ihrer Familienangehörigen vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und vor Vergeltung, insbesondere vor der Gefahr einer emotionalen oder psychologischen Schädigung, und zum Schutz der Würde der Opfer bei der Vernehmung oder bei Zeugenaussagen zur Verfügung stehen. Erforderlichenfalls umfassen die Maßnahmen auch Verfahren, die im einzelstaatlichen Recht im Hinblick auf den physischen Schutz der Opfer und ihrer Familienangehörigen vorgesehen sind.“ 8 Art. 20 („Recht auf Schutz der Opfer während der strafrechtlichen Ermittlungen“) der Richtlinie bestimmt: „Unbeschadet der Verteidigungsrechte und im Einklang mit dem jeweiligen gerichtlichen Ermessensspielraum stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass während der strafrechtlichen Ermittlungen … b) sich die Anzahl der Vernehmungen der Opfer auf ein Mindestmaß beschränk[t] und Vernehmungen nur dann erfolgen, wenn sie für die Zwecke der strafrechtlichen Ermittlungen unbedingt erforderlich sind; …“ 9 Art. 22 („Individuelle Begutachtung der Opfer zur Ermittlung besonderer Schutzbedürfnisse“) der Richtlinie sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Opfer nach Maßgabe der einzelstaatlichen Verfahren frühzeitig einer individuellen Begutachtung unterzogen werden, damit besondere Schutzbedürfnisse ermittelt werden und festgestellt wird, ob und inwieweit ihnen Sondermaßnahmen im Rahmen des Strafverfahrens gemäß Artikel 23 und Artikel 24 infolge ihrer besonderen Gefährdung hinsichtlich sekundärer und wiederholter Viktimisierung, Einschüchterung und Vergeltung zugutekommen würden. (2)   Bei der individuellen Begutachtung wird insbesondere Folgendes berücksichtigt: a) die persönlichen Merkmale des Opfers; b) die Art oder das Wesen der Straftat sowie c) die Umstände der Straftat. (3)   Im Rahmen der individuellen Begutachtung erhalten folgende Opfer besondere Aufmerksamkeit: Opfer, die infolge der Schwere der Straftat eine beträchtliche Schädigung erlitten haben; Opfer, die Hasskriminalität und … in diskriminierender Absicht begangene… Straftaten erlitten haben, die insbesondere im Zusammenhang mit ihren persönlichen Merkmalen stehen könnten; Opfer, die aufgrund ihrer Beziehung zum und Abhängigkeit vom Täter besonders gefährdet sind. Dabei sind Opfer von Terrorismus, organisierter Kriminalität, Menschenhandel, geschlechtsbezogener Gewalt, Gewalt in engen Beziehungen, sexueller Gewalt oder Ausbeutung oder Hassverbrechen sowie Opfer mit Behinderungen gebührend zu berücksichtigen. (4)   Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten Opfer im Kindesalter als Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen, da bei ihnen die Gefahr der sekundären und wiederholten Viktimisierung, der Einschüchterung und der Vergeltung besteht. Um festzustellen, ob und inwieweit ihnen Sondermaßnahmen gemäß den Artikeln 23 und 24 zugutekommen würden, werden Opfer im Kindesalter einer individuellen Begutachtung gemäß Absatz 1 des vorliegenden Artikels unterzogen. (5)   Die individuelle Begutachtung kann je nach Schwere der Tat und Ausmaß der erkennbaren Schädigung des Opfers mehr oder weniger umfassend sein. (6)   Die Opfer werden eng in die individuelle Begutachtung einbezogen; dabei werden ihre Wünsche berücksichtigt, unter anderem auch der Wunsch, nicht in den Genuss von Sondermaßnahmen gemäß den Artikeln 23 und 24 zu kommen. (7)   Tritt eine wesentliche Änderung bei den Elementen ein, die der individuellen Begutachtung zugrunde liegen, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die individuelle… Begutachtung im Zuge des Strafverfahrens aktualisiert wird.“ 10 Art. 23 („Schutzanspruch der Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen während des Strafverfahrens“) der Richtlinie bestimmt: „(1)   Unbeschadet der Verteidigungsrechte und im Einklang mit dem jeweiligen gerichtlichen Ermessensspielraum stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Opfer mit besonderen Schutzbedürfnissen, zu deren Gunsten Sondermaßnahmen infolge einer individuellen Begutachtung gemäß Artikel 22 Absatz 1 ergriffen werden, in den Genuss der in den Absätzen 2 und 3 des vorliegenden Artikels vorgesehenen Maßnahmen kommen können. Von der Durchführung einer infolge der individuellen Begutachtung vorgesehenen Sondermaßnahme wird abgesehen, wenn operative oder praktische Zwänge die Durchführung unmöglich machen oder wenn die dringende Notwendigkeit einer Vernehmung des Opfers besteht und ein anderes Vorgehen das Opfer oder eine andere Person schädigen bzw. den Gang des Verfahrens beeinträchtigen könnte. (2)   Opfern, deren besondere Schutzbedürfnisse gemäß Artikel 22 Absatz 1 ermittelt wurden, stehen während der strafrechtlichen Ermittlungen folgende Maßnahmen zur Verfügung: a) Das Opfer wird in Räumlichkeiten vernommen, die für diesen Zweck ausgelegt sind oder diesem Zweck angepasst wurden; b) die Vernehmung des Opfers wird von für diesen Zweck ausgebildeten Fachkräften oder unter deren Mitwirkung durchgeführt; c) sämtliche Vernehmungen des Opfers werden von denselben Personen durchgeführt, es sei denn, dies ist nicht im Sinne einer geordneten Rechtspflege; d) Opfer sexueller Gewalt, geschlechtsbezogener Gewalt oder von Gewalt in engen Beziehungen werden von einer Person des gleichen Geschlechts wie das Opfer vernommen, wenn das Opfer dies wünscht und der Gang des Strafverfahrens dadurch nicht beeinträchtigt wird, es sei denn, die Vernehmung erfolgt durch einen Staatsanwalt oder einen Richter. (3)   Opfern, deren besondere Schutzbedürfnisse gemäß Artikel 22 Absatz 1 ermittelt wurden, stehen während der Gerichtsverhandlung folgende Maßnahmen zur Verfügung: a) Maßnahmen zur Verhinderung des Blickkontakts zwischen Opfern und Tätern – auch während der Aussage der Opfer – mit Hilfe geeigneter Mittel, unter anderem durch die Verwendung von Kommunikationstechnologie; b) Maßnahmen zur Gewährleistung, dass das Opfer insbesondere mit Hilfe geeigneter Kommunikationstechnologie vernommen werden kann, ohne im Gerichtssaal anwesend zu sein; c) Maßnahmen zur Vermeidung einer unnötigen Befragung zum Privatleben des Opfers, wenn dies nicht im Zusammenhang mit der Straftat steht, und d) Maßnahmen zur Ermöglichung des Ausschlusses der Öffentlichkeit während der Verhandlung.“ Italienisches Recht 11 Art. 511 („Zulässige Verlesung“) Abs. 1 und 2 des Codice di procedura penale (Strafprozessordnung) bestimmt: „(1)   Der Richter ordnet gegebenenfalls von Amts wegen an, dass Verfahrensakten in der Hauptverhandlung ganz oder teilweise verlesen werden. (2)   Die Verlesung eines Protokolls über eine Vernehmung darf erst nach der Vernehmung der vernommenen Person angeordnet werden, es sei denn, eine solche findet nicht statt.“ 12 Art. 525 („Unmittelbarkeit der Entscheidung“) Abs. 1 und 2 der Strafprozessordnung sieht vor: „(1)   Das Urteil wird unmittelbar nach dem Schluss der Hauptverhandlung erlassen. (2)   An der Beratung nehmen die Richter teil, in deren Gegenwart die Hauptverhandlung erfolgt ist. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift stellt einen absoluten Nichtigkeitsgrund dar. Soweit zur Vervollständigung des Spruchkörpers anstelle der verhinderten Mitglieder Vertretungsrichter berufen sind, bleiben die bereits ergangenen und nicht ausdrücklich widerrufenen Entscheidungen wirksam.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 13 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass vor dem Tribunale di Bari (Gericht Bari, Italien) ein Verfahren wegen der im italienischen Strafgesetzbuch vorgesehenen Straftaten Geldwäsche und Betrug gegen Herrn Gambino und Herrn Hyka läuft. 14 Aus der Entscheidung ergibt sich des Weiteren, dass die Opfer des mutmaßlichen Betrugs gemäß der Sachverhaltsdarstellung der Anklage Herr Ernesto Lappostato und Herr Gianluca Menini sind. Herr Lappostato hat im Strafverfahren gegen Herrn Gambino als Zivilpartei Ersatz des ihm durch die Straftaten entstandenen Schadens beantragt. 15 In einer am 14. April 2015 abgehaltenen mündlichen Verhandlung wurden Herr Lappostato und Herr Menini von einem mit drei Richtern besetzten Spruchkörper des Tribunale di Bari (Gericht Bari) als Zeugen vernommen. 16 Am 21. Februar 2017 fand eine neue mündliche Verhandlung vor demselben Spruchkörper statt, wobei sich dessen Besetzung infolge der Versetzung eines der drei Richter, die am 14. April 2015 getagt hatten, an ein anderes Gericht geändert hatte. 17 In diesem Verhandlungstermin vom 21. Februar 2017 beantragte der Verteidiger von Herrn Gambino auf der Grundlage der Art. 511 und 525 der Strafprozessordnung eine Wiederholung sämtlicher bis dahin durchgeführter Zeugenvernehmungen, insbesondere die der Opfer des mutmaßlichen Betrugs. In der mündlichen Verhandlung vom 10. Oktober 2017 stellte er diesen Antrag erneut. 18 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Art. 525 der Strafprozessordnung der Grundsatz der Unmittelbarkeit zugrunde liege, der nicht nur gebiete, dass die Beratung unmittelbar nach dem Schluss der Hauptverhandlung erfolge, sondern auch, dass die Richter, die an der Beratung teilnähmen, dieselben seien, in deren Gegenwart die Hauptverhandlung erfolgt sei. Diesem zuletzt genannten Erfordernis liege der Gedanke zugrunde, dass die Entscheidung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Beschuldigten von den Richtern getroffen werden solle, in deren Gegenwart die Beweisaufnahme durchgeführt worden sei. 19 Das vorlegende Gericht zieht die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften in ihrer Auslegung durch die Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) mit dem Unionsrecht in Zweifel. Gemäß dieser Auslegung könne das Urteil bei einer Wiederholung der Hauptverhandlung wegen einer Änderung in der Besetzung des Spruchkörpers oder einem Wechsel des Einzelrichters nicht durch bloße Verlesung des Protokolls auf die vor dem ursprünglichen Spruchkörper erfolgte Zeugenaussage gestützt werden, ohne eine erneute Vernehmung des Zeugen durchzuführen, soweit eine neue Vernehmung noch möglich und von einer der Parteien beantragt worden sei. 20 Wenn die Wiederholung der Hauptverhandlung nach einer Änderung in der Besetzung des Spruchkörpers beschlossen worden sei und das Gericht den Beweis durch die erneut beantragte Zeugenaussage zulasse, sei unter diesen Umständen eine Verlesung der bereits erfolgten Zeugenaussagen auf der Grundlage von Art. 511 der Strafprozessordnung nur mit dem Einverständnis aller Verfahrensbeteiligten möglich. 21 Eine solche Auslegung bietet nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Möglichkeit für einen Missbrauch von Seiten der Verteidigung, da diese einer Verlesung des Protokolls einer bereits durchgeführten Zeugenaussage durch das Gericht widersprechen und damit eine neue Vernehmung erzwingen könne. 22 Art. 511 Abs. 2 und Art. 525 Abs. 2 der Strafprozessordnung seien somit in ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte nicht mit der Richtlinie 2012/29 vereinbar, die die Mitgliedstaaten zum Erlass von Rechtsvorschriften verpflichte, die den Schutz der Opfer von Straftaten im Strafverfahren gewährleiste. 23 Insoweit weist das vorlegende Gericht zur Auslegung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. 2001, L 82, S. 1), der durch die Richtlinie 2012/29 ersetzt wurde, darauf hin, dass der Gerichtshof in Rn. 56 des Urteils vom 16. Juni 2005, Pupino (C‑105/03, EU:C:2005:386), entschieden habe, dass die Verwirklichung der mit den genannten Bestimmungen des Rahmenbeschlusses verfolgten Ziele verlange, dass ein nationales Gericht die Möglichkeit habe, bei besonders gefährdeten Opfern ein spezielles Verfahren wie das in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats vorgesehene Beweissicherungsverfahren sowie die ebenfalls vorgesehenen besonderen Aussagemodalitäten anzuwenden, wenn dieses Verfahren der Situation dieser Opfer am besten entspreche und geboten sei, um den Verlust von Beweismitteln zu verhindern, wiederholte Befragungen auf ein Minimum zu reduzieren und nachteilige Folgen der Aussage in der öffentlichen Gerichtsverhandlung für diese Opfer zu verhindern. 24 Eine wiederholte Vernehmung des Opfers erscheint dem vorlegenden Gericht im Widerspruch zu den in diesem Urteil aufgestellten Grundsätzen zu stehen, da die Verlesung des Protokolls der ursprünglich in öffentlicher Verhandlung unter Wahrung des Fragerechts der Verteidigung und vor einem unparteiischen Richter erfolgten Zeugenaussagen mitnichten gegen das Recht auf ein faires Verfahren, das dem Beschuldigten zustehe, verstoße. 25 Die Abwägung der Würde des Opfers mit dem Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren müsse in jedem Fall mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang stehen, wie er in Art. 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) vorgesehen sei. Gleichzeitig dürfe das Recht auf ein faires Verfahren, das in Art. 6 der am 4. November des 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und in Art. 47 der Charta verankert sei, nicht als Instrument für einen Rechtsmissbrauch genutzt werden. 26 Schließlich führe die Wiederholung der Vernehmung des Opfers neben einer weiteren psychologischen Belastung des Opfers auch zu einer lästigen Verlängerung des Verfahrens, was gegen das Erfordernis einer angemessenen Verfahrensdauer verstoße. 27 Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Bari (Gericht Bari) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Sind die Art. 16, 18 und Art. 20 Buchst. b der Richtlinie 2012/29 dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass das Opfer nach einem Richterwechsel erneut vernommen werden muss, wenn einer der Verfahrensbeteiligten gemäß Art. 511 Abs. 2 und Art. 525 Abs. 2 der Strafprozessordnung (in der Auslegung durch die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung) der Verlesung des Protokolls über die Vernehmung des Opfers, die im selben Prozess bereits vor einem anderen Richter in einem kontradiktorisch geführten Verfahren stattgefunden hat, nicht zustimmt? Zur Vorlagefrage 28 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 16, Art. 18 und Art. 20 Buchst. b der Richtlinie 2012/29 dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen das Opfer einer Straftat, das zum ersten Mal vom Spruchkörper eines erstinstanzlichen Strafgerichts vernommen wurde, bei einer späteren Änderung in der Besetzung dieses Spruchkörpers grundsätzlich von dem neubesetzten Spruchkörper erneut vernommen werden muss, wenn einer der Verfahrensbeteiligten einer Verwertung des Protokolls der ersten Vernehmung des Opfers durch diesen Spruchkörper widerspricht. 29 Gemäß Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2012/29 soll mit ihr sichergestellt werden, dass Opfer von Straftaten angemessene Informationen, angemessene Unterstützung und angemessenen Schutz erhalten und sich am Strafverfahren beteiligen können. 30 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 20 Buchst. b dieser Richtlinie unbeschadet der Verteidigungsrechte und im Einklang mit dem jeweiligen gerichtlichen Ermessensspielraum sicherstellen, dass sich während der strafrechtlichen Ermittlungen die Anzahl der Vernehmungen des Opfers auf ein Mindestmaß beschränkt und Vernehmungen nur dann erfolgen, wenn sie für die Zwecke der „strafrechtlichen Ermittlungen“ unbedingt erforderlich sind. 31 Insoweit wird in der Richtlinie 2012/29, wie sich aus ihrem Art. 23 Abs. 2 und 3 ergibt, zwischen der Phase des „Strafverfahrens“ und der der „Gerichtsverhandlung“ unterschieden. 32 Zudem war im Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe (KOM[2011] 275 endg.), auf den die Richtlinie 2012/29 zurückgeht, vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass sich die Vernehmungen der Opfer auf ein Mindestmaß beschränken und nur dann vorgenommen werden, wenn sie für die Zwecke des „Strafverfahrens“ unabdingbar sind. 33 Die Vorarbeiten zur Richtlinie 2012/29 bestätigen somit in Anbetracht der vom Unionsgesetzgeber gewählten Formulierung von Art. 20 Buchst. b der Richtlinie, dass der Anwendungsbereich dieser Bestimmung allein auf die Phase der strafrechtlichen Ermittlungen beschränkt werden sollte. 34 Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, fände eine etwaige Wiederholung der Vernehmung des Opfers im Ausgangsverfahren allerdings im Rahmen der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens statt, nachdem die Anklage gegen Herrn Gambino an einen neuen Spruchkörper verwiesen wurde. 35 Unter diesen Voraussetzungen findet Art. 20 Buchst. b der Richtlinie 2012/29 auf einen Rechtsstreit wie den des Ausgangsverfahrens keine Anwendung. 36 Mit der Aussage, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass sich die Anzahl der Vernehmungen auf ein Mindestmaß beschränkt, verlangt diese Bestimmung jedenfalls nicht, dass das Opfer einer Straftat nur ein einziges Mal von dem das Urteil sprechenden Gericht vernommen wird. 37 Zur Auslegung der Art. 16 und 18 der Richtlinie 2012/29 ist darauf zu verweisen, dass die in ihr festgelegten Rechte nach dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie die Rechte des Straftäters nicht berühren. 38 Nach Art. 47 Abs. 2 der Charta hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird; jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen. Außerdem bestimmt Art. 48 Abs. 2 der Charta, dass jedem Angeklagten die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird. 39 Da die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, soll mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den durch die EMRK gewährleisteten entsprechenden Rechten geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 23). Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK, und Art. 48 der Charta stimmt mit Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK überein. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (vgl. entsprechend Urteil vom 26. September 2018, Belastingdienst/Toeslagen [Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels], C‑175/17, EU:C:2018:776, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Im gleichen Sinne hat der Gerichtshof zum Rahmenbeschluss 2001/220, der durch die Richtlinie 2012/29 ersetzt wurde, entschieden, dass dieser Rahmenbeschluss so auszulegen ist, dass die Grundrechte beachtet werden, unter denen insbesondere das in Art. 6 der EMRK verankerte Recht auf ein faires Verfahren in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu nennen ist (Urteile vom 16. Juni 2005, Pupino, C‑105/03, EU:C:2005:386, Rn. 59, und vom 9. Oktober 2008, Katz, C‑404/07, EU:C:2008:553, Rn. 48). 41 Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass es der Anspruch auf ein faires Verfahren gebietet, die Interessen der Verteidigung gegen die der zu einer Aussage berufenen Zeugen oder Opfer abzuwägen (EGMR, 26. März 1996, Doorson/Niederlande, CE:ECHR:1996:0326JUD002052492, Rn. 70, und EGMR, 5. Oktober 2006, Marcello Viola/Italien, CE:ECHR:2006:1005JUD004510604, Rn. 51). 42 In diesem Rahmen haben die für eine Entscheidung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten verantwortlichen Personen die Zeugen grundsätzlich persönlich zu hören und ihre Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen ist eine komplexe Aufgabe, die normalerweise nicht über die bloße Verlesung des Inhalts seiner Aussagen, wie sie in den Protokollen der Vernehmungen enthalten sind, erfüllt werden kann (EGMR, 5. Juli 2011, Dan/Moldawien, CE:ECHR:2011:0705JUD000899907, Rn. 33, und EGMR, 29. Juni 2017, Lorefice/Italien, CE:ECHR:2017:0629JUD006344613, Rn. 43). 43 Die Möglichkeit für den Angeklagten, im Beisein desjenigen Richters, der letztendlich entscheiden wird, den Zeugen gegenüberzutreten, ist somit ein wichtiges Merkmal eines fairen Verfahrens. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz stellt eine wichtige Garantie im Strafverfahren dar, da die Beobachtungen des Richters zum Verhalten und zur Glaubwürdigkeit eines Zeugens schwerwiegende Konsequenzen für den Angeklagten nach sich ziehen können. Daher muss eine Änderung in der Besetzung des Spruchkörpers nach der Vernehmung eines entscheidenden Zeugen grundsätzlich zu dessen erneuter Vernehmung führen (EGMR, 9. März 2004, Pitkänen/Finnland, CE:ECHR:2004:0309JUD003050896, Rn. 58, und EGMR, 18. März 2014, Beraru/Rumänien, CE:ECHR:2014:0318JUD004010704, Rn. 64). 44 Der Unmittelbarkeitsgrundsatz darf jedoch nicht als Hindernis für jedwede Änderung in der Besetzung des Gerichts im Verlauf des Verfahrens angesehen werden. Aus naheliegenden verwaltungs- oder verfahrenstechnischen Gründen kann die fortlaufende Beteiligung eines Richters am Prozess unmöglich werden. Um den Richtern, die die Rechtssache übernehmen, umfassende Kenntnis von deren Einzelheiten und dem Vortrag zu verschaffen, können Maßnahmen getroffen werden, wie etwa die Übermittlung von Protokollen, wenn die Glaubwürdigkeit des fraglichen Zeugen außer Frage steht, oder die Ansetzung neuer Schlussplädoyers oder aber eine erneute Vernehmung wichtiger Zeugen vor dem umbesetzten Gericht (EGMR, 2. Dezember 2014, Cutean/Rumänien, CE:ECHR:2014:1202JUD005315012, Rn. 61, und EGMR, 6. Dezember 2016, Škaro/Kroatien, CE:ECHR:2016:1206JUD000696213, Rn. 24). 45 Die Vorlagefrage ist unter Berücksichtigung dieser Erwägungen anhand der Art. 16 und 18 der Richtlinie 2012/29 zu beantworten. 46 Das vorlegende Gericht geht insoweit davon aus, dass die Wiederholung der Vernehmung des Opfers infolge der Änderung in der Besetzung des Spruchkörpers gegen Art. 16 dieser Richtlinie verstößt, nach dessen Abs. 1 die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Opfer einer Straftat das Recht haben, im Rahmen des Strafverfahrens innerhalb einer angemessenen Frist eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Straftäter zu erwirken, es sei denn, dass diese Entscheidung nach einzelstaatlichem Recht im Rahmen eines anderen gerichtlichen Verfahrens ergehen muss. 47 Das vorlegende Gericht ist somit der Meinung, dass der in Art. 16 der Richtlinie vorgesehene rechtzeitige Ausgleich des vom Opfer erlittenen Schadens durch eine nationale Regelung vereitelt würde, die die Möglichkeit, auf eine wiederholte Vernehmung des Opfers vor der neu besetzten Spruchkammer zu verzichten, unter die Voraussetzung stellt, dass alle Verfahrensbeteiligten zustimmen. Das Gericht ist insbesondere der Ansicht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften rechtsmissbräuchliches Verhalten von Seiten der Verteidigung ermöglichen könnten, da deren Weigerung, ihr Einverständnis zu einer Verlesung der bereits vom Opfer gemachten Aussagen zu geben, die Dauer des Verfahrens verlängere. 48 Es ist allerdings festzustellen, dass die Wiederholung der Vernehmung des Opfers einer Straftat bei einer Änderung in der Besetzung der Spruchkammer, vor der es ursprünglich vernommen wurde, als solche nicht bedeutet, dass nicht innerhalb einer angemessenen Frist über die Entschädigung dieses Opfers entschieden werden kann. 49 Außerdem kann das in Art. 16 der Richtlinie 2012/29 zugunsten des Opfers vorgesehene Recht, wie der Generalanwalt in Nr. 128 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die wirksame Wahrnehmung der in den Rn. 42 und 43 des vorliegenden Urteils dargestellten Verfahrensrechte der angeklagten Person – darunter der Unmittelbarkeitsgrundsatz – nicht beeinträchtigen, wenn sich die Besetzung des Spruchkörpers geändert hat, da dieser Umstand dem Angeklagten nicht zurechenbar ist. 50 Das vorlegende Gericht beruft sich auch auf Art. 18 der Richtlinie 2012/29, nach dem die Mitgliedstaaten unbeschadet der Verteidigungsrechte sicherstellen, dass Maßnahmen zum Schutz der Opfer und ihrer Familienangehörigen vor sekundärer und wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und vor Vergeltung, insbesondere vor der Gefahr einer emotionalen oder psychologischen Schädigung, und zum Schutz der Würde der Opfer bei der Vernehmung oder bei Zeugenaussagen zur Verfügung stehen, wobei die Maßnahmen erforderlichenfalls Verfahren umfassen, die im einzelstaatlichen Recht im Hinblick auf den physischen Schutz der Opfer und ihrer Familienangehörigen vorgesehen sind. 51 Dem Wortlaut dieses Artikels lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass der Unionsgesetzgeber unter den zum Schutz des Opfers einer Straftat bestimmten Maßnahmen eine Beschränkung auf eine einzige Vernehmung dieses Opfers während des Gerichtsverfahrens vorgesehen hätte. 52 Art. 18 der Richtlinie 2012/29 verleiht dem Opfer das Recht auf Schutz im Übrigen „[u]nbeschadet der Verteidigungsrechte“. Im gleichen Sinne führt der 58. Erwägungsgrund der Richtlinie aus, dass der Umfang der angemessenen Schutzmaßnahmen für Opfer, deren besonderer Bedarf an Schutz vor sekundärer oder wiederholter Viktimisierung, vor Einschüchterung und vor Vergeltung „unbeschadet der Verteidigungsrechte und im Einklang mit den Regelungen über den gerichtlichen Ermessensspielraum“ festgelegt werden sollte. 53 Wie der Generalanwalt in Nr. 73 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, hat der Unionsgesetzgeber somit dem Opfer in der Richtlinie 2012/29 Rechte verliehen, durch deren Wahrnehmung weder das Recht der angeklagten Person auf ein faires Verfahren noch ihre Verteidigungsrechte aus Art. 47 Abs. 2 bzw. Art. 48 Abs. 2 der Charta beeinträchtigt werden dürfen. 54 Folglich ist festzustellen, dass Art. 18 der Richtlinie 2012/29 im Fall einer Änderung in der Besetzung des Spruchkörpers einer erneuten Vernehmung des Opfers einer Straftat durch diesen Spruchkörper auf Antrag eines der Verfahrensbeteiligten grundsätzlich nicht entgegensteht. 55 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt sich allerdings, wie der Generalanwalt in Nr. 116 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass die Mitgliedstaaten für die Feststellung, ob die Verwendung des Protokolls über die Aussagen eines Opfers als Beweismittel zulässig ist, prüfen müssen, ob sich dessen Vernehmung als bedeutsam für die Verurteilung der angeklagten Person erweisen kann. Sie müssen auch mittels hinreichender Verfahrensgarantien sicherstellen, dass die Beweiserhebung im Strafprozess weder den fairen Ablauf des Verfahrens im Sinne von Art. 47 Abs. 2 der Charta noch die Verteidigungsrechte im Sinne von Art. 48 Abs. 2 der Charta beeinträchtigt. 56 Es ist daher Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im Ausgangsverfahren besondere Umstände wie die in der vorstehenden Randnummer genannten zu einem Verzicht auf eine erneute Vernehmung des Opfers der in Rede stehenden Straftat führen könnten. 57 Für den Fall, dass eine Entscheidung für die Vernehmung des Opfers durch den Spruchkörper in seiner neuen Zusammensetzung fällt, haben die zuständigen nationalen Behörden im Einklang mit Art. 22 der Richtlinie 2012/29 eine individuelle Begutachtung dieses Opfers durchzuführen, um dessen besondere Schutzbedürfnisse zu ermitteln und ihm gegebenenfalls die in den Art. 23 und 24 der Richtlinie vorgesehenen Schutzmaßnahmen zu gewähren. 58 Das vorlegende Gericht hat sich daher davon zu überzeugen, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Opfer im Rahmen des Strafverfahrens keine besonderen Schutzbedürfnisse hat. 59 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 16 und 18 der Richtlinie 2012/29 dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, nach denen das Opfer einer Straftat, das zum ersten Mal vom Spruchkörper eines erstinstanzlichen Strafgerichts vernommen wurde, bei einer späteren Änderung in der Besetzung dieses Spruchkörpers grundsätzlich von dem neubesetzten Spruchkörper erneut vernommen werden muss, wenn einer der Verfahrensbeteiligten einer Verwertung des Protokolls der ersten Vernehmung des Opfers durch diesen Spruchkörper widerspricht. Kosten 60 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Die Art. 16 und 18 der Richtlinie 2012/29/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, nach denen das Opfer einer Straftat, das zum ersten Mal vom Spruchkörper eines erstinstanzlichen Strafgerichts vernommen wurde, bei einer späteren Änderung in der Besetzung dieses Spruchkörpers grundsätzlich von dem neubesetzten Spruchkörper erneut vernommen werden muss, wenn einer der Verfahrensbeteiligten einer Verwertung des Protokolls der ersten Vernehmung des Opfers durch diesen Spruchkörper widerspricht. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 29. Juli 2019.#Hochtief Solutions AG Magyarországi Fióktelepe gegen Fővárosi Törvényszék.#Vorabentscheidungsersuchen des Székesfehérvári Törvényszék.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Nachprüfungsverfahren – Richtlinie 89/665/EWG – Richtlinie 92/13/EWG – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz – Wiederaufnahme gerichtlicher Entscheidungen, die gegen das Unionsrecht verstoßen – Haftung der Mitgliedstaaten bei Verstößen nationaler Gerichte gegen das Unionsrecht – Bemessung des ersatzfähigen Schadens.#Rechtssache C-620/17.
62017CJ0620
ECLI:EU:C:2019:630
2019-07-29T00:00:00
Gerichtshof, Bobek
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62017CJ0620 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 29. Juli 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Nachprüfungsverfahren – Richtlinie 89/665/EWG – Richtlinie 92/13/EWG – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz – Wiederaufnahme gerichtlicher Entscheidungen, die gegen das Unionsrecht verstoßen – Haftung der Mitgliedstaaten bei Verstößen nationaler Gerichte gegen das Unionsrecht – Bemessung des ersatzfähigen Schadens“ In der Rechtssache C‑620/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Székesfehérvári Törvényszék (Stuhlgericht Székesfehérvár, Ungarn) mit Entscheidung vom 24. Oktober 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 2. November 2017, in dem Verfahren Hochtief Solutions AG Magyarországi Fióktelepe gegen Fővárosi Törvényszék erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras (Berichterstatter), der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter D. Šváby, S. Rodin und N. Piçarra, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. November 2018, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Hochtief Solutions AG Magyarországi Fióktelepe, vertreten durch G. M. Tóth und I. Varga, ügyvédek, – des Fővárosi Törvényszék, vertreten durch H. Beerné Vörös und K. Bőke als Bevollmächtigte sowie durch G. Barabás, bíró, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte, – der hellenischen Regierung, vertreten durch M. Tassopoulou, D. Tsagkaraki und G. Papadaki als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Tokár, H. Krämer und P. Ondrůšek als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 49 AEUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. 1989, L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 (ABl. 2007, L 335, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/665), der Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor (ABl. 1992, L 76, S. 14) in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 92/13), der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. 1993, L 199, S. 54) sowie der Grundsätze des Vorrangs, der Äquivalenz und der Effektivität des Unionsrechts. 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Hochtief Solutions AG Magyarországi Fióktelepe (im Folgenden: Hochtief Solutions) und dem Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) wegen eines Schadens, der Hochtief Solutions durch die Ausübung der gerichtlichen Befugnisse dieses Gerichts entstanden sein soll. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 und Abs. 3 der Richtlinie 89/665, der nahezu den gleichen Wortlaut wie Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 und Abs. 3 der Richtlinie 92/13 hat, sieht vor: „(1)   … Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/18/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114)] fallenden Aufträge die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der Artikel 2 bis 2f der vorliegenden Richtlinie auf Verstöße gegen das [Unionsrecht] im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können. … (3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.“ 4 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die in Artikel 1 genannten Nachprüfungsverfahren die erforderlichen Befugnisse vorgesehen werden, damit a) so schnell wie möglich im Wege der einstweiligen Verfügung vorläufige Maßnahmen ergriffen werden können, um den behaupteten Verstoß zu beseitigen oder weitere Schädigungen der betroffenen Interessen zu verhindern; dazu gehören auch Maßnahmen, um das Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags oder die Durchführung jeder sonstigen Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers auszusetzen oder die Aussetzung zu veranlassen; b) die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen, einschließlich der Streichung diskriminierender technischer, wirtschaftlicher oder finanzieller Spezifikationen in den Ausschreibungsdokumenten, den Verdingungsunterlagen oder in jedem sonstigen sich auf das betreffende Vergabeverfahren beziehenden Dokument vorgenommen oder veranlasst werden kann; c) denjenigen, die durch den Verstoß geschädigt worden sind, Schadensersatz zuerkannt werden kann. …“ 5 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 92/13 sah vor: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die in Artikel 1 genannten Nachprüfungsverfahren die erforderlichen Befugnisse vorgesehen werden, damit entweder a) so schnell wie möglich im Wege der einstweiligen Verfügung vorläufige Maßnahmen ergriffen werden können, um den behaupteten Rechtsverstoß zu beseitigen oder weitere Schädigungen der betroffenen Interessen zu verhindern; dazu gehören Maßnahmen, um das Auftragsvergabeverfahren oder die Durchführung jeder Entscheidung der öffentlichen Auftraggeber auszusetzen oder die Aussetzung zu veranlassen; b) die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen, einschließlich der Streichung diskriminierender technischer, wirtschaftlicher oder finanzieller Spezifikationen in der Vergabebekanntmachung, in der regelmäßigen Bekanntmachung, in der Bekanntmachung eines Qualifikationssystems, in der Aufforderung zur Angebotsabgabe, in den Verdingungsunterlagen oder in jedem sonstigen sich auf das betreffende Vergabeverfahren beziehenden Dokument vorgenommen oder veranlasst werden kann; oder c) so schnell wie möglich – möglichst im Wege der einstweiligen Verfügung oder falls erforderlich im endgültigen Verfahren zur Sache – andere als die unter den Buchstaben a) und b) vorgesehenen Maßnahmen ergriffen werden können, um den festgestellten Rechtsverstoß zu beseitigen und Schädigungen der betroffenen Interessen zu verhindern, insbesondere damit eine Aufforderung zur Zahlung eines Geldbetrags in bestimmter Höhe für den Fall ergehen kann, dass der Rechtsverstoß nicht beseitigt oder verhindert wird. Die Mitgliedstaaten können diese Wahl entweder für alle Auftraggeber oder anhand von objektiven Kriterien für bestimmte Kategorien von Auftraggebern treffen, wobei in jedem Fall die Wirksamkeit der Maßnahmen zur Verhinderung einer Schädigung der betreffenden Interessen gewahrt bleiben muss; d) in beiden vorgenannten Fällen denjenigen, die durch den Rechtsverstoß geschädigt worden sind, Schadenersatz zuerkannt werden kann. Die Mitgliedstaaten können vorschreiben, dass bei Schadenersatzansprüchen, die auf die Rechtswidrigkeit einer Entscheidung gestützt werden, diese Entscheidung zunächst aufgehoben oder für rechtswidrig erklärt worden sein muss, sofern ihr innerstaatliches Rechtssystem dies erforderlich macht und über die mit den dafür erforderlichen Befugnissen ausgestatteten Instanzen verfügt.“ Ungarisches Recht 6 § 260 des polgári perrendtartásról szóló 1952. évi III. törvény (Gesetz Nr. III von 1952 über die Zivilprozessordnung, im Folgenden: ZPO) sieht vor: „(1)   Die Wiederaufnahme eines mit einem rechtskräftigen Urteil abgeschlossenen Verfahrens kann beantragt werden, wenn a) die Partei einen Sachverhalt, einen Beweis oder eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts oder einer anderen Behörde geltend macht, der oder die vom Gericht im Verfahren nicht berücksichtigt wurde, sofern die Berücksichtigung für sie von Vorteil gewesen wäre; … (2)   Ein Antrag einer der Parteien auf Wiederaufnahme nach Absatz 1 Buchstabe a ist nur zulässig, wenn sie den Sachverhalt, den Beweis oder die Entscheidung, die dort angeführt werden, im früheren Verfahren unverschuldet nicht geltend machen konnte.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 7 Am 25. Juli 2006 veröffentlichte die Észak-dunántúli Környezetvédelmi és Vízügyi Igazgatóság (Direktion Umweltschutz und Wasserbau Nordtransdanubien, Ungarn) (im Folgenden: Vergabebehörde) in der Reihe S des Amtsblatts der Europäischen Union unter der Nr. 139-149235 eine Ausschreibung für einen öffentlichen Bauauftrag in Bezug auf den Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen im intermodalen Zentrum des nationalen Handelshafens von Györ-Gönyü (Ungarn) im beschleunigten Verfahren nach Kapitel IV des közbeszerzésekről szóló 2003 évi CXXIX. törvény (Gesetz CXXIX von 2003 über die Vergabe öffentlicher Aufträge). 8 In dem die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit betreffenden Abschnitt III.2.2 der Ausschreibung hieß es, dass „ein Bewerber oder ein Nachunternehmer …, der in den letzten drei Geschäftsjahren in der Bilanz mehr als ein negatives Ergebnis ausgewiesen hat, nicht die Voraussetzungen der Leistungsfähigkeit erfüllt“. 9 Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung erfüllte Hochtief Solutions dieses Kriterium nicht und focht dessen Rechtmäßigkeit vor der Közbeszerzési Döntőbizottság (Schiedsstelle für öffentliche Auftragsvergaben, Ungarn, im Folgenden: Schiedsstelle) an; dabei machte sie geltend, das Kriterium sei diskriminierend und gebe als solches keinen Aufschluss über die finanzielle Leistungsfähigkeit eines Bieters. 10 Die Schiedsstelle gab der Beschwerde von Hochtief Solutions teilweise statt und erlegte der Vergabebehörde eine Geldbuße von 8000000 ungarischen Forint (HUF) (etwa 24500 Euro) auf, ohne jedoch die Rechtswidrigkeit dieses Kriteriums festzustellen. 11 Am 2. Oktober 2006 erhob Hochtief Solutions gegen die Entscheidung der Schiedsstelle Klage vor dem Fővárosi Bíróság (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn), der die Auffassung vertrat, das Bilanzergebnis sei geeignet gewesen, Aufschluss über die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit zu geben, und die Klage deshalb abwies. 12 Am 4. Juni 2010 legte Hochtief Solutions gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung beim Fővárosi Ítélőtábla (Hauptstädtisches Tafelgericht, Ungarn) ein, das entschied, das Verfahren auszusetzen und den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. 13 Mit Urteil vom 18. Oktober 2012, Édukövízig und Hochtief Construction (C‑218/11, EU:C:2012:643), entschied der Gerichtshof u. a., dass Art. 44 Abs. 2 und Art. 47 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 dahin auszulegen sind, dass ein öffentlicher Auftraggeber befugt ist, Mindestanforderungen an die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit durch Bezugnahme auf eines oder mehrere spezielle Elemente der Bilanz aufzustellen, sofern sie objektiv geeignet sind, über diese Leistungsfähigkeit eines Wirtschaftsteilnehmers Auskunft zu geben, und die Mindestanforderungen der Bedeutung des betreffenden Auftrags in dem Sinne angepasst sind, dass sie objektiv einen konkreten Hinweis auf das Bestehen einer zur erfolgreichen Ausführung dieses Auftrags ausreichenden wirtschaftlichen und finanziellen Basis ermöglichen, ohne jedoch über das hierzu vernünftigerweise erforderliche Maß hinauszugehen, wobei das Kriterium der Mindestanforderungen an die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit grundsätzlich nicht allein deshalb außer Betracht bleiben kann, weil diese Anforderungen ein Element der Bilanz betreffen, das in den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten möglicherweise unterschiedlich ausgestaltet ist. 14 Der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht), der inzwischen an die Stelle des Fővárosi Ítélőtábla (Hauptstädtisches Tafelgericht) getreten war, bestätigte unter Berücksichtigung dieses Urteils des Gerichtshofs das erstinstanzliche Urteil und entschied, dass das vom öffentlichen Auftraggeber zur Beurteilung der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit herangezogene Kriterium nicht diskriminierend sei. 15 Am 13. September 2013 legte Hochtief Solutions gegen das Urteil des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) Revision bei der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) ein, in der sie geltend machte, das Bilanzergebnis sei nicht geeignet, dem öffentlichen Auftraggeber ein tatsächliches und objektives Bild über die wirtschaftliche und finanzielle Lage eines Bieters zu geben. Sie beantragte außerdem bei der Kúria (Oberster Gerichtshof), den Gerichtshof erneut um Vorabentscheidung zu ersuchen. 16 Mit Urteil vom 19. März 2014 wies die Kúria (Oberster Gerichtshof) die Revision jedoch mit der Begründung zurück, dass die Rüge verspätet erhoben worden sei, da Hochtief Solutions diese Frage nicht in ihrem ursprünglichen verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelf vor der Schiedsstelle aufgeworfen habe, sondern nur in ihrem anschließenden Vorbringen. 17 Am 25. Juli 2014 legte Hochtief Solutions beim Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht, Ungarn) gegen das Urteil der Kúria (Oberster Gerichtshof) Verfassungsbeschwerde ein, mit der sie die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Urteils und seine Aufhebung beantragte. Mit Beschluss vom 9. Februar 2015 wurde die Verfassungsbeschwerde als unzulässig zurückgewiesen. 18 In der Zwischenzeit, am 26. November 2014, hatte Hochtief Solutions beim Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht, Ungarn) die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt, das mit dem in Rn. 14 des vorliegenden Urteils angeführten Urteil des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) abgeschlossen worden war. 19 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts machte Hochtief Solutions zur Begründung ihres Wiederaufnahmeantrags geltend, dass die Frage, ob das Bilanzergebnis ein geeigneter Indikator für die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit eines Bieters sei, ebenso wie das Urteil vom 18. Oktober 2012, Édukövízig und Hochtief Construction (C‑218/11, EU:C:2012:643), letztlich nicht geprüft worden seien. Nach Ansicht von Hochtief Solutions stellt dieses Versäumnis einen „Sachverhalt“ im Sinne von Art. 260 Abs. 1 Buchst. a ZPO dar, der die Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen kann, das mit dem Urteil des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) abgeschlossen wurde. Unter Bezugnahme u. a. auf das Urteil vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz (C‑453/00, EU:C:2004:17‚ Rn. 26 und 27), machte Hochtief Solutions geltend, wenn ein Urteil des Gerichtshofs wegen seiner Verspätung im Hauptsacheverfahren nicht habe berücksichtigt werden können, könne und müsse es im Rahmen einer Wiederaufnahme geprüft werden. 20 Hochtief Solutions hatte zwar beim Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht) beantragt, den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die im Rahmen des Wiederaufnahmeverfahrens aufgeworfenen Fragen zu ersuchen, doch dieses Gericht gab dem Antrag nicht statt und wies den Wiederaufnahmeantrag zurück, da es der Ansicht war, dass die von Hochtief Solutions angeführten Tatsachen und Beweise nicht neu seien. 21 Hochtief Solutions focht daraufhin den Beschluss, mit dem ihr Wiederaufnahmeantrag zurückgewiesen wurde, beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) an und beantragte dort zum einen, das Verfahren wieder aufzunehmen und die Prüfung in der Sache anzuordnen, und zum anderen, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. 22 Am 18. November 2015 erließ der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) einen Beschluss, mit dem er sich dem erstinstanzlichen Beschluss des Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht) anschloss. 23 Hochtief Solutions erhob daraufhin beim vorlegenden Gericht, dem Székesfehérvári Törvényszék (Stuhlgericht Székesfehérvár, Ungarn), Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr durch die Ausübung der gerichtlichen Befugnisse des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) entstanden sei. Hierzu macht sie geltend, ihr sei es versagt geblieben, dass die von ihr vor der Schiedsstelle und im Rahmen des Hauptsacheverfahrens angeführten, aber weder von der Schiedsstelle noch von den befassten Gerichten beurteilten Tatsachen und Umstände im Einklang mit dem Unionsrecht berücksichtigt werden könnten. Damit hätten die ungarischen mit der Rechtsanwendung befassten Stellen die durch die einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts garantierten Rechte ausgehöhlt. 24 Unter diesen Umständen hat der Székesfehérvári Törvényszék (Stuhlgericht Székesfehérvár) entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen vorzulegen: 1. Sind die Grundsätze bzw. Bestimmungen des Unionsrechts (u. a. Art. 4 Abs. 3 EUV und das Erfordernis einheitlicher Auslegung), wie sie der Gerichtshof insbesondere im Urteil vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513), ausgelegt hat, dahin auszulegen, dass die Feststellung der Haftung wegen eines gegen das Unionsrecht verstoßenden Urteils eines letztinstanzlichen Gerichts ausschließlich auf nationales Recht bzw. auf im nationalen Recht entwickelte Kriterien gestützt werden kann? Sind, falls diese Frage verneint wird, die Grundsätze bzw. Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere die drei vom Gerichtshof im Urteil vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513), entwickelten Voraussetzungen für die Haftung des „Staates“ dahin auszulegen, dass das Vorliegen der Voraussetzungen für die Haftung des Mitgliedstaats wegen der Verletzung von Unionsrecht durch die Gerichte dieses Mitgliedstaats nach dem innerstaatlichen Recht zu beurteilen ist? 2. Sind die Bestimmungen bzw. Grundsätze des Unionsrechts (u. a. Art. 4 Abs. 3 EUV und das Erfordernis eines wirksamen Rechtsbehelfs) und vor allem die Urteile des Gerichtshofs zur Staatshaftung vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428), vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame (C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79), und vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513), dahin auszulegen, dass die Rechtskraft gegen das Unionsrecht verstoßender Urteile letztinstanzlicher Gerichte die Feststellung ausschließt, dass der Mitgliedstaat für Schäden haftet? 3. Sind vor dem Hintergrund der Richtlinie 89/665 bzw. der Richtlinie 92/13 das Nachprüfungsverfahren bei öffentlichen Aufträgen, die den unionsrechtlichen Schwellenwert erreichen, und die gerichtliche Überprüfung einer in einem solchen Verfahren ergangenen Verwaltungsentscheidung unionsrechtlich von Bedeutung? Sind, falls diese Frage bejaht wird, das Unionsrecht und die Rechtsprechung des Gerichtshofs, u. a. die Urteile vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz (C‑453/00, EU:C:2004:17), vom 16. März 2006, Kapferer (C‑234/04, EU:C:2006:178), und insbesondere vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti (C‑213/13, EU:C:2014:2067), maßgeblich, was die Notwendigkeit der Zulässigkeit einer im nationalen Recht als außerordentliches Rechtsmittel ausgestalteten Wiederaufnahme des Verfahrens betrifft, die sich im Zusammenhang mit der gerichtlichen Überprüfung einer in einem solchen Nachprüfungsverfahren ergangenen Verwaltungsentscheidung ergibt? 4. Sind die Richtlinien über die Nachprüfungsverfahren bei öffentlichen Aufträgen (d. h. die Richtlinie 89/665 bzw. die Richtlinie 92/13) dahin auszulegen, dass mit ihnen eine nationale Regelung vereinbar ist, wonach die mit dem Ausgangsrechtsstreit befassten nationalen Gerichte eine Tatsache außer Acht lassen können, die gemäß einem Urteil des Gerichtshofs – das infolge eines Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens ergangen ist – zu prüfen ist, und wonach diese Tatsache auch in dem Verfahren, das infolge des Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die im Ausgangsverfahren ergangene Entscheidung eingeleitet wird, von den mit der Sache befassten nationalen Gerichten nicht berücksichtigt wird? 5. Sind die Richtlinie 89/665, speziell ihr Art. 1 Abs. 1 und 3, sowie die Richtlinie 92/13, speziell ihre Art. 1 und 2 – insbesondere im Licht der Urteile vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz (C‑453/00, EU:C:2004:17), vom 16. März 2006, Kapferer (C‑234/04, EU:C:2006:178), vom 12. Februar 2008, Kempter (C‑2/06, EU:C:2008:78), vom 4. Juni 2009, Pannon GSM (C‑243/08, EU:C:2009:350), und vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti (C‑213/13, EU:C:2014:2067) –, dahin auszulegen, dass mit ihnen sowie mit dem Erfordernis eines wirksamen Rechtsbehelfs und den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität eine nationale Regelung bzw. deren Anwendung vereinbar ist, die zur Folge hat, dass in einem zweitinstanzlichen Verfahren die Auslegung der maßgeblichen unionsrechtlichen Vorschriften durch ein Urteil des Gerichtshofs, das infolge eines vor dem Erlass des zweitinstanzlichen Urteils eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahrens ergangen ist, von dem mit der Sache befassten Gericht wegen Verspätung zurückgewiesen wird und dass das mit dem anschließenden Wiederaufnahmeverfahren befasste Gericht die Wiederaufnahme für unzulässig hält? 6. Muss, wenn die Wiederaufnahme des Verfahrens nach nationalem Recht aufgrund einer neuen Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs im Interesse der Wiederherstellung der Verfassungsgemäßheit zuzulassen ist, gemäß dem Urteil vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales (C‑118/08, EU:C:2010:39), die Wiederaufnahme des Verfahrens in den Fällen zugelassen werden, in denen im Hauptsacheverfahren wegen nationaler Vorschriften über Verfahrensfristen ein Urteil des Gerichtshofs nicht berücksichtigt werden konnte? 7. Sind die Richtlinie 89/665, speziell ihr Art. 1 Abs. 1 und 3, sowie die Richtlinie 92/13, speziell ihre Art. 1 und 2, im Licht des Urteils des Gerichtshofs vom 12. Februar 2008, Kempter (C‑2/06, EU:C:2008:78), wonach eine Partei nicht gesondert auf die Urteile des Gerichtshofs verweisen muss, dahin auszulegen, dass die durch die genannten Richtlinien geregelten Nachprüfungsverfahren nur mit Nachprüfungsanträgen eingeleitet werden können, in denen der gerügte Verstoß gegen das öffentliche Vergaberecht ausdrücklich beschrieben und darüber hinaus detailliert die verletzte Vergaberechtsvorschrift (genau nach Paragraf/Artikel und Absatz) angeben wird, bzw. im Nachprüfungsverfahren nur die Rechtsverletzungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe geprüft werden können, die der Antragsteller unter Verweis auf die verletzte Vorschrift des Vergaberechts (genau nach Paragraf/Artikel und Absatz) angegeben hat, während es in allen anderen Verwaltungs- und Zivilverfahren genügt, wenn die Tatsachen und die sie stützenden Beweise von der Partei beigebracht werden, über deren Antrag die mit der Sache befasste Behörde oder das mit der Sache befasste Gericht inhaltlich entscheidet? 8. Ist die in den Urteilen vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513), und vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo (C‑173/03, EU:C:2006:391), aufgestellte Voraussetzung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes dahin auszulegen, dass dieser dann nicht vorliegt, wenn ein letztinstanzliches Gericht entgegen ständiger und genauestens dargestellter – und zudem durch verschiedene Rechtsgutachten untermauerter – Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Vorabentscheidungsersuchen in Bezug auf die Notwendigkeit der Zulässigkeit der Wiederaufnahme für eine Partei unumwunden mit der abwegigen Begründung zurückweist, dass das Unionsrecht – insbesondere die Richtlinien 89/665 und 92/13 – keine Regelung für die Wiederaufnahme des Verfahrens enthalte, obwohl auch dazu die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs, einschließlich des Urteils vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti (C‑213/13, EU:C:2014:2067), in dem gerade die Notwendigkeit einer Wiederaufnahme im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge festgestellt wird, genauestens dargestellt wurde? Wie detailliert muss unter Berücksichtigung des Urteils des Gerichtshofs vom 6. Oktober 1982, Cilfit u. a. (283/81, EU:C:1982:335), die Begründung für das nationale Gericht sein, wenn abweichend von der verbindlichen Rechtsauslegung des Gerichtshofs die Wiederaufnahme nicht zugelassen wird? 9. Sind das Erfordernis eines wirksamen Rechtsbehelfs und der Grundsatz der Äquivalenz im Sinne von Art. 19 EUV und Art. 4 Abs. 3 EUV bzw. die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV sowie die Richtlinie 93/37 und die Richtlinien 89/665, 92/13 und 2007/66 dahin auszulegen, dass es mit ihnen vereinbar ist, dass die befassten Behörden und Gerichte unter offenkundiger Missachtung der anwendbaren Unionsvorschriften nacheinander die wegen der Unmöglichkeit der Teilnahme an Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge von der Klägerin in Anspruch genommenen Rechtsbehelfe zurückweisen, die es während der jeweiligen Verfahren erforderlich machen, gegebenenfalls mit erheblichem zeitlichen und finanziellen Aufwand eine Reihe von Schriftsätzen abzufassen bzw. an Verhandlungen teilzunehmen, und zwar die formale Möglichkeit zur Feststellung der Haftung eines durch die Ausübung der gerichtlichen Zuständigkeit verursachten Schadens besteht, die einschlägigen Bestimmungen aber die Klägerin davon ausschließen, vom Gericht den Ersatz des infolge der rechtswidrigen Maßnahmen entstandenen Schadens zu verlangen? 10. Sind die in den Urteilen vom 9. November 1983, San Giorgio (199/82, EU:C:1983:318), vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513), und vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo (C‑173/03, EU:C:2006:391), entwickelten Grundsätze dahin auszulegen, dass ein Schaden nicht ersetzt werden kann, der dadurch entstanden ist, dass ein letztinstanzliches Gericht entgegen der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs die durch eine Partei fristgerecht beantragte Wiederaufnahme, in deren Rahmen diese Partei die Erstattung der ihr entstandenen Kosten hätte beanspruchen können, nicht zulässt? Zu den Vorlagefragen Einleitende Erwägungen 25 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, betrifft das Ausgangsverfahren den Ersatz des Schadens, der Hochtief Solutions aufgrund des in Rn. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Beschlusses des letztinstanzlich entscheidenden Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) entstanden sein soll. Darin wurde der in Rn. 20 des vorliegenden Urteils angeführte Beschluss des Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht) bestätigt, mit dem es zum einen abgelehnt wurde, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, und zum anderen der von Hochtief Solutions gestellte Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zurückgewiesen wurde, das mit dem in Rn. 14 des vorliegenden Urteils angeführten Urteil des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) abgeschlossen worden war. 26 Daraus folgt, dass das Ausgangsverfahren die Frage betrifft, ob der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) dadurch einen Verstoß gegen das Unionsrecht begangen hat, aus dem sich eine Verpflichtung zum Ersatz des Schadens ergeben könnte, der Hochtief Solutions aufgrund dieses Verstoßes entstanden sein soll. 27 In diesem Kontext stellt sich für das vorlegende Gericht insbesondere die Frage, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein nationales Gericht einem Antrag auf Wiederaufnahme eines Verfahrens stattgeben muss, das mit einem rechtskräftig gewordenen Urteil abgeschlossen wurde, nachdem der Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 267 AEUV im Rahmen des Verfahrens, das zu diesem Urteil führte, ein Urteil erlassen hatte. 28 In Anbetracht dieses Kontexts des Ausgangsrechtsstreits sind die vorgelegten Fragen zu prüfen. Zur Zulässigkeit der siebten und der neunten Frage 29 Mit seiner siebten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, sich zur Vereinbarkeit nationaler Verfahrensbestimmungen über den zwingenden Inhalt eines Antrags auf Nachprüfung im Bereich öffentlicher Aufträge mit dem Unionsrecht zu äußern, während es mit seiner neunten Frage wissen möchte, ob die systematische unionsrechtswidrige Zurückweisung von Rechtsbehelfen eines von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausgeschlossenen Bieters wie Hochtief Solutions mit dem Unionsrecht vereinbar ist. 30 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene Verfahren nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten ist. Folglich ist es allein Sache der mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichte, die die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung tragen, im Hinblick auf die Besonderheiten der einzelnen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihnen vorgelegten Fragen zu beurteilen. Folglich ist der Gerichtshof grundsätzlich zu einer Entscheidung verpflichtet, wenn die von den nationalen Gerichten vorgelegten Fragen die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 28. März 2019, Verlezza u. a., C‑487/17 bis C‑489/17, EU:C:2019:270, Rn. 27 und 28 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts kann jedoch u. a. dann abgelehnt werden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder das Problem hypothetischer Natur ist (Urteil vom 28. März 2019, Verlezza u. a., C‑487/17 bis C‑489/17, EU:C:2019:270, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Die siebte und die neunte Frage gehören zur letztgenannten Fallgruppe. Es ist nämlich offensichtlich, dass diese Fragen in keinem Zusammenhang mit dem in Rn. 26 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Gegenstand des Ausgangsverfahrens stehen und daher hypothetischen Charakter haben. 33 Folglich sind die siebte und die neunte Frage unzulässig. Zur ersten, zur zweiten, zur achten und zur zehnten Frage 34 Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, begehrt das vorlegende Gericht insbesondere Auskunft über die vom Gerichtshof entwickelten Grundsätze im Bereich der Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einen Verstoß eines letztinstanzlich entscheidenden nationalen Gerichts gegen das Unionsrecht entstanden sind. Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob diese Grundsätze dahin auszulegen sind, dass erstens die Haftung des betreffenden Mitgliedstaats nach dem innerstaatlichen Recht zu beurteilen ist, zweitens der Grundsatz der Rechtskraft es ausschließt, die Haftung dieses Mitgliedstaats festzustellen, drittens ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegt, wenn ein letztinstanzlich entscheidendes Gericht es ablehnt, dem Gerichtshof eine vor ihm aufgeworfene Frage zur Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, und viertens die Grundsätze einer Vorschrift des nationalen Rechts entgegenstehen, wonach die einer Partei durch die in Rede stehende gerichtliche Entscheidung entstandenen Kosten von den ersatzfähigen Schäden ausgeschlossen sind. 35 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf die Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, wiederholt entschieden hat, dass die Geschädigten einen Ersatzanspruch haben, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen wurde, soll ihnen Rechte verleihen, der Verstoß gegen diese Norm ist hinreichend qualifiziert, und zwischen ihm und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 51, vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 51, und vom 28. Juli 2016, Tomášová, C‑168/15, EU:C:2016:602, Rn. 22). 36 Dies gilt auch für die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die durch eine unionsrechtswidrige Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts verursacht wurden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 52, und vom 28. Juli 2016, Tomášová, C‑168/15, EU:C:2016:602, Rn. 23). 37 Zudem sind die drei in Rn. 35 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erforderlich und ausreichend, um einen Entschädigungsanspruch des Einzelnen zu begründen, schließen aber nicht aus, dass ein Mitgliedstaat nach nationalem Recht unter weniger strengen Voraussetzungen haftet (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 66, und vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 57). 38 Folglich steht das Unionsrecht einer nationalen Rechtsvorschrift nicht entgegen, die für den Eintritt der Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, weniger strenge als die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs (siehe oben, Rn. 35) aufgestellten Voraussetzungen vorsieht. 39 Zweitens steht, wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, der Grundsatz der Rechtskraft einer Anerkennung des Grundsatzes der Haftung eines Mitgliedstaats für unionsrechtswidrige Entscheidungen eines letztinstanzlichen Gerichts nicht entgegen. Denn insbesondere aufgrund des Umstands, dass eine Verletzung der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte durch eine solche Entscheidung in der Regel nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, darf dem Einzelnen nicht die Möglichkeit genommen werden, den Staat haftbar zu machen, um auf diesem Weg einen gerichtlichen Schutz seiner Rechte zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 34, und vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Drittens obliegt es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich den nationalen Gerichten, die in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angeführten Voraussetzungen für die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, entsprechend den vom Gerichtshof hierfür entwickelten Leitlinien anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 100, und vom 4. Oktober 2018, Kantarev, C‑571/16, EU:C:2018:807, Rn. 95). 41 Insoweit ist insbesondere hinsichtlich der zweiten dieser Voraussetzungen darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Mitgliedstaat für Schäden, die durch eine unionsrechtswidrige Entscheidung eines letztinstanzlichen nationalen Gerichts verursacht wurden, nur in dem Ausnahmefall haftet, dass das letztinstanzlich entscheidende nationale Gericht offenkundig gegen geltendes Recht verstoßen hat (Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 53, und vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo, C‑173/03, EU:C:2006:391, Rn. 32 und 42). 42 Um festzustellen, ob ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegt, muss das mit einer Schadensersatzklage befasste nationale Gericht alle Gesichtspunkte berücksichtigen, die für den ihm vorgelegten Sachverhalt kennzeichnend sind. Zu den Gesichtspunkten, die dabei berücksichtigt werden können, gehören u. a. das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen Behörden belässt, die Frage, ob der Verstoß oder der Schaden vorsätzlich oder unbeabsichtigt begangen bzw. verursacht wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums, der Umstand, dass die Verhaltensweisen eines Organs der Europäischen Union möglicherweise dazu beigetragen haben, dass unionsrechtswidrige nationale Maßnahmen oder Praktiken eingeführt oder aufrechterhalten wurden, und die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV durch das in Rede stehende nationale Gericht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 56, vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 54 und 55, und vom 28. Juli 2016, Tomášová, C‑168/15, EU:C:2016:602, Rn. 25). 43 Ein Verstoß gegen das Unionsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkannt wurde (Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 56, vom 25. November 2010, Fuß, C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 52, und vom 28. Juli 2016, Tomášová, C‑168/15, EU:C:2016:602, Rn. 26). 44 Im Ausgangsrechtsstreit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte, die für den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sachverhalt kennzeichnend sind, zu beurteilen, ob das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) mit dem in Rn. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Beschluss einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht begangen hat, weil es das anwendbare Unionsrecht einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere des Urteils vom 18. Oktober 2012, Édukövízig und Hochtief Construction (C‑218/11, EU:C:2012:643), offenkundig verkannt hat. 45 Viertens hat der Mitgliedstaat, sofern die in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angeführten Voraussetzungen erfüllt sind, die Folgen des verursachten Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben, wobei die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen weder weniger günstig sein dürfen als bei ähnlichen Rechtsbehelfen, die nur nationales Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), noch so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Erlangung der Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 67, vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 58, und vom 28. Juli 2016, Tomášová, C‑168/15, EU:C:2016:602, Rn. 38). 46 Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Ersatz der Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, dem erlittenen Schaden angemessen sein muss, so dass ein effektiver Schutz der Rechte des Einzelnen gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 82, und vom 25. November 2010, Fuß, C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 92). 47 Eine Vorschrift des nationalen Rechts, wonach in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat für Schäden haftet, die durch eine unionsrechtswidrige Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts dieses Mitgliedstaats verursacht wurden, die einer Partei durch diese Entscheidung entstandenen Kosten generell von den ersatzfähigen Schäden ausgeschlossen wird, kann es jedoch praktisch übermäßig erschweren oder sogar unmöglich machen, einen Ersatz zu erlangen, der dem von dieser Partei erlittenen Schaden angemessen ist. 48 Nach alledem ist auf die erste, die zweite, die achte und die zehnte Frage zu antworten, dass die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die durch eine unionsrechtswidrige Entscheidung eines letztinstanzlichen nationalen Gerichts entstanden sind, den vom Gerichtshof insbesondere in Rn. 51 des Urteils vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513), aufgestellten Voraussetzungen unterliegt, ohne dass es ausgeschlossen wäre, dass die Haftung dieses Staates auf der Grundlage des nationalen Rechts unter weniger einschränkenden Voraussetzungen ausgelöst werden kann. Die Haftung wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die betreffende Entscheidung Rechtskraft erlangt hat. Im Rahmen der Ausgestaltung dieser Haftung ist es Sache des mit einer Schadensersatzklage befassten nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte, die für den in Rede stehenden Sachverhalt kennzeichnend sind, zu beurteilen, ob das letztinstanzlich entscheidende nationale Gericht einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht begangen hat, weil es das anwendbare Unionsrecht einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkannt hat. Dagegen steht das Unionsrecht einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, die in einem solchen Fall die einer Partei durch die rechtswidrige Entscheidung des nationalen Gerichts entstandenen Kosten generell von den ersatzfähigen Schäden ausschließt. Zur dritten, zur vierten, zur fünften und zur sechsten Frage 49 In Anbetracht des in den Rn. 26 und 27 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Kontexts des Ausgangsverfahrens ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner dritten, seiner vierten, seiner fünften und seiner sechsten Frage wissen möchte, ob das Unionsrecht, insbesondere die Richtlinie 89/665 und die Richtlinie 92/13 sowie die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die im Fall eines rechtskräftig gewordenen Urteils eines Gerichts dieses Mitgliedstaats, mit dem über eine Nichtigkeitsklage gegen eine Handlung eines öffentlichen Auftraggebers entschieden wurde, ohne auf eine Frage einzugehen, deren Prüfung Gegenstand eines früheren Urteils des Gerichtshofs war, das aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen des die Nichtigkeitsklage betreffenden Verfahrens erging, die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht gestattet. 50 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 92/13 die Mitgliedstaaten verpflichten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber im Rahmen der von diesen Richtlinien erfassten Verfahren zur Auftragsvergabe wirksam und vor allem möglichst rasch auf Verstöße gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieses Rechts nachgeprüft werden können (Urteil vom 15. September 2016, Star Storage u. a., C‑439/14 und C‑488/14, EU:C:2016:688, Rn. 39). 51 Diese Vorschriften, die die Wirtschaftsteilnehmer vor der Willkür des öffentlichen Auftraggebers schützen sollen, sollen somit sicherstellen, dass in allen Mitgliedstaaten wirksame Rechtsbehelfe bestehen, um die effektive Anwendung der Unionsvorschriften im Bereich des öffentlichen Auftragswesens zu gewährleisten, vor allem dann, wenn Verstöße noch beseitigt werden können (Urteil vom 15. September 2016, Star Storage u. a., C‑439/14 und C‑488/14, EU:C:2016:688, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 52 Weder die Richtlinie 89/665 noch die Richtlinie 92/13 enthalten Bestimmungen, die speziell die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme dieser Rechtsbehelfe regeln. Sie enthalten nur Bestimmungen über die Mindestvoraussetzungen, denen die in den nationalen Rechtsordnungen geschaffenen Nachprüfungsverfahren entsprechen müssen, um die Beachtung der Unionsvorschriften im Bereich des öffentlichen Auftragswesens zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2016, Star Storage u. a., C‑439/14 und C‑488/14, EU:C:2016:688, Rn. 42). 53 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass im ungarischen Verfahrensrecht die Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne von Art. 260 ZPO ein außerordentlicher Rechtsbehelf ist, der es unter den dort aufgestellten Voraussetzungen erlaubt, die Rechtskraft eines unanfechtbar gewordenen Urteils in Frage zu stellen. 54 Sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen hat die Rechtskraft erhebliche Bedeutung. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteile vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 58, und vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 28). 55 Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (Urteile vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 59, und vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 29). 56 Wie bereits entschieden wurde, verlangt das Unionsrecht nämlich nicht, dass ein nationales Rechtsprechungsorgan seine rechtskräftig gewordene Entscheidung grundsätzlich rückgängig machen muss, um der Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof Rechnung zu tragen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 60, und vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 38). 57 Das vom vorlegenden Gericht angeführte Urteil vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz (C‑453/00, EU:C:2004:17), kann diese Erwägung nicht in Frage stellen. 58 Aus diesem Urteil ergibt sich nämlich, dass der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit eine mit einem entsprechenden Antrag befasste Verwaltungsbehörde verpflichtet, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um einer mittlerweile vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen; Voraussetzung dafür ist u. a., dass die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, ihre Entscheidung zurückzunehmen (Urteil vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz, C‑453/00, EU:C:2004:17, Rn. 28). 59 Diese Erwägung betrifft jedoch unstreitig nur die etwaige Überprüfung einer bestandskräftigen Entscheidung einer Verwaltungsbehörde und nicht – wie hier – eines Gerichts. 60 Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass dann, wenn für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit besteht, eine rechtskräftig gewordene Entscheidung rückgängig zu machen, um die durch sie entstandene Situation mit dem nationalen Recht in Einklang zu bringen, davon, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, gemäß den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität Gebrauch gemacht werden muss, damit die Vereinbarkeit der betreffenden Situation mit dem Unionsrecht wiederhergestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 62). 61 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, dass nach Art. 260 ZPO die Wiederaufnahme des Verfahrens u. a. dann beantragt werden kann, wenn eine Partei geltend machen kann, dass eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts in dem Verfahren, dessen Wiederaufnahme beantragt wird, nicht berücksichtigt wurde, wobei dies nur dann gilt, wenn die Partei die genannte Entscheidung im früheren Verfahren unverschuldet nicht geltend machen konnte. 62 Im Übrigen ergibt sich aus der sechsten Frage, dass das ungarische Recht die Wiederaufnahme des Verfahrens im Interesse der Wiederherstellung der Verfassungsmäßigkeit eines Sachverhalts aufgrund einer neuen Entscheidung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) zulässt. 63 Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die ungarischen Verfahrensvorschriften die Möglichkeit vorsehen, ein rechtskräftig gewordenes Urteil rückgängig zu machen, um die durch dieses Urteil entstandene Situation mit einer früheren rechtskräftigen Entscheidung eines Gerichts in Einklang zu bringen, von der das Gericht, das das betreffende Urteil erlassen hat, und die Parteien der Rechtssache, in der es ergangen ist, bereits Kenntnis hatten. Ist dies der Fall, sollte nach der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs von dieser Möglichkeit gemäß den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität unter den gleichen Bedingungen Gebrauch gemacht werden, um die Vereinbarkeit der Situation mit einem früheren Urteil des Gerichtshofs herbeizuführen. 64 Dabei ist in jedem Fall zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung insbesondere aufgrund des Umstands, dass eine Verletzung der aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte durch eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts in der Regel nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, dem Einzelnen nicht die Möglichkeit genommen werden darf, den Staat haftbar zu machen, um auf diesem Weg einen gerichtlichen Schutz seiner Rechte zu erlangen (Urteile vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 40, und vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 58). 65 Nach alledem ist auf die dritte, die vierte, die fünfte und die sechste Frage zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere die Richtlinie 89/665 und die Richtlinie 92/13 sowie die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die im Fall eines rechtskräftig gewordenen Urteils eines Gerichts dieses Mitgliedstaats, mit dem über eine Nichtigkeitsklage gegen eine Handlung eines öffentlichen Auftraggebers entschieden wurde, ohne auf eine Frage einzugehen, deren Prüfung Gegenstand eines früheren Urteils des Gerichtshofs war, das aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen des die Nichtigkeitsklage betreffenden Verfahrens erging, die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht gestattet. Besteht jedoch für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften die Möglichkeit, ein rechtskräftig gewordenes Urteil rückgängig zu machen, um die durch dieses Urteil entstandene Situation mit einer rechtskräftigen früheren nationalen Gerichtsentscheidung in Einklang zu bringen, von der das Gericht, das das betreffende Urteil erlassen hat, und die Parteien der Rechtssache, in der es ergangen ist, bereits Kenntnis hatten, muss von dieser Möglichkeit gemäß den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität unter den gleichen Bedingungen Gebrauch gemacht werden, um die Vereinbarkeit der Situation mit dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch ein früheres Urteil des Gerichtshofs herbeizuführen. Kosten 66 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die durch eine unionsrechtswidrige Entscheidung eines letztinstanzlichen nationalen Gerichts entstanden sind, unterliegt den vom Gerichtshof insbesondere in Rn. 51 des Urteils vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513), aufgestellten Voraussetzungen, ohne dass es ausgeschlossen wäre, dass die Haftung dieses Staates auf der Grundlage des nationalen Rechts unter weniger einschränkenden Voraussetzungen ausgelöst werden kann. Die Haftung wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die betreffende Entscheidung Rechtskraft erlangt hat. Im Rahmen der Ausgestaltung dieser Haftung ist es Sache des mit einer Schadensersatzklage befassten nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte, die für den in Rede stehenden Sachverhalt kennzeichnend sind, zu beurteilen, ob das letztinstanzlich entscheidende nationale Gericht einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht begangen hat, weil es das anwendbare Unionsrecht einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkannt hat. Dagegen steht das Unionsrecht einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, die in einem solchen Fall die einer Partei durch die rechtswidrige Entscheidung des nationalen Gerichts entstandenen Kosten generell von den ersatzfähigen Schäden ausschließt. 2. Das Unionsrecht, insbesondere die Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 geänderten Fassung und die Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser‑, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung sowie die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität, ist dahin auszulegen, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die im Fall eines rechtskräftig gewordenen Urteils eines Gerichts dieses Mitgliedstaats, mit dem über eine Nichtigkeitsklage gegen eine Handlung eines öffentlichen Auftraggebers entschieden wurde, ohne auf eine Frage einzugehen, deren Prüfung Gegenstand eines früheren Urteils des Gerichtshofs war, das aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen des die Nichtigkeitsklage betreffenden Verfahrens erging, die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht gestattet. Besteht jedoch für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften die Möglichkeit, ein rechtskräftig gewordenes Urteil rückgängig zu machen, um die durch dieses Urteil entstandene Situation mit einer rechtskräftigen früheren nationalen Gerichtsentscheidung in Einklang zu bringen, von der das Gericht, das das betreffende Urteil erlassen hat, und die Parteien der Rechtssache, in der es ergangen ist, bereits Kenntnis hatten, muss von dieser Möglichkeit gemäß den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität unter den gleichen Bedingungen Gebrauch gemacht werden, um die Vereinbarkeit der Situation mit dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch ein früheres Urteil des Gerichtshofs herbeizuführen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 29. Juli 2019.#Sumanan Vethanayagam u. a. gegen Minister van Buitenlandse Zaken.#Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Visakodex der Gemeinschaft – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 5 – Für die Prüfung und Bescheidung eines Visumantrags zuständiger Mitgliedstaat – Art. 8 – Vertretungsvereinbarung – Art. 32 Abs. 3 – Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags – Im Fall einer Vertretungsvereinbarung für die Entscheidung über den Rechtsbehelf zuständiger Mitgliedstaat – Inhaber des Rechts auf Einlegung eines Rechtsbehelfs.#Rechtssache C-680/17.
62017CJ0680
ECLI:EU:C:2019:627
2019-07-29T00:00:00
Sharpston, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62017CJ0680 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 29. Juli 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Visakodex der Gemeinschaft – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 5 – Für die Prüfung und Bescheidung eines Visumantrags zuständiger Mitgliedstaat – Art. 8 – Vertretungsvereinbarung – Art. 32 Abs. 3 – Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags – Im Fall einer Vertretungsvereinbarung für die Entscheidung über den Rechtsbehelf zuständiger Mitgliedstaat – Inhaber des Rechts auf Einlegung eines Rechtsbehelfs“ In der Rechtssache C‑680/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande) mit Entscheidung vom 30. November 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Dezember 2017, in dem Verfahren Sumanan Vethanayagam, Sobitha Sumanan, Kamalaranee Vethanayagam gegen Minister van Buitenlandse Zaken erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Richterin C. Toader sowie der Richter A. Rosas und M. Safjan, Generalanwältin: E. Sharpston, Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2018, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Vethanayagam, Frau Sumanan und Frau Vethanayagam, vertreten durch M. J. A. Leijen, advocaat, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil, T. Müller und A. Brabcová als Bevollmächtigte, – der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. Wolff und P. Ngo als Bevollmächtigte, – der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte, – der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, E. de Moustier und E. Armoët als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. De Luca, avvocato dello Stato, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – des Europäischen Parlaments, vertreten durch G. Corstens, R. van de Westelaken und O. Hrstková Šolcová als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch E. Moro und S. Boelaert als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, F. Wilman und G. Wils als Bevollmächtigte, – der Schweizer Regierung, vertreten durch E. Bichet als Bevollmächtigten, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. März 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 4 und Art. 32 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. 2009, L 243, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Visakodex). 2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Sumanan Vethanayagam, Frau Sobitha Sumanan und Frau Kamalaranee Vethanayagam auf der einen Seite und dem Minister van Buitenlandse Zaken (Minister für auswärtige Angelegenheiten, Niederlande, im Folgenden: niederländischer Außenminister) auf der anderen Seite über die Zurückweisung von Visumanträgen für einen kurzfristigen Aufenthalt von Herrn Vethanayagam und Frau Sumanan. Rechtlicher Rahmen Schengen-Assoziierungsabkommen zwischen der Union und der Schweiz 3 In den Erwägungsgründen 8 und 10 des Abkommens zwischen der Europäischen Union, der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (ABl. 2008, L 53, S. 52, im Folgenden: Schengen-Assoziierungsabkommen zwischen der Union und der Schweiz) heißt es: „in der Überzeugung, dass die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft bei der Umsetzung, praktischen Anwendung und Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands organisiert werden muss, … in der Erwägung, dass die Schengener Zusammenarbeit auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte, wie sie insbesondere in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 gewährleistet sind, beruht“. 4 Art. 1 Abs. 2 des Schengen-Assoziierungsabkommens zwischen der Union und der Schweiz lautet: „Dieses Übereinkommen begründet gegenseitige Rechte und Pflichten gemäß den in ihm vorgesehenen Verfahren.“ 5 Art. 2 dieses Abkommens sieht vor: „(1)   Die in Anhang A aufgeführten Bestimmungen des Schengen-Besitzstands, die für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (nachstehend ‚Mitgliedstaaten‘ genannt) gelten, werden von der Schweiz umgesetzt und angewendet. (2)   Die in Anhang B aufgeführten Bestimmungen der Rechtsakte der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft werden, soweit sie entsprechende Bestimmungen des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (nachstehend ‚Schengener Durchführungsübereinkommen‘ genannt) ersetzen und/oder weiterentwickeln oder aufgrund des genannten Übereinkommens angenommen worden sind, von der Schweiz umgesetzt und angewendet. (3)   Die Rechtsakte und Maßnahmen, die von der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft zur Änderung oder Ergänzung der in den Anhängen A und B genannten Bestimmungen angenommen werden, auf die die in diesem Abkommen vorgesehenen Verfahren Anwendung fanden, werden von der Schweiz, unbeschadet des Artikels 7, ebenfalls akzeptiert, umgesetzt und angewendet.“ Visakodex 6 Die Erwägungsgründe 4, 18, 28, 29 und 34 des Visakodex lauten: „(4) Die Mitgliedstaaten sollten im Hinblick auf die Visumerteilung in allen Drittländern, deren Staatsangehörige der Visumpflicht unterliegen, selbst vertreten sein oder sich vertreten lassen. Mitgliedstaaten, die in einem gegebenen Drittstaat oder in einem bestimmten Landesteil eines gegebenen Drittstaats über kein eigenes Konsulat verfügen, sollten den Abschluss von Vertretungsvereinbarungen anstreben, damit der Zugang zu Konsulaten für Visumantragsteller nicht mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden ist. … (18) Die Schengen-Zusammenarbeit vor Ort ist für die einheitliche Anwendung der gemeinsamen Visumpolitik und eine angemessene Bewertung der Migrations- und/oder Sicherheitsrisiken von entscheidender Bedeutung. Aufgrund der unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten sollte die praktische Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften von den diplomatischen Missionen und konsularischen Vertretungen der Mitgliedstaaten an den einzelnen Standorten gemeinsam bewertet werden, damit für eine einheitliche Anwendung der Rechtsvorschriften gesorgt wird, um ‚Visa-Shopping‘ und eine Ungleichbehandlung der Visumantragsteller zu vermeiden. … (28) Da das Ziel der Verordnung, nämlich die Festlegung der Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet …, auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann und daher besser auf Gemeinschaftsebene zu verwirklichen ist, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Verordnung nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus. (29) Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. … (34) Für die Schweiz stellt diese Verordnung eine Weiterentwicklung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands im Sinne des [Schengen-Assoziierungsabkommens zwischen der Union und der Schweiz] dar, die zu dem in Artikel 1 Buchstabe B des Beschlusses 1999/437/EG [des Rates vom 17. Mai 1999 zum Erlass bestimmter Durchführungsvorschriften zu dem Übereinkommen zwischen dem Rat der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Assoziierung dieser beiden Staaten bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (ABl. 1999, L 176, S. 31)] in Verbindung mit Artikel 3 des Beschlusses 2008/146/EG des Rates [vom 28. Januar 2008] über die Unterzeichnung des genannten Abkommens [(ABl. 2008, L 53, S. 1)] genannten Bereich gehören.“ 7 Art. 1 des Visakodex bestimmt: „Mit dieser Verordnung werden die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festgelegt.“ 8 In Art. 2 Nr. 2 dieses Kodex heißt es: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck: … 2. ‚Visum‘ die von einem Mitgliedstaat erteilte Genehmigung im Hinblick auf a) die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder einen geplanten Aufenthalt in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen; b) die Durchreise durch die internationalen Transitzonen der Flughäfen von Mitgliedstaaten; …“ 9 Art. 4 Abs. 1 des Kodex lautet: „Anträge werden von den Konsulaten geprüft und beschieden.“ 10 Art. 5 des Kodex sieht vor: „(1)   Der für die Prüfung und Bescheidung eines Antrags auf ein einheitliches Visum zuständige Mitgliedstaat ist a) der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet das einzige Reiseziel bzw. die einzigen Reiseziele liegen; … (4)   Die Mitgliedstaaten arbeiten zusammen, um zu verhindern, dass ein Antrag nicht geprüft und beschieden werden kann, weil der nach den Absätzen 1 bis 3 zuständige Mitgliedstaat in dem Drittstaat, in dem der Antragsteller gemäß Artikel 6 das Visum beantragt, weder über ein Konsulat noch über eine Vertretung verfügt.“ 11 Art. 6 („Territoriale Zuständigkeit der Konsulate“) Abs. 1 des Visakodex bestimmt: „Der Antrag wird von dem Konsulat des zuständigen Mitgliedstaats geprüft und beschieden, in dessen Konsularbezirk der Antragsteller seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat.“ 12 In Art. 8 dieses Kodex, der die Vertretungsvereinbarungen regelt, heißt es: „(1)   Ein Mitgliedstaat kann sich bereit erklären, einen anderen nach Artikel 5 zuständigen Mitgliedstaat bei der im Namen dieses Mitgliedstaats erfolgenden Prüfung von Anträgen und der Erteilung von Visa zu vertreten. Ein Mitgliedstaat kann einen anderen Mitgliedstaat auch in beschränktem Umfang ausschließlich bei der Entgegennahme der Anträge und der Erfassung der biometrischen Identifikatoren vertreten. (2)   Beabsichtigt das Konsulat des vertretenden Mitgliedstaats, einen Visumantrag abzulehnen, so übermittelt es den betreffenden Antrag den zuständigen Behörden des vertretenen Mitgliedstaats, damit diese innerhalb der in Artikel 23 Absätze 1, 2 bzw. 3 festgelegten Frist die endgültige Entscheidung über den Antrag treffen. … (4)   Der vertretende Mitgliedstaat und der vertretene Mitgliedstaat schließen eine bilaterale Vereinbarung, die folgende Elemente enthält: a) Es werden die Dauer bei einer befristeten Vertretung und die Verfahren für ihre Beendigung angegeben; b) es können, insbesondere wenn der vertretene Mitgliedstaat über ein Konsulat in dem betreffenden Drittstaat verfügt, die Bereitstellung von Räumlichkeiten und Personal und die Leistung von Zahlungen durch den vertretenen Mitgliedstaat geregelt werden; c) es kann bestimmt werden, dass Anträge von bestimmten Kategorien von Drittstaatsangehörigen von dem vertretenden Mitgliedstaat den zentralen Behörden des vertretenen Staates zur vorherigen Konsultation gemäß Artikel 22 zu übermitteln sind; d) abweichend von Absatz 2 kann das Konsulat des vertretenden Mitgliedstaats ermächtigt werden, nach Prüfung des Antrags die Visumerteilung zu verweigern. (5)   Mitgliedstaaten, die über kein eigenes Konsulat in einem Drittstaat verfügen, streben den Abschluss von Vertretungsvereinbarungen mit Mitgliedstaaten an, die dort über Konsulate verfügen. (6)   Um sicherzustellen, dass der Zugang zu einem Konsulat in einer spezifischen Region oder einem spezifischen Gebiet aufgrund schlechter Verkehrsinfrastrukturen oder weiter Entfernungen für Antragsteller nicht mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden ist, streben Mitgliedstaaten, die in der betreffenden Region oder in dem betreffenden Gebiet über kein eigenes Konsulat verfügen, den Abschluss von Vertretungsvereinbarungen mit Mitgliedstaaten an, die dort über Konsulate verfügen. …“ 13 Art. 32 Abs. 3 des Kodex bestimmt: „Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, steht ein Rechtsmittel zu. Die Rechtsmittel sind gegen den Mitgliedstaat, der endgültig über den Visumantrag entschieden hat, und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats zu führen. Die Mitgliedstaaten informieren die Antragsteller über das im Falle der Einlegung eines Rechtsmittels zu befolgende Verfahren nach Anhang VI.“ 14 Art. 47 Abs. 1 des Kodex sieht vor: „(1)   Die zentralen Behörden und die Konsulate der Mitgliedstaaten geben alle relevanten Informationen zur Beantragung eines Visums öffentlich bekannt, insbesondere: … h) darüber, dass ablehnende Entscheidungen über Anträge dem Antragsteller mitzuteilen und zu begründen sind und dass dem Antragsteller in diesem Fall ein Rechtsmittel zur Verfügung steht, wobei über das bei der Einlegung des Rechtsmittels zu befolgende Verfahren einschließlich der zuständigen Behörde und der Rechtsmittelfristen zu informieren ist; …“ Handbuch der Visa 15 In dem durch den Beschluss K(2010) 1620 endgültig der Kommission vom 19. März 2010 erstellten Handbuch für die Bearbeitung von Visumanträgen und die Änderung von bereits erteilten Visa heißt es, dass „[i]m Visakodex und in diesem Handbuch … der Begriff ‚Mitgliedstaat‘ die EU-Mitgliedstaaten, die den Schengen-Besitzstand vollständig anwenden, sowie die assoziierten Staaten [bezeichnet]“ und das ‚Gebiet der Mitgliedstaaten‘ … als Gebiet … dieser ‚Mitgliedstaaten‘ verstanden [wird]“. Vertretungsvereinbarung zwischen den Niederlanden und der Schweiz 16 Die zum maßgeblichen Zeitpunkt anwendbare Vertretungsvereinbarung zwischen den Niederlanden und der Schweizerischen Eidgenossenschaft trat am 1. Oktober 2014 in Kraft. Sie sieht vor, dass die Schweiz die Niederlande für alle Arten von Schengen-Visa u. a. in Sri Lanka vertritt. 17 Gemäß Ziff. 2 dieser Vereinbarung umfasst die „Vertretung“ u. a. „die Verweigerung eines Visums in einschlägigen Fällen nach Art. 8 Abs. 4 Buchst. d des Visakodex und die Bearbeitung der Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht der vertretenden Partei (Art. 32 Abs. 3 des Visakodex)“. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 18 Herr Vethanayagam und Frau Sumanan, die die Staatsangehörigkeit von Sri Lanka besitzen, verheiratet und in Sri Lanka wohnhaft sind, beantragten am 16. August 2016 Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt in den Niederlanden, um Frau Vethanayagam, eine Schwester von Herrn Vethanayagam, die die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt und in Amsterdam (Niederlande) wohnhaft ist, zu besuchen. Diese Anträge wurden gemäß dem bilateralen Vertretungsabkommen zwischen dem Königreich der Niederlande und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über den Dienstleistungserbringer VFS Global beim Schweizer Konsulat in Colombo (Sri Lanka) gestellt. 19 Mit Entscheidungen vom 19. August 2016 lehnten die Schweizer Konsularbehörden, die als Vertreter des Königreichs der Niederlande handelten, die Visumanträge mit der Begründung ab, dass Herr Vethanayagam und Frau Sumanan nicht nachgewiesen hätten, dass sie über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des vorgesehenen Aufenthalts als auch zur Gewährleistung der Rückkehr in ihr Herkunftsland verfügten. 20 Herr Vethanayagam und Frau Sumanan legten gegen diese Entscheidungen einen Rechtsbehelf beim niederländischen Außenminister ein. Dieser verneinte mit Bescheiden vom 28. September 2016 seine Zuständigkeit für die Entscheidung über diesen Rechtsbehelf. 21 Zudem wurde die von den Betroffenen bei den Schweizer Behörden gegen die Entscheidungen vom 19. August 2016 eingelegte Einsprache durch Verfügung des Staatssekretariats für Migration (Schweiz) vom 2. Dezember 2016 abgelehnt. Das Bundesverwaltungsgericht (Schweiz) wies das Gesuch der Antragsteller um unentgeltliche Rechtspflege vorläufig zurück und lehnte die Prüfung des gegen diese Entscheidung eingereichten Rechtsbehelfs mit der Begründung ab, dass der eingeforderte Kostenvorschuss nicht gezahlt worden sei. 22 Herr Vethanayagam und Frau Sumanan sowie Frau Vethanayagam als Bezugsperson reichten für die beiden Ersteren beim Visadienst (Visumstelle, Niederlande) einen neuen Antrag auf Erteilung von Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt ein. Dieser Antrag wurde mit Entscheidung des niederländischen Außenministers vom 18. Oktober 2016 abgelehnt. 23 Mit Entscheidung vom 23. November 2016 wies der niederländische Außenminister den Widerspruch der Kläger des Ausgangsverfahrens gegen die Entscheidung vom 18. Oktober 2016 als unzulässig ab. 24 Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben gegen die Entscheidungen vom 28. September 2016 und 23. November 2016 bei der Rechtbank den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande) eine Klage, die sie damit begründeten, dass für die Prüfung ihrer Widersprüche und ihrer Visumanträge das Königreich der Niederlande zuständig sei und die Schweizerische Eidgenossenschaft nur als Vertreterin des Königreichs der Niederlande gehandelt habe. Sie hielten sich für nach dem Unionsrecht berechtigt, die Visumanträge bei dem Land ihres Hauptreiseziels zu beantragen, und machen geltend, dass die vollständige Übertragung der Visumantragsverfahren auf einen anderen Staat gegen den Grundsatz des wirksamen Rechtsbehelfs nach Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoße. 25 Der niederländische Außenminister verneinte seine Zuständigkeit für die Entscheidung über die Visumanträge der Kläger des Ausgangsverfahrens. 26 Erstens sei die Zuständigkeit für die Prüfung der in Sri Lanka eingereichten Visumanträge nach Art. 8 Abs. 4 des Visakodex und der auf dieser Bestimmung gestützten Verbalnote auf die Schweizerische Eidgenossenschaft übertragen worden. 27 Zweitens hätten die Kläger des Ausgangsverfahrens, da die Schweizer Konsularbehörden in Colombo für die Visumverweigerung zuständig seien, ihr Rechtsmittel nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft als den Staat richten müssen, der ihre Anträge endgültig beschieden habe. 28 Drittens hätten die Anträge der Drittstaatsangehörigen mit Wohnsitz in Sri Lanka nicht unmittelbar bei der Visumstelle in den Niederlanden gestellt werden können. Da das Königreich der Niederlande in Sri Lanka durch die Schweizerische Eidgenossenschaft vertreten werde, seien nach Art. 6 Abs. 1 des Visakodex solche Anträge nämlich bei den Schweizer Konsularbehörden einzureichen. 29 Vor diesem Hintergrund hegt das vorlegende Gericht Zweifel an der Auslegung des Visakodex, soweit zunächst die Stellung der Bezugsperson in den Visumverfahren, sodann der Begriff „Vertretung“ und schließlich die Vereinbarkeit des Systems der konsularischen Vertretung mit dem Anspruch auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nach Art. 47 der Charta betroffen sind. 30 Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Steht Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dem entgegen, dass eine Bezugsperson als von dem Visumantrag der Kläger Betroffene die Möglichkeit hat, gegen die Verweigerung des Visums im eigenen Namen Widerspruch einzulegen und Klage zu erheben? 2. Muss die in Art. 8 Abs. 4 des Visakodex geregelte Vertretung in dem Sinne aufgefasst werden, dass die Zuständigkeit (auch) bei dem vertretenen Staat verbleibt, oder dahin, dass die Zuständigkeit vollständig dem vertretenden Staat übertragen wird, so dass der vertretene Staat selbst nicht mehr zuständig ist? 3. Falls nach Art. 8 Abs. 4 Buchst. d des Visakodex beide in der zweiten Frage angeführten Vertretungsformen möglich sind, welcher Mitgliedstaat ist dann als der Mitgliedstaat anzusehen, der im Sinne von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex endgültig entschieden hat? 4. Steht eine Auslegung von Art. 8 Abs. 4 und Art. 32 Abs. 3 des Visakodex, nach der die Visumantragsteller den Rechtsbehelf gegen die Zurückweisung ihrer Anträge ausschließlich bei einer Behörde oder einem Gericht des vertretenden Mitgliedstaats einlegen können und nicht im vertretenen Mitgliedstaat, für den das Visum beantragt wird, im Einklang mit dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz im Sinne von Art. 47 der Charta? Kommt es für die Antwort auf diese Frage darauf an, ob der gebotene Rechtsbehelf gewährleistet, dass der Antragsteller das Recht hat, gehört zu werden, ob er das Recht hat, das Verfahren in einer Sprache eines der Mitgliedstaaten zu führen, ob die Verwaltungs- und Gerichtsgebühren für Widerspruchs- und Klageverfahren für den Antragsteller nicht unverhältnismäßig hoch sind und ob die Möglichkeit der Gewährung von Prozesskostenhilfe besteht? Ist es angesichts des in Visumangelegenheiten bestehenden Beurteilungsspielraums des Staates für die Antwort auf diese Frage relevant, ob ein Schweizer Gericht hinreichenden Einblick in die Situation in den Niederlanden hat, um effektiven Rechtsschutz bieten zu können? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 31 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen ist, dass er es der Bezugsperson erlaubt, gegen die Ablehnung eines Visumantrags im eigenen Namen einen Rechtsbehelf einzulegen. Zur Zulässigkeit 32 Einleitend stellt die Europäische Kommission die Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage mit dem Argument in Abrede, dass die niederländischen Rechtsvorschriften auf die Rechtssache des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar seien, da im vorliegenden Fall die Schweizer, nicht aber die niederländischen Behörden die endgültige Entscheidung über den Visumantrag getroffen hätten. 33 Dem kann nicht gefolgt werden. 34 Zum einen ist festzustellen, dass die Festlegung des Staates, bei dem nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags einzulegen ist, eine der Fragen ist, die Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens sind, so dass die Antwort auf diese Frage nicht im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage vorweggenommen werden kann. 35 Zum anderen ist es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 37 Im vorliegenden Fall betrifft die erste Vorlagefrage die Auslegung des Unionsrechts, insbesondere die Frage, ob eine Bezugsperson im Rahmen des in Art. 32 Abs. 3 des Visakodex vorgesehenen Rechtsbehelfs die Ablehnung eines Visumantrags anfechten kann. 38 Darüber hinaus ist, abgesehen davon, dass das Vorabentscheidungsersuchen den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen hinreichend darstellt, um die Tragweite der Vorlagefrage bestimmen zu können, nicht ersichtlich, dass die begehrte Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde oder dass das Problem hypothetischer Natur wäre. 39 Wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, hat nämlich Frau Vethanayagam, die Bezugsperson und Schwester bzw. Schwägerin der Visumantragsteller, die in den Niederlanden wohnhaft ist, wie die Antragsteller zu deren Gunsten gegen die Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Visa durch die Visumstelle Klage erhoben. 40 Daher ist eine Antwort des Gerichtshofs zu der vom vorlegenden Gericht erbetenen Auslegung für dieses für den Erlass seines Urteils erforderlich. 41 Die erste Vorlagefrage ist somit zulässig. Zu der Sache 42 Was die Auslegung von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (Urteil vom 7. Februar 2018, American Express, C‑304/16, EU:C:2018:66, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Als Erstes sieht, was den Wortlaut von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex betrifft, Satz 1 dieser Bestimmung vor, dass „Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, … ein Rechtsmittel [zusteht]“. Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich damit, dass dem betreffenden Visumantragsteller ausdrücklich das Recht gewährt wird, gegen die Ablehnung eines Visumantrags einen Rechtsbehelf anzustrengen. 44 Der Anerkennung dieses Rechts steht nicht entgegen, dass nach Satz 2 von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags gegen den Mitgliedstaat zu führen ist, der „in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats“ endgültig entschieden hat. 45 Insoweit hat der Gerichtshof bereits befunden, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Verweis auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten die Entscheidung, welche Art von Rechtsbehelf in welcher konkreten Ausgestaltung den Visumantragstellern zur Verfügung stehen soll, den Mitgliedstaaten überlassen hat (Urteil vom 13. Dezember 2017, El Hassani, C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 25). 46 Daraus ergibt sich, dass sich der Verweis auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf die Regelung der Verfahrensmodalitäten beschränkt, während die Bestimmung desjenigen, dem das Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs zusteht, ausdrücklich in Art. 32 Abs. 3 des Visakodex vorgesehen ist. 47 Als Zweites wird diese Feststellung durch den Kontext bestätigt, in den sich Art. 32 Abs. 3 des Visakodex einfügt. Insoweit ergibt sich aus Art. 47 Abs. 1 Buchst. h dieses Kodex, dass die zentralen Behörden der Mitgliedstaaten und ihre Konsulate alle relevanten Informationen zur Beantragung eines Visums öffentlich bekannt geben, insbesondere darüber, dass ablehnende Entscheidungen über Visumanträge den Antragstellern mitzuteilen sind und dass diesen ein Rechtsbehelf zur Verfügung steht. 48 Darüber hinaus richtet sich, wie sich aus Anhang VI des Visakodex ergibt, das darin enthaltene Formblatt zur Unterrichtung über die Verweigerung, Annullierung oder Aufhebung eines Visums an den Antragsteller oder den Inhaber des Visums. Dieses Formblatt enthält auch eine Auflistung der Gründe, die nach Art. 32 Abs. 1 des Visakodex eine ablehnende Entscheidung rechtfertigen können. Daraus folgt, dass eine solche Entscheidung nur aus Gründen getroffen werden darf, die den Visumantragsteller betreffen. 49 Die zuständige Behörde hat nämlich nach Angabe auf dem von ihr auszufüllenden Formblatt, dass sie je nachdem „[den] Visumantrag geprüft“ oder „[das] Visum … geprüft“ hat, unter den elf Gründen, die sich aus dem Formular ergeben, den oder die Gründe aufzuführen, die die Verweigerung, Annullierung oder Aufhebung des Visums rechtfertigen, und zwar: Es wurde vom Antragsteller ein falsches Reisedokument vorgelegt. Der Zweck und die Bedingungen des beabsichtigten Aufenthalts wurden nicht nachgewiesen. Der Antragsteller hat den Nachweis nicht erbracht, dass er über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts für die Dauer des Aufenthalts verfügt. Der Antragsteller hat sich im gegenwärtigen Zeitraum von 180 Tagen bereits 90 Tage im Gebiet eines Mitgliedstaats auf der Grundlage eines einheitlichen Visums oder eines Visums mit räumlich beschränkter Gültigkeit aufgehalten. Der Antragsteller wurde im Schengener Informationssystem (SIS) zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben. Ein oder mehrere Mitgliedstaaten sind der Auffassung, dass der Antragsteller eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten darstellt. Der Antragsteller hat den Nachweis, dass er über eine angemessene und gültige Reisekrankenversicherung verfügt, nicht erbracht. Die vom Antragsteller vorgelegten Informationen über den Zweck und die Bedingungen des Aufenthalts waren nicht glaubhaft. Die Absicht des Antragstellers, vor Ablauf des Visums aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auszureisen, konnte nicht festgestellt werden. Es wurde nicht hinreichend belegt, dass es dem Antragsteller unmöglich war, im Voraus ein Visum zu beantragen, was die Beantragung eines Visums an der Grenze gerechtfertigt hätte. Die Aufhebung des Visums wurde vom Inhaber des Visums beantragt. 50 Aus dem Kontext, in den sich Art. 32 Abs. 3 des Visakodex einfügt, ergibt sich daher, dass ausschließlich der Visumantragsteller das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung eines Visumantrags hat. 51 Als Drittes ergibt sich im Hinblick auf die mit dem Visakodex verfolgten Ziele aus Art. 1 dieses Kodex im Licht seiner Erwägungsgründe 18 und 28, dass dieser das Ziel hat, die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festzulegen, um für die einheitliche Anwendung der gemeinsamen Visumpolitik zu sorgen. 52 Insoweit wird gemäß Art. 2 Nr. 2 Buchst. a und b des Visakodex ein Visum als die von einem Mitgliedstaat erteilte Genehmigung im Hinblick auf die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder einen geplanten Aufenthalt in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen oder im Hinblick auf die Durchreise durch die internationalen Transitzonen der Flughäfen von Mitgliedstaaten definiert. Aus einer solchen Genehmigung ergibt sich deshalb die Existenz spezieller Rechte des Visumantragstellers. 53 Soweit mit dem Rechtsbehelf nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex die Änderung der Entscheidung über die Ablehnung eines Visumantrags begehrt wird, hat der Visumantragsteller als Adressat dieser Entscheidung ein unmittelbares und besonderes Interesse, gegen diese einen Rechtsbehelf einzulegen. 54 Eine solche Feststellung steht nach der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht dem entgegen, dass die Mitgliedstaaten es bei der Entscheidung, welche Art von Rechtsbehelf in welcher konkreten Ausgestaltung den Visumantragstellern zur Verfügung stehen soll, der Bezugsperson gestatten, zusammen mit dem Visumantragsteller in das Rechtsbehelfsverfahren nach Art. 32 Abs. 3 des Visumkodex einzugreifen. 55 Jedoch kann die Bezugsperson angesichts der Ausführungen in Rn. 47 des vorliegenden Urteils nur als im Verhältnis zum Visumantragsteller nachrangige und akzessorische Partei, nicht aber unabhängig eingreifen. 56 Darüber hinaus steht Art. 32 Abs. 3 des Visakodex angesichts der vorstehenden Erwägungen auch nicht dem entgegen, dass der Adressat der Ablehnung eines Visumantrags einen Dritten zu seiner Vertretung vor dem Gericht beauftragt. 57 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen ist, dass er es der Bezugsperson nicht erlaubt, gegen die Ablehnung eines Visumantrags im eigenen Namen einen Rechtsbehelf einzulegen. Zur zweiten und zur dritten Frage 58 Mit ihrer zweiten und ihrer dritten Frage, die zusammen zu beantworten sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 8 Abs. 4 Buchst. d und Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen sind, dass es, wenn eine bilaterale Vertretungsvereinbarung besteht, wonach die Konsularbehörden des vertretenden Mitgliedstaats zur Ablehnung von Visumanträgen befugt sind, den zuständigen Behörden dieses Staates obliegt, über Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Visumantrags zu entscheiden. 59 Zur Beantwortung dieser Fragen ist darauf hinzuweisen, dass Titel III des Visakodex die Verfahren und Voraussetzungen für die Visumerteilung festlegt. 60 Soweit diese Regeln sich auf die Mitgliedstaaten beziehen, betreffen sie, wie u. a. aus Art. 2 des Schengen-Assoziierungsabkommens zwischen der Union und der Schweiz im Licht des 34. Erwägungsgrundes des Visakodex hervorgeht, auch die Schweizerische Eidgenossenschaft. 61 Zunächst jedoch ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 des Visakodex, dass die Visumanträge grundsätzlich von den Konsulaten geprüft werden. 62 Sodann bestimmt, was den für die Prüfung und Bescheidung eines Antrags auf ein einheitliches Visum zuständigen Mitgliedstaat betrifft, Art. 5 Abs. 1 des Visakodex den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet das einzige Reiseziel bzw. die einzigen Reiseziele liegen, oder, falls die Reise verschiedene Reiseziele umfasst, den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet im Hinblick auf Dauer und Zweck des Aufenthalts das Hauptreiseziel bzw. die Hauptreiseziele liegen, oder auch, falls kein Hauptreiseziel bestimmt werden kann, den Mitgliedstaat, über dessen Außengrenzen der Antragsteller in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen beabsichtigt. 63 Darüber hinaus folgt hinsichtlich der territorialen Zuständigkeit der Konsulate aus Art. 6 Abs. 1 des Visakodex, dass die Visumanträge grundsätzlich beim Konsulat des zuständigen Mitgliedstaats gestellt werden müssen, in dessen Konsularbezirk der Antragsteller seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat. 64 Jedoch ergibt sich aus Art. 8 Abs. 5 und 6 des Visakodex im Licht seines vierten Erwägungsgrundes, dass Mitgliedstaaten, die in einem gegebenen Drittstaat oder in einem bestimmten Landesteil eines gegebenen Drittstaats über kein eigenes Konsulat verfügen, den Abschluss von Vertretungsvereinbarungen anstreben sollen, damit der Zugang zu Konsulaten für Visumantragsteller nicht mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden ist. 65 Zu diesem Zweck sieht Art. 8 des Visakodex ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten untereinander bilaterale Vereinbarungen treffen können, durch die sich der eine Mitgliedstaat zur Vertretung des anderen im Rahmen von Entscheidungen im Bereich von Visumanträgen verpflichtet. 66 Schließlich sieht dieser Art. 8 im Hinblick auf den Vertretungsumfang unterschiedliche Situationen je nach der vorgesehenen Entscheidung über den Visumantrag sowie dem Wortlaut der Vertretungsvereinbarung vor. 67 Zum einen bestimmt Art. 8 Abs. 1 des Visakodex in dem Fall, dass dem Visumantrag stattgegeben werden soll, dass „[e]in Mitgliedstaat … sich bereit erklären [kann], einen anderen nach Artikel 5 zuständigen Mitgliedstaat bei der im Namen dieses Mitgliedstaats erfolgenden Prüfung von Anträgen und der Erteilung von Visa zu vertreten“, und zudem, dass „[e]in Mitgliedstaat … einen anderen Mitgliedstaat auch in beschränktem Umfang ausschließlich bei der Entgegennahme der Anträge und der Erfassung der biometrischen Identifikatoren vertreten [kann]“. 68 Demnach zieht Art. 8 Abs. 1 des Visakodex im Fall der Erteilung des Visums zwei Stufen der Vertretung in Betracht, nämlich eine erste Ebene, die die Prüfung und Erteilung des Visums umfasst, und eine zweite – engere – Ebene, die sich auf die Entgegennahme der Anträge beschränkt. 69 Zum anderen sieht Art. 8 des Visakodex in dem Fall, dass mit der beabsichtigten Entscheidung der Visumantrag abgelehnt werden soll, ebenfalls zwei unterschiedliche Stufen der Vertretung vor, wobei die eine als allgemeine Regel, die andere als besondere Regel gilt. 70 In Bezug auf die allgemeine Regel heißt es in Art. 8 Abs. 2 des Visakodex, dass das Konsulat des vertretenden Mitgliedstaats, wenn es beabsichtigt, einen Visumantrag abzulehnen, den betreffenden Antrag den zuständigen Behörden des vertretenen Mitgliedstaats übermittelt, damit diese eine endgültige Entscheidung über den Antrag treffen. 71 In Bezug auf die besondere Regel sieht Art. 8 Abs. 4 Buchst. d des Visakodex vor, dass das Konsulat des vertretenden Mitgliedstaats abweichend von der allgemeinen Regel durch ein bilaterales Vertretungsabkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten ermächtigt werden kann, nach Prüfung des Antrags die Visumerteilung zu verweigern. 72 Mit anderen Worten legt der vertretende Mitgliedstaat in dem Fall, dass er der Auffassung ist, dass ein Antrag auf Erteilung eines Visums abzulehnen ist, diesen Antrag, sofern in der bilateralen Vertretungsvereinbarung nichts anderes bestimmt wird, den Behörden des vertretenen Mitgliedstaats vor. Diese haben die endgültige Entscheidung zu treffen. Dagegen obliegt es den Behörden des vertretenden Mitgliedstaats, den Antrag auf Erteilung eines Visums abzulehnen und daher die endgültige Entscheidung zu treffen, wenn dies in der bilateralen Vertretungsvereinbarung vorgesehen ist. 73 Da Art. 32 Abs. 3 des Visakodex vorsieht, dass die Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Visumantrags gegen den Mitgliedstaat geführt werden, der endgültig über den Antrag entschieden hat, hängt daher die Festlegung des Mitgliedstaats, der für den Erlass der endgültigen Entscheidung zuständig ist und gegen den folglich der Rechtsbehelf zu führen ist, im Fall einer Vertretungsvereinbarung zwischen zwei Mitgliedstaaten vom Wortlaut dieser Vereinbarung ab. 74 Da im vorliegenden Fall das Hoheitsgebiet der Niederlande das einzige Reiseziel der Antragsteller des Ausgangsverfahrens war, hätten die Visumanträge, hätte keine Vertretungsvereinbarung nach den Art. 5 und 6 des Visakodex bestanden, beim Konsulat dieses Mitgliedstaats in Sri Lanka eingereicht werden müssen. Wie sich jedoch aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, haben die Niederlande, die in diesem Land kein eigenes Konsulat haben, am 1. Oktober 2014 eine Vertretungsvereinbarung mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft geschlossen. Aufgrund dieser Vereinbarung durften die Antragsteller des Ausgangsverfahrens ihre Anträge auf Erteilung von Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt in den Niederlanden beim Schweizer Konsulat in Colombo einreichen. 75 Diese Vereinbarung sieht jedoch vor, dass der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Fall einer Vertretung der Niederlande u. a. „die Verweigerung eines Visums in einschlägigen Fällen nach Art. 8 Abs. 4 Buchst. d des Visakodex“ und „die Bearbeitung der Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht der vertretenden Partei“ obliegt. 76 Da es auf der Grundlage dieser Vereinbarung der Schweizerischen Eidgenossenschaft oblag, endgültig über die von den Antragstellern im Ausgangsverfahren eingereichten Anträge auf Erteilung von Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt in den Niederlanden zu entscheiden, war nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex die Schweiz auch für die Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Visumantrags zuständig. 77 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 4 Buchst. d und Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen sind, dass es, wenn eine bilaterale Vertretungsvereinbarung besteht, wonach die Konsularbehörden des vertretenden Mitgliedstaats zur Ablehnung von Visumanträgen befugt sind, den zuständigen Behörden dieses Staates obliegt, über Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Visumantrags zu entscheiden. Zur vierten Frage 78 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vereinbar ist, Art. 8 Abs. 4 Buchst. d in Verbindung mit Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags gegen den vertretenden Mitgliedstaat zu führen ist. 79 Insoweit ist festzustellen, dass, wie sich aus dem 29. Erwägungsgrund des Visakodex ergibt, die Auslegung seiner Bestimmungen einschließlich des Rechts auf einen Rechtsbehelf nach Art. 32 Abs. 3 dieses Kodex im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen erfolgen muss, die mit der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und der Charta anerkannt worden sind. 80 Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der Rechte aus dem Unionsrecht, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist nämlich ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der EMRK und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 35). 81 Im besonderen Zusammenhang von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex hat jeder Mitgliedstaat die Wahrung der Grundrechte, u. a. den effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, zu gewährleisten, indem er die Art und die Ausgestaltung der Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung von Visumanträgen unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität bestimmt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2017, El Hassani, C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 25 und 42). 82 Unabhängig davon, ob der Staat, gegen den der Rechtsbehelf gegen eine Ablehnung eines Visumantrags geführt wird, nach den Vorschriften der Vertretungsvereinbarung der vertretende Staat oder der vertretene Staat ist, ist daher die Beachtung der Grundrechte, namentlich das Recht der Visumantragsteller auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, sicherzustellen. 83 Insbesondere hat der Umstand, dass die endgültige Entscheidung über die Ablehnung eines Visums wie in der Rechtssache des Ausgangsverfahrens von dem vertretenden Staat getroffen wird, keine Auswirkungen auf die Pflicht zur Wahrung dieses Rechts. 84 Insoweit stellt der Visakodex, wie in seinem 34. Erwägungsgrund ausgeführt, eine Weiterentwicklung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands im Sinne des Schengen-Assoziierungsabkommens zwischen der Union und der Schweiz dar, die unter Art. 1 Buchst. B des Beschlusses 1999/437 in Verbindung mit Art. 3 des Beschlusses 2008/146 fallen. 85 Nach diesem Kodex kann die Schweizerische Eidgenossenschaft gültige Visa für den gesamten Schengen-Raum ausstellen. 86 Auch wenn die Schweizerische Eidgenossenschaft kein Mitgliedstaat der Union ist, ist sie jedoch nicht nur als Mitglied des Europarats seit dem 6. Mai 1963 Vertragspartei der EMRK, sondern vor allem ein assoziierter Staat nach dem Schengen-Assoziierungsabkommen zwischen der Union und der Schweiz, das in seinem zehnten Erwägungsgrund vorsieht, dass „die Schengener Zusammenarbeit auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte, wie sie insbesondere in der [EMRK] gewährleistet sind, beruht“. 87 Darüber hinaus begründet das Schengen-Assoziierungsabkommen zwischen der Union und der Schweiz, wie sich aus seinem Art. 1 Abs. 2 ergibt, gegenseitige Rechte und Pflichten, so dass die Schweizerische Eidgenossenschaft, wie in Art. 2 dieses Abkommens vorgesehen, sämtliche Bestimmungen des Schengen-Besitzstands nach den in diesem Abkommen vorgesehenen Verfahren umsetzen muss. 88 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass es mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vereinbar ist, Art. 8 Abs. 4 Buchst. d in Verbindung mit Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags gegen den vertretenden Mitgliedstaat zu führen ist. Kosten 89 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 32 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es der Bezugsperson nicht erlaubt, gegen die Ablehnung eines Visumantrags im eigenen Namen einen Rechtsbehelf einzulegen. 2. Art. 8 Abs. 4 Buchst. d und Art. 32 Abs. 3 der Verordnung Nr. 810/2009 in der durch die Verordnung Nr. 610/2013 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass es, wenn eine bilaterale Vertretungsvereinbarung besteht, wonach die Konsularbehörden des vertretenden Mitgliedstaats zur Ablehnung von Visumanträgen befugt sind, den zuständigen Behörden dieses Staates obliegt, über Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Visumantrags zu entscheiden. 3. Es ist mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vereinbar, Art. 8 Abs. 4 Buchst. d in Verbindung mit Art. 32 Abs. 3 der Verordnung Nr. 810/2009 in der durch die Verordnung Nr. 610/2013 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags gegen den vertretenden Mitgliedstaat zu führen ist. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 11. Juli 2019.#Agrenergy Srl und Fusignano Due Srl gegen Ministero dello Sviluppo Economico.#Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Richtlinie 2009/28/EG – Art. 3 Abs. 3 Buchst. a – Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen – Erzeugung elektrischer Energie durch Fotovoltaikanlagen – Änderung einer Förderregelung – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.#Verbundene Rechtssachen C-180/18, C-286/18 und C-287/18.
62018CJ0180
ECLI:EU:C:2019:605
2019-07-11T00:00:00
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
62018CJ0180 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer) 11. Juli 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Richtlinie 2009/28/EG – Art. 3 Abs. 3 Buchst. a – Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen – Erzeugung elektrischer Energie durch Fotovoltaikanlagen – Änderung einer Förderregelung – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes“ In den verbundenen Rechtssachen C‑180/18, C‑286/18 und C‑287/18 betreffend drei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidungen vom 25. Januar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 9. März 2018, in den Verfahren Agrenergy Srl (C‑180/18 und C‑286/18), Fusignano Due Srl (C‑287/18) gegen Ministero dello Sviluppo Economico, Beteiligte: Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA, erlässt DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter M. Ilešič und I. Jarukaitis (Berichterstatter), Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. März 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Agrenergy Srl und der Fusignano Due Srl, vertreten durch V. Cerulli Irelli und M. A. Lorizio, avvocati, – der Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA, vertreten durch A. Segato und A. Pugliese, avvocati, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Aiello, avvocato dello Stato, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte, – der griechischen Regierung vertreten durch M. Tassopoulou, A. Magrippi und E. Tsaousi als Bevollmächtigte, – der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara, T. Maxian Rusche und K. Talabér-Ritz als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG (ABl. 2009, L 140, S. 16). 2 Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Agrenergy Srl (Rechtssachen C‑180/18 und C‑286/18) und der Fusignano Due Srl (Rechtssache C‑287/18) einerseits und dem Ministero dello Sviluppo Economico (Ministerium für Wirtschaftsentwicklung, Italien) andererseits über die Rechtmäßigkeit eines Ministerialdekrets und den Anspruch dieser Unternehmen auf die in einem früheren Ministerialdekret festgelegten Fördertarife. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Im 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/28 heißt es: „Die Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Potenziale im Bereich der erneuerbaren Energie und wenden auf nationaler Ebene unterschiedliche Regelungen zur Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen an. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten wendet Förderregelungen an, bei denen Vorteile ausschließlich für in ihrem Hoheitsgebiet erzeugte Energie aus erneuerbaren Quellen gewährt werden. Damit nationale Förderregelungen ungestört funktionieren können, müssen die Mitgliedstaaten deren Wirkung und Kosten entsprechend ihrem jeweiligen Potenzial kontrollieren können. Ein wichtiger Faktor bei der Verwirklichung des Ziels dieser Richtlinie besteht darin, das ungestörte Funktionieren der nationalen Förderregelungen, wie nach der Richtlinie 2001/77/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2001 zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt (ABl. 2001, L 283, S. 33)], zu gewährleisten, damit das Vertrauen der Investoren erhalten bleibt und die Mitgliedstaaten wirksame nationale Maßnahmen im Hinblick auf die Erfüllung der Ziele konzipieren können. …“ 4 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2009/28 bestimmt: „Mit dieser Richtlinie wird ein gemeinsamer Rahmen für die Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen vorgeschrieben. In ihr werden verbindliche nationale Ziele für den Gesamtanteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch und für den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen im Verkehrssektor festgelegt. …“ 5 Art. 3 („Verbindliche nationale Gesamtziele und Maßnahmen auf dem Gebiet der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen“) der Richtlinie sieht vor: „(1)   Jeder Mitgliedstaat sorgt dafür, dass sein gemäß den Artikeln 5 bis 11 berechneter Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch im Jahr 2020 mindestens seinem nationalen Gesamtziel für den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen in diesem Jahr gemäß der dritten Spalte der Tabelle in Anhang I Teil A entspricht. Diese verbindlichen nationalen Gesamtziele müssen mit dem Ziel in Einklang stehen, bis 2020 mindestens 20 % des Bruttoendenergieverbrauchs der [Union] durch Energie aus erneuerbaren Quellen zu decken. Um die in diesem Artikel aufgestellten Ziele leichter erreichen zu können, fördern die Mitgliedstaaten Energieeffizienz und Energieeinsparungen. (2)   Die Mitgliedstaaten treffen Maßnahmen, um effektiv zu gewährleisten, dass ihr Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen den im indikativen Zielpfad in Anhang I Teil B angegebenen Anteil erreicht oder übersteigt. (3)   Zur Erfüllung der in den Absätzen 1 und 2 genannten Ziele können die Mitgliedstaaten unter anderem folgende Maßnahmen anwenden: a) Förderregelungen; …“ Italienisches Recht 6 Wie sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, werden gemäß Art. 23 des Decreto legislativo n. 28 – Attuazione della direttiva 2009/28/CE sulla promozione dell’uso dell’energia da fonti rinnovabili, recante modifica e successiva abrogazione delle direttive 2001/77/CE e 2003/30/CE (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 28 zur Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG) vom 3. März 2011 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 71 vom 28. März 2011, im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 28/2011) die Grundsätze angewandt, dass alle Maßnahmen schrittweise zu ergreifen sind, um die getätigten Investitionen zu schützen, dass sie in einem angemessenen Verhältnis zu den Zielen stehen müssen und dass die Struktur der Förderregelungen flexibel zu halten ist, um den Mechanismen des Marktes sowie der Entwicklung der Technologien für erneuerbare Energien und Energieeffizienz Rechnung zu tragen. 7 Art. 25 dieses Gesetzesvertretenden Dekrets bestimmt: „(1)   Die Erzeugung elektrischer Energie durch Anlagen, die erneuerbare Quellen nutzen und bis spätestens zum 31. Dezember 2012 in Betrieb genommen werden, wird mit den bei Inkrafttreten dieses Dekrets bestehenden Mechanismen gefördert … … (10)   [Die] Förderung der Erzeugung elektrischer Energie durch Fotovoltaikanlagen, die nach [dem 31. Mai 2011] in Betrieb genommen werden, [wird] durch Dekret des [Ministers für Wirtschaftsentwicklung] geregelt, das in Abstimmung mit dem Ministro dell’ambiente e della tutela del mare [(Minister für Umwelt und Landschafts- und Meeresschutz, Italien)] nach Anhörung der in Art. 8 des Decreto legislativo n. 281 [(Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 281)] vom 28. August 1997 genannten Conferenza unificata [(Vereinigte Konferenz, Italien)] auf der Grundlage der folgenden Prinzipien zum 30. April 2011 zu erlassen ist: a) Festlegung einer jährlichen Obergrenze für die elektrische Gesamtleistung der Fotovoltaikanlagen, die Förderleistungen erhalten können; b) Festlegung der Fördertarife unter Berücksichtigung der Senkung der Kosten für Technologie und Anlagen sowie der in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union angewandten Fördermaßnahmen; c) Bestimmung der Fördertarife und abgestuften Anteile unter Berücksichtigung der Art des Anlagenstandorts; d) Anwendung der Bestimmungen von Art. 7 des Decreto legislativo n. 387 [(Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 387)] vom 29. Dezember 2003, soweit diese mit dem vorliegenden Absatz vereinbar sind.“ 8 Art. 1 Abs. 2 des Decreto ministeriale – Incentivazione della produzione di energia elettrica da impianti solari fotovoltaici (Ministerialdekret zur Förderung der Erzeugung elektrischer Energie durch Fotovoltaikanlagen) vom 5. Mai 2011 (GURI Nr. 109 vom 12. Mai 2011, im Folgenden: Viertes Energiekonto) galt für Fotovoltaikanlagen, die nach dem 31. Mai 2011 und bis zum 31. Dezember 2016 in Betrieb genommen wurden, für ein indikatives Leistungsziel von etwa 23000 Megawatt (MW) auf nationaler Ebene, das kumulativen jährlichen indikativen Kosten von 6 bis 7 Mrd. Euro für Fördermaßnahmen entsprach. 9 Art. 2 des Vierten Energiekontos sah vor: „Allgemeine Kriterien der Förderregelung (1)   Die Förderregelung wird gemäß den zeitlich angepassten indikativen Leistungszielen der Anlagen angewandt, wobei diese Ziele mit den jährlichen Ausgabeprognosen vereinbar seien müssen. (2)   Unbeschadet der Übergangsbestimmungen für den Zugang zu der für die Jahre 2011 und 2012 vorgesehenen Förderung beschränkt die Überschreitung der jährlichen indikativen Kosten, die für jedes Jahr oder jeden Jahresteil festgesetzt sind, den Zugang zu den Fördertarifen nicht. Sie führt aber zu einer zusätzlichen Absenkung dieser Tarife für den folgenden Zeitraum unter Berücksichtigung der in Art. 1 Abs. 2 genannten kumulierten jährlichen indikativen Kosten. (3)   Die im vorliegenden Dekret genannten Fördermaßnahmen können per Dekret des Ministers für Wirtschaftsentwicklung in Abstimmung mit dem Minister für Umwelt und Landschafts- und Meeresschutz nach Anhörung der [Vereinigten Konferenz] in jedem Fall zugunsten der weiteren Entwicklung des Bereichs geändert werden, wenn der niedrigste der in Art. 1 Abs. 2 genannten Werte der kumulierten indikativen Kosten erreicht wurde.“ 10 Art. 6 dieses Energiekontos bestimmte: „Allgemeine Voraussetzungen für den Zugang zu Fördertarifen (1)   Den Anlagen werden nach den im vorliegenden Dekret festgelegten Modalitäten und unter Beachtung der darin bestimmten Voraussetzungen Fördertarife gewährt. (2)   Den bis spätestens zum 31. August 2011 in Betrieb genommenen Großanlagen werden unbeschadet der Verpflichtung, der Gestore dei servizi energetici (GSE) SpA den Zeitpunkt der Betriebsaufnahme binnen 15 Kalendertagen nach der Inbetriebnahme anzuzeigen, unmittelbar Fördertarife gewährt. (3)   Den Großanlagen, die nicht unter die in Abs. 2 aufgeführten fallen, werden für 2011 und 2012 Fördertarife gewährt, soweit die beiden folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: a) die Anlage wurde in dem Register nach Art. 8 an geeigneter Rangstelle eingetragen, um unter die besonderen Kostengrenzen zu fallen, die für jeden der in Art. 4 Abs. 2 genannten Referenzzeiträume festgesetzt wurden. Hierbei schließt die Kostendeckelung für das Jahr 2011 die Kosten ein, die mit Fördermaßnahmen für bis spätestens zum 31. August 2011 in Betrieb genommene Großanlagen in Verbindung stehen. Wenn die Gesamtkosten, die mit Fördermaßnahmen zugunsten von bis spätestens zum 31. August 2011 in Betrieb genommenen Großanlagen und zugunsten der in dem Register nach Art. 8 eingetragenen Anlagen in Verbindung stehen, eine Überschreitung der für den gleichen Zeitraum vorgesehenen Kostengrenze mit sich bringen, führt die Überschreitung zu einer gleichwertigen Kürzung der Kostenzgrenze für das zweite Halbjahr 2012. …“ 11 In der Präambel des Decreto ministeriale – Attuazione dell’art. 25 del decreto legislativo del 3 marzo 2011, n. 28, recante incentivazione della produzione di energia elettrica da impianti solari fotovoltaici (Ministerialdekret zur Umsetzung von Art. 25 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28 vom 3. März 2011 zur Förderung der Erzeugung elektrischer Energie aus Fotovoltaikanlagen) vom 5. Juli 2012 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 159 vom 10. Juli 2012, im Folgenden: Fünftes Energiekonto) heißt es: „Im Hinblick auf die durch Fotovoltaik erzeugte Solarenergie hat die schnelle Senkung der Kosten der Anlagen zu einer beschleunigten Erhöhung des Volumens der Anlagen geführt, die u. a. neben der Vereinnahmung auch landwirtschaftlich genutzter Flächen zur Steigerung der mit der Förderung verbundenen Kosten geführt hat. In Anbetracht der hohen, mit der Förderung zusammenhängenden Kosten und der Senkung der Kosten der Anlagen haben mehrere andere europäische Länder Maßnahmen zur Kürzung der Fotovoltaikförderung erlassen. Es ist auch zur Wahrung des Wettbewerbs und zum Schutz der Endverbraucher erforderlich, sich an den europäischen Standard im Bereich der Förderung anzugleichen. Mit Blick auf die weitere Entwicklung der Branche besteht unter Berücksichtigung der Förderungshöhe in anderen europäischen Ländern und der üblichen Rentabilität der Investitionen ein erheblicher Spielraum für die Kürzung der Förderung. Die zukünftige Entwicklung der durch Fotovoltaik gewonnenen Solarenergie muss auf Anwendungen gelenkt werden, die eine Verringerung des Flächenverbrauchs, die Förderung innovativer Technologien und der Energieeffizienz sowie die Schaffung positiver Nebeneffekte für Umweltschutz und Wirtschaft ermöglichen …“ 12 Art. 1 des Fünften Energiekontos sieht vor: „(1)   Das vorliegende Dekret legt gemäß Art. 25 Abs. 10 des Gesetzesvertretenden Dekrets [Nr. 28/2011] und unter Berücksichtigung der Bestimmungen von Art. 2 Abs. 3 des Ministerialdekrets vom 5. Mai 2011 die Modalitäten für die Förderung der Erzeugung elektrischer Energie aus Fotovoltaik fest, die anzuwenden sind, wenn die kumulierten jährlichen indikativen Kosten von 6 Mrd. Euro für Fördermaßnahmen erreicht sind. … (5)   Das vorliegende Dekret verliert in jedem Fall mit dem Ablauf einer Frist von 30 Kalendertagen ab dem Zeitpunkt seine Gültigkeit, zu dem kumulierte jährliche indikative Kosten von 6,7 Mrd. Euro erreicht sind. Der Zeitpunkt, zu dem dieser Jahreswert von 6,7 Mrd. Euro erreicht ist, wird von der Strom- und Gasbehörde auf der Grundlage der von GSE übermittelten Informationen gemäß den in Abs. 2 vorgesehenen Modalitäten mitgeteilt.“ Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen 13 Agrenergy und Fusignano Due sind Unternehmen, die im Bereich des Baus, des Betriebs und der Wartung von Anlagen zur Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen tätig sind. Die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anlagen wurden im Verlauf des Jahres 2011 installiert und am 29. Februar 2012 in Betrieb genommen. Die Rechtssachen C‑180/18 und C‑286/18 betreffen Fotovoltaik-Freiflächenanlagen, die von Agrenergy auf landwirtschaftlichen Flächen in der Gemeinde Fusignano (Italien) und der Gemeinde Massa Lombarda (Italien) errichtet wurden. Die Rechtssache C‑287/18 betrifft eine von Fusignano Due auf dem Gebiet der Gemeinde Fusignano errichtete Anlage. 14 Nach der mit dem Gesetzesvertretenden Dekret Nr. 28/2011 geschaffenen Regelung wird dem Eigentümer einer an das nationale Stromnetz angeschlossenen Fotovoltaikanlage mit einer Nennleistung von mindestens 1 Kilowatt (kW) von GSE für die erzeugte Energie ein Vorzugstarif gewährt. Die Möglichkeit, diese Tarife zu erhalten, hängt von der Rangfolge der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer im elektronischen Register ab, in das sie eingetragen sind, und kann in Abhängigkeit von der Überschreitung der Kostengrenzen der in einem vorangegangenen Zeitraum gewährten Förderung sinken. 15 Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren klagten beim Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien) gegen das Fünfte Energiekonto, mit dem die Förderung der Erzeugung elektrischer Energie durch Fotovoltaikanlagen erheblich gekürzt wurde. Sie beanspruchten die Gewährung des günstigeren, vom Vierten Energiekonto vorgesehenen Fördertarifs mit dem Vorbringen, dass die betreffenden Anlagen die Voraussetzungen erfüllten, um in den Genuss der vom Vierten Energiekonto vorgesehenen Förderregelung zu kommen. 16 Das Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium) wies die bei ihm anhängigen Klagen mit der Begründung ab, dass die Nichtöffnung des Registers für das zweite Halbjahr 2012 aufgrund der Bestimmungen von Art. 6 des Vierten Energiekontos rechtmäßig gewesen sei, da sämtliche, mit der Förderregelung zugunsten von vor dem 31. August 2011 in Betrieb genommenen Großanlagen zusammenhängenden Kosten und die Anzahl der in diesem Register eingetragenen Begünstigten zu einer Überschreitung der für diesen Zeitraum vorgesehenen Kostengrenze geführt hätten. Wie von GSE mitgeteilt, hätten nämlich die Kosten der Fördermaßnahmen zugunsten solcher Anlagen und zugunsten der in das vorherige Register eingetragenen Anlagen dazu geführt, dass die Mittel für das zweite Halbjahr 2012 erschöpft gewesen seien, was es gerechtfertigt habe, das Register nicht zu öffnen. 17 Außerdem stelle die Förderregelung für Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energie keine Verpflichtung dar, sondern lediglich eines der Mittel, die den Mitgliedstaaten die Erreichung der von der Richtlinie 2009/28 gesetzten Ziele bei der Erzeugung erneuerbarer Energie ermöglichten. Mit dem Fünften Energiekonto sei im Rahmen einer schlüssigen und vernünftigen Anwendung der in dieser Richtlinie angeführten Grundsätze der Abstufung, der Flexibilität, der Wirksamkeit und der Effizienz eine Änderung des Förderungssystems vorgenommen worden. 18 Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren legten beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) Berufung gegen die Entscheidungen des Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium) ein. Zur Stützung ihrer Rechtsmittel machten sie im Wesentlichen geltend, dass sie die günstigeren, vom Vierten Energiekonto vorgesehenen Tarife nicht hätten in Anspruch nehmen können, da GSE das Register für das zweite Halbjahr 2012 nicht geöffnet habe. Weiterhin berufen sie sich darauf, dass das Fünfte Energiekonto gegen die italienischen Rechtsvorschriften, die Richtlinie 2009/28 und den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoße. 19 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Übergangsregelung in Art. 1 des Fünften Energiekontos für Anlagen gelte, die im Rahmen der Regelung des Vierten Energiekontos „in den Registern erfasst sind und einen entsprechenden Rang einnehmen“, nicht aber für solche, die nur die Voraussetzungen für die bloße Aufnahme in diese Register erfüllt hätten, wenn sie geöffnet worden wären. Daher bestehe für die Anlagen der Klägerinnen der Ausgangsverfahren kein Anspruch auf die Förderung nach diesem Energiekonto, da sie im betreffenden Register keine entsprechende Rangstelle eingenommen hätten. 20 Ferner habe der Umstand, dass die im Voraus durch die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften festgelegte Kostengrenze erreicht worden sei, es gerechtfertigt, das Register für das zweite Halbjahr 2012 nicht zu öffnen, da die Finanzmittel bereits erschöpft gewesen seien. GSE habe diese Umstände in hinreichender Weise bekannt gemacht, so dass sich die Klägerinnen der Ausgangsverfahren nicht auf ein berechtigtes Vertrauen in die Möglichkeit berufen könnten, den vom Vierten Energiekonto vorgesehenen Fördertarif zu erhalten. 21 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die italienischen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 2009/28 vereinbar seien, da diese den Mitgliedstaaten nicht die Verpflichtung auferlege, eine unabänderliche Förderregelung für die Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen vorzusehen. Diese Richtlinie solle nämlich die Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen fördern und definiere Ziele für den Anteil der aus solchen Quellen erzeugten Energie an der nationalen Gesamtproduktion. Die Ausarbeitung von Regelungen zur Förderung dieser Erzeugung sei eine der Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten ergriffen werden könnten, und folglich seien diese Regelungen freiwillig und nicht verpflichtend. Der 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/28 unterstreiche zudem die strukturelle Flexibilität der Förderregelungen, die sich an die Umstände und die Haushaltszwänge der Mitgliedstaaten anpassen müssten. Dieser Ansatz werde von den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften beachtet, die nach Maßgabe der momentanen Bedürfnisse anwendbare Förderregelungen vorsähen. 22 Außerdem ergebe sich aus der Präambel des Fünften Energiekontos, dass die Verringerung der Fördermaßnahmen den Umständen geschuldet sei, dass die Italienische Republik ihre Ziele bei der Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen vorzeitig erreicht habe, dass die Kosten der Anlagen niedriger seien als zuvor, dass die von der öffentlichen Hand getragenen Kosten zunehmend höher ausfielen, dass andere Mitgliedstaaten ebenfalls ihre Fördermittel senkten, dass der Flächenverbrauch gesenkt werden und dass vorrangig in Energieeffizienz, Wärme und Transport investiert werden solle, da diese Maßnahmen im Durchschnitt wirtschaftlich effizienter seien. 23 Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof in den verbundenen Rechtssachen jeweils folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28 – auch im Licht des allgemeinen Grundsatzes des Vertrauensschutzes und des durch die Richtlinie geschaffenen allgemeinen Regelungsrahmens zur Förderung der Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen – dahin auszulegen, dass er die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften, die es der italienischen Regierung gestatten, mit aufeinanderfolgenden Durchführungsdekreten die zuvor festgelegten Fördertarife zu kürzen oder sogar zu streichen, mit dem Unionsrecht ausschließt? Zur Vorlagefrage 24 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28 im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die einem Mitgliedstaat die Kürzung oder sogar Streichung von zuvor festgelegten Fördertarifen für die Energieerzeugung durch Fotovoltaikanlagen gestatten. 25 Mit der Richtlinie 2009/28 wird nach Art. 1 ein gemeinsamer Rahmen für die Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen vorgeschrieben, indem in ihr u. a. verbindliche nationale Ziele für den Gesamtanteil von Energie aus solchen Quellen am Bruttoendenergieverbrauch festgelegt werden. 26 Nach Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28 können die Mitgliedstaaten Förderregelungen anwenden, um die in Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Ziele zu erreichen, nach denen zum einen jeder Mitgliedstaat dafür sorgt, dass sein Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch im Jahr 2020 mindestens seinem nationalen Gesamtziel gemäß Anhang I Teil A der Richtlinie entspricht, und zum anderen die Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen, um effektiv zu gewährleisten, dass ihr Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen den im indikativen Zielpfad in Anhang I Teil B der Richtlinie angegebenen Anteil erreicht oder übersteigt. 27 Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Mitgliedstaaten, wie sich bereits dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28, insbesondere dem Wort „können“, entnehmen lässt, keineswegs verpflichtet sind, im Hinblick auf die Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen Förderregelungen zu erlassen. Sie verfügen daher hinsichtlich der Maßnahmen, die sie für geeignet halten, die sich aus Art. 3 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Anhang I dieser Richtlinie ergebenden verbindlichen nationalen Gesamtziele zu erfüllen, über einen Wertungsspielraum (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2017, Elecdey Carcelen u. a., C‑215/16, C‑216/16, C‑220/16 und C‑221/16, EU:C:2017:705, Rn. 31 und 32). Ein solcher Wertungsspielraum bedeutet, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, Förderregelungen zu erlassen, zu ändern oder zu streichen, sofern – u. a. – diese Ziele erreicht werden. 28 Ferner ist hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung, wenn sie in dieser Weise Maßnahmen zur Umsetzung des Unionsrechts erlassen, die allgemeinen Rechtsgrundsätze einzuhalten haben, zu denen insbesondere der Grundsatz der Rechtssicherheit zählt (Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037‚ Rn. 125 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gebietet der Grundsatz der Rechtssicherheit, von dem sich der Grundsatz des Vertrauensschutzes ableitet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386‚ Rn. 77). 30 Insbesondere verlangt dieser Grundsatz, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (vgl. u. a. Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037, Rn. 128 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Die Möglichkeit, sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu berufen, steht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs jedem Wirtschaftsteilnehmer offen, dem gegenüber eine nationale Behörde begründete Erwartungen geweckt hat. Ist jedoch ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer in der Lage, den Erlass einer Maßnahme, die seine Interessen berühren kann, vorherzusehen, so kann er sich im Fall ihres Erlasses nicht auf diesen Grundsatz berufen. Zudem sind die Wirtschaftsteilnehmer nicht berechtigt, auf die Beibehaltung einer bestehenden Situation zu vertrauen, die die nationalen Behörden im Rahmen ihres Ermessens ändern können (Urteil vom 10. September 2009, Plantanol, C‑201/08, EU:C:2009:539, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Da es um eine in nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Regelung geht, muss das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung der üblicherweise von dem Mitgliedstaat, der sie erlassen hat, benutzten Informationsmethoden und der Umstände des Einzelfalls umfassend und konkret beurteilen, ob das berechtigte Vertrauen der von diesen Rechtsvorschriften betroffenen Wirtschaftsbeteiligten gebührend beachtet worden ist (vgl. Urteil vom 10. September 2009, Plantanol, C‑201/08, EU:C:2009:539, Rn. 57). 33 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende mit diesen Grundsätzen vereinbar ist, da der Gerichtshof, wenn er im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV entscheidet, darauf beschränkt ist, dem vorlegenden Gericht alle unionsrechtlichen Auslegungshinweise zu geben, die es diesem ermöglichen können, die Frage der Vereinbarkeit zu beurteilen (Urteil vom 1. Juli 2014, Ålands Vindkraft, C‑573/12, EU:C:2014:2037‚ Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34 Das vorlegende Gericht kann zu diesem Zweck alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigen, die aus Wortlaut, Zweck oder Aufbau der betreffenden Rechtsvorschriften hervorgehen (Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386‚ Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). 35 Um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben, ist insbesondere auf folgende Gesichtspunkte hinzuweisen, die sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergeben. 36 Erstens sah bereits das Gesetzesvertretende Dekret Nr. 28/2011, mit dem die Richtlinie 2009/28 in italienisches Recht umgesetzt wurde, in Art. 25 Abs. 10 vor, dass die Förderung der Erzeugung elektrischer Energie durch Fotovoltaikanlagen per Ministerialdekret zu regeln ist und dass ein solches Dekret auf der Grundlage der Prinzipien der Festlegung einer jährlichen Obergrenze für die elektrische Gesamtleistung förderfähiger Fotovoltaikanlagen sowie der Festlegung von Fördertarifen zu erlassen ist, die die Senkung der Kosten für Technologie und Anlagen sowie die in anderen Mitgliedstaaten angewandten Fördermaßnahmen und die Art des Anlagenstandorts berücksichtigen. 37 Zweitens sah das in Anwendung dieser Bestimmung erlassene Vierte Energiekonto zum einen in Art. 6 Abs. 2 vor, dass den Großanlagen, die bis spätestens zum 31. August 2011 in Betrieb genommen wurden, unmittelbar Fördertarife gewährt werden. Die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anlagen entsprachen dieser Bedingung allerdings eindeutig nicht, da sie nach diesem Datum in Betrieb genommen wurden. 38 Zum anderen war in Art. 6 Abs. 3 Buchst. a des Vierten Energiekontos für Anlagen, die nicht zu den bis spätestens zu diesem Zeitpunkt in Betrieb genommenen zählten, eine Voraussetzung festgelegt, um zu den Fördermaßnahmen zugelassen zu werden, nämlich eine Eintragung in eines der von GSE geöffneten Register an geeigneter Rangstelle. Diese Register wurden grundsätzlich jedes Halbjahr geöffnet, und die Anlagen wurden dort in der Rangfolge eingetragen, nach der sie Zugang zu Fördermaßnahmen hatten. GSE führt aus, dass sie auf ihrer Internetsite einen „Fotovoltaikzähler“ veröffentlicht habe, der die Anzahl der geförderten Anlagen und die jährlichen für ihre Förderung angefallenen Kosten angebe. Außerdem habe sie dort Hinweise veröffentlicht, in denen mitgeteilt worden sei, dass die Register wegen Erreichung der Kostengrenzen nicht geöffnet würden. 39 Das Vierte Energiekonto beschränkte die kumulierten jährlichen indikativen Kosten auf 6 Mrd. Euro. Dieser Betrag entspricht einem indikativen Leistungsziel von etwa 23000 MW auf nationaler Ebene und steht, einmal erreicht, der Öffnung neuer Register entgegen. In diesem Energiekonto war auch vorgesehen, dass die Förderregelung bei Erreichen dieses Betrags geändert werden konnte. Im vorliegenden Fall wurde der Betrag von 6 Mrd. Euro im März 2012 erreicht, und folglich wurde das Register der „Großanlagen“ für das zweite Halbjahr 2012 nicht geöffnet. In Anwendung von Art. 25 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 wurde das Fünfte Energiekonto erlassen. 40 Die italienische Regierung macht geltend, diese Umstände hätten den Klägerinnen der Ausgangsverfahren bekannt sein müssen. In ihren schriftlichen Erklärungen räumen jene die Kenntnis einer Mitteilung von GSE darüber ein, dass der vom Vierten Energiekonto vorgesehene Förderbetrag erschöpft worden sei und kein neues Register geöffnet werde. 41 Daraus ergibt sich unter dem Vorbehalt einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, dass die Möglichkeit, in den Genuss der vom Vierten Energiekonto vorgesehenen Fördertarife zu kommen, zum einen von der Eintragung einer Fotovoltaikanlage an geeigneter Rangstelle in einem von GSE geöffneten Register und zum anderen von der Nichtüberschreitung der genannten Grenze für die indikativen Förderkosten während des vorangegangenen Zeitraums abhing. Eine solche Förderung wurde somit nicht allen Betreibern von Fotovoltaikanlagen angeboten und wurde auch nicht für die Dauer eines bestimmten Zeitraums garantiert. Sie hing vielmehr von den oben angeführten Voraussetzungen und Umständen ab. 42 All diese Voraussetzungen scheinen sich eindeutig aus den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften zu ergeben, deren Anwendung für die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer daher grundsätzlich vorhersehbar hätte sein müssen, was zu prüfen ebenfalls Sache des vorlegenden Gerichts ist. 43 Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte geht nämlich hervor, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften ordnungsgemäß bekannt gemacht wurden, dass sie hinreichend klar waren und dass die Klägerinnen der Ausgangsverfahren von ihrem Inhalt Kenntnis hatten. 44 Diese Bestimmungen waren ferner geeignet, umsichtige und besonnene Wirtschaftsteilnehmer von Anfang an darauf hinzuweisen, dass die für Fotovoltaikanlagen geltende Förderregelung von den nationalen Behörden möglicherweise angepasst oder sogar aufgehoben werden würde, um der Entwicklung bestimmter Umstände Rechnung zu tragen, und dass daher die Bestimmungen dieser Regelung keine Sicherheit bezüglich der Beibehaltung einer solchen Regelung für einen bestimmten Zeitraum vermitteln konnten. 45 Mit dem Erlass des Fünften Energiekontos scheint der italienische Gesetzgeber angesichts der Weiterentwicklung bestimmter Umstände eben diese Anpassung der Förderregelung mit den von diesem Energiekonto vorgesehenen Bedingungen vorgenommen zu haben. 46 In Anbetracht der vorstehenden Gesichtspunkte und vorbehaltlich der Beurteilungen, für die allein das vorlegende Gericht zuständig ist, ist kein Verstoß der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes oder ihre Unvereinbarkeit mit der Richtlinie 2009/28 ersichtlich. 47 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28 im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes unter dem Vorbehalt der Prüfungen, die das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte vorzunehmen hat, dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, die einem Mitgliedstaat die Kürzung oder sogar Streichung von zuvor festgelegten Fördertarifen für die Energieerzeugung durch Fotovoltaikanlagen gestatten. Kosten 48 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt: Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG ist im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes unter dem Vorbehalt der Prüfungen, die das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte vorzunehmen hat, dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegensteht, die einem Mitgliedstaat die Kürzung oder sogar Streichung von zuvor festgelegten Fördertarifen für die Energieerzeugung durch Fotovoltaikanlagen gestatten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 24. Juni 2019.#Europäische Kommission gegen Republik Polen.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Grundsätze der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit – Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts – Anwendung auf amtierende Richter – Möglichkeit zur Ausübung des Richteramts über dieses Alter hinaus unter der Voraussetzung einer Zustimmung, deren Erteilung in das freie Ermessen des Präsidenten der Republik gestellt ist.#Rechtssache C-619/18.
62018CJ0619
ECLI:EU:C:2019:531
2019-06-24T00:00:00
Gerichtshof, Tanchev
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62018CJ0619 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 24. Juni 2019 (*1) „Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Grundsätze der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit – Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts – Anwendung auf amtierende Richter – Möglichkeit zur Ausübung des Richteramts über dieses Alter hinaus unter der Voraussetzung einer Zustimmung, deren Erteilung in das freie Ermessen des Präsidenten der Republik gestellt ist“ In der Rechtssache C‑619/18 betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 2. Oktober 2018, Europäische Kommission, vertreten durch K. Banks, H. Krämer und S. L. Kalėda als Bevollmächtigte, Klägerin, gegen Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, K. Majcher und S. Żyrek als Bevollmächtigte, Beklagte, unterstützt durch Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten, Streithelfer, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Vilaras und E. Regan, der Richter E. Juhász, M. Ilešič, J. Malenovský, L. Bay Larsen, D. Šváby, C. Vajda, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters I. Jarukaitis, Generalanwalt: E. Tanchev, Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Februar 2019, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. April 2019 folgendes Urteil 1 Mit ihrer Klageschrift beantragt die Europäische Kommission festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen hat, dass sie zum einen das Ruhestandsalter für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) herabgesetzt und diese Maßnahme auf amtierende Richter angewandt hat, die vor dem 3. April 2018 an dieses Gericht berufen worden waren, und zum anderen dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen hat, den aktiven Dienst der Richter dieses Gerichts über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht EU-Vertrag 2 Art. 2 EUV lautet: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ 3 Art. 19 Abs. 1 EUV bestimmt: „Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“ Charta 4 Titel VI („Justizielle Rechte“) Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta lautet: „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. … …“ 5 Art. 51 der Charta bestimmt: „(1)   Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden. (2)   Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“ Polnisches Recht Verfassung 6 Nach Art. 183 Abs. 3 der Verfassung wird der Erste Präsident des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) für die Dauer von sechs Jahren ernannt. 7 Art. 186 Abs. 1 der Verfassung lautet: „Die Krajowa Rada Sądownictwa [Landesjustizrat] schützt die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter.“ 8 Art. 187 der Verfassung bestimmt: „1.   Der Landesjustizrat besteht aus: 1) dem ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht], dem Justizminister, dem Präsidenten des Naczelny Sąd Administracyjny [Oberstes Verwaltungsgericht] und einer vom Präsidenten der Republik berufenen Person, 2) fünfzehn Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und Militärgerichte gewählt worden sind, 3) vier Mitgliedern, die vom Sejm [Erste Kammer des Parlaments] aus der Mitte der Abgeordneten und zwei Mitgliedern, die vom Senat aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind. … 3.   Die Amtszeit der gewählten Mitglieder des Landesjustizrats beträgt vier Jahre. 4.   Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise des Landesjustizrates sowie die Wahl seiner Mitglieder werden durch Gesetz geregelt.“ Das neue Gesetz über das Oberste Gericht 9 In Art. 30 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 23. November 2002 (Dz. U. 2002, Pos. 240) war das Ruhestandsalter für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf 70 Jahre festgesetzt. Nach dieser Bestimmung hatten die Richter dieses Gerichts außerdem die Möglichkeit, spätestens sechs Monate vor Vollendung ihres 70. Lebensjahrs gegenüber dem Ersten Präsidenten dieses Gerichts eine Erklärung abzugeben, im Amt verbleiben zu wollen, und eine Bescheinigung vorzulegen, dass ihr Gesundheitszustand dies erlaube; in diesem Fall konnten sie ihr Amt automatisch bis zur Vollendung des 72. Lebensjahrs ausüben. 10 Am 20. Dezember 2017 unterzeichnete der Präsident der Republik die Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5; im Folgenden: neues Gesetz über das Oberste Gericht), das am 3. April 2018 in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz ist mehrfach geändert worden, u. a. durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die ordentlichen Gerichte, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 10. Mai 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 1045; im Folgenden: Änderungsgesetz vom 10. Mai 2018). 11 Art. 37 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor: § 1.   Ein Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] tritt mit Vollendung des 65. Lebensjahrs in den Ruhestand, es sei denn, er gibt frühestens zwölf und spätestens sechs Monate vor Erreichen dieses Alters eine Erklärung ab, im Amt verbleiben zu wollen, er legt eine Bescheinigung über seine gesundheitliche Befähigung zur Ausübung des Richteramts vor, die nach den für Bewerber um eine Richterstelle geltenden Grundsätzen erteilt wird, und der Präsident der Republik Polen erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Obersten Gericht. § 1a.   Der Präsident der Republik Polen holt vor Erteilung der Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] eine Stellungnahme des Landesjustizrats ein. Der Landesjustizrat übermittelt dem Präsidenten der Republik Polen die Stellungnahme innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag ihrer Anforderung durch den Präsidenten der Republik Polen. Wenn innerhalb der in Satz 2 genannten Frist keine Stellungnahme übermittelt worden ist, gilt eine befürwortende Stellungnahme des Landesjustizrats als erteilt. § 1b.   Der Landesjustizrat berücksichtigt bei der Anfertigung der in § 1a genannten Stellungnahme das Interesse der Rechtspflege oder wichtige öffentliche Interessen, insbesondere die rationelle Nutzung der Personalressourcen des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] oder den Bedarf, der sich aus der Arbeitsbelastung einzelner Kammern des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] ergibt. § 2.   Die Erklärung und die Bescheinigung nach § 1 sind dem Ersten Präsidenten des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] vorzulegen, der sie zusammen mit seiner Stellungnahme unverzüglich dem Präsidenten der Republik Polen vorlegt. Der Erste Präsident des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] legt dem Präsidenten der Republik Polen seine Erklärung und die Bescheinigung samt einer Stellungnahme des Kollegiums des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] vor. § 3.   Der Präsident der Republik Polen kann innerhalb von drei Monaten nach dem Erhalt der in § 1a genannten Stellungnahme des Landesjustizrats oder dem Ablauf der Frist für deren Übermittlung seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] erteilen. Bei Nichterteilung der Zustimmung innerhalb der in Satz 1 genannten Frist gilt der Richter als mit dem Tag der Vollendung des 65. Lebensjahrs in den Ruhestand getreten. Ist das Verfahren bezüglich des Verbleibs im Amt als Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] nach Erreichen des in § 1 genannten Alters noch nicht abgeschlossen, bleibt der Richter bis zum Abschluss dieses Verfahrens im Amt. § 4.   Die Zustimmung nach § 1 wird für die Dauer von drei Jahren – höchstens zweimal – erteilt. § 3 gilt entsprechend. …“ 12 Art. 39 dieses Gesetzes bestimmt: „Das Datum des Eintritts oder der Versetzung eines Richters des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] in den Ruhestand wird vom Präsidenten der Republik Polen festgestellt.“ 13 Art. 111 des Gesetzes sieht vor: „§ 1.   Die Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht], die das 65. Lebensjahr bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes vollendet haben oder innerhalb von drei Monaten nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vollenden, treten drei Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes in den Ruhestand, es sei denn, sie legen innerhalb eines Monats nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Erklärung und die Bescheinigung nach Art. 37 § 1 vor und der Präsident der Republik Polen erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]. Art. 37 §§ 2 bis 4 findet entsprechend Anwendung. § 1a.   Die Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht], die das 65. Lebensjahr mehr als drei und weniger als zwölf Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vollenden, treten zwölf Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes in den Ruhestand, es sei denn, sie legen innerhalb eines Monats nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Erklärung und die Bescheinigung nach Art. 37 § 1 vor und der Präsident der Republik Polen erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]. Art. 37 §§ 1a bis 4 findet entsprechend Anwendung.“ 14 Das Änderungsgesetz vom 10. Mai 2018 enthält neben Bestimmungen zur Änderung des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht einige eigenständige Bestimmungen über das Verfahren zur Verlängerung der Amtszeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die bis zum 3. Juli 2018 das Ruhestandsalter erreicht hatten. Art. 5 dieses Änderungsgesetzes lautet: „Erklärungen nach Art. 37 § 1 und Art. 111 § 1 des [neuen Gesetzes über das Oberste Gericht], die der Präsident der Republik Polen am Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes nicht geprüft hat, werden von diesem unverzüglich dem Landesjustizrat zur Stellungnahme übermittelt. Der Landesjustizrat gibt die Stellungnahme innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag ihrer Anforderung durch den Präsidenten der Republik Polen ab. Der Präsident der Republik Polen kann innerhalb von 60 Tagen nach dem Erhalt der Stellungnahme des Landesjustizrats oder dem Ablauf der Frist für deren Übermittlung seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erteilen. Art. 37 §§ 2 bis 4 des [neuen Gesetzes über das Oberste Gericht] findet entsprechend Anwendung.“ Vorverfahren 15 Da die Kommission der Ansicht war, dass die Republik Polen mit dem Erlass des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht und der nachfolgenden Gesetze zu dessen Änderung gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoßen habe, richtete sie am 2. Juli 2018 ein Aufforderungsschreiben an diesen Mitgliedstaat. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 2. August 2018, in dem sie jeden Verstoß gegen das Unionsrecht bestritt. 16 Am 14. August 2018 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie an ihrer Auffassung festhielt, dass die in der vorstehenden Randnummer erwähnten nationalen Rechtsvorschriften gegen die genannten Unionsrechtsvorschriften verstießen. Sie forderte die Republik Polen daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen eines Monats nach ihrem Erhalt nachzukommen. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 14. September 2018, in dem sie die Existenz der gerügten Verstöße in Abrede stellte. 17 Unter diesen Umständen hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben. Verfahren vor dem Gerichtshof 18 Mit gesondertem Schriftsatz, der am 2. Oktober 2018 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Kommission einen Antrag auf einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV und Art. 160 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs gestellt, mit denen der Republik Polen aufgegeben werden sollte, bis zum Erlass des Urteils in der Hauptsache – die Anwendung von Art. 37 §§ 1 bis 4 und Art. 111 §§ 1 und 1a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht und von Art. 5 des Änderungsgesetzes vom 10. Mai 2018 sowie aller Maßnahmen, die aufgrund dieser Bestimmungen getroffen worden sind, auszusetzen; – alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die von den genannten Vorschriften betroffen sind, ihr Amt, das sie am 3. April 2018, dem Tag des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht, wahrgenommen haben, mit demselben Status und zu denselben Beschäftigungsbedingungen, wie sie ihnen am 3. April 2018 zustanden, weiter ausüben können; – alle Maßnahmen zu unterlassen, die bezwecken, Richter an den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf die Stellen der Richter zu ernennen, die von den streitigen nationalen Vorschriften betroffen sind, oder einen neuen Ersten Präsidenten dieses Gerichts zu ernennen bzw. eine Person zu benennen, die anstelle seines Ersten Präsidenten bis zur Ernennung eines neuen Ersten Präsidenten mit der Leitung dieses Gerichts betraut werden soll; – der Kommission spätestens einen Monat nach der Zustellung des Beschlusses des Gerichtshofs, mit dem die beantragten einstweiligen Anordnungen erlassen werden, dann regelmäßig jeden Monat, alle Maßnahmen mitzuteilen, die sie erlässt, um diesem Beschluss in vollem Umfang nachzukommen. 19 Die Kommission hat außerdem nach Art. 160 Abs. 7 der Verfahrensordnung beantragt, wegen der Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz bei der Anwendung des Unionsrechts die in der vorstehenden Randnummer genannten einstweiligen Anordnungen noch vor Eingang der Stellungnahme der Antragsgegnerin zu erlassen. 20 Mit Beschluss vom 19. Oktober 2018, Kommission/Polen (C‑619/18 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:852), hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs dem letztgenannten Antrag vorläufig bis zum Erlass des Beschlusses stattgegeben, mit dem das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beendet wird. 21 Am 23. Oktober 2018 hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß Art. 161 Abs. 1 der Verfahrensordnung dem Gerichtshof übertragen, der es in Anbetracht seiner Bedeutung gemäß Art. 60 Abs. 1 der Verfahrensordnung an die Große Kammer verwiesen hat. 22 Mit Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen (C‑619/18 R, EU:C:2018:1021), hat der Gerichtshof dem Antrag der Kommission auf einstweilige Anordnungen bis zur Verkündung des die vorliegende Rechtssache beendenden Urteils stattgegeben. 23 Ferner hat der Präsident des Gerichtshofs mit Beschluss vom 15. November 2018, Kommission/Polen (C‑619/18, EU:C:2018:910), auf Antrag der Kommission entschieden, die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 133 der Verfahrensordnung dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. 24 Mit Beschluss vom 9. Januar 2019 hat der Präsident des Gerichtshofs Ungarn als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Republik Polen zugelassen. Zur Klage 25 In ihrer Klageschrift macht die Kommission zwei Rügen geltend, mit denen sie einen Verstoß gegen Verpflichtungen geltend macht, die sich für die Mitgliedstaaten aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta ergeben. 26 Mit ihrer ersten Rüge wirft die Kommission der Republik Polen vor, gegen diese Verpflichtungen verstoßen zu haben, da das neue Gesetz über das Oberste Gericht unter Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und insbesondere gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter vorsehe, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auch für amtierende Richter gelte, die vor dem 3. April 2018, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes, an dieses Gericht berufen worden seien. Mit ihrer zweiten Rüge wirft die Kommission der Republik Polen vor, dadurch gegen diese Verpflichtungen verstoßen zu haben, dass sie den Präsidenten der Republik mit diesem Gesetz und unter Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit ermächtigt habe, die aktive Dienstzeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nach seinem freien Ermessen über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus, zweimal für jeweils drei Jahre, zu verlängern. Zum Fortbestand des Streitgegenstands 27 In der mündlichen Verhandlung hat die Republik Polen geltend gemacht, dass durch die Ustawa o zmianie ustawy o Sądzie Najwyższym (Gesetz zur Änderung des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht) vom 21. November 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 2507), das vom Präsidenten der Republik am 17. Dezember 2018 unterzeichnet worden und am 1. Januar 2019 in Kraft getreten sei, sämtliche nationalen Vorschriften, die die Kommission beanstande, aufgehoben und alle ihre Wirkungen beseitigt worden seien. 28 Die amtierenden Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die bereits von der mit dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht vorgenommenen Herabsetzung des Ruhestandsalters betroffen gewesen seien, seien nämlich zu den vor dem Erlass dieses Gesetzes geltenden Bedingungen in ihrem Amt bei diesem Gericht verblieben oder wieder in dieses eingesetzt worden, und ihre Amtszeit gelte im Übrigen als nicht unterbrochen. Auch die Vorschriften, die es dem Präsidenten der Republik ermöglichten, die Verlängerung der Amtszeit eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) bei Erreichen des Regelruhestandsalters zu genehmigen, seien aufgehoben worden. Unter diesen Umständen hält die Republik Polen das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren für nunmehr gegenstandslos. 29 Die Kommission ihrerseits hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass sie ihre Klage aufrechterhalte. 30 Insoweit genügt der Hinweis, dass das Vorliegen einer Vertragsverletzung nach ständiger Rechtsprechung anhand der Situation zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzt worden war, und später eingetretene Veränderungen vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden können (vgl. u. a. Urteil vom 6. November 2012, Kommission/Ungarn, C‑286/12, EU:C:2012:687‚ Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Im vorliegenden Fall steht fest, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem die von der Kommission in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzte Frist abgelaufen war, die von der Kommission mit der vorliegenden Klage angefochtenen Bestimmungen des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht noch in Kraft waren. Folglich muss der Gerichtshof über die vorliegende Klage entscheiden, und zwar ungeachtet des Umstands, dass das Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht vom 21. November 2018 möglicherweise zur Folge hat, dass alle Wirkungen der von der Kommission beanstandeten nationalen Vorschriften rückwirkend beseitigt worden sind; denn ein solches Ereignis kann keine Berücksichtigung finden, da es nach dem Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist eingetreten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2012, Kommission/Ungarn, C‑286/12, EU:C:2012:687‚ Rn. 45). Zum Umfang der Klage 32 In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission klargestellt, dass sie mit ihrer Klage im Wesentlichen die Feststellung beantragt, dass ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta, vorliegt. Der Begriff des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sei in Anbetracht des Inhalts von Art. 47 der Charta und insbesondere der Garantien, die mit dem in dieser Bestimmung verankerten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf untrennbar verbunden seien, nämlich dahin auszulegen, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erfordere, dass gewährleistet sein müsse, dass die Unabhängigkeit einer Einrichtung wie des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der u. a. die Aufgabe übertragen sei, das Unionsrecht auszulegen und anzuwenden, gewahrt bleibe. 33 Für die Entscheidung über die vorliegende Klage ist daher zu prüfen, ob die Republik Polen gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat. Anwendbarkeit und Tragweite von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Vorbringen der Parteien 34 Unter Berufung insbesondere auf die Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586), macht die Kommission geltend, die Mitgliedstaaten müssten, um der ihnen nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV obliegenden Verpflichtung nachzukommen, ein System von Rechtsbehelfen vorzusehen, das einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleiste, u. a. garantieren, dass die nationalen Einrichtungen, die über Fragen zu entscheiden hätten, die die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts beträfen, die Anforderung der richterlichen Unabhängigkeit erfüllten, die zum Wesensgehalt des Grundrechts auf ein faires Verfahren gehöre, wie es u. a. durch Art. 47 Abs. 2 der Charta garantiert werde. 35 Da der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eine solche Einrichtung sei, müssten die nationalen Vorschriften über die Zusammensetzung, die Organisationsstruktur und die Funktionsweise dieses Gerichts gewährleisten, dass dieses die Anforderung der Unabhängigkeit erfülle. 36 Diese Anforderung betreffe nämlich nicht nur den Ablauf des Verfahrens im Einzelfall, sondern auch die Art und Weise der Organisation der Justiz. Eine nationale Maßnahme, die die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte allgemein beeinträchtige, hätte zur Folge, dass ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz u. a. dann nicht mehr gewährleistet sei, wenn die betroffenen Gerichte das Unionsrecht anwendeten oder auslegten. 37 Die Republik Polen macht – hierbei unterstützt von Ungarn – geltend, dass nationale Vorschriften wie die von der Kommission mit der vorliegenden Klage beanstandeten nicht Gegenstand einer Kontrolle anhand von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta sein könnten. 38 Zum einen enthielten diese Unionsrechtsvorschriften nämlich keine Ausnahme vom Grundsatz der Einzelermächtigung, der für die Zuständigkeiten der Union gelte und sich aus Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und 2 sowie aus Art. 13 Abs. 2 EUV ergebe. Es sei unstreitig, dass die Organisation der nationalen Justiz eine ausschließlich den Mitgliedstaaten vorbehaltene Zuständigkeit sei, so dass sich die Union in diesem Bereich keine Zuständigkeiten anmaßen könne. 39 Zum anderen könnten Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta ebenso wie die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, zu denen der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gehöre, nur in den unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung beanspruchen. 40 Die nationalen Vorschriften, die die Kommission in der vorliegenden Rechtssache beanstande, wiesen keinen Bezug zum Unionsrecht auf und unterschieden sich insoweit von der nationalen Regelung, zu der das Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), ergangen sei; diese Regelung sei mit der Gewährung einer Finanzhilfe der Union an einen Mitgliedstaat im Zusammenhang mit der Bekämpfung übermäßiger Haushaltsdefizite verknüpft gewesen und damit in Anwendung des Unionsrechts erlassen worden. 41 Art. 47 der Charta könne im vorliegenden Fall ebenfalls keine Geltung beanspruchen, da es vorliegend nicht um die Durchführung des Rechts der Union im Sinne ihres Art. 51 Abs. 1 gehe. Aus Art. 6 Abs. 1 EUV sowie aus Art. 51 Abs. 2 der Charta und dem Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich (ABl. 2010, C 83, S. 313) ergebe sich im Übrigen, dass die Charta den Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehne. Würdigung durch den Gerichtshof 42 Es ist daran zu erinnern, dass die Union – wie sich aus Art. 49 EUV ergibt, wonach jeder europäische Staat beantragen kann, Mitglied der Union zu werden – aus Staaten besteht, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen, so dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen übrigen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt und anerkennt, dass diese sie mit ihm teilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere ihren Gerichten bei der Anerkennung dieser Werte, auf die sich die Union gründet und zu denen die Rechtsstaatlichkeit gehört, und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem diese umgesetzt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 30, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 35). 44 Zu berücksichtigen ist außerdem, dass die Verträge, um sicherzustellen, dass die besonderen Merkmale und die Autonomie der Rechtsordnung der Union erhalten bleiben, ein Gerichtssystem geschaffen haben, das zur Gewährleistung der Kohärenz und der Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts dient (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 45 Insbesondere besteht das Schlüsselelement des so gestalteten Gerichtssystems in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren, das durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht gerade zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die Kohärenz und die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 37). 46 Schließlich ist die Union, wie sich aus ständiger Rechtsprechung ergibt, eine Rechtsunion, in der den Einzelnen das Recht zusteht, die Rechtmäßigkeit nationaler Entscheidungen oder jeder anderen nationalen Handlung, mit der eine Handlung der Union auf sie angewandt wird, gerichtlich anzufechten (Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 49). 47 In diesem Kontext überträgt Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen, zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 32, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). 48 Insoweit – und wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen -schaffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Die Mitgliedstaaten müssen daher ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorsehen, mit dem in diesen Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist (vgl. Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist nämlich ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist ferner darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117‚ Rn. 29). 51 Entgegen der von der Republik Polen und Ungarn hierzu vertretenen Auffassung hat der Umstand, dass die nationalen Maßnahmen zur Kürzung von Bezügen, die in der Rechtssache in Rede standen, in der das Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), ergangen ist, erlassen worden waren, weil sich der betreffende Mitgliedstaat gezwungen sah, ein übermäßiges Haushaltsdefizit abzubauen, und mit einem Finanzhilfeprogramm der Union für diesen Mitgliedstaat zusammenhingen, wie sich aus den Rn. 29 bis 40 jenes Urteils ergibt, keine Rolle bei der Auslegung gespielt, die den Gerichtshof zu der Feststellung veranlasst hat, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in der betreffenden Rechtssache anwendbar war. Diese Feststellung stützte sich nämlich auf den Umstand, dass die nationale Einrichtung, um die es in dieser Rechtssache ging, nämlich das Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal), – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das jene Rechtssache vorlegende Gericht – als „Gericht“ über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hatte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117‚ Rn. 40). 52 Im Übrigen fällt zwar – worauf die Republik Polen und Ungarn hinweisen – die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit; unbeschadet dessen müssen die Mitgliedstaaten aber bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile vom 13. November 2018, Raugevicius, C‑247/17, EU:C:2018:898, Rn. 45, sowie vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland, C‑202/18 und C‑238/18, EU:C:2019:139, Rn. 57), insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117‚ Rn. 40). Darüber hinaus will die Union, wenn sie von den Mitgliedstaaten verlangt, dass diese ihre Verpflichtungen in dieser Weise einhalten, weder in irgendeiner Weise selbst diese Zuständigkeit ausüben noch – anders als die Republik Polen meint – sich diese Zuständigkeit anmaßen. 53 Hinsichtlich des Protokolls Nr. 30 schließlich ist zu bemerken, dass es sich nicht auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bezieht; im Übrigen stellt es auch die Geltung der Charta für Polen nicht in Frage und bezweckt nicht, die Republik Polen und das Vereinigte Königreich von der Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen der Charta freizustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 119 und 120). 54 Aus alledem ergibt sich, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz im Sinne von insbesondere Art. 47 der Charta in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist (Urteil vom 14. Juni 2017, Online Games u. a., C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Insbesondere hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 37, und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586‚ Rn. 52). 56 Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden kann und dass er als „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist, so dass dieses Gericht den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden muss (Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021‚ Rn. 43). 57 Um zu gewährleisten, dass eine Einrichtung wie der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in der Lage ist, einen solchen Schutz zu bieten, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtung gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 41, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 53). 58 Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 48 und 63). 59 Nach alledem können die von der Kommission mit ihrer Klage beanstandeten nationalen Vorschriften Gegenstand einer Kontrolle anhand von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sein, und es ist daher zu prüfen, ob die von der Kommission behaupteten Verstöße gegen diese Vorschrift tatsächlich vorliegen. Zur ersten Rüge Vorbringen der Parteien 60 Mit ihrer ersten Rüge wirft die Kommission der Republik Polen vor, deshalb gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen zu haben, weil das neue Gesetz über das Oberste Gericht vorsehe, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auch für amtierende Richter gelte, die vor dem 3. April 2018, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes, an dieses Gericht berufen worden seien. Dadurch habe dieser Mitgliedstaat gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und insbesondere den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter verstoßen. 61 Art. 37 § 1 und Art. 111 §§ 1 und 1a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht hätten zur Folge, dass die Richter dieses Gerichts, die ihr 65. Lebensjahr vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes, also vor dem 3. April 2018, oder bis zum 3. Juli 2018 vollendet hätten, grundsätzlich am 4. Juli 2018 in den Ruhestand träten und diejenigen, die ihr 65. Lebensjahr zwischen dem 4. Juli 2018 und dem 3. April 2019 vollendeten, grundsätzlich am 3. April 2019 in den Ruhestand treten müssten. Die Richter, die ihr 65. Lebensjahr nach dem 3. April 2019 vollendeten, müssten grundsätzlich mit Erreichen dieses Lebensalters in den Ruhestand treten. 62 Im Übrigen hätten diese nationalen Vorschriften 27 der 72 Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht im Amt gewesen seien, darunter auch dessen Erste Präsidentin, mit sofortiger Wirkung betroffen. Die Erste Präsidentin dieses Gerichts sei zudem gemäß Art. 183 Abs. 3 der Verfassung für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt worden, die in ihrem Fall am 30. April 2020 ablaufen würde. 63 Indem die Republik Polen das Ruhestandsalter für amtierende Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in dieser Weise herabgesetzt und ferner gleichzeitig in den Art. 112 und 112a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht den Präsidenten der Republik ermächtigt habe, bis zum 3. April 2019 nach freiem Ermessen über eine Erhöhung der Zahl der Stellen an diesem Gericht zu entscheiden, habe sie den Weg für eine grundlegende und sofortige Neubesetzung dieses Gerichts freigemacht und dadurch gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter als einer wesentlichen Garantie für deren Unabhängigkeit und somit gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen. 64 Zwar dürfe eine Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter nicht völlig ausgeschlossen werden, doch seien geeignete Maßnahmen, wie eine Übergangszeit oder eine Herabsetzung in Stufen, die es ermöglichten, zu verhindern, dass eine solche Herabsetzung zu dem kaschierten Zweck genutzt werde, die Besetzung der Gerichte zu ändern, in jedem Fall notwendig, um jeglichem Eindruck entgegenzuwirken, dass der wahre Grund für die Verkürzung der Amtszeit der Richter deren Tätigkeiten bei der aktiven Ausübung ihres Amts sei, und diesen Richtern nicht die Sicherheit zu nehmen, im Amt verbleiben zu können. 65 Nach Ansicht der Republik Polen erfordert Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bei einer Herabsetzung des Ruhestandsalters nicht zwingend eine Übergangszeit für amtierende Richter, um deren Unabhängigkeit zu gewährleisten. Da das betreffende Ruhestandsalter allgemein und automatisch für sämtliche betroffenen Richter gelte, sei es nämlich nicht geeignet, Druck auszuüben, der die Betroffenen bei der Ausübung ihres Richteramts beeinflussen könnte. 66 Im polnischen Rechtssystem werde die Unabhängigkeit der Justiz in erster Linie durch die Beständigkeit des Richteramts, die die Garantie der Unabsetzbarkeit einschließe, die Immunität, eine angemessene Besoldung, das Beratungsgeheimnis, die Unvereinbarkeit des Richteramts mit anderen öffentlichen Ämtern, die Pflicht zur politischen Neutralität und das Verbot der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit gewährleistet. Die Abberufung von Richtern sei nur bei Vorliegen schwerwiegendster disziplinarischer Verfehlungen oder im Fall einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung zulässig. Der Eintritt eines Richters in den Ruhestand stelle jedoch keine Abberufung dar, da der Betreffende den Titel eines Richters behalte, als solcher weiterhin Immunität genieße und Anspruch auf angemessene Bezüge habe und gleichzeitig verschiedene berufsständische Regeln für ihn fortgälten. 67 Ferner ergebe sich aus den Urteilen vom 21. Juli 2011, Fuchs und Köhler (C‑159/10 und C‑160/10, EU:C:2011:508), und vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), dass die Mitgliedstaaten befugt blieben, die für Richter geltenden Arbeitsbedingungen und damit deren Ruhestandsalter anzupassen, insbesondere um, wie im vorliegenden Fall, deren Ruhestandsalter dem Ruhestandsalter anzugleichen, das im allgemeinen Altersversorgungssystem vorgesehen sei, und gleichzeitig die Altersstruktur der Richterschaft des betreffenden Gerichts zu optimieren. 68 Sollte schließlich davon auszugehen sein, dass sich das Ruhestandsalter eines Richters nach der Rechtslage zum Zeitpunkt seines Amtsantritts bestimmen müsse, so wäre im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass das Ruhestandsalter für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) im Jahr 2002 geändert und wieder auf 70 Jahre erhöht worden sei, nachdem es zwischen 1990 und 2002 auf 65 Jahre festgesetzt gewesen sei. 17 der 27 an diesem Gericht tätigen Richter, die von der Herabsetzung des Ruhestandsalters infolge des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht betroffen seien, seien zwischen 1990 bis 2002 ernannt worden, so dass es bei ihnen zu keiner Verkürzung der ursprünglichen Dauer ihrer Amtszeit komme. 69 Ein Abstellen auf den Zeitpunkt der Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) als Kriterium für die Bestimmung des Ruhestandsalters dieser Richter würde zudem die Gefahr einer Diskriminierung zwischen den Richtern dieses Gerichts mit sich bringen, da einige von ihnen, insbesondere diejenigen, die nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht ernannt würden, früher in den Ruhestand treten müssten als andere, die vor seinem Inkrafttreten zu einer Zeit ernannt worden seien, als das Ruhestandsalter bei 70 Jahren gelegen habe. 70 Nach Ansicht Ungarns hat die Kommission nicht dargetan, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und die sich daraus ergebende Versetzung einiger Richter dieses Gerichts in den Ruhestand die Fähigkeit dieses Gerichts beeinträchtigen könnten, einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten. Würdigung durch den Gerichtshof 71 Das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit, deren Wahrung die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wie in den Rn. 42 bis 59 des vorliegenden Urteils ausgeführt, in Bezug auf die nationalen Gerichte sicherstellen müssen, die – wie der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) – über Fragen zu entscheiden haben, die mit der Auslegung und der Anwendung des Unionsrechts verknüpft sind, umfasst zwei Aspekte. 72 Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). 73 Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). 74 Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). 75 Speziell erfordert diese unerlässliche Freiheit der Richter von jeglichen Interventionen oder jeglichem Druck von außen – wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat – bestimmte Garantien, die geeignet sind, die mit der Aufgabe des Richtens Betrauten in ihrer Person zu schützen, wie z. B. die Unabsetzbarkeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 76 Der Grundsatz der Unabsetzbarkeit erfordert insbesondere, dass die Richter im Amt bleiben dürfen, bis sie das obligatorische Ruhestandsalter erreicht haben oder ihre Amtszeit, sofern diese befristet ist, abgelaufen ist. Dieser Grundsatz beansprucht zwar nicht völlig absolute Geltung, doch dürfen Ausnahmen von ihm nur unter der Voraussetzung gemacht werden, dass dies durch legitime und zwingende Gründe gerechtfertigt ist und dabei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird. So ist allgemein anerkannt, dass Richter abberufen werden können, wenn sie wegen Dienstunfähigkeit oder einer schweren Verfehlung nicht mehr zur Ausübung ihres Amtes geeignet sind, wobei angemessene Verfahren einzuhalten sind. 77 Insoweit ergibt sich speziell aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das Unabhängigkeitserfordernis verlangt, dass die Vorschriften, die für Disziplinarmaßnahmen und damit für die eventuelle Abberufung derjenigen gelten, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, die erforderlichen Garantien aufweisen, um jegliche Gefahr zu verhindern, dass solche Maßnahmen als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt werden. Somit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 67). 78 Im vorliegenden Fall hat die beanstandete Reform, nach der die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf bereits an diesem Gericht amtierende Richter Anwendung findet, zur Folge, dass diese ihre richterliche Tätigkeit vorzeitig beenden, und kann somit berechtigte Bedenken begründen, ob der Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter eingehalten wird. 79 Unter diesen Umständen und in Anbetracht der in den Rn. 75 bis 77 des vorliegenden Urteils dargestellten grundlegenden Bedeutung dieses Grundsatzes ist eine solche Anwendung nur dann statthaft, wenn sie durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt und im Hinblick auf dieses Ziel verhältnismäßig ist und sofern sie nicht geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit des betreffenden Gerichts für äußere Faktoren und an seiner Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen. 80 Im vorliegenden Fall macht die Republik Polen geltend, die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf das 65. Lebensjahr sei Ausdruck des Willens, dieses Ruhestandsalter an das allgemeine Ruhestandsalter anzugleichen, das für alle Berufstätigen in Polen gelte, und damit die Altersstruktur der Richterschaft dieses Gerichts zu optimieren. 81 Hierzu ist als Erstes zu bemerken, dass der Gerichtshof zwar anerkannt hat, dass Ziele aus dem Bereich der Beschäftigungspolitik, wie z. B. die Vereinheitlichung der Altersgrenzen für das zwingende Ausscheiden aus dem Dienst im Rahmen der zum öffentlichen Dienst gehörenden Berufe oder das Bemühen um die Herstellung einer ausgewogeneren Altersstruktur, um jungen Menschen den Zugang u. a. zum Richterberuf zu erleichtern, legitim sein können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Juli 2011, Fuchs und Köhler, C‑159/10 und C‑160/10, EU:C:2011:508‚ Rn. 50, und vom 6. November 2012, Kommission/Ungarn, C‑286/12, EU:C:2012:687‚ Rn. 61 und 62). 82 Allerdings ist erstens festzustellen, dass – wie die Kommission betont und auch die Europäische Kommission für Demokratie und Recht (die sogenannte Venedig-Kommission) in den Nrn. 33 und 47 ihrer Stellungnahme 904/2017 (CDL‑AD[2017]031) bereits ausgeführt hat – die Begründung des Entwurfs für das neue Gesetz über das Oberste Gericht Anhaltspunkte enthält, die ernsthafte Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Reform des Ruhestandsalters für amtierende Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) von solchen Zielen geleitet war und nicht von der Absicht, eine bestimmte Gruppe von Richtern dieses Gerichts aus dem Amt zu entfernen. 83 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht im Amt waren, im vorliegenden Fall mit der Einführung eines neuen Verfahrens einhergeht, das es dem Präsidenten der Republik ermöglicht, nach freiem Ermessen zu entscheiden, die auf diese Weise verkürzte Amtszeit eines Richters zu verlängern, und zwar für zwei aufeinander folgende Zeiträume von drei Jahren. 84 Zum einen lässt die Einführung einer solchen Möglichkeit, die Amtszeit eines Richters um sechs Jahre zu verlängern, die gleichzeitig mit der Herabsetzung des Ruhestandsalters um fünf Jahre für die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht amtierenden Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erfolgt, Zweifel daran aufkommen, dass mit der eingeleiteten Reform tatsächlich bezweckt wird, das Ruhestandsalter für diese Richter dem für alle Berufstätigen geltenden Ruhestandsalter anzugleichen und die Altersstruktur der Richterschaft dieses Gerichts zu optimieren. 85 Zum anderen ist die Kombination dieser beiden Maßnahmen auch geeignet, den Eindruck zu verstärken, dass es in Wirklichkeit darum gegangen sein könnte, einen vorher festgelegten Teil der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) aus dem Amt zu entfernen, da es nämlich, unbeschadet dessen, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters auf sämtliche Richter dieses Gerichts Anwendung findet, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht im Amt waren, weiterhin im freien Ermessen des Präsidenten der Republik steht, einen Teil der Betroffenen im Amt zu belassen. 86 Drittens ist festzustellen, dass von der Herabsetzung des Ruhestandsalters um fünf Jahre für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht im Amt waren, und der sich daraus ergebenden Verkürzung der Amtszeit dieser Richter fast ein Drittel der amtierenden Mitglieder dieses Gerichts mit sofortiger Wirkung betroffen waren, darunter auch dessen Erste Präsidentin, deren durch die Verfassung garantierte Amtszeit von sechs Jahren dadurch ebenfalls verkürzt wurde. Wie die Kommission geltend macht, belegt diese Feststellung die potenziell erheblichen Auswirkungen der fraglichen Reform auf die Zusammensetzung und die funktionale Kontinuität des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht). Wie der Generalanwalt in Nr. 76 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann eine derart weitgehende Umgestaltung der Zusammensetzung eines Obersten Gerichts infolge einer Reform, die spezifisch dieses Gericht betrifft, ihrerseits Zweifel hervorrufen, was die Echtheit einer solchen Reform und die Ziele betrifft, die mit ihr tatsächlich verfolgt werden. 87 Die Zweifel, die somit hinsichtlich der wahren Ziele der beanstandeten Reform bestehen und die sich aus der Gesamtheit der in den Rn. 82 bis 86 des vorliegenden Urteils dargestellten Erwägungen ergeben, lassen sich durch die von der Republik Polen vorgebrachten Argumente nicht ausräumen, wonach zum einen einige der amtierenden und von dieser Reform betroffenen Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu einer Zeit in dieses Amt berufen worden seien, zu der das Ruhestandsalter für Richter dieses Gerichts auf 65 Jahre festgesetzt gewesen sei, und zum anderen ein solcher Richter, wenn er in den Ruhestand versetzt werde, unbeschadet dessen seinen Titel als Richter behalte, weiterhin Anspruch auf Immunität und Bezüge habe und bestimmte berufsständische Regeln für ihn fortgälten. 88 Diese Umstände vermögen nämlich, ihr Vorliegen als zutreffend unterstellt, nicht die Tatsache in Frage zu stellen, dass die Versetzung der betroffenen Richter in den Ruhestand mit der sofortigen und – im Vergleich zu dem, was vor der Verabschiedung der beanstandeten Reform vorgesehen war – vorzeitigen Beendigung ihrer richterlichen Tätigkeiten einhergeht. 89 Als Zweites ist festzustellen, dass, wie die Republik Polen in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, das allgemeine Ruhestandsalter für Berufstätige, an das dieser Mitgliedstaat nach seiner Aussage das Ruhestandsalter für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) angleichen wollte, für die betroffenen Berufstätigen nicht mit einer automatischen Versetzung in den Ruhestand verbunden ist, sondern nur mit dem Recht, nicht aber der Pflicht, ihre berufliche Tätigkeit zu beenden und in diesem Fall Ruhestandsbezüge in Anspruch zu nehmen. 90 Unter diesen Umständen hat die Republik Polen nicht dargetan, dass die beanstandete Maßnahme ein angemessenes Mittel ist, um die Unterschiede zwischen den Altersgrenzen für die zwingende Beendigung der Tätigkeit für sämtliche betroffenen Berufe zu verringern. Insbesondere hat sie keinen sachlichen Grund dafür angeführt, dass es für die Angleichung des Ruhestandsalters der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) an das für alle Berufstätigen in Polen geltende Ruhestandsalter erforderlich war, vorzusehen, dass diese Richter automatisch in den Ruhestand versetzt werden, sofern sie nicht aufgrund einer in das freie Ermessen des Präsidenten der Republik gestellten Entscheidung ihr Amt weiter ausüben dürfen, während für die übrigen Berufstätigen der Eintritt in den Ruhestand bei Erreichen des gesetzlich hierfür vorgesehenen Alters fakultativ ist. 91 Als Drittes ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf das Ziel einer Vereinheitlichung des Ruhestandsalters bereits entschieden hat, dass nationale Rechtsvorschriften, mit denen die Altersgrenze für das zwingende Ausscheiden aus dem Richterdienst plötzlich und erheblich gesenkt wird, ohne Übergangsmaßnahmen vorzusehen, die geeignet sind, das berechtigte Vertrauen der Betroffenen, die bei Inkrafttreten dieser Vorschriften im Amt waren, zu schützen, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht wahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2012, Kommission/Ungarn, C‑286/12, EU:C:2012:687, Rn. 68 und 80). 92 Was das Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117) betrifft, auf das sich die Republik Polen ebenfalls berufen hat, um die Rechtmäßigkeit der von der Kommission im Rahmen ihrer ersten Rüge beanstandeten nationalen Maßnahme zu rechtfertigen, ist darauf hinzuweisen, dass es in diesem Urteil um eine Kürzung der Bezüge von Richtern ging. In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese Kürzung der Bezüge sowohl betragsmäßig begrenzt als auch vorübergehend war und sich nicht speziell gegen die Mitglieder des Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal) richtete, sondern es sich vielmehr um eine allgemein geltende Maßnahme handelte, und entschieden, dass Art. 19 EUV dahin auszulegen ist, dass die Anwendung einer solchen Maßnahme mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist. 93 Unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der richterlichen Unabhängigkeit sind die Wirkungen einer solchen begrenzten und vorübergehenden Kürzung der Bezüge jedoch in keiner Weise mit den Wirkungen einer Maßnahme vergleichbar, die in einer Herabsetzung des Ruhestandsalters für amtierende Richter besteht, die wiederum zur Folge hat, dass die richterliche Laufbahn der Betroffenen vorzeitig und endgültig beendet wird. 94 Als Viertes ist zu bemerken, dass die sofortige Anwendung der beanstandeten Reform auf die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht im Amt waren, auch nicht mit dem von der Republik Polen geltend gemachten Bestreben gerechtfertigt werden kann, eine eventuelle Diskriminierung hinsichtlich Dauer der Ausübung des Richteramtes zwischen diesen Richtern und denen, die nach diesem Zeitpunkt an dieses Gericht berufen werden, zu vermeiden. 95 Diese beiden Kategorien von Richtern befinden sich nämlich – wie die Kommission geltend macht – nicht in einer vergleichbaren Situation, denn nur bei Ersteren verkürzt sich die Karriere, während sie am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) tätig sind; bei Letzteren hingegen ist vorgesehen, dass sie unter der Geltung der neuen Rechtsvorschriften, die ein gesetzliches Ruhestandsalter von 65 Jahren vorsehen, an dieses Gericht berufen werden. Außerdem ist, soweit die Republik Polen auch geltend macht, dass den bereits am Sąd Najwyższy (Oberster Gericht) amtierenden Richtern im Gegensatz zu ihren Kollegen, die nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes über das oberste Gericht ernannt worden seien, nicht die Möglichkeit eingeräumt werde, in den Genuss des mit diesem Gesetz eingeführten neuen Ruhestandsalters zu kommen, zu bemerken, dass es – wie die Kommission ausgeführt hat – zulässig gewesen wäre, für die Betroffenen eine Möglichkeit vorzusehen, auf freiwilliger Grundlage auf die Ausübung ihres Amtes zu verzichten, wenn sie das neue gesetzliche Ruhestandsalter erreichen, und sie somit nicht dazu zu zwingen. 96 Nach alledem ist festzustellen, dass die Anwendung der Herabsetzung des Ruhestandsalters auf Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die dort im Amt sind, nicht durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Folglich beeinträchtigt diese Anwendung den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter, der untrennbar mit ihrer Unabhängigkeit verknüpft ist. 97 Demzufolge ist der ersten Rüge der Kommission, mit der ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geltend gemacht wird, stattzugeben. Zur zweiten Rüge Vorbringen der Parteien 98 Mit ihrer zweiten Rüge wirft die Kommission der Republik Polen vor, dadurch gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen zu haben, dass sie den Präsidenten der Republik mit dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht ermächtigt habe, die aktive Dienstzeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nach freiem Ermessen über das mit diesem Gesetz neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus, zweimal für jeweils drei Jahre, zu verlängern. 99 Da es weder verbindliche Kriterien für die Entscheidung über die Gewährung oder Ablehnung einer solchen Verlängerung der richterlichen Amtszeit gebe noch eine Pflicht zur Begründung derartiger Entscheidungen bestehe und ihre gerichtliche Überprüfung nicht möglich sei, könne der Präsident der Republik auf die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Einfluss ausüben. Durch die Aussicht, sich an den Präsidenten der Republik wenden zu müssen, um solche Verlängerungen zu beantragen, und das sich an die Einreichung solcher Anträge anschließende Zuwarten auf dessen Entscheidung könnte nämlich für den betreffenden Richter Druck entstehen, der ihn dazu veranlassen könnte, eventuellen Wünschen des Präsidenten der Republik nachzukommen, was die Rechtssachen betrifft, mit denen er befasst ist, und zwar auch bei Rechtssachen, in denen er Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen und anzuwenden hat. 100 Die Pflicht des Präsidenten der Republik zur Einholung einer Stellungnahme des Landesjustizrats, die in Art. 37 §§ 1a und 1b sowie in Art. 111a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht und in Art. 5 des Änderungsgesetzes vom 10. Mai 2018 vorgesehen sei, ändere an der vorstehenden Feststellung nichts. Die Kriterien, die dem Landesjustizrat für seine Stellungnahme vorgegeben seien, seien nämlich zu allgemein, und der Präsident der Republik sei nicht an diese Stellungnahme gebunden. Außerdem würden die 15 aus der Mitte der Richter zu wählenden Mitglieder der insgesamt 27 Mitglieder des Landesjustizrats infolge der Reform der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz über den Landesjustizrat) vom 12. Mai 2011 (Dz. U. 2011, Pos. 714), die mit der Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 3) vorgenommen worden sei, nicht wie bislang von der Richterschaft, sondern nunmehr vom Sejm gewählt, so dass ihre Unabhängigkeit angezweifelt werden könne. 101 Schließlich macht die Kommission geltend, dass hinsichtlich der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die ihr 65. Lebensjahr nach dem 3. Juli 2018 vollendeten, keine Frist festgelegt worden sei, innerhalb deren der Präsident der Republik die Stellungnahme des Landesjustizrats einholen müsse, was sich dahin auswirken könne, dass der effektive Zeitraum, in dem der Verbleib des betreffenden Richters im Amt im freien Ermessen des Präsidenten der Republik stehe, ausgedehnt werde. 102 Diese verschiedenen Faktoren könnten zu einer Situation führen, in der dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) abgesprochen werde, die Gewähr dafür zu bieten, unter allen Umständen unparteiisch und unabhängig zu handeln. 103 Die Republik Polen macht geltend, die dem Präsidenten der Republik übertragene Zuständigkeit für die Entscheidung, ob die Amtszeit von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die das Ruhestandsalter erreicht hätten, gegebenenfalls verlängert werde, leite sich von der diesem durch die Verfassung übertragenen Befugnis zur Ernennung der Richter ab. Diese Befugnis, die gerade darauf abziele, die rechtsprechende Gewalt vor Einmischung sowohl der gesetzgebenden als auch der vollziehenden Gewalt zu schützen, müsse vom Präsidenten der Republik persönlich ausgeübt werden, wobei er allein die Verfassungsnormen und ‑grundsätze zu beachten habe, und es sei ständige Rechtsprechung, dass dessen Entscheidungen, mit denen die Ernennung eines Bewerbers auf eine Richterstelle abgelehnt werde, keine Verwaltungssachen seien und nicht mit einer Klage vor Gericht angefochten werden könnten. 104 Allerdings berücksichtigten die Stellungnahmen, die dem Präsidenten der Republik vom Landesjustizrat übermittelt würden, wie sich aus Art. 37 § 1b des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht ergebe, das Interesse der Rechtspflege oder ein wichtiges öffentliches Interesse, insbesondere die rationelle Nutzung der Personalressourcen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder den Bedarf, der sich aus der Arbeitsbelastung einzelner Kammern dieses Gerichts ergebe. Zudem könnten diese Stellungnahmen für den Präsidenten der Republik zwar nicht bindend sein, da anderenfalls in dessen in der vorstehenden Randnummer erwähnte verfassungsrechtliche Befugnisse eingegriffen werde; es sei jedoch offensichtlich, dass dieser in der Praxis die betreffenden Stellungnahmen berücksichtige. Ebenso klar sei, dass der Präsident der Republik, obschon das einschlägige Gesetz hierfür keine Frist vorsehe, die Stellungnahme des Landesjustizrats anfordere, sobald er den Antrag eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf Verlängerung seiner Amtszeit in Händen halte. 105 In Bezug auf die Zusammensetzung des Landesjustizrats weist die Republik Polen darauf hin, dass sie die Befürchtungen der Kommission nicht teile. Außerdem seien diese Befürchtungen für die Beurteilung der vorliegenden Rechtssache ohne Bedeutung, da ihr die Kommission im Wesentlichen vorwerfe, dass sie die Entscheidung, die Verlängerung der Amtszeit eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über das gesetzliche Ruhestandsalter hinaus zu genehmigen oder nicht, in das freie Ermessen des Präsidenten der Republik gestellt habe, ohne dass gegen diese Entscheidung die Möglichkeit einer Klage bei einem Gericht gegeben sei, und dass die Stellungnahme des Landesjustizrats unter keinen Umständen für den Präsidenten der Republik bindend sei. 106 Schließlich ließen sich die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in der Praxis nicht durch den Präsidenten der Republik beeinflussen, nur um ihre Amtszeit zu verlängern, anstatt mit Anspruch auf eine hohe Pension in den Ruhestand zu treten, zumal das Beratungsgeheimnis verhindere, dass der Präsident der Republik erfahre, wie der einzelne Richter abgestimmt habe. Im Übrigen sei die Frist, innerhalb deren der Präsident der Republik über den Antrag eines Richters auf Verbleib im Amt zu entscheiden habe, nämlich etwa vier Monate, recht kurz. 107 Vergleichbare Modelle für die Verlängerung der Amtszeit eines Richters über das Regelruhestandsalter hinaus gebe es im Übrigen in anderen Mitgliedstaaten als der Republik Polen, und auch die Wiederernennung eines Richters an den Gerichtshof der Europäischen Union stehe im freien Ermessen der Regierung des Mitgliedstaats, dem der Betreffende angehöre. Würdigung durch den Gerichtshof 108 Wie in den Rn. 72 bis 74 des vorliegenden Urteils ausgeführt, erfordern die Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte, dass die betreffende Einrichtung ihre Aufgaben in völliger Autonomie wahrnimmt, so dass sie vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und ihre Entscheidungen beeinflussen könnten, und dabei Sachlichkeit obwalten lässt und keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat. Die Regeln, die diese Unabhängigkeit und diese Unparteilichkeit gewährleisten sollen, müssen so beschaffen sein, dass sie ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen. 109 Im vorliegenden Fall ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich die nationale Rechtsvorschrift, die die Kommission mit ihrer zweiten Rüge beanstandet, nicht auf das Verfahren zur Ernennung von Bewerbern auf ein Richteramt bezieht, sondern auf die Möglichkeit für amtierende Richter, denen somit die Garantien zugutekommen, die mit der Ausübung des Richteramtes untrennbar verknüpft sind, ihr Amt über das normale Ruhestandsalter hinaus weiter auszuüben, und diese Rechtsvorschrift somit die Bedingungen für den Verlauf und die Beendigung ihrer Berufslaufbahn betrifft. 110 Im Übrigen ist es zwar allein Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob sie eine solche Verlängerung der Amtszeit eines Richters über das Regelruhestandsalter hinaus zulassen; unbeschadet dessen müssen sie aber, wenn sie sich für ein solches Verfahren entscheiden, dafür Sorge tragen, dass die Voraussetzungen für eine Verlängerung und deren Modalitäten nicht so beschaffen sind, dass sie den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit beeinträchtigen. 111 Der Umstand, dass einem Organ wie dem Präsidenten der Republik die Befugnis eingeräumt wird, zu entscheiden, ob eine solche mögliche Verlängerung genehmigt wird oder nicht, genügt für sich allein genommen sicher nicht für die Feststellung, dass dieser Grundsatz beeinträchtigt ist. Es muss jedoch sichergestellt sein, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten, die für den Erlass solcher Entscheidungen gelten, so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keine berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betroffenen Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen. 112 Zu diesem Zweck müssen u. a. diese Voraussetzungen und Modalitäten so ausgestaltet werden, dass die betroffenen Richter vor möglichen Versuchungen geschützt sind, Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, nachzugeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2013, D. und A., C‑175/11, EU:C:2013:45, Rn. 103). Die betreffenden Modalitäten müssen somit insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten (vgl. entsprechend Urteile vom 16. Oktober 2012, Kommission/Österreich, C‑614/10, EU:C:2012:631, Rn. 43, und vom 8. April 2014, Kommission/Ungarn, C‑288/12, EU:C:2014:237, Rn. 51). 113 Im vorliegenden Fall werden die Voraussetzungen und Verfahrensmodalitäten, von denen das neue Gesetz über das Oberste Gericht die mögliche Verlängerung der Amtszeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über das normale Ruhestandsalter hinaus abhängig macht, diesen Anforderungen nicht gerecht. 114 Hierzu ist erstens festzustellen, dass eine solche Verlängerung nach dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht nunmehr von einer Entscheidung des Präsidenten der Republik abhängt, die in dessen freiem Ermessen steht, da für ihren Erlass als solchen keine objektiven und nachprüfbaren Kriterien gelten, und die nicht begründet werden muss. Außerdem kann eine solche Entscheidung nicht Gegenstand einer Klage bei einem Gericht sein. 115 Was zweitens die Tatsache betrifft, dass der Landesjustizrat nach dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht dem Präsidenten der Republik eine Stellungnahme übermitteln soll, bevor dieser seine Entscheidung trifft, so kann zwar die Einschaltung einer solchen Stelle in den Prozess zur Verlängerung der Amtszeit eines Richters über das Regelruhestandsalter hinaus grundsätzlich zur Objektivierung dieses Prozesses beitragen. 116 Dies gilt jedoch nur insoweit, als bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind und insbesondere diese Stelle selbst von der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt und dem Organ, dem sie eine Stellungnahme übermitteln soll, unabhängig ist und die betreffende Stellungnahme auf der Grundlage objektiver und einschlägiger Kriterien verfasst und in gebotener Weise begründet ist, so dass sie geeignet ist, diesem Organ objektive Anhaltspunkte für seine Entscheidungsfindung zu liefern. 117 Insoweit genügt die Feststellung, dass sich der Landesjustizrat, wenn er gegenüber dem Präsidenten der Republik solche Stellungnahmen abzugeben hat, – wie die Republik Polen in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat – im Allgemeinen und in Ermangelung einer Vorschrift, wonach er diese begründen muss, darauf beschränkt hat, Stellungnahmen abzugeben, die, gleich, ob sie befürwortend oder ablehnend ausfallen, entweder überhaupt nicht begründet sind oder eine rein formelle Begründung enthalten, in der lediglich allgemein auf den Wortlaut der Kriterien verwiesen wird, die in Art. 37 § 1b des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht festgelegt sind. Unter diesen Umständen ist, ohne dass geprüft werden müsste, ob Kriterien wie die in dieser Vorschrift genannten hinreichend transparent, objektiv und überprüfbar sind, festzustellen, dass solche Stellungnahmen nicht dazu beitragen können, dem Präsidenten der Republik für die Ausübung der ihm verliehenen Befugnis, einem Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), nachdem dieser das Regelruhestandsalter erreicht hat, die weitere Ausübung seines Amts zu genehmigen oder zu verweigern, objektive Anhaltspunkte zu liefern. 118 Nach alledem ist festzustellen, dass die dem Präsidenten der Republik eingeräumte Befugnis, nach freiem Ermessen zu entscheiden, ob er einem Richter eines obersten nationalen Gerichts wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) im Alter zwischen 65 und 71 Jahren zweimal für jeweils drei Jahre die weitere Ausübung seines Richteramts genehmigt, geeignet ist, u. a. bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der betroffenen Richter für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen. 119 Schließlich kann auch dem Vorbringen der Republik Polen, wonach die vorliegend beanstandeten nationalen Rechtsvorschriften den Verfahren ähneln sollen, die in anderen Mitgliedstaaten oder für die etwaige Wiederernennung eines Richters an den Gerichtshof der Europäischen Union gelten würden, kein Erfolg beschieden sein. 120 Denn auch wenn zum einen anzunehmen wäre, dass ein in einem anderen Mitgliedstaat vorgesehenes Verfahren im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Mängel aufweist, die denen entsprechen, die bei den in der vorliegenden Rechtssache streitigen nationalen Rechtsvorschriften festgestellt worden sind, was nicht dargetan worden ist, ändert dies nichts daran, dass ein Mitgliedstaat nicht einen möglichen Unionsrechtsverstoß durch einen anderen Mitgliedstaat geltend machen kann, um seine eigene Vertragsverletzung zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 1996, Kommission/Italien, C‑101/94, EU:C:1996:221, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 121 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass im Unterschied zu nationalen Richtern, die bis zum Erreichen des gesetzlichen Ruhestandsalters ernannt sind, die Ernennung der Richter an den Gerichtshof gemäß Art. 253 AEUV befristet für die Dauer von sechs Jahren erfolgt. Ferner erfordert die Wiederernennung eines ausscheidenden Richters nach diesem Artikel – ebenso wie dessen erstmalige Ernennung – gegenseitiges Einvernehmen der Regierungen der Mitgliedstaaten, nachdem der in Art. 255 AEUV vorgesehene Ausschuss seine Stellungnahme abgegeben hat. 122 Die somit in den Verträgen festgelegten Bedingungen können den Umfang der Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einhalten müssen, nicht ändern. 123 Folglich ist der zweiten Rüge der Kommission, mit der ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geltend gemacht wird, und damit der Klage insgesamt stattzugeben. 124 Nach alledem ist festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie zum einen vorgesehen hat, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf amtierende Richter Anwendung findet, die vor dem 3. April 2018 an dieses Gericht berufen worden waren, und zum anderen dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen hat, den aktiven Dienst der Richter dieses Gerichts über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern. Kosten 125 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Republik Polen mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 126 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung trägt Ungarn seine eigenen Kosten. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen, dass sie zum einen vorgesehen hat, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) auf amtierende Richter Anwendung findet, die vor dem 3. April 2018 an dieses Gericht berufen worden waren, und zum anderen dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen hat, den aktiven Dienst der Richter dieses Gerichts über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern. 2. Die Republik Polen trägt die Kosten. 3. Ungarn trägt seine eigenen Kosten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 13. Juni 2019.#Strafverfahren gegen Gianluca Moro.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Brindisi.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Art. 6 Abs. 4 – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Mitteilung von Änderungen der im Rahmen der Unterrichtung gegebenen Informationen, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten – Änderung der rechtlichen Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts – Unmöglichkeit für den Beschuldigten, in der mündlichen Verhandlung die im nationalen Recht vorgesehene Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung zu beantragen – Unterschied bei Änderung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts.#Rechtssache C-646/17.
62017CJ0646
ECLI:EU:C:2019:489
2019-06-13T00:00:00
Gerichtshof, Bobek
62017CJ0646 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 13. Juni 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Art. 6 Abs. 4 – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Mitteilung von Änderungen der im Rahmen der Unterrichtung gegebenen Informationen, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten – Änderung der rechtlichen Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts – Unmöglichkeit für den Beschuldigten, in der mündlichen Verhandlung die im nationalen Recht vorgesehene Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung zu beantragen – Unterschied bei Änderung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts“ In der Rechtssache C‑646/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Brindisi (Gericht Brindisi, Italien) mit Entscheidung vom 20. Oktober 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 17. November 2017, in dem Strafverfahren gegen Gianluca Moro, Beteiligte: Procura della Repubblica presso il Tribunale di Brindisi, Francesco Legrottaglie, erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richterin C. Toader sowie der Richter A. Rosas, L. Bay Larsen und M. Safjan (Berichterstatter), Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. November 2018, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von F. Legrottaglie, vertreten durch D. Vitale, avvocato, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und G. Tornyai als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und A. M. de Ree als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, R. Troosters und C. Zadra als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Februar 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) sowie von Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Gianluca Moro (im Folgenden: Angeklagter) wegen „Hehlerei“ von Schmuck nach italienischem Recht, wobei der Tatvorwurf später in der mündlichen Verhandlung auf „Diebstahl“ dieses Schmucks umgeändert wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Charta 3 Art. 48 („Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte“) der Charta lautet: „(1)   Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig. (2)   Jedem Angeklagten wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet.“ Richtlinie 2012/13 4 In den Erwägungsgründen 3, 4, 9, 10, 14, 27 bis 29, 40 und 41 der Richtlinie 2012/13 heißt es: „(3) Die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen setzt gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege voraus. Das Maß der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindestnormen, die erforderlich sind, um die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern. (4) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen kann nur in einem Klima des Vertrauens vollständig zum Tragen kommen, in dem nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an Strafverfahren beteiligten Akteure Entscheidungen der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten als denen ihrer eigenen Justizbehörden gleichwertig ansehen; dies setzt nicht nur Vertrauen in die Angemessenheit der Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten voraus, sondern auch Vertrauen in die ordnungsgemäße Anwendung dieser Vorschriften. … (9) Artikel 82 Absatz 2 [AEUV] sieht die Festlegung von in den Mitgliedstaaten anwendbaren Mindestvorschriften zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension vor. Dort werden ‚die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren‘ als einer der Bereiche genannt, in denen Mindestvorschriften festgelegt werden können. (10) Gemeinsame Mindestvorschriften sollten das Vertrauen in die Strafrechtspflege aller Mitgliedstaaten stärken, was wiederum zu einer wirksameren Zusammenarbeit der Justizbehörden in einem Klima gegenseitigen Vertrauens führen sollte. Solche gemeinsamen Mindestvorschriften sollten im Bereich der Belehrung in Strafverfahren festgelegt werden. … (14) Die vorliegende Richtlinie … legt gemeinsame Mindestnormen fest, die bei der Belehrung über die Rechte und bei der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Diese Richtlinie baut auf den in der Charta verankerten Rechten auf, insbesondere auf den Artikeln 6, 47 und 48 der Charta, und legt dabei die Artikel 5 und 6 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde. In dieser Richtlinie wird der Begriff ‚Tatvorwurf‘ verwendet; er hat denselben Bedeutungsinhalt wie der in Artikel 6 Absatz 1 EMRK verwendete Begriff ‚Anklage‘. … (27) Personen, die der Begehung einer Straftat beschuldigt werden, sollten alle Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, die sie benötigen, um ihre Verteidigung vorzubereiten, und die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens notwendig sind. (28) Die Unterrichtung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, sollte umgehend erfolgen und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde und ohne Gefährdung der laufenden Ermittlungen. Eine Beschreibung der Umstände der strafbaren Handlung, deren die Person verdächtigt oder beschuldigt wird, einschließlich, sofern bekannt, der Zeit und des Ortes sowie der möglichen rechtlichen Beurteilung der mutmaßlichen Straftat sollte – je nach Stadium des Strafverfahrens, in der sie gegeben wird – hinreichend detailliert gegeben werden, so dass ein faires Verfahren gewährleistet und eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird. (29) Verändern sich im Laufe des Strafverfahrens die Einzelheiten des Tatvorwurfs so weit, dass die Stellung der Verdächtigen oder der beschuldigten Personen in beträchtlichem Umfang betroffen ist, so sollte ihnen dies mitgeteilt werden, wenn dies notwendig ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, und zwar so rechtzeitig, dass eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird. … (40) Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften erlassen. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um auch in Situationen, die von dieser Richtlinie nicht ausdrücklich erfasst sind, ein höheres Schutzniveau zu bieten. Das Schutzniveau sollte nie unter den Standards der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegen. (41) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden. Mit dieser Richtlinie sollen insbesondere das Recht auf Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte gefördert werden. Sie sollte entsprechend umgesetzt werden.“ 5 Art. 1 („Gegenstand“) dieser Richtlinie bestimmt: „Mit dieser Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. Mit dieser Richtlinie werden auch Bestimmungen über das Recht von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, auf Belehrung über ihre Rechte festgelegt.“ 6 Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor: „Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“ 7 Art. 3 („Recht auf Rechtsbelehrung“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen: a) das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts; b) den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung; c) das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6; d) das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen; e) das Recht auf Aussageverweigerung.“ 8 Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie 2012/13 lautet wie folgt: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung, einschließlich über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden. (3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden. (4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß diesem Artikel gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“ Italienisches Recht 9 Art. 61 („Allgemeine Erschwerungsgründe“) Nr. 7 des Codice penale (Strafgesetzbuch) bestimmt: „Folgende Umstände stellen Erschwerungsgründe für die Straftat dar, sofern sie weder deren Tatbestand bilden noch besondere Erschwerungsgründe sind: … 7. bei Straftaten gegen das Vermögen oder im Zusammenhang mit dessen Beeinträchtigung sowie bei mit Bereicherungsvorsatz begangenen Straftaten: wenn dem Geschädigten ein schwerer Vermögensschaden zugefügt wird“. 10 In Art. 624 („Diebstahl“) des Strafgesetzbuchs heißt es: „Wer sich eine fremde bewegliche Sache dadurch zueignet, dass er sie dem Besitzer wegnimmt, um sich oder einem Dritten daraus einen Vorteil zu verschaffen, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren sowie mit Geldstrafe in Höhe von 154 bis 516 Euro zu bestrafen. …“ 11 Art. 648 („Hehlerei“) des Strafgesetzbuchs sieht vor: „Wer Geld oder andere aus einer Straftat stammende Sachen erwirbt, entgegennimmt, verbirgt oder bei einer dieser Handlungen als Mittler auftritt, um sich oder einem Dritten daraus einen Vorteil zu verschaffen, ist, sofern keine Beteiligung an der Straftat vorliegt, mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu acht Jahren sowie mit Geldstrafe in Höhe von 516 bis 10329 Euro zu bestrafen. …“ 12 Art. 444 („Verhängung der Strafe im Wege der Verständigung“) des Codice di procedura penale (Strafprozessordnung) bestimmt in seiner zum Sachverhaltszeitpunkt anwendbaren Fassung: „(1)   Der Beschuldigte und die Staatsanwaltschaft können beantragen, dass das Gericht eine nach Art und Maß angezeigte Ersatz- oder Geldstrafe, um bis zu einem Drittel herabgesetzt, oder Freiheitsstrafe verhängt, wenn diese unter Berücksichtigung der Umstände und um bis zu einem Drittel herabgesetzt allein oder in Verbindung mit einer Geldstrafe nicht mehr als fünf Jahre beträgt. … (2)   Stimmt auch der Beteiligte zu, der den Antrag nicht gestellt hat, und ist kein Freispruch gemäß Art. 129 zu verkünden, so verhängt das Gericht, wenn es die rechtliche Bewertung des Sachverhalts sowie die Anwendung und den Vergleich der von den Beteiligten dargelegten Umstände für zutreffend und die angegebene Strafe für angemessen hält, auf der Grundlage der Verfahrensakten mit Urteil diese Strafe und weist im Tenor darauf hin, dass die Beteiligten dies beantragt haben. Ist Privatklage erhoben worden, so trifft das Gericht keine Entscheidung über den betreffenden Antrag. Dem Beschuldigten werden jedoch die Kosten des Privatbeteiligten auferlegt, sofern keine billigen Gründe für den Zuspruch einer vollen oder teilweisen Entschädigung bestehen. Art. 75 Abs. 3 findet keine Anwendung. (3)   Der Beteiligte kann seinen Antrag an die Gewährung einer bedingten Strafnachsicht knüpfen. In diesem Fall weist das Gericht den Antrag ab, wenn es die Voraussetzungen für die bedingte Nachsicht für nicht gegeben erachtet.“ 13 Art. 516 („Änderung der Anklage“) Abs. 1 der Strafprozessordnung lautet wie folgt: „Stellt sich während der mündlichen Verhandlung (‚istruzione dibattimentale‘) ein anderer als der in der Anklageschrift geschilderte Sachverhalt heraus und fällt dieser nicht in die Zuständigkeit eines höheren Gerichts, so ändert die Staatsanwaltschaft die Anklage und hält sie entsprechend aufrecht.“ 14 Art. 521 („Zusammenhang zwischen Anklage und Urteil“) der Strafprozessordnung bestimmt: „(1)   Das Gericht kann im Urteil die Tat rechtlich anders werten als in der Anklage, sofern die Straftat seine Zuständigkeit nicht überschreitet und nicht unter die Zuständigkeit eines Senats anstelle eines Einzelrichters fällt. (2)   Stellt das Gericht fest, dass es sich um einen anderen als den in der Anklageschrift oder dem gemäß den Art. 516, 517 und 518 Abs. 2 formulierten Anklagepunkt geschilderten Sachverhalt handelt, so ordnet es mit Beschluss an, dass die Akten der Staatsanwaltschaft übergeben werden. (3)   Ebenso hat das Gericht vorzugehen, wenn die Staatsanwaltschaft außer den in den Art. 516, 517 und 518 Abs. 2 vorgesehenen Fällen einen neuen Anklagepunkt geltend macht.“ 15 Art. 552 („Anklageschrift“) Abs. 1 der Strafprozessordnung bestimmt: „Die Anklageschrift enthält: … c) die Darstellung des Sachverhalts in klarer und eindeutiger Form, der erschwerenden Umstände sowie der Umstände, die zur Anwendung von Sicherungsmaßnahmen führen können, samt Angabe der entsprechenden Rechtsvorschriften; …“ 16 Art. 555 („Mündliche Verhandlung nach unmittelbarer Ladung“) Abs. 2 der Strafprozessordnung sieht vor: „Vor Eröffnung der Verhandlung können der Beschuldigte und die Staatsanwaltschaft den in Art. 444 Abs. 1 vorgesehenen Antrag stellen; der Beschuldigte kann außerdem die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens oder die Verhängung einer freiwilligen Geldbuße beantragen.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 17 Am 11. März 2015 erstattete Francesco Legrottaglie Anzeige beim Polizeikommissariat Ostuni (Italien) gegen den Angeklagten, weil dieser von einer unbekannten Person mehrere Schmuckstücke aus Gold entgegengenommen habe, die der Familie Legrottaglie gestohlen worden seien, und diese Schmuckstücke an ein Geschäft in Ostuni übergeben habe, um sich daraus zu bereichern. 18 Am 1. April 2016 wurde der Angeklagte mit staatsanwaltschaftlicher Ladung gemäß Art. 552 der Strafprozessordnung beim Tribunale di Brindisi (Gericht Brindisi, Italien) vorgeladen, um sich wegen der Straftat der „Hehlerei“ nach Art. 648 des Strafgesetzbuchs zu verantworten. 19 Am 15. September 2016 schloss sich Francesco Legrottaglie in einer in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführten mündlichen Verhandlung dem Verfahren als Privatbeteiligter an. 20 Am 13. Oktober 2017 gab der Angeklagte im Rahmen einer in seiner Anwesenheit durchgeführten Verhandlung spontan zu, den Diebstahl der gegenständlichen Schmuckstücke begangen zu haben. 21 In diesem Stadium des Verfahrens belehrte der Richter den Angeklagten darüber, dass der ihm vorgeworfene Sachverhalt als Straftat nach Art. 624 in Verbindung mit Art. 61 Nr. 7 des Strafgesetzbuchs umqualifiziert werden könne, d. h. als „Diebstahl“ mit dem erschwerenden Umstand, dass der Geschädigte einen schweren Vermögensschaden erlitten habe. 22 Der Verteidiger des Angeklagten wurde von diesem dazu ermächtigt, die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung („patteggiamento“) gemäß Art. 444 der Strafprozessordnung für diese Straftat in der nunmehr geänderten rechtlichen Beurteilung zu beantragen. Dieser Antrag wurde für unzulässig erachtet, weil die Frist nach Art. 555 Abs. 2 der Strafprozessordnung abgelaufen sei. 23 Das Gericht regte bei der Staatsanwaltschaft an, die Anklage gemäß Art. 516 der Strafprozessordnung zu ändern, um dem Angeklagten eine Strafe im Wege der Verständigung gemäß Art. 444 der Strafprozessordnung zu ermöglichen. Die Staatsanwaltschaft entschied, keine derartige Abänderung vorzunehmen und dem Gericht, also dem Tribunale di Brindisi (Gericht Brindisi), die genaue rechtliche Beurteilung des gegenständlichen Sachverhalts zu überlassen. 24 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) Art. 516 der Strafprozessordnung insoweit für verfassungswidrig erklärt habe, als er dem Angeklagten keine Möglichkeit gebe, beim erkennenden Gericht die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung gemäß Art. 444 der Strafprozessordnung für eine andere Tat zu beantragen, die sich in der mündlichen Verhandlung herausgestellt habe und den Gegenstand eines neuen Anklagepunktes bilde. 25 So gehe aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs zu Art. 516 der Strafprozessordnung hervor, dass der Beschuldigte während der mündlichen Verhandlung die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung gemäß Art. 444 der Strafprozessordnung unter Wiedereröffnung der Frist für die Stellung dieses Antrags beantragen könne, wenn sich eine Änderung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts ergebe, sei es aufgrund eines Fehlers oder im Rahmen des gewöhnlichen Verfahrensablaufs, wobei eine solche Möglichkeit zur Beantragung einer Strafe im Wege der Verständigung ausgeschlossen sei, wenn die Änderung bloß die rechtliche Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts betreffe. 26 Für das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob es unionsrechtlich zulässig ist, dass dem Beschuldigten je nachdem, ob die Änderung den der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalt oder die rechtliche Beurteilung dieses Sachverhalts betrifft, unterschiedliche Verteidigungsrechte zustehen. 27 Bezöge sich nämlich die Abänderung der Anklage auf Sachverhaltselemente, so käme der Beschuldigte in den uneingeschränkten Genuss der vollen Verteidigungsrechte einschließlich der Möglichkeit zur Beantragung der Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung gemäß Art. 444 der Strafprozessordnung, während ihm im Fall einer Änderung der rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts lediglich das Recht auf Geltendmachung von Verteidigungsvorbringen gewährleistet wäre. 28 Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Brindisi (Gericht Brindisi) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Sind Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2012/13 sowie Art. 48 der Charta dahin auszulegen, dass sie strafprozessrechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach die sich aus einer Änderung der Anklage ergebenden Verteidigungsgarantien in qualitativer und quantitativer Hinsicht unterschiedlich gewährleistet werden, je nachdem, ob die Änderung tatsächliche Aspekte des Tatvorwurfs oder dessen rechtliche Beurteilung betrifft, wobei der Angeklagte insbesondere nur im ersten Fall um die attraktive alternative Verfahrensweise der Verhängung der Strafe (sogenannte Verständigung) ersuchen kann? Zur Vorlagefrage Zur Zulässigkeit 29 Die italienische Regierung erhebt eine Einrede der Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, weil die Richtlinie 2012/13 auf der Grundlage des Art. 82 Abs. 2 AEUV erlassen worden sei, der sich nur auf Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension beziehe. Der Anwendungsbereich dieser Richtlinie müsse daher auf Straftaten beschränkt sein, die eine solche Dimension aufwiesen. 30 Im vorliegenden Fall aber betreffe das Ausgangsverfahren eine von einem italienischen Staatsangehörigen auf italienischem Boden zulasten eines anderen italienischen Staatsangehörigen begangene Straftat. Diese weise somit keine grenzüberschreitende Dimension auf, weshalb die Richtlinie 2012/13 keine Anwendung auf ein Verfahren wie das Ausgangsverfahren finde. 31 Ebenso wenig sei Art. 48 der Charta anwendbar, weil gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 der Gerichtshof für die Entscheidung von nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallenden Rechtsfragen unzuständig sei und geltend gemachte Bestimmungen der Charta für sich allein keine solche Zuständigkeit begründen könnten. 32 Insoweit ist zu beachten, dass gemäß Art. 82 Abs. 2 Unterabs. 1 AEUV, „[s]oweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist, … das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften festlegen [können]. Bei diesen Mindestvorschriften werden die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt.“ 33 Was den Wortlaut der Richtlinie 2012/13 betrifft, so beschränken weder der ihren Gegenstand festlegende Art. 1 noch der ihren Anwendungsbereich regelnde Art. 2 ihre Anwendung auf Konstellationen mit grenzüberschreitender Dimension. 34 Hinsichtlich der Ziele der Richtlinie 2012/13 ergibt sich aus ihren Erwägungsgründen 10 und 14, dass sie darauf abzielt, durch Erlass gemeinsamer Mindestvorschriften über das Recht auf Unterrichtung in Strafverfahren das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafrechtssysteme zu stärken. Wie in diesem 14. sowie in ihrem 41. Erwägungsgrund im Wesentlichen angegeben ist, baut diese Richtlinie zu diesem Zweck auf die u. a. in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte auf und soll diese Rechte fördern (Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 88). 35 Ebenso beruhen die Erwägungsgründe 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 auf dem Gedanken, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung impliziert, dass die Entscheidungen der Justizbehörden auch in rein innerstaatlichen Fällen auf gemeinsamen Mindestnormen gründen. In diesem Rahmen können die Polizei- und Justizbehörden eines Mitgliedstaats, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 41 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in einem spezifischen Fall, in dem sich die Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ergibt, die Entscheidungen der Justizbehörden der anderen Mitgliedstaaten für mit den ihren gleichwertig halten. 36 Folglich trägt die Richtlinie 2012/13 zur Schaffung einer Mindestharmonisierung der Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union bei und ist die Anwendung der von dieser Richtlinie vorgesehenen Regelungen in einem Mitgliedstaat im Rahmen eines in diesem Mitgliedstaat anhängigen Rechtsstreits vom Vorliegen einer grenzüberschreitenden Konstellation unabhängig. 37 Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig. Beantwortung der Vorlagefrage Vorbemerkungen 38 Francesco Legrottaglie sowie die italienische, die ungarische, die niederländische und die polnische Regierung bringen vor, der Gegenstand der dem Gerichtshof in dieser Rechtssache vorgelegten Frage falle nicht unter den Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13, weshalb der Gerichtshof diese Frage nicht prüfen dürfe. 39 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens zweckdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Es ist nämlich Aufgabe des Gerichtshofs, alle Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationalen Gerichte benötigen, um die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, auch wenn diese Bestimmungen in den dem Gerichtshof von diesen Gerichten vorgelegten Fragen nicht ausdrücklich genannt sind (Urteil vom 19. Dezember 2018, AREX CZ, C‑414/17, EU:C:2018:1027, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Auch wenn das vorlegende Gericht seine Fragen der Form nach auf die Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts beschränkt hat, hindert dies demnach den Gerichtshof nicht daran, dem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem vorlegenden Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2018, AREX CZ, C‑414/17, EU:C:2018:1027, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 In seiner Frage nennt das vorlegende Gericht Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2012/13 sowie Art. 48 der Charta. 42 Nach ihrem Art. 1 werden mit der Richtlinie 2012/13 Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. 43 Wie aus Art. 3 in Verbindung mit Art. 6 der Richtlinie 2012/13 hervorgeht, betrifft das in deren Art. 1 genannte Recht zumindest zwei gesonderte Rechte. Zum einen müssen Verdächtige oder beschuldigte Personen gemäß Art. 3 dieser Richtlinie mindestens über bestimmte Verfahrensrechte belehrt werden, die nach der in dieser Bestimmung aufgestellten Liste das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts, den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung, das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf, das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen sowie das Recht auf Aussageverweigerung umfassen. Zum anderen enthält diese Richtlinie in ihrem Art. 6 Bestimmungen über das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf (Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci, C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 54 bis 56). 44 Vorliegend geht es im Ausgangsverfahren um die Möglichkeit, im Fall einer Änderung der rechtlichen Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts in der mündlichen Verhandlung die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung gemäß Art. 444 der Strafprozessordnung zu beantragen, unter Wiedereröffnung der dafür geltenden Frist. 45 Diese Rechtsfrage ist daher im Hinblick auf Art. 6 der Richtlinie 2012/13 über das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf zu untersuchen. 46 In diesem Zusammenhang stellt sich die Rechtsfrage nicht im Hinblick auf die Abs. 1 bis 3 des Art. 6 der Richtlinie. Im Hinblick auf diese Bestimmungen ist nämlich unstreitig, dass der Angeklagte erstens über die strafbare Handlung unterrichtet wurde, deren er beschuldigt wird, dass er zweitens nicht festgenommen wurde und dass ihm drittens die Informationen über den Tatvorwurf, insbesondere über dessen rechtliche Beurteilung, erteilt wurden, bevor dem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wurde. 47 Hingegen erscheint bei einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 als relevant. 48 Nach dieser Bestimmung stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß Art. 6 dieser Richtlinie gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten. 49 Somit ist im Rahmen des Ausgangsverfahrens die Reichweite des Rechts auf Unterrichtung des Beschuldigten im Fall einer Änderung der rechtlichen Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts im Hinblick auf diese Vorschrift zu bestimmen. 50 Unter diesen Umständen ist die Vorlagefrage dahin zu verstehen, ob Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 und Art. 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach der Angeklagte in der mündlichen Verhandlung im Fall einer Änderung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung beantragen kann, nicht aber bei einer Änderung der rechtlichen Beurteilung dieses Sachverhalts. Zur Richtlinie 2012/13 51 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs regelt die Richtlinie 2012/13 nicht die Modalitäten der in ihrem Art. 6 vorgesehenen Unterrichtung des Beschuldigten über den Tatvorwurf. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht das u. a. mit Art. 6 angestrebte Ziel beeinträchtigen, das, wie sich auch aus dem 27. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, darin besteht, Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten (Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci, C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 62 und 63). 52 Dabei schließt das Erfordernis, dass der Beschuldigte oder sein Rechtsanwalt unter Wahrung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit tatsächlich in einer Weise an den Verhandlungen teilnehmen können muss, die ihm die effektive Geltendmachung seines Standpunkts ermöglicht, es weder aus, dass die der Verteidigung übermittelten Informationen zum Tatvorwurf später abgeändert werden, insbesondere hinsichtlich der rechtlichen Würdigung des zur Last gelegten Sachverhalts, noch, dass im Laufe der Verhandlung neue Beweise zu den Akten genommen werden. Solche Änderungen und neuen Beweise müssen der beschuldigten Person oder ihrem Rechtsanwalt allerdings so rechtzeitig mitgeteilt werden, dass diese noch die Möglichkeit haben, wirksam zu reagieren, bevor das Gericht in die abschließende Beratung eintritt. Diese Möglichkeit ist übrigens in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 vorgesehen, wonach Änderungen der gemäß diesem Artikel im Laufe des Strafverfahrens gegebenen Informationen dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person umgehend mitgeteilt werden müssen, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 95). 53 Jedenfalls muss der beschuldigten Person und ihrem Rechtsanwalt, wann immer die detaillierten Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, im Einklang mit dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit insbesondere ausreichend Zeit gewährt werden, um diese Informationen zur Kenntnis zu nehmen, und sie müssen in die Lage versetzt werden, die Verteidigung wirksam vorzubereiten, etwaige Stellungnahmen einzureichen und gegebenenfalls alle Anträge insbesondere zur Sachverhaltsaufklärung zu stellen, die nach nationalem Recht statthaft sind. Dies kann erfordern, dass das Verfahren ausgesetzt oder unterbrochen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 96). 54 Im Übrigen wurden mit der Richtlinie 2012/13 ausweislich ihres 40. Erwägungsgrundes Mindestvorschriften erlassen, wobei die Mitgliedstaaten die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten können, um auch in Situationen, die von dieser Richtlinie nicht ausdrücklich erfasst sind, ein höheres Schutzniveau zu bieten, wobei das Schutzniveau nie unter den Standards der EMRK in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen sollte. 55 Nach der Rechtsprechung des EGMR in Strafsachen stellt eine genaue und vollständige Unterrichtung über die gegen einen Beschuldigten erhobenen Vorwürfe und folglich auch die von einem Gericht möglicherweise zu seinen Lasten vorzunehmende rechtliche Beurteilung eine wesentliche Voraussetzung für den fairen Charakter des Verfahrens dar. Das Recht auf Unterrichtung über Art und Gegenstand der Anklage ist im Licht des Rechts des Beschuldigten auf Vorbereitung seiner Verteidigung zu sehen (EGMR, 25. März 1999, Pélissier und Sassi/Frankreich, CE:ECHR:1999:0325JUD002544494, Rn. 52 und 54). Verfügen die für die Sachentscheidung zuständigen Gerichte nach innerstaatlichem Recht über die Möglichkeit zu einer anderen Einstufung des ihnen ordnungsgemäß zur Beurteilung unterbreiteten Sachverhalts, so müssen sie sich vergewissern, dass die Beschuldigten die Gelegenheit zur tatsächlichen und effektiven Ausübung ihrer diesbezüglichen Verteidigungsrechte hatten und rechtzeitig vom Gegenstand der Anklage in Kenntnis gesetzt wurden, d. h. nicht nur über die gegen sie erhobenen tatsächlichen Vorwürfe, auf denen die Anklage beruht, sondern auch in detaillierter Weise über die rechtliche Beurteilung dieser Vorwürfe (EGMR, 11. Dezember 2007, Drassich/Italien, CE:ECHR:2007:1211JUD002557504, Rn. 34; EGMR, 22. Februar 2018, Drassich/Italien, CE:ECHR:2018:0222JUD006517309, Rn. 65). 56 Wie aus der in den Rn. 51 bis 53 und 55 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervorgeht, hat die Unterrichtung über Änderungen der Anklage, wie sie in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 vorgesehen ist, u. a. bei geänderter rechtlicher Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts zu erfolgen, damit der Beschuldigte seine Verteidigungsrechte tatsächlich und effektiv ausüben kann. 57 Der Vorlageentscheidung lässt sich entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung danach unterscheidet, ob sich die Änderung auf den der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalt oder auf dessen rechtliche Beurteilung bezieht. Nur im Fall einer Änderung des Sachverhalts hat der Beschuldigte das Recht, in der mündlichen Verhandlung unter Wiedereröffnung der dafür geltenden Fristen die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung zu beantragen. 58 Im vorliegenden Fall hält das vorlegende Gericht den Umstand, dass der Beschuldigte einen Schmuckdiebstahl gestanden hat – was zur Änderung der nach dem innerstaatlichen Recht als „Hehlerei“ eingestuften Straftat zu „Diebstahl“ geführt hat –, für eine Änderung der rechtlichen Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts. 59 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht und in Rn. 21 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, wurde der Angeklagte in der mündlichen Verhandlung von dieser geänderten rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts in Kenntnis gesetzt. 60 Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die Richtlinie 2012/13 es im Hinblick auf die Gewährleistung der Fairness des Strafverfahrens erfordert, dass der Angeklagte in einem derartigen Fall einer Änderung der rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung beantragen kann. 61 Wie der Generalanwalt in Nr. 71 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind die Verpflichtungen nach der Richtlinie 2012/13 Ausdruck dessen, wie ein faires Strafverfahren in Bezug auf die Unterrichtung von Personen zu gewährleisten ist, die einer Straftat verdächtig sind bzw. aus diesem Grund belangt werden. 62 Die Richtlinie 2012/13 hat, wie aus ihrem 14. Erwägungsgrund und ihrem Art. 1 hervorgeht, den Zweck, Mindestnormen festzulegen, die hinsichtlich der Unterrichtung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen anzuwenden sind (Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 82). 63 Darüber hinaus lässt sich der in den Rn. 51 bis 53 und 55 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht entnehmen, dass das Recht auf Unterrichtung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen über Änderungen der rechtlichen Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts die Verpflichtung zur Folge hätte, dem Beschuldigten in der mündlichen Verhandlung das Recht auf Beantragung der Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung zuzugestehen. 64 Außerdem weist das vorlegende Gericht im hier zu beurteilenden Fall darauf hin, dass die nationale Regelung dem Beschuldigten bei einer solchen Änderung der rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts das Recht auf Geltendmachung von Verteidigungsvorbringen garantiert. 65 Folglich verpflichtet das in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 vorgesehene Recht eines Beschuldigten, dass ihm Änderungen der ihm im Rahmen der Unterrichtung gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, in einem Verfahren wie dem Ausgangsverfahren den betreffenden Mitgliedstaat nicht dazu, dem Beschuldigten im Fall einer Änderung der rechtlichen Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts nach Eröffnung der Verhandlung das Recht auf Beantragung der Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung zu gewähren. Zur Charta 66 Zunächst ist zu beachten, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt die Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17). 67 Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich nämlich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Regelung nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald dagegen eine solche Regelung in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert (Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19, sowie Beschluss vom 23. November 2017, Cunha Martins, C‑131/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:902, Rn. 10). 68 Da das Ausgangsverfahren die Reichweite des Rechts des Angeklagten nach Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 auf Unterrichtung über den gegen ihn erhobenen Vorwurf und insbesondere über Änderungen hinsichtlich der ihm vorgeworfenen strafbewehrten Handlung betrifft, ist festzustellen, dass diese rechtliche Konstellation in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. 69 Gemäß Art. 48 Abs. 2 der Charta wird jedem Angeklagten die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet. 70 Wie sich aus der in den Rn. 51 bis 53 und 55 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, verlangt die Wahrung der Verteidigungsrechte im Sinne dieser Bestimmung der Charta, dass der Beschuldigte über Änderungen der rechtlichen Beurteilung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts so rechtzeitig zu unterrichten ist, dass er noch die Möglichkeit hat, vor Beginn der Urteilsberatung wirksam darauf zu reagieren, um seine Verteidigung effektiv vorbereiten zu können. 71 Der Vorlageentscheidung lässt sich, wie in den Rn. 21 und 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, entnehmen, dass der Angeklagte nach seinen spontanen Erklärungen in der mündlichen Verhandlung über die Änderung der rechtlichen Beurteilung des ihm zur Last gelegten Sachverhalts unterrichtet und ihm mitgeteilt wurde, dass er das Recht habe, Argumente zu seiner Verteidigung vorzubringen. 72 Hingegen verlangen die in Art. 48 Abs. 2 der Charta vorgesehenen Verteidigungsrechte im Zusammenhang mit dem Recht des Beschuldigten auf Unterrichtung nicht, dass dieser nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung bei Änderungen des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts oder der rechtlichen Beurteilung dieses Sachverhalts die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung beantragen können muss. 73 In diesem Zusammenhang kann der bloße Umstand, dass das innerstaatliche Recht dem Beschuldigten je nachdem, ob die Änderung den der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalt oder dessen rechtliche Beurteilung betrifft, nicht dieselben Rechte hinsichtlich der Möglichkeit der Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung gewährt, für sich allein keine Verletzung der Verteidigungsrechte nach Art. 48 Abs. 2 der Charta im Hinblick auf das Recht der Verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Vorwurf begründen. 74 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 und Art. 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach der Angeklagte in der mündlichen Verhandlung im Fall einer Änderung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung beantragen kann, nicht aber bei einer Änderung der rechtlichen Beurteilung dieses Sachverhalts. Kosten 75 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren und Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach der Angeklagte in der mündlichen Verhandlung im Fall einer Änderung des der Anklage zugrunde liegenden Sachverhalts die Verhängung einer Strafe im Wege der Verständigung beantragen kann, nicht aber bei einer Änderung der rechtlichen Beurteilung dieses Sachverhalts. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 13. Juni 2019.#TopFit e.V. und Daniele Biffi gegen Deutscher Leichtathletikverband e.V.#Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Darmstadt.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18, 21 und 165 AEUV – Regelung eines Sportverbands – Teilnahme eines Amateursportlers an nationalen Meisterschaften eines Mitgliedstaats, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt – Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit – Einschränkung der Freizügigkeit.#Rechtssache C-22/18.
62018CJ0022
ECLI:EU:C:2019:497
2019-06-13T00:00:00
Gerichtshof, Tanchev
62018CJ0022 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 13. Juni 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 18, 21 und 165 AEUV – Regelung eines Sportverbands – Teilnahme eines Amateursportlers an nationalen Meisterschaften eines Mitgliedstaats, der die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt – Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit – Einschränkung der Freizügigkeit“ In der Rechtssache C‑22/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Darmstadt (Deutschland) mit Entscheidung vom 2. November 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Januar 2018, in dem Verfahren TopFit e. V., Daniele Biffi gegen Deutscher Leichtathletikverband e. V. erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, J. Malenovský, C. G. Fernlund (Berichterstatter) sowie der Richterin L. S. Rossi, Generalanwalt: E. Tanchev, Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Dezember 2018, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von TopFit e. V. und Herrn Biffi, vertreten durch Rechtsanwalt G. Kornisch, – des Deutschen Leichtathletikverbands e. V., vertreten durch Rechtsanwalt G. Engelbrecht, – der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer und I. Rubene als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. März 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18, 21 und 165 AEUV. 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den der TopFit e. V und Herr Daniele Biffi gegen den Deutschen Leichtathletikverband e. V. (im Folgenden: DLV) führen. Gegenstand dieses Rechtsstreits sind die für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten geltenden Bedingungen für die Teilnahme an nationalen Meisterschaften im Amateursport in der Kategorie der Senioren. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Art. 165 AEUV, der im Titel XII („Allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport“) des Vertrags steht, bestimmt in seinen Abs. 1 und 2: „(1)   … Die Union trägt zur Förderung der europäischen Dimension des Sports bei und berücksichtigt dabei dessen besondere Merkmale, dessen auf freiwilligem Engagement basierende Strukturen sowie dessen soziale und pädagogische Funktion. (2)   Die Tätigkeit der Union hat folgende Ziele: … – Entwicklung der europäischen Dimension des Sports durch Förderung der Fairness und der Offenheit von Sportwettkämpfen und der Zusammenarbeit zwischen den für den Sport verantwortlichen Organisationen sowie durch den Schutz der körperlichen und seelischen Unversehrtheit der Sportler, insbesondere der jüngeren Sportler.“ Ordnung des DLV 4 § 5.2.1 der Deutschen Leichtathletikordnung (im Folgenden: Leichtathletikordnung), der das Teilnahmerecht an Deutschen Meisterschaften betrifft, lautet in der Fassung vom 17. Juni 2016: „Sämtliche Meisterschaften sind grundsätzlich offen für alle Athleten, die die deutsche Staatsbürgerschaft und ein gültiges Startrecht für einen deutschen Verein/[Leichtathletik-Gemeinschaft] haben.“ 5 Die Leichtathletikordnung enthielt vormals einen § 5.2.2, wonach EU-Bürger an Deutschen Meisterschaften teilnahmeberechtigt waren, wenn sie ein Startrecht für einen deutschen Verein oder eine Leichtathletik-Gemeinschaft besaßen und dieses seit einem Jahr bestand. Dieser Paragraf wurde am 17. Juni 2016 ersatzlos aufgehoben. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 6 Der 1972 geborene Herr Biffi ist italienischer Staatsangehöriger und lebt seit 2003 in Deutschland. Er nimmt als Amateur an Laufwettbewerben in den Distanzen 60, 100, 200 und 400 m in der Kategorie Senior (über 35 Jahre) teil. Er ist Mitglied von TopFit, einem Sportverein mit Sitz in Berlin (Deutschland), der Mitglied des Berliner Leichtathletik-Verbands ist, der wiederum Mitglied des DLV ist. 7 Der DLV ist der bundesweite Dachverband der Deutschen Leichtathletikverbände. Er veranstaltet nationale Leichtathletikmeisterschaften für drei Kategorien von Athleten, nämlich junge Athleten unter 20 Jahren, junge Athleten im Spitzensport und Senioren. 8 Herr Biffi, der nicht mehr zum italienischen Leichtathletikverband gehört, hat in Deutschland seit 2012 an nationalen Seniorenmeisterschaften teilgenommen. 9 Bis zum 17. Juni 2016 sah § 5.2.2 der Leichtathletikordnung vor, dass die Teilnahme an Deutschen Meisterschaften EU-Bürgern offenstand, die keine deutschen Staatsangehörigen waren, wenn sie ein Startrecht für einen deutschen Verein oder eine deutsche Leichtathletik-Gemeinschaft besaßen, das seit mindestens einem Jahr bestand. 10 Am 17. Juni 2016 änderte der DLV die Leichtathletikordnung und hob diese Bestimmung auf. In § 5.2 der Verordnung sind nunmehr nur noch deutsche Staatsbürger genannt, so dass nach den Richtlinien des DLV Athleten deutscher Staatsangehörigkeit vorrangig für die Teilnahme an deutschen Meisterschaften nominiert werden. 11 Nach Angaben des vorlegenden Gerichts begründet der DLV diese Änderung damit, dass deutscher Meister nur ein Athlet deutscher Staatsangehörigkeit werden solle, der für Meisterschaften unter der Abkürzung „GER“, die für das Wort „Germany“, also Deutschland, stehe, startberechtigt sei. Es sei nicht möglich, für Senioren Regelungen zu treffen, die von den Regelungen für andere Kategorien von Sportlern, nämlich junge Sportler von weniger als 20 Jahren und die Kategorie Spitzensport, abwichen. 12 In seinen schriftlichen Erklärungen hat der DLV die Regelungen näher erläutert. Ausländern, die ein Startrecht für einen Verein oder eine Leichtathletik-Gemeinschaft im Verbandsgebiet des DLV oder ein Startrecht für einen anderen nationalen Verband hätten, könne in begründeten Fällen ein Teilnahmerecht außer Wertung eingeräumt werden, wenn dies vor dem jeweiligen Meldeschluss der betreffenden Sportveranstaltung genehmigt werde. In diesem Fall seien sie nur an der ersten Runde eines Laufwettbewerbs bzw. den ersten drei Versuchen eines technischen Wettbewerbs teilnahmeberechtigt. 13 TopFit meldete Herrn Biffi für die Deutschen Seniorenhallenmeisterschaften vom 4. bis 5. März 2017 in Erfurt für die Disziplinen 60, 200 und 400 m an. Diese Meldung wurde vom DLV jedoch zurückgewiesen, so dass Herr Biffi von der Meisterschaft vollständig ausgeschlossen wurde, obwohl er mit Ausnahme der Staatsangehörigkeit alle Teilnahmevoraussetzungen erfüllte. TopFit und Herr Biffi erhoben beim Verbandsrechtsausschuss erfolglos eine Beschwerde gegen die Ablehnungsentscheidung. 14 Vom 30. Juni bis 2. Juli 2017 führte der DLV in Zittau andere Deutsche Seniorenmeisterschaften durch, für die Herr Biffi die Mindestleistungen zur Teilnahme an den Läufen über 100, 200 und 400 m erfüllt hatte. Da Herr Biffi jedoch nur „außer Wertung“ bzw. „ohne Wertung“ an den Meisterschaften teilnehmen durfte, stellte er zusammen mit TopFit beim vorlegenden Gericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung, um seine vollständige Teilnahme an diesen Meisterschaften sicherzustellen. Der Antrag wurde zurückgewiesen. 15 Herrn Biffi wurde die Teilnahme an diesen Läufen gestattet, jedoch nur zum Teil, d. h., er startete außer Wertung, und zwar sowohl in den Zeitläufen als auch in den Läufen, in denen es einen Endlauf gab, wie im Lauf über 100 m, in dessen Rahmen er nur an den Qualifikationsrunden teilnehmen durfte, ohne zum Endlauf zugelassen zu werden. 16 Infolgedessen haben Herr Biffi und TopFit beim vorlegenden Gericht eine Klage auf Zulassung von Herrn Biffi zur Teilnahme an künftigen Deutschen Seniorenmeisterschaften in Wertung erhoben. Ihrer Auffassung nach erfüllte Herr Biffi mit Ausnahme der deutschen Staatsangehörigkeit alle vom DLV geforderten Voraussetzungen, insbesondere hinsichtlich der Leistungen. 17 Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob diese Voraussetzung der Staatsangehörigkeit eine rechtswidrige Diskriminierung darstellt, die gegen die Vorschriften des AEU-Vertrags verstößt. 18 Der DLV meine, die Leichtathletikordnung verstoße nicht gegen die Vorschriften des AEU-Vertrags, da die fragliche sportliche Praxis keine wirtschaftliche Tätigkeit darstelle und somit nicht dem Geltungsbereich des Unionsrechts unterfalle. 19 Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass Herr Biffi ein Seniorensportler sei, der trotz beachtlicher Leistungen Amateursportler bleibe und mit der Teilnahme an Meisterschaften keine wirtschaftliche Tätigkeit entfalte. Es sei jedoch fraglich, ob die Anwendung des Unionsrechts im Sportbereich stets von der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit abhänge. So nehme das Unionsrecht nunmehr in Art. 165 AEUV ausdrücklich auf den Sport Bezug. Zudem hänge das Recht von Unionsbürgern, sich ohne Diskriminierung in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten, wie es sich aus den Art. 18, 20 und 21 AEUV ergebe, nicht von der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit ab. 20 Das vorlegende Gericht äußert zu diesem Thema Zweifel, meint aber, die Beteiligung von Angehörigen eines Mitgliedstaats an sportlichen Meisterschaften eines anderen Mitgliedstaats sei grundsätzlich zuzulassen. Ausnahmen könnten u. a. gelten, wenn es um die Vergabe nationaler Titel und Meisterschaften gehe. Die Beschränkungen müssten jedoch verhältnismäßig sein und dürften nicht über das zur Gewährleistung des sportlichen Wettbewerbs unbedingt erforderliche Maß hinausgehen. 21 Unter diesen Umständen hat das Amtsgericht Darmstadt (Deutschland) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Sind die Art. 18, 21 und 165 AEUV dergestalt auszulegen, dass eine Vorschrift in der Leichtathletikordnung eines Verbands eines Mitgliedstaats, die die Teilnahme an nationalen Meisterschaften von der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats abhängig macht, eine unzulässige Diskriminierung darstellt? 2. Sind die Art. 18, 21 und 165 AEUV dergestalt auszulegen, dass ein Sportverband eines Mitgliedstaats Amateursportler, die nicht die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats besitzen, unzulässig diskriminiert, indem er ihnen zwar die Teilnahme an nationalen Meisterschaften ermöglicht, sie aber nur „außer“ oder „ohne Wertung“ starten lässt und nicht an Endläufen und Endkämpfen teilnehmen lässt? 3. Sind die Art. 18, 21 und 165 AEUV dergestalt auszulegen, dass ein Sportverband eines Mitgliedstaats Amateursportler, die nicht die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats besitzen, unzulässig diskriminiert, indem er sie von der Vergabe nationaler Titel beziehungsweise der Platzierung ausschließt? Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens 22 Nach der Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts hat der DLV mit Schriftsatz vom 20. März 2019 die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt, da die Schlussanträge hauptsächlich auf Art. 49 AEUV beruhten, wohingegen die Vorlagefragen nur die Art. 18, 21 und 165 AEUV betroffen hätten und die Parteien keine Gelegenheit gehabt hätten, zu einer eventuellen Auswirkung von Art. 49 AEUV auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens Stellung zu nehmen. 23 Gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Eröffnung oder Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist. 24 Vorliegend hält sich der Gerichtshof für zureichend unterrichtet, um die ihm unterbreiteten Vorlagefragen zu beantworten, und ist der Auffassung, dass die Rechtssache nicht auf der Grundlage eines zwischen den Parteien nicht erläuterten Vorbringens zu Art. 49 AEUV zu entscheiden ist. 25 Demzufolge ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen. Zu den Vorlagefragen 26 Mit seinen zusammen zu prüfenden Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 18, 21 und 165 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines nationalen Sportverbands wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats und seit vielen Jahren in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem der Verband seinen Sitz hat und er als Amateur in der Kategorie der Senioren den Laufsport ausübt, insofern nicht wie Staatsangehörige des Mitgliedstaats in dieser Disziplin an nationalen Meisterschaften teilnehmen kann, dass er auch bei Erfüllung aller Voraussetzungen bis auf die Staatsangehörigkeit an diesen Meisterschaften nur „außer Wertung“ oder „ohne Wertung“ teilnehmen kann, ohne Zugang zum Endlauf zu haben und ohne den nationalen Meisterschaftstitel erlangen zu können, und dass er sogar von der Teilnahme an diesen Meisterschaften ausgeschlossen werden kann. 27 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Unionsbürger wie Herr Biffi, ein italienischer Staatsangehöriger, der nach Deutschland gekommen ist, wo er seit 15 Jahren ansässig ist, sein Recht auf Freizügigkeit im Sinne von Art. 21 AEUV ausgeübt hat. 28 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Unionsbürgerstatus nämlich dazu bestimmt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen (Urteil vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31). 29 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, fällt die Situation eines Unionsbürgers, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, in den Anwendungsbereich von Art. 18 AEUV, in dem der Grundsatz des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verankert ist (Urteil vom 13. November 2018, Raugevicius, C‑247/17, EU:C:2018:898, Rn. 27). 30 Dieser Artikel gilt auch für einen Unionsbürger, der wie Herr Biffi in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und in dem er als Amateur an Sportwettbewerben teilnehmen möchte. 31 Des Weiteren hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das Unionsrecht den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats sowohl die Freiheit gewährleistet, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort einer selbständigen oder nicht selbständigen Tätigkeit nachzugehen, als auch die Freiheit, dort zu wohnen, nachdem er dort eine solche Tätigkeit ausgeübt hat, und dass der Zugang zu den in diesem Staat gebotenen Freizeitbeschäftigungen eine Folgeerscheinung der Freizügigkeit darstellt (Urteil vom 7. März 1996, Kommission/Frankreich, C‑334/94, EU:C:1996:90, Rn. 21). 32 Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass die Rechte eines Unionsbürgers aus Art. 21 Abs. 1 AEUV u. a. den Zweck haben, die schrittweise Integration des betreffenden Unionsbürgers in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats zu fördern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2017, Lounes, C‑165/16, EU:C:2017:862, Rn. 56). 33 Zudem spiegelt Art. 165 AEUV die beträchtliche soziale Bedeutung des Sports, insbesondere des Amateursports, in der Union wider. Diese Bedeutung wird in der Erklärung Nr. 29 zum Sport unterstrichen, die der Schlussakte der Konferenz, in der der Text des Vertrags von Amsterdam festgelegt wurde, als Anhang beigefügt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, EU:C:1995:463, Rn. 106, sowie vom 13. April 2000, Lehtonen und Castors Braine, C‑176/96, EU:C:2000:201, Rn. 33). Des Weiteren spiegelt Art. 165 AEUV die Rolle des Sports als Faktor der Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats wider. 34 Aus der Zusammenschau von Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 165 AEUV ergibt sich somit, dass die Ausübung eines Amateursports, insbesondere in einem Sportverein, dem Unionsbürger, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist als in dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, ermöglicht, Verbindungen zur Gesellschaft des Mitgliedstaats aufzubauen, in den er sich begeben hat und in dem er ansässig ist, oder diese zu festigen. Dies gilt gleichfalls für die Beteiligung an Sportwettbewerben jeglichen Niveaus. 35 Daraus folgt, dass sich ein Unionsbürger wie Herr Biffi im Rahmen der Ausübung eines Amateursports im Wettbewerb in der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats rechtmäßig auf die Art. 18 und 21 AEUV berufen kann. 36 Dennoch stellt sich die Frage, ob Regelungen nationaler Sportverbände den Vorschriften des AEU-Vertrags ebenso unterliegen wie Regelungen staatlichen Ursprungs. 37 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Achtung der Grundfreiheiten und das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, die im AUE‑Vertrag vorgesehen sind, auch für Regelungen nicht öffentlich-rechtlicher Art gelten, die zur kollektiven Regelung unselbständiger Arbeit und der Erbringung von Dienstleistungen dienen (vgl. u. a. Urteile vom 12. Dezember 1974, Walrave und Koch, 36/74, EU:C:1974:140, Rn. 17, vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, EU:C:1995:463, Rn. 82, vom 18. Dezember 2007, Laval und Partneri, C‑341/05, EU:C:2007:809, Rn. 98, sowie vom 16. März 2010, Olympique Lyonnais, C‑325/08, EU:C:2010:143, Rn. 30). 38 So hat der Gerichtshof entschieden, dass die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr seitens der Mitgliedstaaten – nach Art. 3 Buchst. c des EWG-Vertrags (aufgehoben durch den Vertrag von Lissabon), im Wesentlichen ersetzt durch die Art. 3 bis 6 AEUV, ein wesentliches Ziel der Europäischen Gemeinschaft – gefährdet wäre, wenn die Beseitigung der staatlichen Schranken dadurch in ihren Wirkungen wieder aufgehoben würde, dass privatrechtliche Vereinigungen oder Einrichtungen kraft ihrer rechtlichen Autonomie derartige Hindernisse aufrichteten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 1974, Walrave und Koch, 36/74, EU:C:1974:140, Rn. 18). 39 Dieser durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs verankerte Grundsatz gilt auch dann, wenn eine Gruppe oder Organisation gegenüber Einzelpersonen bestimmte Befugnisse ausüben und sie Bedingungen unterwerfen kann, die die Wahrnehmung der durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2000, Ferlini, C‑411/98, EU:C:2000:530, Rn. 50). 40 Daraus folgt, dass die Regelungen eines nationalen Sportverbands wie die im Ausgangsverfahren fraglichen, durch die der Zugang von Unionsbürgern zu Sportwettbewerben geregelt wird, den Vorschriften des Vertrags, u. a. den Art. 18 und 21 AEUV, unterworfen sind. 41 Somit ist zu prüfen, ob die betreffenden Regelungen mit diesen Artikeln im Einklang stehen. 42 Das vorlegende Gericht führt insoweit aus, dass ein Unionsbürger wie Herr Biffi seit der durch den DLV am 17. Juni 2016 vorgenommenen Änderung der Leichtathletikordnung anders als ein nationaler Staatsangehöriger behandelt werde. 43 Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts kann es einem solchen Bürger, selbst wenn er die Voraussetzungen im Hinblick auf die erforderlichen sportlichen Leistungen erfüllt und seit mindestens einem Jahr ein Startrecht für einen dem nationalen Leichtathletikverband angehörenden Verein besitzt, widerfahren, dass ihm die Teilnahme an nationalen Meisterschaften für Amateure in Kurzstreckenläufen in der Kategorie der Senioren verweigert wird oder dass er nur teilweise zugelassen wird. 44 Es ist darauf hinzuweisen, dass eine solche Ungleichbehandlung geeignet ist, eine Beschränkung der Freizügigkeit dieses Unionsbürgers zu schaffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. November 2018, Raugevicius, C‑247/17, EU:C:2018:898, Rn. 28). 45 Vorliegend hat nach der Vorlageentscheidung ein Amateursportler wie Herr Biffi nicht zu den gleichen Bedingungen wie deutsche Staatsangehörige Zugang zu den vom DLV in der Kategorie der Senioren veranstalteten Meisterschaften, obwohl sie zu den wichtigsten Wettbewerben auf nationaler Ebene gehören. Wird er zu diesen Meisterschaften zugelassen, kann er nunmehr nur ohne Wertung und somit ohne Zugang zu den Endläufen an den Qualifikationsrunden oder an Zeitläufen, jedoch außer Wertung, teilnehmen. 46 Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche kann, wie TopFit und Herr Biffi in ihren schriftlichen Erklärungen darlegen, auch dazu führen, dass Athleten, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats als der Bundesrepublik Deutschland sind, eine geringere Unterstützung durch die Sportvereine, deren Mitglied sie sind, erfahren als die nationalen Athleten, da diese Vereine ein geringeres Interesse daran haben, in einen Athleten zu investieren, der zur Teilnahme an nationalen Meisterschaften nicht befugt ist. In diesem Fall könnten sich Athleten wie Herr Biffi, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, schlechter in ihren Sportverein, dessen Mitglied sie sind, und folglich in die Gesellschaft des Mitgliedstaats, in dem sie ansässig sind, integrieren. 47 Derartige Wirkungen können die Ausübung von Amateursport für Unionsbürger weniger attraktiv machen und stellen somit eine Beschränkung ihrer Freizügigkeit im Sinne von Art. 21 AEUV dar. 48 Eine solche Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger kann jedoch nur gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit den betreffenden Regelungen legitimerweise verfolgten Zweck steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. November 2018, Raugevicius, C‑247/17, EU:C:2018:898, Rn. 31). 49 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Bereich des Sports wiederholt entschieden hat, dass die Bestimmungen des Unionsrechts über die Freizügigkeit und den freien Dienstleistungsverkehr Regelungen oder Praktiken nicht entgegenstehen, die aus Gründen, die mit dem spezifischen Charakter und Rahmen bestimmter sportlicher Begegnungen wie Spiele zwischen Nationalmannschaften verschiedener Länder zusammenhängen, gerechtfertigt sind. Jedoch darf diese Beschränkung des Geltungsbereichs der fraglichen Bestimmungen nicht weiter gehen, als ihr Zweck es erfordert, und kann nicht herangezogen werden, um eine sportliche Tätigkeit im Ganzen vom Geltungsbereich des Vertrags auszuschließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, EU:C:1995:463, Rn. 76 und 127). 50 Da jedoch dem ersten Anschein nach die Verleihung des Titels des nationalen Meisters in einer bestimmten sportlichen Disziplin nicht alle auf nationaler Ebene in dieser Disziplin stattfindenden Wettbewerbe umfasst, hat die Verleihung beschränkte Auswirkungen auf die Ausübung der fraglichen betreffenden Sportdisziplin. Im Übrigen erscheint es in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung zur Zusammensetzung von Nationalmannschaften legitim, die Verleihung des Titels des nationalen Meisters in einer bestimmten sportlichen Disziplin einem nationalen Staatsangehörigen vorzubehalten, da dieses nationale Element als charakteristisches Merkmal des nationalen Meisterschaftstitels angesehen werden kann. Jedoch müssen die sich aus der Verfolgung dieses Ziels ergebenden Beschränkungen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen. 51 Vorliegend ist der DLV generell der Auffassung, dass er als Sportverband bei der Festlegung seiner Regeln autonom sei. Das Publikum erwarte, dass der nationale Meister eines Staats dessen Staatsangehörigkeit besitze. Des Weiteren macht der DLV zwei spezifische Erklärungen zur Rechtfertigung seiner Regelungen geltend. Erstens diene die Bestimmung des nationalen Meisters und der zweit- und drittbesten nationalen Athleten dazu, die Athleten auszuwählen, die ihr Land in internationalen Meisterschaften wie Europameisterschaften vertreten, vorliegend unter der Abkürzung „GER“, die für das Wort „Germany“, d. h. Deutschland, stehe. Zweitens sei es nicht möglich, nach Altersklassen zu unterscheiden und Senioren von den Regelungen auszunehmen, die für junge Menschen unter 20 Jahren und den Spitzensport gelten. 52 Was zunächst das Argument angeht, dass Sportverbände bei der Festlegung ihrer Regelungen frei seien, ist wie bereits oben in Rn. 40 des vorliegenden Urteils darauf hinzuweisen, dass die Autonomie, über die diese privaten Verbände beim Erlass von Sportregelungen verfügen, sie nicht ermächtigt, die Ausübung der dem Einzelnen durch den Vertrag verliehenen Rechte einzuschränken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, EU:C:1995:463, Rn. 81). 53 Die Tatsache, dass eine Regelung rein sportlicher Art ist, bedeutet nicht, dass sie von vornherein vom Geltungsbereich des Vertrags ausgeschlossen wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2006, Meca-Medina und Majcen/Kommission, C‑519/04 P, EU:C:2006:492, Rn. 33). 54 Infolgedessen rechtfertigt das Vorbringen, dass das Publikum erwarte, dass der nationale Meister eines Landes dessen Staatsangehörigkeit besitze, nicht jegliche Beschränkung der Teilnahme von Personen an nationalen Meisterschaften, die diese Staatsangehörigkeit nicht besitzen. 55 Somit sind weiter die spezifischen Rechtfertigungsgründe zu prüfen, die der DLV geltend macht. 56 Im Hinblick auf den ersten Rechtfertigungsgrund, nämlich die Bestimmung des nationalen Meisters, der sein Land bei internationalen Meisterschaften vertritt, hat die mündliche Verhandlung vor dem Gerichtshof ergeben, dass der DLV die Teilnehmer an internationalen Meisterschaften der Kategorie der Senioren nicht selbst auswählt, sondern dass die Athleten, die Mitglieder eines zum DLV gehörenden Vereins sind und die Leistungskriterien erfüllen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit an Meisterschaften teilnehmen können, für die sie sich selbst anmelden. Somit kann eine Person, die eine andere Staatsangehörigkeit als die der Bundesrepublik Deutschland besitzt, für Deutschland antreten und Europameister der Senioren im Laufen werden. Der DLV wählt nach seinen eigenen Angaben nur in der Kategorie des Spitzensports die besten nationalen Athleten zur Teilnahme an internationalen Wettbewerben aus. 57 Was den zweiten vom DLV geltend gemachten Rechtfertigungsgrund angeht, nämlich die Notwendigkeit einheitlicher Regelungen für alle Altersklassen, so wird dieser, wie sich aus der vorangegangenen Randnummer ergibt, durch die Erklärungen des DLV zum Verfahren für die Auswahl von Athleten auf internationaler Ebene nicht gestützt, wonach dieses Verfahren nur die Kategorie des Spitzensports betreffe. 58 Somit scheint keiner der beiden vom DLV vorgebrachten Rechtfertigungsgründe auf objektiven Erwägungen zu beruhen. 59 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es andere Rechtfertigungen für die Regelungen gibt, wonach Ausländer teilweise nicht zu nationalen Meisterschaften zugelassen werden. 60 Insoweit ist hinzuzufügen, dass es zwar den betreffenden Stellen wie den Veranstaltern von Meisterschaften oder Sportverbänden obliegt, angemessene Regelungen zur Sicherung eines geordneten Wettkampfablaufs zu treffen (Urteil vom 11. April 2000, Deliège, C‑51/96 und C‑191/97, EU:C:2000:199, Rn. 67), diese jedoch nicht über das zur Erreichung des verfolgten Zweckes Erforderliche hinausgehen dürfen (Urteil vom 13. April 2000, Lehtonen und Castors Braine, C‑176/96, EU:C:2000:201, Rn. 56). 61 Im Hinblick auf das Vorbringen, wonach es sich um einen Individualsport mit schrittweiser Ausscheidung handele, hier das Laufen über Kurzstrecken, das auf acht Bahnen stattfindet, ist festzustellen, dass die Finalbeteiligung eines oder mehrerer Ausländer einen Inländer daran hindern kann, die Meisterschaft zu gewinnen, und ein Hindernis für die Bestimmung des besten Inländers darstellen kann. 62 Jedoch darf selbst im Rahmen solcher Sportarten die Nichtzulassung von Ausländern zum finalen Wettkampf nicht über das zur Erreichung des verfolgten Zweckes Erforderliche hinausgehen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass es in dem Mitgliedstaat, um den es in der vorliegenden Rechtssache geht, diesen Ausschluss für die Kategorie der Senioren jahrelang nicht gab. 63 Es ist Sache des nationalen Gerichts, bei der ihm obliegenden Prüfung anderer möglicherweise bestehender Rechtfertigungsgründe dem sich aus einer Zusammenschau der Bestimmungen von Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 165 AEUV ergebenden Ziel Rechnung zu tragen, Wettbewerbe weiter zu öffnen, und zu berücksichtigen, dass es wichtig ist, im Aufnahmemitgliedstaat ansässige Personen – vor allem die, die, wie vorliegend Herr Biffi, für einen langen Zeitraum dort ansässig sind – zu integrieren. 64 Was anschließend die Frage des vollständigen Ausschlusses von nationalen Meisterschaften angeht, ist der DLV der Auffassung, dass sich diese in der vorliegenden Rechtssache nicht stellt, da Herr Biffi an diesen Meisterschaften weiterhin teilnehmen können dürfte. Jedoch wurde Herr Biffi der Vorlageentscheidung zufolge im Jahr 2017 nicht zu einer nationalen Meisterschaft zugelassen. Zudem wäre nach den näheren Erläuterungen zum Regelwerk, die der DLV in seinen schriftlichen Erklärungen vorgetragen hat, ein solcher Ausschluss weiterhin möglich, da die Beteiligung von Ausländern, die Mitglied eines dem DLV angehörenden Vereins sind, von einer Einverständniserklärung abhängen. 65 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein System der vorherigen Zustimmung, damit es im Hinblick auf die Art. 18 und 21 AEUV gerechtfertigt ist, jedenfalls auf objektiven, nicht diskriminierenden und im Voraus bekannten Kriterien beruhen muss, damit dem Ermessen des DLV Grenzen gesetzt werden, die seine missbräuchliche Ausübung verhindern (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 20. Februar 2001, Analir u. a., C‑205/99, EU:C:2001:107, Rn. 38). 66 Da es einen Mechanismus für die Beteiligung eines ausländischen Athleten an einer nationalen Meisterschaft gibt, zumindest für die Qualifikationsrunden und/oder außer Wertung, erscheint es im Übrigen jedenfalls unverhältnismäßig, einen solchen Athleten wegen seiner Staatsangehörigkeit vollständig von den Meisterschaften auszuschließen. 67 Folglich ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 18, 21 und 165 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines nationalen Sportverbands wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats und seit vielen Jahren in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem der Verband seinen Sitz hat und er als Amateur in der Kategorie der Senioren den Laufsport ausübt, nicht wie Staatsangehörige des Mitgliedstaats in dieser Disziplin an nationalen Meisterschaften oder nur „außer Wertung“ bzw. „ohne Wertung“ teilnehmen kann, ohne Zugang zum Endlauf zu haben und ohne den nationalen Meisterschaftstitel erlangen zu können, es sei denn, diese Regelung ist durch objektive Erwägungen gerechtfertigt, die in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimerweise verfolgten Zweck stehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Kosten 68 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: Die Art. 18, 21 und 165 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines nationalen Sportverbands wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats und seit vielen Jahren in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem der Verband seinen Sitz hat und er als Amateur in der Kategorie der Senioren den Laufsport ausübt, nicht wie Staatsangehörige des Mitgliedstaats in dieser Disziplin an nationalen Meisterschaften oder nur „außer Wertung “ bzw. „ohne Wertung “ teilnehmen kann, ohne Zugang zum Endlauf zu haben und ohne den nationalen Meisterschaftstitel erlangen zu können, es sei denn, diese Regelung ist durch objektive Erwägungen gerechtfertigt, die in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimerweise verfolgten Zweck stehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Prechal Biltgen Malenovský Fernlund Rossi Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. Juni 2019. Der Kanzler A. Calot Escobar Die Präsidentin der Dritten Kammer A. Prechal (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 6. Juni 2019.#P. M. u. a. gegen Ministerraad.#Vorabentscheidungsersuchen des Grondwettelijk Hof.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge – Richtlinie 2014/24/EU – Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v – Gültigkeit – Anwendungsbereich – Ausschluss von Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienstleistungen sowie bestimmten Rechtsdienstleistungen – Gleichbehandlungs- und Subsidiaritätsgrundsatz – Art. 49 und 56 AEUV.#Rechtssache C-264/18.
62018CJ0264
ECLI:EU:C:2019:472
2019-06-06T00:00:00
Gerichtshof, Bobek
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62018CJ0264 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) 6. Juni 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge – Richtlinie 2014/24/EU – Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v – Gültigkeit – Anwendungsbereich – Ausschluss von Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienstleistungen sowie bestimmten Rechtsdienstleistungen – Gleichbehandlungs- und Subsidiaritätsgrundsatz – Art. 49 und 56 AEUV“ In der Rechtssache C‑264/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheidung vom 29. März 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 13. April 2018, in dem Verfahren P. M., N. G.d.M., P. V.d.S. gegen Ministerraad erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter) sowie der Richter C. Lycourgos, E. Juhász, M. Ilešič und I. Jarukaitis, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von P. M., P. V.d.S. und N. G.d.M., vertreten durch P. Vande Casteele, advocaat, – der belgischen Regierung, vertreten durch J.‑C. Halleux, P. Cottin, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von D. D’Hooghe, C. Mathieu und P. Wytinck, advocaten, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte, – der griechischen Regierung, vertreten durch M. Tassopoulou, S. Papaioannou und S. Charitaki als Bevollmächtigte, – der zyprischen Regierung, vertreten durch D. Kalli und E. Zachariadou als Bevollmächtigte, – des Europäischen Parlaments, vertreten durch A. Pospíšilová Padowska und R. van de Westelaken als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Balta und F. Naert als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Haasbeek und P. Ondrůšek als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen P. M., N. G.d.M. und P. V.d.S. auf der einen und dem Ministerraad (Ministerrat, Belgien) auf der anderen Seite über den Ausschluss bestimmter Rechtsdienstleistungen von den öffentlichen Auftragsvergabeverfahren in den belgischen Umsetzungsrechtsvorschriften zur Richtlinie 2014/24. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 1, 4, 24 und 25 der Richtlinie 2014/24 heißt es: „(1) Die Vergabe öffentlicher Aufträge durch oder im Namen von Behörden der Mitgliedstaaten hat im Einklang mit den im [AEUV] niedergelegten Grundsätzen zu erfolgen, insbesondere den Grundsätzen des freien Warenverkehrs, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit sowie den sich daraus ableitenden Grundsätzen wie Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung, gegenseitige Anerkennung, Verhältnismäßigkeit und Transparenz. Für über einen bestimmten Wert hinausgehende öffentliche Aufträge sollten Vorschriften zur Koordinierung der nationalen Vergabeverfahren festgelegt werden, um zu gewährleisten, dass diese Grundsätze praktische Geltung erlangen und dass das öffentliche Auftragswesen für den Wettbewerb geöffnet wird. … (4) Die zunehmende Vielfalt öffentlicher Tätigkeiten macht es erforderlich, den Begriff der Auftragsvergabe selbst klarer zu definieren. Diese Präzisierung als solche sollte jedoch den Anwendungsbereich dieser Richtlinie im Vergleich zu dem der Richtlinie 2004/18/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114)] nicht erweitern. Die Vorschriften der Union für die öffentliche Auftragsvergabe sollen nicht alle Formen öffentlicher Ausgaben abdecken, sondern nur diejenigen, die für den Erwerb von Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen im Wege eines öffentlichen Auftrags getätigt werden. … … (24) Es sei darauf hingewiesen, dass Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienste und andere vergleichbare Formen alternativer Streitbeilegung normalerweise von Organisationen oder Personen übernommen werden, deren Bestellung oder Auswahl in einer Art und Weise erfolgt, die sich nicht nach Vergabevorschriften für öffentliche Aufträge richten kann. Es sollte klargestellt werden, dass diese Richtlinie nicht für Aufträge zur Erbringung solcher Dienstleistungen – ungeachtet ihrer Bezeichnung in den nationalen Rechtsvorschriften – gilt. (25) Einige Rechtsdienstleistungen werden von durch ein Gericht eines Mitgliedstaats bestellten Dienstleistern erbracht, betreffen die Vertretung von Mandanten in Gerichtsverfahren durch Rechtsanwälte, müssen durch Notare erbracht werden oder sind mit der Ausübung von hoheitlichen Befugnissen verbunden. Solche Rechtsdienstleistungen werden in der Regel durch Organisationen oder Personen erbracht, deren Bestellung oder Auswahl in einer Art und Weise erfolgt, die sich nicht nach Vergabevorschriften für öffentliche Aufträge richten kann, wie z. B. bei der Ernennung von Staatsanwälten in einigen Mitgliedstaaten. Diese Rechtsdienstleistungen sollten daher vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen werden.“ 4 Art. 10 („Besondere Ausnahmen für Dienstleistungsaufträge“) Buchst. c und d dieser Richtlinie bestimmt: „Diese Richtlinie gilt nicht für öffentliche Dienstleistungsaufträge, die Folgendes zum Gegenstand haben: … c) Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienstleistungen; d) eine der folgenden Rechtsdienstleistungen: i) Vertretung eines Mandanten durch einen Rechtsanwalt im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie 77/249/EWG des Rates [vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (ABl. 1977, L 78, S. 17)] in – einem Schiedsgerichts- oder Schlichtungsverfahren in einem Mitgliedstaat, in einem Drittstaat oder vor einer internationalen Schiedsgerichts- oder Schlichtungsinstanz oder – Gerichtsverfahren vor Gerichten oder Behörden eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats oder vor internationalen Gerichten oder Einrichtungen; ii) Rechtsberatung zur Vorbereitung eines der unter Ziffer i des vorliegenden Buchstabens genannten Verfahren oder Rechtsberatung, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen und eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Angelegenheit, auf die sich die Beratung bezieht, Gegenstand eines solchen Verfahrens werden wird, sofern die Beratung durch einen Rechtsanwalt im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie [77/249] erfolgt; … v) sonstige Rechtsdienstleistungen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat – wenn auch nur gelegentlich – mit der Ausübung von hoheitlichen Befugnissen verbunden sind.“ Belgisches Recht 5 Mit der Loi relative aux marchés publics (Gesetz über die öffentliche Auftragsvergabe) vom 17. Juni 2016 (Moniteur belge [Belgisches Staatsblatt] vom 14. Juli 2016, S. 44219) hat der belgische Gesetzgeber die Auftragsvergaberegelungen angepasst und seine Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 2014/24 in Einklang gebracht. Art. 28 dieses Gesetzes bestimmt: „§ 1.   Unter Vorbehalt von § 2 gilt vorliegendes Gesetz nicht für öffentliche Dienstleistungsaufträge, die Folgendes zum Gegenstand haben: … 3. Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienstleistungen; 4. eine der folgenden Rechtsdienstleistungen: a) Rechtsvertretung eines Mandanten durch einen Rechtsanwalt im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie [77/249] in: i. einem schiedsrichterlichen Verfahren oder Schlichtungsverfahren in einem Mitgliedstaat, in einem Drittstaat oder vor einer internationalen Schiedsgerichts- oder Schlichtungsinstanz oder ii. Gerichtsverfahren vor Gerichten, Gerichtshöfen oder Behörden eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats oder vor internationalen Gerichten oder Einrichtungen, b) Rechtsberatung zur Vorbereitung eines der in Buchstabe a) genannten Verfahren oder Rechtsberatung, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen und eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Angelegenheit, auf die sich die Beratung bezieht, Gegenstand eines solchen Verfahrens werden wird, sofern die Beratung durch einen Rechtsanwalt im Sinne des Artikels 1 der vorerwähnten Richtlinie [77/249] erfolgt, … e) sonstige Rechtsdienstleistungen, die im Königreich – wenn auch nur gelegentlich – mit der Ausübung der Staatsgewalt verbunden sind, … § 2.   Der König kann in den von Ihm zu bestimmenden Fällen spezifische Vergaberegeln, denen die in § 1 Nr. 4 Buchstabe a) und b) erwähnten Aufträge unterliegen, festlegen.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 6 Am 16. Januar 2017 erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens, die ausgebildeten Juristen und Rechtsanwälte P. M., N. G.d.M. und P. V.d.S., Nichtigkeitsklage beim vorlegenden Gericht, dem Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien), gegen jene Bestimmungen des Gesetzes über die öffentliche Auftragsvergabe, die bestimmte Rechtsdienstleistungen sowie bestimmte Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienstleistungen von seinem Anwendungsbereich ausschließen. 7 Die Kläger des Ausgangsverfahrens machen geltend, dass diese Bestimmungen insofern eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung schaffen würden, als sie im Ergebnis die Vergabe der dort genannten Dienstleistungen den von diesem Gesetz vorgesehenen Regelungen zur Vergabe öffentlicher Aufträge entziehen würden. 8 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich so die Frage, ob der Ausschluss dieser Dienstleistungen von den Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge die vom Unionsgesetzgeber bei Erlass der Richtlinie 2014/24 verfolgten Ziele der Wettbewerbsvollständigkeit, der Dienstleistungsfreiheit sowie der Niederlassungsfreiheit beeinträchtigt und ob die Grundsätze der Subsidiarität und der Gleichbehandlung nicht eine Harmonisierung der unionsrechtlichen Regelungen auch hinsichtlich dieser Dienstleistungen verlangt hätten. 9 Das vorlegende Gericht hält es zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der vor ihm mit Nichtigkeitsklage angefochtenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften für erforderlich, zu prüfen, ob die Bestimmungen des Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v dieser Richtlinie mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Subsidiarität sowie mit den Art. 49 und 56 AEUV vereinbar sind. 10 Unter diesen Umständen hat der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v der Richtlinie 2014/24 vereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz, gegebenenfalls in Verbindung mit dem Subsidiaritätsprinzip und mit den Art. 49 und 56 AEUV, soweit die darin angegebenen Dienstleistungen ausgeschlossen werden von der Anwendung der Vergabevorschriften in der vorgenannten Richtlinie, obwohl sie den vollen Wettbewerb und den freien Verkehr bei der Vergabe von öffentlichen Dienstleistungsaufträgen garantieren? Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens 11 Die tschechische und die zyprische Regierung bestreiten die Zulässigkeit der Vorlagefrage und somit des Vorabentscheidungsersuchens. 12 Nach dem Vorbringen der tschechischen Regierung hat diese Frage keinerlei Bezug zur Realität oder zum Gegenstand des Ausgangsrechtsstreit, der sich um die Frage drehe, ob die belgische Verfassung einem Ausschluss bestimmter, auch vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24 ausgenommener Rechtsdienstleistungen vom Anwendungsbereich der nationalen Regelungen über die Vergabe öffentlicher Aufträge durch das innerstaatliche Recht entgegenstehe. Das Unionsrecht verpflichte aber einen Mitgliedstaat nicht, die fraglichen Dienstleistungen in den Anwendungsbereich der innerstaatlichen Umsetzungsvorschriften einzubeziehen. Diese Frage sei somit ausschließlich anhand der belgischen Verfassung zu beurteilen. 13 Die zyprische Regierung macht ihrerseits geltend, dass sich die vorgelegte Frage auf die Vereinbarkeit von Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v dieser Richtlinie mit den Art. 49 und 56 AEUV beziehe, jedoch jede nationale Maßnahme, deren Gegenstand auf Unionsebene vollständig harmonisiert sei, im Hinblick auf die Bestimmungen dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht auf jene des Primärrechts zu beurteilen sei. 14 Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, vor dem eine Frage nach der Gültigkeit einer Handlung der Unionsorgane aufgeworfen wird, zu beurteilen, ob für seine Entscheidung insoweit eine Entscheidung erforderlich ist, und den Gerichtshof gegebenenfalls zu ersuchen, über diese Frage zu befinden. Betreffen die vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen die Gültigkeit einer Bestimmung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteile vom 11. November 1997, Eurotunnel u. a., C‑408/95, EU:C:1997:532, Rn. 19, vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco [Investments] und Imperial Tobacco, C‑491/01, EU:C:2002:741, Rn. 34, sowie vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 49). 15 Der Gerichtshof kann die Entscheidung über eine von einem nationalen Gericht gemäß Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage nur dann ablehnen, wenn etwa die in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufgeführten Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens nicht erfüllt sind oder offensichtlich ist, dass die Auslegung oder die Beurteilung der Gültigkeit einer Unionsvorschrift, um die das vorlegende Gericht ersucht, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist (Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 50). 16 Im vorliegenden Fall lässt sich der Vorlageentscheidung entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren gegenständlichen nationalen Bestimmungen, deren Nichtigerklärung vor dem vorlegenden Gericht begehrt wird, das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/24 im belgischen Recht betreffen, konkret den Ausschluss bestimmter Rechtsdienstleistungen von seinem Anwendungsbereich. 17 Unter diesen Umständen fehlt es der Frage nach der Gültigkeit von Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v der Richtlinie 2014/24 entgegen dem Vorbringen der tschechischen und der zyprischen Regierung nicht an Relevanz für das Ergebnis des Ausgangsrechtsstreits. Würde nämlich der von den genannten Bestimmungen angeordnete Ausschluss für ungültig erklärt, so müssten die mit Nichtigkeitsklage vor dem vorlegenden Gericht angefochtenen Rechtsvorschriften als unionsrechtswidrig erachtet werden. 18 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass die vorgelegte Frage und somit auch das Vorabentscheidungsersuchen zulässig sind. Zur Vorlagefrage 19 Mit seiner Frage begehrt das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen eine Entscheidung über die Gültigkeit von Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v der Richtlinie 2014/24 im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Subsidiarität sowie auf die Art. 49 und 56 AEUV. 20 Was erstens den Subsidiaritätsgrundsatz und die Einhaltung der Art. 49 und 56 AEUV betrifft, ist zum einen festzuhalten, dass der in Art. 5 Abs. 3 EUV festgeschriebene Subsidiaritätsgrundsatz vorsieht, dass die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 215 und die dort angeführte Rechtsprechung). 21 Aus dem Umstand, dass der Unionsgesetzgeber vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24 die in ihrem Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v angeführten Dienstleistungen ausgeschlossen hat, folgt zwingend, dass er dabei davon ausgegangen ist, dass es den nationalen Gesetzgebern obliegt zu bestimmen, ob diese Dienstleistungen den Regelungen zur Vergabe öffentlicher Aufträge zu unterwerfen sind. 22 Somit kann nicht behauptet werden, dass diese Bestimmungen unter Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip erlassen worden wären. 23 Zum anderen wird hinsichtlich der Einhaltung der Art. 49 und 56 AEUV im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 ausgeführt, dass die Vergabe öffentlicher Aufträge durch oder im Namen von Behörden der Mitgliedstaaten im Einklang mit den im AEUV niedergelegten Grundsätzen, insbesondere mit den Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit, zu erfolgen hat. 24 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs soll nämlich die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge auf Unionsebene die von diesen Verfahren möglicherweise aufgestellten Hemmnisse für den freien Dienstleistungs- und Warenverkehr beseitigen und somit die Interessen der in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Wirtschaftsteilnehmer schützen, die den in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen öffentlichen Auftraggebern Waren oder Dienstleistungen anbieten möchten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. November 2007, Kommission/Irland, C‑507/03, EU:C:2007:676, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 25 Daraus folgt jedoch nicht, dass die Richtlinie 2014/24 dadurch, dass sie die in ihrem Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v bezeichneten Dienstleistungen von ihrem Anwendungsbereich ausschließt und somit die Mitgliedstaaten nicht zwingt, sie den Regelungen für die Vergabe öffentlicher Aufträge zu unterwerfen, die von den Verträgen garantierten Freiheiten beeinträchtigen würde. 26 Was zweitens den Ermessensspielraum des Unionsgesetzgebers und den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz betrifft, hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung dem Unionsgesetzgeber im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten ein weites Ermessen zugebilligt, wenn seine Tätigkeit politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen beinhaltet und wenn er komplexe Beurteilungen und Prüfungen vornehmen muss (Urteile vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 57, sowie vom 30. Januar 2019, Planta Tabak, C‑220/17, EU:C:2019:76, Rn. 44). Eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme kann nur dann rechtswidrig sein, wenn sie zur Erreichung des von den zuständigen Organen verfolgten Ziels offensichtlich ungeeignet ist (Urteil vom 14. Dezember 2004, Swedish Match, C‑210/03, EU:C:2004:802, Rn. 48). 27 Selbst wenn der Unionsgesetzgeber über eine solche Befugnis verfügt, ist er jedoch verpflichtet, seine Entscheidung auf Kriterien zu stützen, die objektiv sind und in angemessenem Verhältnis zu dem mit der in Rede stehenden Regelung verfolgten Ziel stehen (Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 58). 28 Ferner besagt der allgemeine Gleichheitsgrundsatz nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29 Die Vergleichbarkeit verschiedener Sachverhalte ist in Anbetracht aller Merkmale zu beurteilen, die sie kennzeichnen. Diese Merkmale sind u. a. im Licht des Gegenstands und des Ziels der Unionsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung einführt, zu bestimmen und zu beurteilen. Außerdem sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, in den diese Maßnahme fällt (Urteile vom 12. Mai 2011, Luxemburg/Parlament und Rat, C‑176/09, EU:C:2011:290, Rn. 32, sowie vom 30. Januar 2019, Planta Tabak, C‑220/17, EU:C:2019:76, Rn. 37). 30 Im Lichte dieser Prinzipien ist die Gültigkeit von Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v der Richtlinie 2014/24 im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz zu prüfen. 31 So führt erstens hinsichtlich der in Art. 10 Buchst. c der Richtlinie 2014/24 genannten Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienstleistungen der 24. Erwägungsgrund dieser Richtlinie aus, dass die Organisationen oder Personen, die solche Dienstleistungen und andere vergleichbare Formen alternativer Streitbeilegung übernehmen, in einer Art und Weise ausgewählt werden, die sich nicht nach Vergabevorschriften für öffentliche Aufträge richten kann. 32 Die Schiedsrichter und Schlichter müssen nämlich stets von sämtlichen Parteien des Rechtsstreits akzeptiert werden und werden von diesen nach einer gemeinsamen Vereinbarung bestellt. Eine öffentliche Stelle, die ein Auftragsvergabeverfahren für eine Schiedsgerichts- oder Schlichtungsdienstleistung vornehmen würde, könnte daher der anderen Partei nicht den Zuschlagsempfänger dieses Auftrags als gemeinsamen Schiedsrichter oder Schlichter aufzwingen. 33 Angesichts ihrer objektiven Merkmale sind die in Art. 10 Buchst. c der Richtlinie 2014/24 genannten Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienstleistungen somit nicht mit den anderen in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie einbezogenen Dienstleistungen vergleichbar. Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber im Rahmen seines Ermessensspielraums die in Art. 10 Buchst. c der Richtlinie 2014/24 bezeichneten Dienstleistungen ohne Beeinträchtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausnehmen konnte. 34 Zweitens geht aus dem 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 hervor, dass der Unionsgesetzgeber hinsichtlich der von Rechtsanwälten erbrachten Dienstleistungen nach Art. 10 Buchst. d Ziff. i und ii dieser Richtlinie den Umstand berücksichtigt hat, dass solche Rechtsdienstleistungen in der Regel durch Organisationen oder Personen erbracht werden, deren Bestellung oder Auswahl in einer Art und Weise erfolgt, die sich in einigen Mitgliedstaaten nicht nach Vergabevorschriften für öffentliche Aufträge richten kann, so dass diese Rechtsdienstleistungen vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen werden sollten. 35 Dazu ist festzuhalten, dass Art. 10 Buchst. d Ziff. i und ii der Richtlinie 2014/24 nicht alle Dienstleistungen, die von einem Rechtsanwalt für einen öffentlichen Auftraggeber erbracht werden können, vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausschließt, sondern lediglich die Vertretung seines Mandanten in einem Verfahren vor einer internationalen Schiedsgerichts- oder Schlichtungsinstanz, vor den Gerichten oder Behörden eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats oder vor internationalen Gerichten oder Einrichtungen, sowie die Rechtsberatung im Rahmen der Vorbereitung oder im Hinblick auf die Möglichkeit eines solchen Verfahrens. Solche Dienstleistungen eines Rechtsanwalts lassen sich nur im Rahmen einer von höchstmöglicher Vertraulichkeit geprägten persönlichen Beziehung zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten erbringen. 36 Nun erschwert zum einen eine solche persönliche Beziehung zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten, die durch die freie Auswahl des Vertreters durch den Mandanten und das ihn mit seinem Anwalt verbindende Vertrauensverhältnis geprägt ist, die objektive Beschreibung der erwarteten Qualität der zu erbringenden Dienstleistungen. 37 Zum anderen könnte die Vertraulichkeit des Verhältnisses zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten, mit der insbesondere unter den in Rn. 35 des vorliegenden Urteils beschriebenen Umständen sichergestellt werden soll, dass die Einzelnen ihre Verteidigungsrechte uneingeschränkt ausüben und sich völlig frei an einen Rechtsanwalt wenden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 1982, AM & S Europe/Kommission, 155/79, EU:C:1982:157, Rn. 18), durch eine Verpflichtung des öffentlichen Auftraggebers zur Angabe der Bedingungen der Vergabe eines solchen Auftrags und die damit verbundene Publizität gefährdet werden. 38 Daraus folgt, dass die in Art. 10 Buchst. d Ziff. i und ii der Richtlinie 2014/24 angeführten Dienstleistungen angesichts ihrer objektiven Merkmale nicht mit den anderen in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie einbezogenen Dienstleistungen vergleichbar sind. Unter Berücksichtigung dieser objektiven Differenzierung konnte der Unionsgesetzgeber diese Dienstleistungen im Rahmen seines Ermessensspielraums auch ohne Beeinträchtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausnehmen. 39 Was drittens die von Art. 10 Buchst. d Ziff. v der Richtlinie 2014/24 erfassten sonstigen Rechtsdienstleistungen betrifft, die, wenn auch nur gelegentlich, mit der Ausübung von hoheitlichen Tätigkeiten verbunden sind, so werden diese Tätigkeiten und damit auch die angesprochenen Dienstleistungen gemäß Art. 51 AEUV vom Anwendungsbereich der Bestimmungen dieses Vertrags über die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 62 AEUV ausgeschlossen. Solche Dienstleistungen unterscheiden sich von jenen innerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie durch eine mittelbare oder unmittelbare Teilhabe an der Ausübung von Hoheitsgewalt und an den Funktionen zur Wahrung der allgemeinen Interessen des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften. 40 Folglich sind Rechtsdienstleistungen, die, wenn auch nur gelegentlich, mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse verbunden sind, ihrer Natur nach aufgrund ihrer objektiven Merkmale nicht mit den anderen in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24 fallenden Dienstleistungen vergleichbar. Angesichts dieser objektiven Differenzierung konnte der Unionsgesetzgeber sie im Rahmen seines Ermessensspielraums wiederum ohne Beeinträchtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausschließen. 41 Somit hat die Prüfung der Bestimmungen des Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v der Richtlinie 2014/24 keinen Umstand ergeben, der ihre Gültigkeit im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Subsidiarität sowie auf die Art. 49 und 56 AEUV beeinträchtigen könnte. 42 Im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass ihre Prüfung nichts ergeben hat, was im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Subsidiarität sowie auf die Art. 49 und 56 AEUV die Gültigkeit der Bestimmungen des Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v der Richtlinie 2014/24 in Frage stellen könnte. Kosten 43 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: Die Prüfung der Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Bestimmungen des Art. 10 Buchst. c und d Ziff. i, ii und v der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Subsidiarität sowie auf die Art. 49 und 56 AEUV in Frage stellen könnte. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 8. Mai 2019.#Stemcor London Ltd und Samac Steel Supplies Ltd gegen Europäische Kommission.#Dumping – Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse mit Ursprung in China und Russland – Endgültiger Antidumpingzoll – Zollamtliche Erfassung der Einfuhren – Rückwirkende Anwendung des endgültigen Antidumpingzolls – Durchführungsverordnung (EU) 2016/1329 – Kenntnis des Einführers vom Dumping und der Schädigung – Weiterer erheblicher Anstieg der Einfuhren, der die Abhilfewirkung des endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich ernsthaft untergraben wird – Art. 10 Abs. 4 Buchst. c und d der Verordnung (EU) 2016/1036.#Rechtssache T-749/16.
62016TJ0749
ECLI:EU:T:2019:310
2019-05-08T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62016TJ0749 URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer) 8. Mai 2019 (*1) „Dumping – Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse mit Ursprung in China und Russland – Endgültiger Antidumpingzoll – Zollamtliche Erfassung der Einfuhren – Rückwirkende Anwendung des endgültigen Antidumpingzolls – Durchführungsverordnung (EU) 2016/1329 – Kenntnis des Einführers vom Dumping und der Schädigung – Weiterer erheblicher Anstieg der Einfuhren, der die Abhilfewirkung des endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich ernsthaft untergraben wird – Art. 10 Abs. 4 Buchst. c und d der Verordnung (EU) 2016/1036“ In der Rechtssache T‑749/16, Stemcor London Ltd mit Sitz in London (Vereinigtes Königreich), Samac Steel Supplies Ltd mit Sitz in London, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte F. Di Gianni und C. Van Hemelrijck, Klägerinnen, gegen Europäische Kommission, vertreten durch J.‑F. Brakeland, N. Kuplewatzky, T. Maxian Rusche und E. Schmidt als Bevollmächtigte, Beklagte, unterstützt durch Eurofer, Association européenne de l’acier, ASBL mit Sitz in Luxemburg (Luxemburg), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte O. Prost, A. Coelho Dias und S. Seeuws, Streithelferin, betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV, mit der die teilweise Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1329 der Kommission vom 29. Juli 2016 zur Erhebung des endgültigen Antidumpingzolls auf die zollamtlich erfassten Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse mit Ursprung in der Volksrepublik China und der Russischen Föderation (ABl. 2016, L 210, S. 27) begehrt wird, erlässt DAS GERICHT (Zweite Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten M. Prek sowie der Richter E. Buttigieg (Berichterstatter) und B. Berke, Kanzler: P. Cullen, Verwaltungsrat, auf das schriftliche Verfahren und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Oktober 2018 folgendes Urteil Vorgeschichte des Rechtsstreits 1 Die Klägerinnen, die Stemcor London Ltd und die Samac Steel Supplies Ltd, sind zwei Gesellschaften englischen Rechts, die in die Europäische Union vor allem kaltgewalzte Flachstahlerzeugnisse wie jene, die in Art. 1 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1329 der Kommission vom 29. Juli 2016 zur Erhebung des endgültigen Antidumpingzolls auf die zollamtlich erfassten Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse mit Ursprung in der Volksrepublik China und der Russischen Föderation (ABl. 2016, L 210, S. 27, im Folgenden: angefochtene Verordnung) aufgeführt sind, einführen und dort vermarkten. 2 Auf Antrag von Eurofer, Association européenne de l’acier, ASBL (im Folgenden: Eurofer) vom 1. April 2015 veröffentlichte die Europäische Kommission am 14. Mai 2015 die Bekanntmachung der Einleitung eines Antidumpingverfahrens betreffend die Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse mit Ursprung in der Volksrepublik China und der Russischen Föderation (ABl. 2015, C 161, S. 9, im Folgenden: Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung) gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 des Rates vom 30. November 2009 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern ([ABl. 2009, L 343, S. 51, Berichtigung ABl. 2010, L 7, S. 22], ersetzt durch die Verordnung [EU] 2016/1036 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2016 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Union gehörenden Ländern [ABl. 2016, L 176, S. 21, im Folgenden: Grundverordnung]). 3 Die Untersuchung des Dumpings und der Schädigung betraf den Zeitraum vom 1. April 2014 bis zum 31. März 2015 (im Folgenden: Untersuchungszeitraum), während die Prüfung der für die Schadensermittlung relevanten Entwicklungen den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum Ende des Untersuchungszeitraums betraf. 4 Auf Antrag von Eurofer erließ die Kommission gemäß Art. 14 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1225/2009 die Durchführungsverordnung (EU) 2015/2325 vom 11. Dezember 2015 zur zollamtlichen Erfassung der Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse mit Ursprung in der Volksrepublik China und der Russischen Föderation (ABl. 2015, L 328, S. 104), die am 13. Dezember 2015 in Kraft getreten ist. 5 Am 11. Januar 2016 reichten die Klägerinnen bei der Kommission schriftliche Erklärungen zur Durchführungsverordnung 2015/2325 ein. Sie machten geltend, die Voraussetzungen für eine rückwirkende Einführung von Antidumpingzöllen auf die betreffenden Erzeugnisse seien nicht erfüllt und die zollamtliche Erfassung der Einfuhren sowie die rückwirkende Einführung dieser Zölle hätten erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Einführer und Verwender der betreffenden Erzeugnisse in der Union. Am 14. Januar 2016 wurden die Klägerinnen in einer auf ihr Ersuchen von der Kommission durchgeführten Anhörung angehört. 6 Mit ihrer Durchführungsverordnung (EU) 2016/181 vom 10. Februar 2016 zur Einführung eines vorläufigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse mit Ursprung in der Volksrepublik China und der Russischen Föderation (ABl. 2016, L 37, S. 1) führte die Kommission einen vorläufigen Antidumpingzoll auf die Einfuhren der betreffenden Erzeugnisse ab 13. Februar 2016 ein und wies die Zollbehörden an, die zollamtliche Erfassung der Einfuhren der betreffenden Erzeugnisse einzustellen. 7 Am 17. Februar 2016 übermittelte die Kommission den Klägerinnen sowie anderen Einführern ein Auskunftsersuchen zu den betreffenden Erzeugnissen, die vom 1. April 2015 bis zum 31. Januar 2016 eingeführt worden waren. Mit Schreiben vom 9. und 17. März 2016 legten die Klägerinnen ihre Antworten auf das Auskunftsersuchen der Kommission vor. 8 Am 26. Februar 2016 wurden die Klägerinnen erneut in einer auf ihr Ersuchen von der Kommission durchgeführten Anhörung angehört und machten erneut geltend, die Voraussetzungen für eine rückwirkende Einführung von Antidumpingzöllen seien nicht erfüllt. 9 Am 8. Juni 2016 teilte die Kommission den Klägerinnen ihre endgültigen Schlussfolgerungen mit, in denen sie ihre Absicht zum Ausdruck brachte, rückwirkend einen endgültigen Antidumpingzoll auf die zollamtlich erfassten Einfuhren zu erheben. 10 Am 15. Juni 2016 wurden die Klägerinnen in einer Anhörung vor dem Anhörungsbeauftragten angehört und erhoben Einwände gegen die Schlussfolgerungen in der endgültigen Unterrichtung der Kommission. 11 Mit ihrer Durchführungsverordnung (EU) 2016/1328 vom 29. Juli 2016 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Zolls auf die Einfuhren bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse mit Ursprung in der Volksrepublik China und der Russischen Föderation (ABl. 2016, L 210, S. 1) führte die Kommission einen endgültigen Antidumpingzoll auf die betreffenden Erzeugnisse ein und beschloss, den vorläufigen Zoll auf diese Erzeugnisse endgültig zu vereinnahmen. Am selben Tag erließ die Kommission gemäß Art. 10 Abs. 4 der Grundverordnung die angefochtene Verordnung, die die rückwirkende Vereinnahmung des endgültigen Antidumpingzolls auf die gemäß der Durchführungsverordnung 2015/2325 zollamtlich erfassten Einfuhren vorsieht. Verfahren und Anträge der Beteiligten 12 Die Klägerinnen haben mit Klageschrift, die am 28. Oktober 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben. 13 Mit Schriftsatz, der am 1. März 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Eurofer beantragt, als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. 14 Mit Schriftsatz, der am 30. März 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen beantragt, bestimmte in der Klageschrift und ihren Anträgen enthaltene Angaben gegenüber Eurofer vertraulich zu behandeln, falls diese als Streithelferin zugelassen wird. Die Klägerinnen haben diesem Antrag eine nicht vertrauliche Fassung dieser Dokumente beigelegt. 15 Mit Schriftsatz, der am 21. April 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen beantragt, bestimmte in der Klagebeantwortung und ihren Anhängen enthaltene Angaben gegenüber Eurofer vertraulich zu behandeln, falls diese als Streithelferin zugelassen wird. 16 Mit Beschluss vom 3. Mai 2017 hat der Präsident der Zweiten Kammer des Gerichts dem Antrag von Eurofer auf Zulassung als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission stattgegeben und angeordnet, dieser die nicht vertraulichen Fassungen der in Rede stehenden Dokumente zu übermitteln. 17 Mit Schriftsatz, der am 15. Mai 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen beantragt, bestimmte in der Erwiderung und ihren Anhängen enthaltene Angaben gegenüber Eurofer vertraulich zu behandeln. Sie haben diesem Antrag eine nicht vertrauliche Fassung dieser Dokumente beigelegt. 18 Mit Schriftsatz, der am 16. August 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Klägerinnen einen begründeten Antrag nach Art. 106 der Verfahrensordnung des Gerichts gestellt, im mündlichen Verfahren gehört zu werden. 19 Die Klägerinnen beantragen, – die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie sie betrifft; – der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 20 Die Kommission beantragt, – die Klage als unbegründet abzuweisen; – den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen. 21 Die Streithelferin beantragt, – die Klage als unbegründet abzuweisen; – den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen. Rechtliche Würdigung 22 Die Klägerinnen stützen ihre Klage auf drei Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund wird eine falsche Auslegung und Anwendung der Voraussetzung der „Kenntnis“ des Einführers vom Ausmaß des Dumpings nach Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung gerügt. Mit dem zweiten Klagegrund wird geltend gemacht, die Beurteilung der Voraussetzung eines „[weiteren] erheblichen Anstiegs der Einfuhren“ nach Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung sei fälschlich auf den Zeitraum vom ersten vollen Monat nach Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung im Amtsblatt der Europäischen Union bis zum letzten vollen Monat vor der Einführung vorläufiger Maßnahmen gestützt worden. Schließlich wird mit dem dritten Klagegrund gerügt, die in Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung genannte Voraussetzung, dass der weitere Anstieg der Einfuhren „die Abhilfewirkung wahrscheinlich ernsthaft untergräbt“, sei falsch ausgelegt worden. Erster Klagegrund: falsche Auslegung und Anwendung der Voraussetzung der „Kenntnis“ des Einführers vom Dumping und von dessen Ausmaß nach Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes 23 Mit dem ersten Teil des ersten Klagegrundes machen die Klägerinnen geltend, die Kommission habe dadurch gegen Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung verstoßen, dass sie den Schluss gezogen habe, dass die Einführer aufgrund der Übermittlung der nicht vertraulichen Fassung des Antrags von Eurofer und der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung im Sinne dieser Vorschrift „nach dem Ausmaß des Dumpings und der angeblichen oder festgestellten Schädigung von dem Dumping Kenntnis hatten oder hätten haben müssen“. 24 Indem sie sich auf eine vergleichende Analyse verschiedener Sprachfassungen der zuvor angeführten Vorschrift stützen, machen die Klägerinnen erstens geltend, der Ausdruck „angeblich“ beziehe sich nur auf den Ausdruck „Schädigung“ und nicht auch auf den Ausdruck „Dumping“. Folglich hätte die Kommission hinsichtlich des streitigen Dumpings nachweisen müssen, dass der Einführer von dessen „tatsächlichem“ Vorhandensein und Ausmaß Kenntnis gehabt habe, was sie nicht getan habe. 25 Wenn zweitens der Schluss gezogen werde, dass der Einführer vom Dumping und seinem Ausmaß aufgrund der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung und des Zugangs zur nicht vertraulichen Fassung des Antrags Kenntnis erlangt habe, laufe dies auf eine unwiderlegbare Vermutung hinaus, dass der Einführer in jedem solchen Fall durch die bloße Einleitung einer Untersuchung Kenntnis erlange, sofern er als Beteiligter daran registriert werde, wodurch Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung seiner praktischen Wirksamkeit beraubt werde. Hinzu komme, dass die rückwirkende Erhebung endgültiger Antidumpingzölle offensichtlich eine außerordentliche Maßnahme darstelle, was insbesondere aus Art. 10 Abs. 1 der Grundverordnung hervorgehe, und dass nach ständiger Rechtsprechung Ausnahmen sowie Vorschriften mit nachteiligen Folgen für die Einzelnen eng auszulegen seien. 26 Drittens könnten bloße nicht kontradiktorische Behauptungen in einem Antrag sowie Anscheinsbeweise für das Vorliegen von Dumping in einer Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung nicht Informationen gleichgestellt werden, die dem Einführer das Ausmaß des Dumpings, dessen Feststellung notwendigerweise komplexe wirtschaftliche Erwägungen erfordere, und daher die erwartete Höhe des Antidumpingzolls bewusst machten, der erst zu einem späteren Zeitpunkt erhoben werden könne. Die Beweismittel in einem Antrag oder einer Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung seien keine repräsentativen und zuverlässigen Beweise, sondern sehr vage Anscheinsbeweise für das angebliche Dumping und könnten somit keine objektive Grundlage für die Feststellung einer Kenntnis vom Ausmaß des Dumpings sein, selbst wenn es ausreiche, dass Letzteres nur behauptet werde. Solche repräsentativen und zuverlässigen Beweise könnten die Form von nicht vertraulichen Zusammenfassungen der Antworten auf die Fragebögen durch die ausführenden Hersteller annehmen, die es dem Einführer ermöglichten, zu verstehen, dass Dumping vorliege, und dessen Ausmaß zu beurteilen. 27 Was den Antrag von Eurofer betrifft, fügen die Klägerinnen hinzu, es gebe keine hinreichenden Indizien, da sie nicht repräsentativ, vage und größtenteils vertraulich seien. Nach Ansicht der Klägerinnen beruhte die Berechnung der Dumpingspanne hinsichtlich der russischen Einfuhren auf unvollständigen Beweisen für die Ermittlung des Normalwerts und des Ausfuhrpreises. Dieser Antrag enthalte auch keine Angaben zum Ausmaß des angeblichen Dumpings in Bezug auf den speziellen russischen ausführenden Hersteller, bei dem sie die betreffenden Erzeugnisse während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung gekauft hätten. Um die in Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung vorgesehene Voraussetzung betreffend die Kenntnis von dem Dumping zu erfüllen, müssten die Einführer über zuverlässige Informationen über das Ausmaß des von jedem kooperierenden herstellenden Ausführer praktizierten Dumpings verfügen. Wenngleich die in einem Antrag enthaltenen Berechnungen, die nie auf detaillierten Angaben beruhten, ausreichend sein könnten, um die Einleitung einer Untersuchung auszulösen, reichten sie nicht aus, um eine Kenntnis vom Ausmaß des Dumpings festzustellen und auf einen außergewöhnlichen Mechanismus der rückwirkenden Anwendung endgültiger Antidumpingzölle zurückzugreifen. Hinzu komme, dass die nicht vertraulichen Fassungen der im Namen der ausführenden Hersteller vorgelegten Fragebogenantworten keine seriösen Angaben enthalten hätten, die verwendet werden könnten, um ihre Dumpingspannen zu bestimmen, und dass aus den Akten auch keine solchen Angaben hervorgingen. Vielmehr hätten sich die ausführenden Hersteller stets vehement gegen die Einleitung einer Untersuchung ausgesprochen. 28 Die Kommission, unterstützt von der Streithelferin, tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 29 Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung sieht vor, dass ein endgültiger Antidumpingzoll auf Waren erhoben werden kann, die innerhalb von 90 Tagen vor dem Zeitpunkt der Anwendung der vorläufigen Maßnahmen, aber nicht vor der Einleitung einer Untersuchung in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt wurden, sofern insbesondere bei der betreffenden Ware schon früher Dumping über einen längeren Zeitraum vorlag oder „der Einführer nach dem Ausmaß des Dumpings und der angeblichen oder festgestellten Schädigung von dem Dumping Kenntnis hatte oder hätte haben müssen“. 30 Es ist festzustellen, dass letztere Voraussetzung in der deutschen Fassung der Grundverordnung wie folgt formuliert wird: „der Einführer nach dem Ausmaß des Dumpings und der angeblichen oder festgestellten Schädigung von dem Dumping Kenntnis hatte oder hätte haben müssen“. Die portugiesische Fassung lautet hier „o importador tivesse ou devesse ter tido conhecimento dessas práticas no que respeita à importância do dumping e do prejuízo alegados ou verificados“ und in der englischen heißt es, dass „the importer was aware of, or should have been aware of, the dumping as regards the extent of the dumping and the injury alleged or found“. 31 Aus der Prüfung dieser verschiedenen Sprachfassungen der oben genannten Vorschrift ergibt sich, dass es zwischen ihnen Unterschiede gibt. So werden vor allem in der deutschen und in der französischen Fassung die Termini „angeblich“ („allégué“) und „festgestellt“ („établi“) in der Einzahl verwendet, was nahelegt, dass sich diese Termini nur auf die Schädigung und nicht auch auf das Dumping oder sein Ausmaß beziehen. In der portugiesischen Fassung hingegen werden die Termini „angeblich“ und „festgestellt“ im Plural verwendet, was nahelegt, dass sich diese Termini auf das Ausmaß der Schädigung und auf das Dumping beziehen. Schließlich erlaubt die englische Fassung sowohl eine Auslegung, wonach sich die Termini „alleged“ und „found“ nur auf die Schädigung beziehen, als auch eine Auslegung, wonach sich diese Termini auf die Schädigung und auf das Dumping oder auch auf das Ausmaß der Schädigung und des Dumpings beziehen. 32 Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Rechtstexts der Union voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach ständiger Rechtsprechung anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteil vom 18. September 2014, Vueling Airlines, C‑487/12, EU:C:2014:2232, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 33 Aus dem Zweck und der Systematik der Grundverordnung und vor allem aus ihrem 17. Erwägungsgrund und ihrem Art. 10 Abs. 4 Buchst. d ergibt sich, dass mit der rückwirkenden Erhebung endgültiger Antidumpingzölle bezweckt wird, zu verhindern, dass die Abhilfewirkung der endgültigen Maßnahmen untergraben wird und diese Maßnahmen dadurch unterlaufen werden, indem die Einführer, die Waren nach der Zollabfertigung gelagert haben, gezwungen werden, die eingeführten Waren während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung zu nicht schädigenden Preisen zu verkaufen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteile vom 6. Juni 2013, Paltrade, C‑667/11, EU:C:2013:368, Rn. 28 und 29, und vom 17. Dezember 2015, APEX, C‑371/14, EU:C:2015:828, Rn. 50). Im Licht dieses Ziels ist der Schluss zu ziehen, dass die Auslegung der Klägerinnen, wonach die Kenntnis der Einführer in Bezug auf ein „tatsächliches“ und nicht bloß„angebliches“ Dumping festgestellt werden müsse, damit die Voraussetzung des Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung erfüllt sei, Art. 10 Abs. 4 dieser Verordnung seiner praktischen Wirksamkeit berauben würde. 34 Denn wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, wird das „tatsächliche“ Vorliegen von Dumping erst nach Abschluss der Untersuchung, nämlich bei Erlass der endgültigen Maßnahmen, festgestellt. Somit würde die von den Klägerinnen vorgeschlagene Auslegung dazu führen, dass die Kenntnis der Einführer generell erst ab Erlass der endgültigen Maßnahmen festgestellt würde. 35 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich der im Sinne von Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung für die „Kenntnis“ der Einführer relevante Zeitpunkt vor Erlass der endgültigen Maßnahmen befindet, da diese Kenntnis notwendig ist, um den Ausgangspunkt festzustellen, ab dem man beurteilen kann, ob es einen weiteren erheblichen Anstieg der Einfuhren gibt, der die Abhilfewirkung der in der Folge anzuwendenden endgültigen Maßnahmen wahrscheinlich ernsthaft untergraben wird. 36 Es zeigt sich auch, dass die Berücksichtigung eines weiteren erheblichen Anstiegs der Einfuhren erst ab Einführung der endgültigen Zölle jede Möglichkeit ausschließen würde, endgültige Zölle rückwirkend zu erheben, und dass eine solche Auslegung daher sinnlos wäre. 37 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist der Schluss zu ziehen, dass dem Vorbringen der Klägerinnen zur Stützung einer engen Auslegung der in Rede stehenden Vorschrift nicht gefolgt werden kann, da dies dazu führen würde, dass nur die Situation berücksichtigt würde, in der der Einführer Kenntnis vom „tatsächlichen“ Dumping hatte oder hätte haben müssen, und dass die Termini „angeblich“ oder „festgestellt“ so zu verstehen sind, dass sie sich sowohl auf das Ausmaß des Dumpings als auch auf das der Schädigung beziehen, damit die praktische Wirksamkeit dieser Vorschrift gewährleistet ist. 38 Diese Auslegung wird im Übrigen durch die Entstehungsgeschichte der in Rede stehenden Vorschrift untermauert, die durch die Verordnung (EG) Nr. 3283/94 des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. 1994, L 349, S. 1) eingeführt wurde, wie sich aus dem Dokument COM(94) 414 final der Kommission vom 5. Oktober 1994 mit dem Titel „Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Uruguay-Runde“ ergibt. Auf S. 170 dieses Dokuments stellt die Kommission fest, dass „vorgeschlagen [wird] (Art. 10 Abs. 4 des Vorschlags), davon auszugehen, dass… der Einführer Kenntnis [vom Dumping] hatte, wenn die ‚angeblichen oder festgestellten‘ Spannen hoch sind“. 39 Was die Rüge der Klägerinnen betrifft, wonach es auf eine systematische und „unwiderlegbare“ Vermutung der Kenntnis von dem Dumping hinauslaufe, wenn man auf der Grundlage der nicht vertraulichen Fassung des Antrags und der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung den Schluss ziehe, dass der Einführer vom Ausmaß des Dumpings Kenntnis habe, obwohl Art. 10 Abs. 4 der Grundverordnung als Ausnahme vom Grundsatz des Verbots der rückwirkenden Erhebung von Antidumpingzöllen eng auszulegen sei, ist vorab darauf hinzuweisen, dass es der mit der Untersuchung beauftragten Behörde obliegt, die objektiven Umstände rechtlich hinreichend nachzuweisen, die den Schluss zulassen, dass der Einführer Kenntnis vom Ausmaß des angeblichen oder festgestellten Dumpings und von der angeblichen oder festgestellten Schädigung hatte oder hätte haben müssen, und dass es somit dem Unionsrichter obliegt, zu prüfen, ob die mit der Untersuchung beauftragte Behörde das Vorliegen solcher objektiven Umstände nachgewiesen hat (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Beschluss vom 16. Mai 2013, Hardimpex, C‑444/12, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:318, Rn. 28 und 29). 40 Im vorliegenden Fall zeigt sich aber, dass die am 14. Mai 2015 im Amtsblatt veröffentlichte Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung und die nicht vertrauliche Fassung des Antrags, die den Klägerinnen am 18. Mai 2015 zur Kenntnis gebracht wurde, wie von der Kommission in Beantwortung einer Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung bestätigt worden ist, eine Reihe von Aussagen und Beweismitteln enthalten, die das Ausmaß des angeblichen Dumpings und der angeblichen Schädigung untermauern und feststellen. 41 Was zunächst die Ausfuhren aus China anbelangt, so geht insbesondere aus den Rn. 58 und 59 der nicht vertraulichen Fassung des Antrags hervor, dass die vom Antragsteller durchgeführte Berechnung eine gewogene durchschnittliche Dumpingspanne von 28 % ergibt und dass die Dumpingspanne daher beträchtlich und eindeutig über der in der Grundverordnung festgelegten Geringfügigkeitsschwelle liegt. 42 Hinsichtlich der Ausfuhren aus Russland geht aus den Rn. 89 und 90 der nicht vertraulichen Fassung des Antrags hervor, dass die vom Antragsteller durchgeführte Berechnung eine Dumpingspanne zwischen 10–15 % und 20–25 % ergibt und dass die Dumpingspanne daher erheblich ist und eindeutig über der in der Grundverordnung festgelegten Geringfügigkeitsschwelle liegt. 43 Was schließlich die Schädigung anbelangt, um die es in Rn. 5 des Antrags geht, so ergibt sich vor allem aus den Rn. 82, 83, 128, 133, 134 und 147 der nicht vertraulichen Fassung des Antrags, dass es Anscheinsbeweise für das Vorliegen von Dumping seitens der russischen und chinesischen ausführenden Hersteller bestimmter kaltgewalzter Flachstahlerzeugnisse gibt, wodurch dem Wirtschaftszweig der Union eine Schädigung zugefügt wurde, was somit die Einleitung einer Antidumping-Untersuchung durch die Kommission und die frühestmögliche Verhängung von Antidumpingzöllen rechtfertigen würde. 44 Den Rn. 3 und 4 der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung ist ebenfalls zu entnehmen, dass „[d]ie für die betroffenen Länder ermittelten Dumpingspannen… beträchtlich [sind]“ und dass „[a]us den vom Antragsteller vorgelegten Anscheinsbeweisen [hervorgeht], dass die Menge und die Preise der eingeführten zu untersuchenden Ware sich unter anderem auf die Verkaufsmengen, die in Rechnung gestellten Preise und den Marktanteil des Wirtschaftszweigs der Union negativ ausgewirkt und dadurch die Gesamtergebnisse sowie die Finanz- und Beschäftigungssituation im Wirtschaftszweig der Union sehr nachteilig beeinflusst haben“. 45 Daher konnte die Kommission zu Recht den Schluss ziehen, dass die Klägerinnen, die erfahrene Experten sind, ab dem Zeitpunkt der Kenntnis von dem Antrag und der Bekanntmachung der Eröffnung der Untersuchung Kenntnis vom Ausmaß des angeblichen Dumpings und der angeblichen Schädigung hatten oder hätten haben müssen, ohne dass diese Vermutung zudem „unwiderlegbar“ war, da die Kenntnis der Klägerinnen aus objektiven Beweisen abgeleitet wurde, wie auch aus den folgenden Rn. 53 bis 55 hervorgeht, und diese vor allem nicht hätte festgestellt werden können, wenn die angeblichen Dumpingspannen gering gewesen wären, wenn die Akte nur auf einer Gefahr einer Schädigung beruht hätte oder auch wenn der Antrag die in der Grundverordnung angeführten Voraussetzungen nicht erfüllt hätte, was es dem Einführer ermöglicht hätte, Einwände gegen die Einleitung einer Untersuchung zu erheben und zu behaupten, dass die Voraussetzung der Kenntnis nicht erfüllt sei, wie die Kommission zu Recht geltend gemacht hat. 46 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 10 Abs. 4 der Grundverordnung die rückwirkende Erhebung von endgültigen Zöllen, die als eine Ausnahme vom Grundsatz des Verbots der rückwirkenden Erhebung von Antidumpingzöllen konzipiert ist, von der Erfüllung mehrerer kumulativer Bedingungen abhängig macht. Erstens müssen die Einfuhren vorab zollamtlich erfasst worden sein, was bereits in diesem Stadium erfordert, dass der Erfassungsantrag ordnungsgemäß begründet ist, zweitens müssen die Einführer von der Kommission die Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten haben, drittens muss bei der betreffenden Ware schon früher Dumping über einen längeren Zeitraum vorgelegen haben oder der Einführer nach dem Ausmaß des Dumpings und der angeblichen oder festgestellten Schädigung von dem Dumping Kenntnis gehabt haben oder haben müssen, und viertens muss zusätzlich zu der Höhe der Einfuhren, die die Schädigung im Untersuchungszeitraum verursachten, ein weiterer erheblicher Anstieg der Einfuhren verzeichnet worden sein, der in Anbetracht der Zeitspanne und des Volumens und sonstiger Umstände die Abhilfewirkung des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich ernsthaft untergraben haben würde. 47 Wie im 41. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ausgeführt, wäre daher die Behauptung sachlich nicht richtig, dass unter der Annahme, dass sich die Kenntnis vom Ausmaß des angeblichen Dumpings und der angeblichen Schädigung aus der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung und dem Zugang zum Antrag ergeben könne, die rückwirkende Einführung von Antidumpingzöllen in jeder einzelnen Antidumping-Untersuchung möglich sei. 48 Zudem bestünde bei einer so engen Auslegung wie der von den Klägerinnen vorgeschlagenen die Gefahr, dass die rückwirkende Erhebung von endgültigen Antidumpingzöllen übermäßig erschwert würde und daher die wirksame Anwendung der endgültigen Maßnahmen nicht gewährleistet werden könnte. Dies wäre vor allem dann der Fall, wenn das Argument der Klägerinnen zu akzeptieren wäre, wonach die in einem Antrag oder einer Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung enthaltenen Beweismittel für die Feststellung der Kenntnis vom Ausmaß des Dumpings jedenfalls „weder repräsentativ noch zuverlässig“ seien. 49 Im Übrigen verlangt weder die Grundverordnung noch das Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens 1994 (GATT) (ABl. 1994, L 336, S. 103, im Folgenden: Antidumping-Übereinkommen), das sich in Anhang 1 A des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) (ABl. 1994, L 336, S. 3) befindet, „zuverlässige und repräsentative Beweise“, um die Kenntnis der Einführer festzustellen. 50 Sodann ist an die Beweismittel, die notwendig sind, damit die in Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung vorgesehene Voraussetzung betreffend die Kenntnis erfüllt ist, hinsichtlich ihrer Anzahl und Qualität notwendigerweise ein weniger strenger Maßstab anzulegen als an jene, die für die vorläufige oder endgültige Feststellung eines Dumpings, einer Schädigung oder eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen den angeblich gedumpten Ausfuhren und der angeblichen Schädigung erforderlich sind. 51 Im Übrigen muss nach Art. 5 Abs. 2 der Grundverordnung jeder an die Kommission gerichtete Antrag Beweise für das Vorliegen von Dumping und einer Schädigung sowie für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den angeblich gedumpten Einfuhren und der angeblichen Schädigung enthalten. 52 Schließlich prüft die Kommission nach Art. 5 Abs. 3 der Grundverordnung, soweit möglich, die Richtigkeit und die Stichhaltigkeit der dem Antrag beigefügten Beweise, um festzustellen, ob genügend Beweise vorliegen, um die Einleitung einer Untersuchung zu rechtfertigen. Wenn sie hingegen feststellt, dass die vorgelegten Beweise nicht ausreichen, um eine Untersuchung des Falls zu rechtfertigen, wird der Antrag gemäß Art. 5 Abs. 7 dieser Verordnung zurückgewiesen. 53 Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass die nicht vertrauliche Fassung des Antrags die nach Art. 5 Abs. 2 der Grundverordnung erforderlichen Angaben enthält, nämlich die Angaben zum Vorliegen von Dumping im Zusammenhang mit den betreffenden Erzeugnissen, der daraus folgenden Schädigung und des ursächlichen Zusammenhangs zwischen den angeblich gedumpten Einfuhren und der angeblichen Schädigung. Wie oben in den Rn. 41 und 42 ausgeführt, sind im Übrigen in der nicht vertraulichen Fassung des Antrags die hohen Dumpingspannen angeführt, die für Einfuhren aus China auf 28 % und für Einfuhren aus Russland auf bis zu 20–25 % geschätzt werden. 54 Zweitens geht aus der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung hervor, dass die Kommission die Richtigkeit und die Stichhaltigkeit der dem Antrag beigefügten Beweise gemäß Art. 5 Abs. 3 der Grundverordnung geprüft hat, um festzustellen, ob genügend Beweise vorlagen, um die Einleitung einer Untersuchung zu rechtfertigen. Nach dieser Prüfung gelangte sie zu dem Ergebnis, dass diese Beweise ausreichten. 55 Drittens heißt es in der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung auch, dass „[d]ie für die betroffenen Länder ermittelten Dumpingspannen… beträchtlich [sind]“ und dass „[a]us den vom Antragsteller vorgelegten Anscheinsbeweisen [hervorgeht], dass die Menge und die Preise der eingeführten zu untersuchenden Ware sich unter anderem auf die Verkaufsmengen, die in Rechnung gestellten Preise und den Marktanteil des Wirtschaftszweigs der Union negativ ausgewirkt und dadurch die Gesamtergebnisse sowie die Finanz- und Beschäftigungssituation im Wirtschaftszweig der Union sehr nachteilig beeinflusst haben“. 56 Nach alledem ist der Schluss zu ziehen, dass entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen die Beweismittel in der nicht vertraulichen Fassung des Antrags und in der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung im vorliegenden Fall ausreichend waren für den Nachweis, dass die Einführer, die erfahrene Experten sind, ab der Einleitung einer Untersuchung Kenntnis vom Ausmaß des angeblichen Dumpings im Sinne von Art. 10 Abs. 4 der Grundverordnung hatten, und dass die Argumente der Klägerinnen, wonach die Beweise in der nicht vertraulichen Fassung der im Namen der ausführenden Hersteller vorgelegten Fragebogenantworten nicht hinreichend seien, abgesehen davon, dass sie erstmalig im Stadium der Erwiderung vorgetragen wurden, als nicht stichhaltig zurückzuweisen sind. 57 Diese Schlussfolgerung wird nicht durch die pauschale Behauptung der Klägerinnen in Frage gestellt, wonach sich aus der Berücksichtigung der Zahlenangaben, die sie dem Gericht vorgelegt hätten und die sich aus Anträgen ableiteten, die in jüngerer Vergangenheit die Einleitung von Antidumping-Untersuchungen ausgelöst hätten, ergebe, dass die ursprünglich in den Anträgen behaupteten Dumpingspannen beträchtlich von den endgültigen nach Abschluss der Untersuchung festgestellten Spannen abweichen könnten, so dass die in einem Antrag behaupteten Dumpingspannen keinesfalls eine zuverlässige Grundlage für die Feststellung der Kenntnis der Einführer vom Ausmaß des Dumpings darstellen könnten. 58 Ohne dass es nötig wäre, den Antrag der Kommission zu prüfen, diese Zahlenangaben aus der Akte zu entfernen, da es keine zufriedenstellenden Erklärungen der Klägerinnen zur Rechtmäßigkeit ihrer Beibringung gebe, genügt nämlich die Feststellung, dass es zum einen, wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, normal ist, dass die in einem Antrag enthaltenen Berechnungen nicht notwendigerweise denen entsprechen, die von diesem Organ nach vielen Monaten gründlicher Untersuchungen angestellt werden, und dass zum anderen, wie oben in den Rn. 50 bis 52 ausgeführt, an die Beweismittel, die notwendig sind, damit die in Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung vorgesehene Voraussetzung betreffend die Kenntnis erfüllt ist, hinsichtlich ihrer Anzahl und Qualität notwendigerweise ein weniger strenger Maßstab anzulegen ist als an jene, die für die vorläufige oder endgültige Feststellung eines Dumpings, einer Schädigung oder eines ursächlichen Zusammenhangs erforderlich sind, obwohl jeder Antrag im Übrigen Beweismittel enthalten muss, deren Richtigkeit und Stichhaltigkeit die Kommission soweit wie möglich prüft, um festzustellen, ob diese Beweise ausreichen, um die Einleitung einer Untersuchung zu rechtfertigen. 59 Nach alledem ist der erste Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen. Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes 60 Mit dem zweiten Teil des ersten Klagegrundes machen die Klägerinnen geltend, aus einer wörtlichen und systematischen Auslegung von Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung und aus einer Auslegung dieser Vorschrift unter Bezugnahme auf die allgemeine Systematik und den Kontext der Grundverordnung sowie im Licht des Antidumping-Übereinkommens ergebe sich, dass die Kommission hätte nachweisen müssen, dass jeder Einführer tatsächliche Kenntnis vom Ausmaß des Dumpings und von der Tatsache, dass die Einfuhren gedumpt gewesen seien, gehabt habe oder hätte haben müssen, anstatt sich insoweit auf eine „unwiderlegbare“ Vermutung betreffend alle in Rede stehenden Einführer zu berufen. 61 Die Klägerinnen machen auch geltend, die Kenntnis von bloßen auf Vermutungen beruhenden Behauptungen sei offensichtlich unzureichend, um festzustellen, dass die in Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung genannte Voraussetzung erfüllt sei, wenn man den Umstand berücksichtige, dass dieses Kriterium darauf abziele, die Beachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu gewährleisten. Diese Grundsätze würden nicht beachtet, wenn der Einführer keine Kenntnis von zuverlässigen Informationen und Daten betreffend die Dumpingspanne habe, weil dieser Einführer, wenn er Erzeugnisse einführe, die der zollamtlichen Erfassung unterlägen, den von ihm möglicherweise mehrere Monate später zu zahlenden Betrag des endgültigen Zolls nicht voraussehen und folglich keine gut begründete Entscheidung treffen könne. Zudem laufe dies dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, da die „maximale Exposition“ des Einführers gegenüber später angewendeten Zöllen nicht bekannt sei, bevor die endgültigen Schlussfolgerungen gezogen würden. 62 In Bezug auf die angeblichen Verbindungen der Klägerinnen mit dem größten chinesischen ausführenden Hersteller der betreffenden Erzeugnisse in der Stichprobe, aus denen sich nach Ansicht der Kommission ableiten lasse, dass sich für die Klägerinnen die Frage der Kenntnis von dem Dumping und seinem Ausmaß nicht einmal stelle, machen die Klägerinnen geltend, diese Verbindungen seien irrelevant, da sie zum einen die betreffenden aus China stammenden Erzeugnisse während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung nicht eingeführt hätten und zum anderen die Kommission ihre Behauptung nicht untermauert habe, wonach sie aufgrund solcher Verbindungen über „Informationen aus erster Hand“ verfügten. 63 Die Kommission, unterstützt von der Streithelferin, tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 64 Was das Vorbringen der Klägerinnen anbelangt, wonach die Kommission hätte nachweisen müssen, dass jeder Einführer eine „tatsächliche“ Kenntnis vom Vorliegen des Dumpings und von seinem Ausmaß gehabt habe oder hätte haben müssen, genügt es, darauf hinzuweisen, dass Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung ausdrücklich vorsieht, dass es ausreicht, dass der Einführer nach dem Ausmaß des angeblichen Dumpings und der angeblichen Schädigung von dem Dumping „Kenntnis… hätte haben müssen“, weshalb also kein Nachweis einer „tatsächlichen“ Kenntnis nötig ist. Im vorliegenden Fall konnte die Kommission, wie oben in den Rn. 40 bis 58 gezeigt worden ist, zu Recht davon ausgehen, dass die Klägerinnen aufgrund der Übermittlung der nicht vertraulichen Fassung des Antrags und der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung vom Ausmaß des angeblichen Dumpings und der angeblichen Schädigung Kenntnis hatten oder hätten haben müssen, ohne dass es nötig wäre, das Argument der Kommission zu prüfen, wonach die Klägerinnen im vorliegenden Fall schon allein aufgrund ihrer Verbindungen zum größten chinesischen ausführenden Hersteller jedenfalls über alle für die Feststellung ihrer Kenntnis vom angeblichen Dumping notwendigen Informationen verfügt hätten. 65 In Erwiderung auf das Vorbringen der Klägerinnen, wonach die nicht vertrauliche Fassung des Antrags und die Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung, die „bloßes Parteivorbringen“ enthielten, nicht Informationen gleichgestellt werden könnten, die dem Einführer das Ausmaß des Dumpings und daher der erwarteten Höhe des möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt erhobenen Antidumpingzolls bewusst machen könnten, was den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zuwiderlaufe, ist zunächst auf die Beurteilung zu verweisen, die sich aus den obigen Rn. 40 bis 58 ergibt, was die Beweismittel betrifft, die in der nicht vertraulichen Fassung des Antrags und in der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung enthalten sind, woraus hervorgeht, dass diese Beweismittel ausreichend waren, um festzustellen, dass die Klägerinnen als erfahrene Experten Kenntnis vom Ausmaß des behaupteten Dumpings im Sinne von Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung hatten. 66 Was im Speziellen die Rüge der Nichtbeachtung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass die Einführer durch die Verordnung über die zollamtliche Erfassung förmlich davon in Kenntnis gesetzt sind, dass eine rückwirkende Anwendung von endgültigen Antidumping-Zöllen auf zollamtlich erfasste Einfuhren möglich ist, und dass es unmöglich ist, den Höchstbetrag des Antidumpingzolls, der rückwirkend erhoben werden kann, in einem Stadium vor den vorläufigen Maßnahmen festzulegen, wobei der endgültige Antidumpingzoll seinerseits nicht höher sein kann als der vorläufige Antidumpingzoll, wie aus Art. 10 Abs. 3 der Grundverordnung hervorgeht. Wie zudem aus dem 15. Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung 2015/2325 hervorgeht, sieht diese bereits einen geschätzten Betrag der möglichen zukünftigen Zollschuld vor. Unter diesen Umständen können sich die Klägerinnen nicht auf einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes berufen und dies nur damit begründen, dass sie bei der Einfuhr der Erzeugnisse im Laufe des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung über keine zuverlässigen Informationen und Daten betreffend die Dumpingspanne verfügt hätten und daher den Betrag des endgültigen Zolls nicht hätten abschätzen können, den sie möglicherweise rückwirkend hätten zahlen müssen. 67 Nach alledem ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes und daher der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen, da die Kommission im 40. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, ohne einen Fehler zu begehen, den Schluss ziehen konnte, dass die Einführer zum Zeitpunkt der Übermittlung der nicht vertraulichen Fassung des Antrags und der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung im Amtsblatt vom angeblichen Dumping und der angeblichen Schädigung Kenntnis gehabt hätten oder hätten haben müssen. Zweiter Klagegrund: fehlerhafte Beurteilung der Voraussetzung eines „[weiteren] erheblichen Anstiegs der Einfuhren“ nach Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung 68 Mit dem zweiten Klagegrund machen die Klägerinnen geltend, die Kommission habe dadurch gegen Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung verstoßen, dass sie für die Zwecke der Anwendung dieser Vorschrift die während des Untersuchungszeitraums, nämlich zwischen April 2014 und März 2015, erfolgten Einfuhren mit jenen verglichen habe, die zwischen dem ersten vollen Monat nach Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung im Amtsblatt und dem letzten vollen Monat vor Einführung der vorläufigen Maßnahmen erfolgt seien, nämlich zwischen Juni 2015 und Januar 2016. Denn die Kommission hätte die Einfuhren während des Untersuchungszeitraums nur mit den Einfuhren vergleichen dürfen, die während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung erfolgt seien, nämlich zwischen Dezember 2015 und Februar 2016, und zwar gemäß dem zweistufigen System, das zunächst die zollamtliche Erfassung und anschließend nur dann, wenn die zollamtliche Erfassung keinen signifikanten Rückgang der Einfuhren bewirke und dadurch die Abhilfewirkung der endgültigen Zölle nicht gewährleistet sei, die Einführung rückwirkender Zölle vorsehe. 69 Nach Ansicht der Klägerinnen verlangt Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung, ausgelegt im Licht seines Zwecks, einen engen ursächlichen Zusammenhang zwischen den zollamtlich erfassten Einfuhren und den Einfuhren, von denen angenommen wird, dass sie die Abhilfewirkung des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich ernsthaft untergraben werden. Der Entschluss, rückwirkend Zölle auf der Grundlage der Entwicklung der Einfuhren zu erheben, die vor dem Zeitraum der zollamtlichen Erfassung erfolgten, unterbreche jedoch diesen Zusammenhang. Daher bestehe der relevante Vergleich zwischen der Höhe der im Untersuchungszeitraum erfolgten Einfuhren und der Höhe der im Zeitraum der zollamtlichen Erfassung erfolgten Einfuhren, was im Übrigen durch die frühere Praxis der Kommission betätigt werde. Wenn es keinen erheblichen Anstieg der Einfuhren im Zeitraum der zollamtlichen Erfassung gebe, könne mit der rückwirkenden Einführung endgültiger Zölle das Ziel nicht erreicht werden, die ernsthafte Untergrabung der Abhilfewirkung der Zölle zu verhindern. Im vorliegenden Fall hätte ein solcher Vergleich im Übrigen gezeigt, dass es keinen erheblichen Anstieg der Einfuhren gegeben habe und die in Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung genannte Voraussetzung daher nicht erfüllt gewesen sei. 70 Die Klägerinnen bestreiten auch die Behauptung der Streithelferin, wonach die in Rede stehenden Einführer die Einfuhren in den neun Monaten nach Einleitung der Untersuchung, in denen der Verbrauch in der Union angestiegen sei, drastisch erhöht hätten. Die Klägerinnen fügen hinzu, die Streithelferin berücksichtige nicht die Zeitspanne zwischen der Bestellung der Erzeugnisse und ihrer tatsächlichen Zollabfertigung im Hinblick auf ihre Überführung in den freien zollrechtlichen Verkehr in der Union, die der Grund für das Eintreffen der betreffenden Erzeugnisse auf dem Markt der Union in den ersten Monaten nach Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung sei, obwohl sie lange vor dieser Veröffentlichung bestellt worden seien. 71 Die Kommission, unterstützt von der Streithelferin, tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 72 Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung verlangt für die Zwecke der rückwirkenden Anwendung eines endgültigen Antidumpingzolls, dass „zusätzlich zu der Höhe der Einfuhren, die die Schädigung im Untersuchungszeitraum verursachten, ein [weiterer] erheblicher Anstieg der Einfuhren verzeichnet wird“, der „in Anbetracht der Zeitspanne“ und des Volumens und sonstiger Umstände die Abhilfewirkung des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich ernsthaft untergraben wird. 73 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in der oben genannten Vorschrift kein konkreter Zeitraum für die Feststellung des Vorliegens eines „[weiteren] erheblichen Anstiegs der Einfuhren“ festgelegt wird, sondern nur von einer „Zeitspanne“ die Rede ist. Es ist jedoch festzustellen, dass die Verwendung der adverbialen Bestimmung „zusätzlich zu“ durch den Gesetzgeber in Bezug auf die Einfuhren, die die Schädigung im Untersuchungszeitraum verursachten, und des (in der deutschen Fassung allerdings fehlenden) Adjektivs „weiterer“ („nouveau“) in Bezug auf den erheblichen Anstieg der Einfuhren ein Hinweis darauf ist, dass die Höhe der Einfuhren während des Untersuchungszeitraums mit der Höhe der Einfuhren nach diesem Untersuchungszeitraum verglichen werden muss, ohne dass diese Vorschrift den zu berücksichtigenden Zeitraum in irgendeiner Weise auf den Zeitraum der zollamtlichen Erfassung der Einfuhren begrenzt. 74 Wie die Kommission zu Recht vorgetragen hat, muss der relevante Zeitraum für die Beurteilung des „[weiteren] erheblichen Anstiegs der Einfuhren“ im Sinne von Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung den Zeitraum einschließen können, der seit der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung vergangen ist, da die Einführer ab diesem Zeitpunkt davon Kenntnis hatten, dass zu einem späteren Zeitpunkt auf die zollamtlich erfassten Einfuhren rückwirkend Zölle erhoben werden könnten, und deshalb versucht sein konnten, im Hinblick auf die zukünftige Einführung dieser Zölle die betreffenden Erzeugnisse in großen Mengen einzuführen. Die Kommission war daher berechtigt, im vorliegenden Fall die Einfuhren, die während des Untersuchungszeitraums erfolgten, mit denen zu vergleichen, die zwischen dem ersten vollen Monat nach Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung und dem letzten vollen Monat vor der Einführung der vorläufigen Maßnahmen erfolgten. 75 Zudem können die Auswirkungen von Einfuhren, die während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung erfolgten, nicht auf sichere Weise von den Auswirkungen der Einfuhren unterschieden werden, die vor diesem Zeitraum erfolgten, da die Einfuhren zu niedrigen Preisen in die Union während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung zu einem zuvor bestehenden Lagerbestand von Erzeugnissen dazugekommen sein können, der zu einer Zeit aufgebaut worden sein kann, als die Einführer bereits davon Kenntnis hatten, dass auf die zollamtlich erfassten Einfuhren Antidumpingzölle erhoben werden könnten, wodurch die Abhilfewirkung des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls möglicherweise ernsthaft untergraben wurde. 76 Im Übrigen sieht auch Art. 10.6 des Antidumping-Übereinkommens keinen konkreten Zeitraum für die Beurteilung des Vorliegens von „massiven, in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum getätigten Einfuhren“ vor. In Nr. 7.167 ihres Berichts vom 28. Februar 2001 im Streitfall „Vereinigte Staaten – Antidumping-Maßnahmen gegenüber bestimmten kaltgewalzten Stahlerzeugnissen aus Japan (WT/DS 184/R) hat die Sondergruppe der WTO in Bezug auf Art. 10.7 dieses Übereinkommens, das den Erlass bestimmter Maßnahmen zu jedem Zeitpunkt nach Einleitung einer Untersuchung gestattet, angemerkt, dass „es… möglich [ist], massive Einfuhren zu berücksichtigen, die nicht in tempore non suspectu getätigt wurden, sondern zu einem Zeitpunkt, zu dem bekannt geworden war, dass eine Untersuchung bevorstand, um zu beurteilen, ob man Maßnahmen nach Art. 10.7 verhängen kann“, und betont, dass sie sich „nicht mit der Frage [beschäftigt], ob das für die Zwecke der endgültigen Feststellung, die die rückwirkende Anwendung von Zöllen nach Art. 10.6 vorsieht, angemessen ist“. Wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, unterstützt dieser Bericht die These, wonach für die Zwecke der Anwendung von Art. 10 Abs. 4 Buchst. c der Grundverordnung die Kenntnis des Einführers von der Einleitung einer Untersuchung entscheidend ist, was bedeutet, dass die Einfuhren vor dem Zeitraum der zollamtlichen Erfassung für die Beurteilung des Vorliegens eines „[weiteren] erheblichen Anstiegs der Einfuhren“ im Sinne dieser Vorschrift relevant sind. 77 Was zudem das Vorbringen der Klägerinnen betrifft, wonach die Kommission für die Zwecke der Beurteilung des Vorliegens eines weiteren erheblichen Anstiegs der Einfuhren einzig und allein die Einfuhren berücksichtigen dürfe, auf die sie zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend Zölle erheben dürfe, ist darauf hinzuweisen, dass die Beschränkung der Rückwirkung auf die Einfuhren, die Gegenstand einer zollamtlichen Erfassung nach Art. 14 Abs. 5 der Grundverordnung waren, darauf abzielt, die Verteidigungsrechte der Einführer zu wahren, indem es der Kommission erst dann gestattet wird, rückwirkend Antidumpingzölle auf eingeführte Erzeugnisse einzuführen, nachdem die Einführer benachrichtigt worden sind, dass eine solche Möglichkeit in Bezug auf die zollamtlich erfassten Erzeugnisse besteht, und sie die Möglichkeit hatten, ihre Stellungnahme nach Art. 10 Abs. 4 Buchst. b der Grundverordnung abzugeben. Das bedeutet aber nicht, dass die vor dem Zeitraum der zollamtlichen Erfassung erfolgten Einfuhren, die nicht Gegenstand von Antidumpingzöllen sein können, keine schädigenden Auswirkungen hätten oder ganz allgemein für die Beurteilung des Vorliegens eines weiteren erheblichen Anstiegs der Einfuhren irrelevant wären. 78 Was schließlich das Vorbringen der Klägerinnen anbelangt, wonach die Zeitspanne zwischen der Bestellung der betreffenden Erzeugnisse und ihrer tatsächlichen Zollabfertigung im Hinblick auf ihre Überführung in den freien zollrechtlichen Verkehr in der Union jedenfalls der Grund für das Eintreffen der betreffenden Erzeugnisse auf dem Markt der Union in den ersten Monaten nach Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung sei, genügt es, darauf hinzuweisen, dass die Klägerinnen diese Behauptung nicht mit konkreten und präzisen Beweisen untermauern, obwohl, wie vor allem aus den Erwägungsgründen 33, 50 und 51 der angefochtenen Verordnung hervorgeht, feststeht, dass mehr als eine Million Tonnen des betreffenden Erzeugnisses zwischen der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung und dem Beginn des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung, im Laufe dessen diese Einfuhren mit ungefähr 165000 Tonnen beziffert wurden, in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt wurden. Daher ist dieses Vorbringen auch zurückzuweisen. 79 Aus alledem ergibt sich, dass der zweite Klagegrund zurückzuweisen ist. Dritter Klagegrund: falsche Auslegung der Voraussetzung, wonach der weitere Anstieg der Einfuhren „die Abhilfewirkung“ des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls im Sinne von Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung wahrscheinlich „ernsthaft untergraben“ muss Zum ersten Teil des dritten Klagegrundes 80 Zur Stützung des ersten Teils des dritten Klagegrundes machen die Klägerinnen geltend, die Kommission habe fälschlich eine Gesamtbeurteilung der Daten mehrerer Einführer vorgenommen, um zu prüfen, ob die Einfuhren „die Abhilfewirkung“ des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls im Sinne von Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung wahrscheinlich „ernsthaft untergraben“ würden. Tatsächlich hätte sie das Verhalten jedes kooperierenden oder nicht kooperierenden Einführers gesondert untersuchen müssen, um festzustellen, ob er Lagerbestände aufgebaut habe und die Einfuhren folglich zu der angeblich „ernsthaften Neutralisierung“ der Abhilfewirkung der endgültigen Antidumpingzölle hätten beitragen können. Unter Berücksichtigung der abschreckenden Wirkung der rückwirkenden Erhebung von Antidumpingzöllen müsse die persönliche Verantwortung jedes Einführers festgestellt werden, und dieses Ziel könne nur erreicht werden, wenn die in Rede stehenden Einführer noch im Besitz der Lagerbestände seien. Wenn die Kommission eine gesonderte Beurteilung der Lage jedes Einführers vorgenommen hätte, hätte sie den Schluss gezogen, dass die Klägerinnen vor und während der zollamtlichen Erfassung keine Lagerbestände aufgebaut hätten, und sogar festgestellt, dass ihre Lagerbestände beträchtlich gesunken seien. Die Klägerinnen hätten so gut wie alle Waren weiterverkauft, die vor Verhängung der endgültigen Antidumpingzölle der zollamtlichen Erfassung unterlegen seien. 81 Die Kommission, unterstützt von der Streithelferin, tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 82 Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung knüpft die rückwirkende Anwendung eines endgültigen Antidumpingzolls an die Bedingung, dass „ein erheblicher Anstieg der Einfuhren verzeichnet wird, der in Anbetracht der Zeitspanne und des Volumens und sonstiger Umstände die Abhilfewirkung des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich ernsthaft untergraben wird“. 83 Es ist darauf hinzuweisen, dass mit der rückwirkenden Erhebung eines endgültigen Antidumpingzolls sichergestellt werden soll, dass die Abhilfewirkung dieses Zolls nicht ernsthaft untergraben wird und der Wirtschaftszweig der Union deshalb keine zusätzliche Schädigung erfährt. Angesichts dieser Zielsetzung ist offensichtlich, dass für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die Feststellung vorliegen, dass der weitere Anstieg der Einfuhren „die Abhilfewirkung“ des endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich „ernsthaft untergraben“ wird, die gleiche Logik gilt wie für die Beurteilung der Schädigung, die dem Wirtschaftszweig der Union zugefügt wird. 84 Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Schädigung, die ein bestehender Wirtschaftszweig der Union durch Einfuhren zu Dumpingpreisen erleidet, umfassend zu beurteilen ist, ohne dass es erforderlich oder auch nur möglich wäre, den individuellen Anteil jedes der verantwortlichen Unternehmen an dieser Schädigung zu bestimmen (Urteil vom 7. Mai 1987, Nachi Fujikoshi/Rat, 255/84, EU:C:1987:203, Rn. 46). 85 Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass die Auswirkungen der Einfuhren aus verschiedenen Drittländern insgesamt beurteilt werden müssen, und dass es gerechtfertigt ist, es den Unionsbehörden zu erlauben, die Auswirkungen all dieser Einfuhren auf den Wirtschaftszweig der Union zu prüfen und daraufhin die geeigneten Maßnahmen gegenüber allen Ausführern zu ergreifen, selbst wenn der Umfang der Ausfuhren jedes Einzelnen von ihnen individuell betrachtet von geringer Bedeutung ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 1988, Technointorg/Kommission, 294/86 und 77/87, EU:C:1988:470, Rn. 40 und 41). 86 Daher ist ein „[weiterer] erheblicher Anstieg der Einfuhren“ im Sinne von Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung umfassend zu beurteilen, um festzustellen, ob die Einfuhren insgesamt die Abhilfewirkung der endgültigen Antidumpingzölle wahrscheinlich ernsthaft untergraben und daher zu einer weiteren Schädigung des Wirtschaftszweigs der Union führen werden, ohne die individuelle und subjektive Lage der betreffenden Einführer zu berücksichtigen. 87 Schließlich verfolgt die angefochtene Verordnung entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen nicht das Ziel, „Sanktionen“ zu verhängen. Wenngleich, wie Letztere geltend machen, in Art. 10 Abs. 1 der Grundverordnung das Rückwirkungsverbot von Antidumpingmaßnahmen verankert ist, weichen doch mehrere Bestimmungen der Grundverordnung davon ab, indem sie unter bestimmten Umständen die Anwendung von Antidumpingmaßnahmen auf vor Inkrafttreten der sie einführenden Verordnung in den zollrechtlichen Verkehr überführte Waren erlauben, die nach Art. 14 Abs. 5 der Grundverordnung zollamtlich erfasst wurden, und zwar zu dem alleinigen Zweck, zu verhindern, dass die Abhilfewirkung der endgültigen Maßnahmen ernsthaft untergraben wird und diese Maßnahmen dadurch unterlaufen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Juni 2013, Paltrade, C‑667/11, EU:C:2013:368, Rn. 28 und 29, und vom 17. Dezember 2015, APEX, C‑371/14, EU:C:2015:828, Rn. 50). Solche rückwirkenden Maßnahmen sind flankierende Maßnahmen der nach der Antidumping-Untersuchung erlassenen Durchführungsverordnung 2016/1328, die dieselben Merkmale aufweist wie diese Maßnahmen und nichts mit der Verhängung von „Sanktionen“ oder Strafen zu tun hat (in Bezug auf den zuletzt genannten Aspekt vgl. Urteil vom 12. Oktober 1999, Acme/Rat, T‑48/96, EU:T:1999:251, Rn. 30). 88 Nach alledem ist der erste Teil des dritten Klagegrundes zurückzuweisen. Zum zweiten Teil des dritten Klagegrundes 89 Zur Stützung des zweiten Teils des dritten Klagegrundes machen die Klägerinnen erstens geltend, die Kommission hätte, um festzustellen, ob die Abhilfewirkung der anzuwendenden endgültigen Antidumpingzölle ohne die rückwirkende Erhebung dieser Antidumpingzölle ernsthaft untergraben würde, die Einfuhren während des Untersuchungszeitraums mit den Einfuhren vergleichen müssen, die während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung erfolgt seien, und nicht mit denen, die zwischen der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung und der Einführung der vorläufigen Maßnahmen erfolgt seien, da, wie sie im Rahmen des zweiten Klagegrundes vorgetragen hätten, letztlich die Einfuhren, die während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung erfolgt seien, Gegenstand der rückwirkenden Erhebung der Zölle sein müssten. In diesem Zusammenhang tragen die Klägerinnen vor, wenn die Kommission einen solchen Vergleich angestellt hätte, wäre sie zu dem Schluss gekommen, dass die Einfuhren während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung die Abhilfewirkung des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich nicht „ernsthaft“ untergraben hätten können, insbesondere weil sie im Vergleich mit den Einfuhren während des Untersuchungszeitraums zurückgegangen seien, weil es keine Beweise dafür gebe, dass während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung Lagerbestände der betreffenden Erzeugnisse aufgebaut worden seien, und die Klägerinnen nachgewiesen hätten, dass sie in Wirklichkeit keinen Aufbau der Lagerbestände betrieben hätten, weil die Einfuhren weniger als 0,5 % des Verbrauchs der betreffenden Erzeugnisse in der Union ausmachten, der seit dem Untersuchungszeitraum gestiegen sei, und weil ihr Volumen von 165000 Tonnen auf einem Markt von mehr als 37000000 Tonnen vernachlässigbar sei. 90 Zweitens und für alle Fälle machen die Klägerinnen zum einen geltend, im Zeitraum von der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung bis zur Einführung der vorläufigen Maßnahmen habe das mittlere monatliche Einfuhrvolumen nur um 31761 Tonnen über demjenigen gelegen, das während des Untersuchungszeitraums ermittelt worden sei, und zum anderen, dass während der elf Monate nach dem Untersuchungszeitraum der Rückgang der durchschnittlichen monatlichen Preise für Einfuhren aus den betreffenden Ländern aufgrund des Preisrückgangs der Rohstoffe gerechtfertigt gewesen sei. Zudem führen sie aus, die betreffenden Erzeugnisse seien für die Lagerung nicht geeignet, was bedeute, dass die nach der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung und während des Zeitraums der zollamtlichen Untersuchung eingeführten Erzeugnisse im Wesentlichen noch vor der Einführung der endgültigen Antidumpingzölle weiterverkauft worden seien. Um den Schluss ziehen zu können, dass die Abhilfewirkung der endgültigen Antidumpingzölle ernsthaft untergraben worden sei, hätte schließlich nach Ansicht der Klägerinnen festgestellt werden müssen, dass die Einführung solcher Zölle im vorgesehenen Zeitraum von fünf Jahren unzureichend gewesen sei, um das mit diesen endgültigen Antidumpingzöllen verfolgte Ziel zu erreichen, nämlich faire Wettbewerbsbedingungen herzustellen. 91 Schließlich werfen die Klägerinnen der Kommission drittens zum einen vor, sie habe die Voraussetzung, wonach der weitere erhebliche Anstieg der Einfuhren „die Abhilfewirkung“ des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich „ernsthaft untergraben“ müsse, durch ein „Kriterium der Verzögerung“ dieser Wirkung ersetzt, das eine viel niedrigere Schwelle habe, da es nur darin bestehe, zu prüfen, ob ohne die rückwirkende Erhebung der Zölle die Abhilfewirkung des Antidumpingzolls bloß verzögert würde, und zum anderen, sie habe keine näheren Angaben zur Bedeutung, zur Dauer und zu den Folgen der angeblichen Verzögerung der Abhilfewirkung gemacht. 92 Die Kommission, unterstützt von der Streithelferin, tritt dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 93 Erstens ist auf das Vorbringen der Klägerinnen, wonach die Kommission nur die während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung erfolgten Einfuhren hätte berücksichtigen dürfen, um festzustellen, ob sie die Abhilfewirkung des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich ernsthaft untergraben würden, zunächst zu erwidern, dass, wie oben in Rn. 77 ausgeführt, daraus, dass die rückwirkende Erhebung der Zölle zur Wahrung der Verteidigungsrechte nur auf zollamtlich erfasste Einfuhren angewendet wird, nicht folgt, dass die mit der Untersuchung betrauten Behörden verpflichtet sind, die Importe außer Acht zu lassen, die vor dem Zeitraum der zollamtlichen Erfassung erfolgt sind, wenn sie prüfen, ob die Abhilfewirkung der endgültigen Zölle untergraben werden könnte. 94 Wie oben in den Rn. 72 bis 78 dargelegt, ist der „[weitere] erhebliche Anstieg der Einfuhren“ im Sinne von Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung nämlich ab dem Zeitpunkt zu beurteilen, ab dem die Einführer davon Kenntnis hatten, dass zu einem späteren Zeitpunkt auf die zollamtlich erfassten Einfuhren rückwirkend Antidumpingzoll erhoben werden könnte, und deshalb versucht sein konnten, im Hinblick auf die zukünftige Einführung dieses Zolls die betreffenden Erzeugnisse in großen Mengen einzuführen, was bedeutet, dass die Einfuhren einzubeziehen sind, die ab der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung erfolgt sind, um festzustellen, ob diese zusammen mit den Einfuhren, die während des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung erfolgten, die Abhilfewirkung der anzuwendenden endgültigen Zölle wahrscheinlich untergraben werden. Dieses Vorbringen ist daher zurückzuweisen. 95 Was zweitens das Vorbringen der Klägerinnen anbelangt, wonach während des Zeitraums von der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung bis zur Einführung vorläufiger Maßnahmen das mittlere monatliche Einfuhrvolumen nur um 31761 Tonnen über demjenigen gelegen habe, das während des Untersuchungszeitraums ermittelt worden sei, so ist anzumerken, dass die Feststellung, ob der Anstieg „erheblich“ ist, wie im 27. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ausgeführt, nach Lage des Einzelfalls erfolgt, nicht nur durch den Vergleich gewogener Monatsdurchschnittswerte der Einfuhren während des Untersuchungszeitraums und jener während des Zeitraums von der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung bis zur Einführung der vorläufigen Maßnahmen, sondern auch durch die Berücksichtigung aller sonstigen relevanten Erwägungen, zu denen insbesondere die Entwicklung des Gesamtverbrauchs der betroffenen Ware in der Union, die Entwicklung der Lagerbestände und der Entwicklung der Marktanteile gehören. Ein Vergleich der beiden vorstehend genannten monatlichen Durchschnittswerte ist zwar wichtig, aber nicht notwendigerweise der ausschlaggebende Faktor in der Frage, ob der weitere Anstieg der Einfuhren „erheblich“ ist. Daher haben die Klägerinnen Unrecht, wenn sie behaupten, dass der Anstieg der Einfuhren keinesfalls als erheblicher Anstieg eingestuft werden könne, weil das Einfuhrvolumen nur um 31761 Tonnen über demjenigen gelegen habe, das während des Untersuchungszeitraums ermittelt worden sei, ohne sonstige Faktoren zu berücksichtigen, die relevant und für diese Beurteilung notwendig sind. 96 Was drittens die Behauptungen der Klägerinnen angeht, wonach zum einen im Zeitraum von der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung bis zum Ende des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung der Einfuhren der Rückgang der durchschnittlichen monatlichen Preise für Einfuhren aus den betreffenden Ländern aufgrund des Preisrückgangs der Rohstoffe gerechtfertigt gewesen sei und zum anderen die betreffenden Erzeugnisse für die Lagerung nicht geeignet seien, so ist vorab darauf hinzuweisen, dass der Rat und die Kommission im Bereich handelspolitischer Schutzmaßnahmen wegen der Komplexität der von ihnen zu prüfenden wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Sachverhalte über ein weites Ermessen verfügen, so dass der Unionsrichter nur zu einer beschränkten gerichtlichen Nachprüfung berufen ist (vgl. Urteil vom 17. März 2015, RFA International/Kommission, T‑466/12, EU:T:2015:151, Rn. 37 und 43 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 97 Was zum einen den Preisrückgang der Rohstoffe anbelangt, so ist im 80. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung festgestellt worden, dass die gesunkenen Rohstoffpreise einen Rückgang der Verkaufspreise von höchstens 4 % hätten verursachen können. Ein Gesamtvergleich des durchschnittlichen Einfuhrpreises aus den betroffenen Ländern mit dem durchschnittlichen Verkaufspreis des Wirtschaftszweigs der Union während und nach dem Untersuchungszeitraum ergibt eine Preisunterbietung von 7 % im Untersuchungszeitraum und von 14 % nach dem Untersuchungszeitraum. Daher können die Klägerinnen nicht geltend machen, dass der Rückgang der durchschnittlichen monatlichen Preise für Einfuhren aus den betreffenden Ländern nur auf die gesunkenen Rohstoffpreise zurückzuführen sei und dass die in Rede stehenden Einfuhren somit die Abhilfewirkung des anzuwendenden Antidumpingzolls nicht ernsthaft untergraben könnten. 98 Was zum anderen den behaupteten Umstand angeht, wonach die betreffenden Erzeugnisse nicht für die Lagerung geeignet seien, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass diese bloße Behauptung nicht geeignet ist, die Schlussfolgerung zu widerlegen, wonach es nach Einleitung des Verfahrens tatsächlich zum Aufbau von Lagerbeständen gekommen sei. Wie im 68. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ausgeführt, ist die Lagerbestandsbildung häufig keine gängige Praxis und erfolgt nur, wenn bestimmte Umstände vorliegen und/oder Markterwartungen bestehen, zum Beispiel im Hinblick auf die zukünftigen Preise der jeweiligen Ware. Die Tatsache, dass eine Ware in der Regel nicht auf Lager gehalten wird, heißt nicht, dass keine Lagerbestände aufgebaut werden, wenn derartige Umstände oder Erwartungen ins Spiel kommen. Zudem wurde im 52. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung auf der Grundlage der von den Einführern und/oder Verwendern vorgelegten Zahlen für Letztere insgesamt festgestellt, dass die Lagerbestände Ende des Jahres 2015 um 22 % höher waren als Ende 2014. Da keine Beweise vorgelegt wurden, die die Schlussfolgerung widerlegen, wonach der weitere erhebliche Anstieg der Einfuhren ein Indiz für die Bildung beträchtlicher Lagerbestände der eingeführten Waren sein könne, was auch der oben genannte Anstieg der Lagerbestände an sich vermuten lässt, konnten die Klägerinnen daher nicht nachweisen, dass die Beurteilung der Kommission mit einem offensichtlichen Fehler behaftet war. 99 Viertens ist auch das Vorbringen der Klägerinnen zurückzuweisen, wonach die Kommission hätte feststellen müssen, dass die Einführung von Antidumpingzöllen im vorgesehenen Zeitraum von fünf Jahren unzureichend gewesen sei, um faire Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Es ist darauf hinzuweisen, dass der Zeitraum von fünf Jahren, in dem die endgültigen Maßnahmen grundsätzlich eingeführt werden, nicht endgültig ist, da die endgültigen Zölle nach Art. 11 Abs. 2 der Grundverordnung frühestens ein Jahr nach der Einführung dieser endgültigen Maßnahmen Gegenstand einer Interimsprüfung sein können, was zum Auslaufen dieser Zölle führen kann, da Letztere nur so lange und in dem Umfang in Kraft bleiben, wie dies notwendig ist, um das schädigende Dumping unwirksam zu machen. Daher kann die rückwirkende Anwendung endgültiger Antidumpingzölle einem solchen Erfordernis nicht unterworfen werden. 100 Fünftens kann weder das „Kriterium der Verzögerung“, das die Kommission zur Illustrierung der kumulativen Wirkung der Einfuhren zwischen der Einleitung der Untersuchung und dem Beginn des Zeitraums der zollamtlichen Erfassung und der Einfuhren, die während dieses Zeitraums erfolgten, verwendet, noch der Umstand, dass die angefochtene Verordnung angeblich keine Erklärungen zur Bedeutung, zur Länge und zu den Auswirkungen der behaupteten Verzögerung der Abhilfewirkung enthält, die sich daraus ergebe, dass die Antidumpingzölle nicht rückwirkend auf die der zollamtlichen Erfassung unterliegenden Einfuhren angewendet würden, die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verordnung beeinträchtigen. Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung sieht lediglich vor, dass die Kommission feststellt, dass ein weiterer erheblicher Anstieg der Einfuhren verzeichnet wird, der in Anbetracht der Zeitspanne und des Volumens und sonstiger Umstände die Abhilfewirkung des anzuwendenden endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich ernsthaft untergraben wird. Daher ist davon auszugehen, dass die oben genannten Umstände, unter denen dieser weitere erhebliche Anstieg der Einfuhren erfolgt, diese Abhilfewirkung ernsthaft untergraben. 101 Wie vor allem aus den Erwägungsgründen 31, 50 bis 53, 75, 76, 79 bis 81 und 84 der angefochtenen Verordnung hervorgeht, ist es der Kommission darum gegangen, zusätzlich zu den in Art. 10 Abs. 4 Buchst. d der Grundverordnung genannten Faktoren vor allem die Preise der eingeführten Erzeugnisse sowie die Lagerbestände der vor der zollamtlichen Erfassung eingeführten Waren zu prüfen. 102 Erstens ergibt sich aus dem 50. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, dass das monatliche Durchschnittsvolumen der Einfuhren aus den betroffenen Ländern in der Zeit vom ersten vollen Monat nach Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung bis zum letzten vollen Monat vor der Einführung vorläufiger Maßnahmen gegenüber dem Untersuchungszeitraum ein Plus von 37 % aufwies. Zudem ergibt sich aus dem 51. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, dass im Zeitraum vom ersten vollen Monat nach der Einleitung einer Untersuchung bis einschließlich des Monats, in dem vorläufige Maßnahmen eingeführt wurden, das monatliche Durchschnittsvolumen der Einfuhren aus den betreffenden Ländern um 27 % gegenüber dem Monatsdurchschnitt im Untersuchungszeitraum angestiegen ist. Daraus hat die Kommission im 53. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung abgeleitet, dass die Einfuhrvolumina nach der Verfahrenseinleitung tatsächlich erheblich angestiegen seien. 103 Zweitens erfolgten diese Einfuhren, nachdem die Einführer davon Kenntnis erlangt hatten, dass zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend Antidumpingzölle angewendet werden könnten, wobei diese Kenntnisnahme zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung und der Übermittlung der nicht vertraulichen Fassung des Antrags erfolgte, und diese Einfuhren dauerten bis zur Einführung der vorläufigen Maßnahmen an. Es handelt sich daher um einen Zeitraum, in dem Einfuhren erfolgten, obwohl die Einführer volle Kenntnis von der Tatsache hatten, dass eine Antidumping-Untersuchung anhängig war und möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt Antidumpingzölle verhängt würden. 104 Drittens geht aus dem 79. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hervor, dass die durchschnittlichen monatlichen Preise der Einfuhren aus der Volksrepublik China und Russland in den elf Monaten nach dem Untersuchungszeitraum um 13 % bzw. 12 % gesunken sind, wenn man sie mit den durchschnittlichen monatlichen Einfuhrpreisen im Untersuchungszeitraum vergleicht. Wie aus Rn. 97 oben hervorgeht und im 80. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung ausgeführt wird, sind zwar in diesem Zeitraum auch die Preise für Rohstoffe gefallen, jedoch hätte dieser Umstand einen Rückgang der Verkaufspreise von höchstens 4 % verursachen können, so dass dieser Vergleich eine Preisunterbietung von 7 % im Untersuchungszeitraum und von 14 % nach dem Untersuchungszeitraum ergibt. Zudem geht vor allem aus dem 81. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hervor, dass im Zeitraum der zollamtlichen Erfassung die durchschnittlichen Preise der Einfuhren aus der Volksrepublik China und Russland um 19 % bzw. 24 % gesunken sind, wenn man sie mit den durchschnittlichen Einfuhrpreisen im Untersuchungszeitraum vergleicht. Daraus hat die Kommission im selben Erwägungsgrund den Schluss gezogen, dass für beide Länder zusammen die Preisunterbietung im Erfassungszeitraum weiter auf durchschnittlich fast 20 % gestiegen sei. Somit gab es weiter sinkende Durchschnittspreise für Einfuhren aus den betreffenden Ländern. 105 Viertens geht aus dem 52. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hervor, dass die Einfuhren der 22 Einführer und/oder Verwender, die Angaben zu den Einfuhren in der Zeit nach der Einleitung einer Untersuchung machten, 46 % aller Einfuhren aus den betroffenen Ländern entsprachen. Die so erhobenen Daten zeigen in Bezug auf diese mitarbeitenden Einführer und/oder Verwender insgesamt, dass Ende 2015 die Lagerbestände der betroffenen Ware 22 % höher waren als Ende 2014. Im 84. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung wiederum wird darauf hingewiesen, dass nicht nur angesichts der Feststellungen im 52. Erwägungsgrund dieser Verordnung, sondern auch aufgrund des erheblichen Anstiegs der Einfuhren nach dem Untersuchungszeitraum im Vergleich zum Stand der Einfuhren vor der Veröffentlichung der Bekanntmachung der Einleitung einer Untersuchung notwendigerweise eine Lagerbildung stattgefunden hat. 106 Aus den Erwägungsgründen 75 und 76 der angefochtenen Verordnung geht hervor, dass dieser weitere erhebliche Anstieg der Einfuhren zu noch niedrigeren Preisen als im Untersuchungszeitraum mit einem Anstieg des Unionsverbrauchs auf dem freien Markt um 14 % im Zeitraum von April 2015 bis Januar 2016 einhergeht, während die Verkaufsmengen der Unionshersteller stabil blieben und nur einen moderaten Anstieg um 3 % verzeichneten. Dies führte zu einer weiteren Verringerung des Marktanteils des Wirtschaftszweigs der Union um 7 Prozentpunkte von 71 % auf 64 %. 107 Daher konnte die Kommission zu Recht unter anderem in den Erwägungsgründen 86 und 94 der angefochtenen Verordnung den Schluss ziehen, dass dieser weitere erhebliche Anstieg der Einfuhren angesichts ihres Volumens, des Zeitpunkts, zu dem sie erfolgt seien, sowie sonstiger Umstände, nämlich des beträchtlichen Preisrückgangs und des beträchtlichen Anstiegs der Lagerbestände, die negativen Auswirkungen auf die Preise und den Marktanteil in der Union des Wirtschaftszweigs der Union zusätzlich verstärkt habe und daher die Abhilfewirkung des endgültigen Antidumpingzolls wahrscheinlich ernsthaft untergraben werde. 108 Nach alledem ist der zweite Teil des dritten Klagegrundes zurückzuweisen und daher die Klage insgesamt abzuweisen. Kosten 109 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag der Kommission und der Streithelferin neben ihren eigenen Kosten auch deren Kosten aufzuerlegen. Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Die Stemcor London Ltd und die Samac Steel Supplies Ltd tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission und die Kosten der Eurofer, Association européenne de l’acier, ASBL. Prek Buttigieg Berke Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 8. Mai 2019. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Englisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 8. Mai 2019.#Martin Leitner gegen Landespolizeidirektion Tirol.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Verbot der Altersdiskriminierung – Richtlinie 2000/78/EG – Ausschluss der vor Vollendung des 18. Lebensjahrs erworbenen Berufserfahrung – Neues Besoldungs- und Vorrückungssystem – Beibehaltung der Ungleichbehandlung – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Rechtfertigungsgründe.#Rechtssache C-396/17.
62017CJ0396
ECLI:EU:C:2019:375
2019-05-08T00:00:00
Gerichtshof, Saugmandsgaard Øe
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62017CJ0396 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 8. Mai 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Verbot der Altersdiskriminierung – Richtlinie 2000/78/EG – Ausschluss der vor Vollendung des 18. Lebensjahrs erworbenen Berufserfahrung – Neues Besoldungs- und Vorrückungssystem – Beibehaltung der Ungleichbehandlung – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Rechtfertigungsgründe“ In der Rechtssache C‑396/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Österreich) mit Entscheidung vom 30. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juli 2017, in dem Verfahren Martin Leitner gegen Landespolizeidirektion Tirol erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter), E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin, Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe, Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2018, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Leitner, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Riedl und V. Treber-Müller, – der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse und J. Schmoll als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Dezember 2018 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 1, 2, 6, 9, 16 und 17 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Martin Leitner und der Landespolizeidirektion Tirol (Österreich) über die Vorrückung und die besoldungsrechtliche Stellung des Klägers des Ausgangsverfahrens. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2000/78 3 Gemäß ihrem Art. 1 bezweckt die Richtlinie 2000/78 „die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“. 4 Art. 2 der Richtlinie sieht vor: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. (2)   Im Sinne des Absatzes 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn: i) [D]iese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich … …“ 5 Art. 6 der Richtlinie bestimmt: „(1)   Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen: a) Die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besondere Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen; b) die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile; c) die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand. (2)   Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit die Festsetzung von Altersgrenzen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität einschließlich der Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen im Rahmen dieser Systeme für bestimmte Beschäftigte oder Gruppen bzw. Kategorien von Beschäftigten und die Verwendung im Rahmen dieser Systeme von Alterskriterien für versicherungsmathematische Berechnungen keine Diskriminierung wegen des Alters darstellt, solange dies nicht zu Diskriminierungen wegen des Geschlechts führt.“ 6 Art. 9 der Richtlinie lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten für verletzt halten, ihre Ansprüche aus dieser Richtlinie auf dem Gerichts- und/oder Verwaltungsweg sowie, wenn die Mitgliedstaaten es für angezeigt halten, in Schlichtungsverfahren geltend machen können, selbst wenn das Verhältnis, während dessen die Diskriminierung vorgekommen sein soll, bereits beendet ist. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verbände, Organisationen oder andere juristische Personen, die gemäß den in ihrem einzelstaatlichen Recht festgelegten Kriterien ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu sorgen, sich entweder im Namen der beschwerten Person oder zu deren Unterstützung und mit deren Einwilligung an den in dieser Richtlinie zur Durchsetzung der Ansprüche vorgesehenen Gerichts- und/oder Verwaltungsverfahren beteiligen können. (3)   Die Absätze 1 und 2 lassen einzelstaatliche Regelungen über Fristen für die Rechtsverfolgung betreffend den Gleichbehandlungsgrundsatz unberührt.“ 7 Art. 16 der Richtlinie 2000/78 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass a) die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz zuwiderlaufen, aufgehoben werden; b) die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz nicht zu vereinbarenden Bestimmungen in Arbeits- und Tarifverträgen, Betriebsordnungen und Statuten der freien Berufe und der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen für nichtig erklärt werden oder erklärt werden können oder geändert werden.“ 8 Art. 17 der Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren Durchführung zu gewährleisten. Die Sanktionen, die auch Schadenersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Die Mitgliedstaaten teilen diese Bestimmungen der Kommission spätestens am 2. Dezember 2003 mit und melden alle sie betreffenden späteren Änderungen unverzüglich.“ Österreichisches Recht 9 Das vorlegende Gericht legt dar, dass das nationale Recht im Bereich der Besoldung und der Vorrückung von Staatsbeamten wegen der Unionsrechtswidrigkeit bestimmter Bestimmungen mehrmals geändert wurde. Das neue Besoldungs- und Vorrückungssystem dieser Beamten, das durch Gesetzesänderungen in den Jahren 2015 und 2016 entstanden ist, sollte insbesondere eine Diskriminierung wegen des Alters beseitigen, die sich aus dem zuvor geltenden Besoldungs- und Vorrückungssystem ergeben hatte. Gehaltsgesetz 10 § 8 Abs. 1 des Gehaltsgesetzes 1956 (BGBl. 54/1956) in der durch das Bundesgesetz vom 30. August 2010 (BGBl. I, 82/2010) geänderten Fassung (im Folgenden: Gehaltsgesetz) lautete: „Für die Vorrückung ist der Vorrückungsstichtag maßgebend. Soweit im Folgenden nichts anderes bestimmt ist, beträgt der für die Vorrückung in die zweite in jeder Verwendungsgruppe in Betracht kommende Gehaltsstufe erforderliche Zeitraum fünf Jahre, ansonsten zwei Jahre.“ 11 § 12 des Gehaltsgesetzes sah vor: „Der Vorrückungsstichtag ist dadurch zu ermitteln, dass Zeiten nach dem 30. Juni des Jahres, in dem nach der Aufnahme in die erste Schulstufe neun Schuljahre absolviert worden sind oder worden wären, unter Beachtung der einschränkenden Bestimmungen der Abs. 4 bis 8 dem Tag der Anstellung vorangesetzt werden: 1. die im Abs. 2 angeführten Zeiten zur Gänze, 2. sonstige Zeiten …“ Geändertes Gehaltsgesetz 12 Um die in den Urteilen des Gerichtshofs vom 18. Juni 2009, Hütter (C‑88/08, EU:C:2009:381), und vom 11. November 2014, Schmitzer (C‑530/13, EU:C:2014:2359), festgestellte Diskriminierung wegen des Alters zu beseitigen, wurde das Gehaltsgesetz rückwirkend durch die Bundesbesoldungsreform 2015 (BGBl. I, 32/2015) und durch das Besoldungsrechtsanpassungsgesetz 2016 (BGB1 I, 104/2016) geändert (im Folgenden: geändertes Gehaltsgesetz). 13 § 8 („Einstufung und Vorrückung“) des geänderten Gehaltsgesetzes sieht in Abs. 1 vor: „… Für die Einstufung und die weitere Vorrückung ist das Besoldungsdienstalter maßgebend.“ 14 In § 12 („Besoldungsdienstalter“) des geänderten Gehaltsgesetzes heißt es: „(1)   Das Besoldungsdienstalter umfasst die Dauer der im Dienstverhältnis verbrachten für die Vorrückung wirksamen Zeiten zuzüglich der Dauer der anrechenbaren Vordienstzeiten. (2)   Als Vordienstzeiten auf das Besoldungsdienstalter anzurechnen sind die zurückgelegten Zeiten 1. in einem Dienstverhältnis zu einer Gebietskörperschaft oder zu einem Gemeindeverband eines Mitgliedstaats des Europäischen Wirtschaftsraums, der Türkischen Republik oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft; 2. in einem Dienstverhältnis zu einer Einrichtung der Europäischen Union oder zu einer zwischenstaatlichen Einrichtung, der Österreich angehört; 3. in denen die Beamtin oder der Beamte auf Grund des Heeresversorgungsgesetzes Anspruch auf eine Beschädigtenrente … hatte, sowie 4. der Leistung a) des Grundwehrdienstes …, b) des Ausbildungsdienstes …, c) des Zivildienstes …, d) eines militärischen Pflichtdienstes, eines vergleichbaren militärischen Ausbildungsdienstes oder eines zivilen Ersatzpflichtdienstes in einem Mitgliedstaat des Europäischen Wirtschaftsraums, in der Türkischen Republik oder in der Schweizerischen Eidgenossenschaft. … (3)   Über die in Abs. 2 angeführten Zeiten hinaus sind Zeiten der Ausübung einer einschlägigen Berufstätigkeit oder eines einschlägigen Verwaltungspraktikums bis zum Ausmaß von insgesamt höchstens zehn Jahren als Vordienstzeiten anrechenbar. …“ 15 § 169c des geänderten Gehaltsgesetzes, der die Überleitung bestehender Dienstverhältnisse in das neue Besoldungs- und Vorrückungssystem betrifft, bestimmt: „(1)   Alle Beamtinnen und Beamten der in § 169d angeführten Verwendungs- und Gehaltsgruppen, welche sich am 11. Februar 2015 im Dienststand befinden, werden nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen alleine auf Grundlage ihrer bisherigen Gehälter in das durch dieses Bundesgesetz neu geschaffene Besoldungssystem übergeleitet. Die Beamtinnen und Beamten werden zunächst aufgrund ihres bisherigen Gehalts in eine Gehaltstufe des neuen Besoldungssystems eingereiht, in welcher das bisherige Gehalt gewahrt wird. … (2)   Die Überleitung der Beamtin oder des Beamten in das neue Besoldungssystem erfolgt durch eine pauschale Festsetzung ihres oder seines Besoldungsdienstalters. Für die pauschale Festsetzung ist der Überleitungsbetrag maßgebend. Der Überleitungsbetrag ist das volle Gehalt ohne allfällige außerordentliche Vorrückungen, welches bei der Bemessung des Monatsbezugs der Beamtin oder des Beamten für den Februar 2015 (Überleitungsmonat) zugrunde gelegt wurde. … (2a)   Als Überleitungsbetrag wird der Gehaltsansatz für jene Gehaltsstufe herangezogen, die für die ausbezahlten Bezüge für den Überleitungsmonat tatsächlich maßgebend war (Einstufung laut Bezugszettel). Eine Beurteilung der Gebührlichkeit der Bezüge hat dabei sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach zu unterbleiben. Eine nachträgliche Berichtigung der ausbezahlten Bezüge ist nur insoweit bei der Bemessung des Überleitungsbetrags zu berücksichtigen, als 1. dadurch Fehler tatsächlicher Natur berichtigt werden, welche bei der Eingabe in ein automatisches Datenverarbeitungssystem unterlaufen sind, und 2. die fehlerhafte Eingabe offenkundig von der beabsichtigten Eingabe abweicht, wie sie durch im Zeitpunkt der Eingabe bereits bestehende Urkunden belegt ist. (2b)   Wenn die tatsächliche Einstufung laut Bezugszettel betragsmäßig geringer ist als die gesetzlich geschützte Einstufung, so wird, wenn nicht wegen Vorliegens einer bloß vorläufigen Einstufung nach § 169d Abs. 5 vorzugehen ist, auf Antrag der Beamtin oder des Beamten die gesetzlich geschützte Einstufung für die Bemessung des Überleitungsbetrags herangezogen. Die gesetzlich geschützte Einstufung ist jene Gehaltsstufe, die sich nach Maßgabe des Stichtags ergibt. Der Stichtag ist jener Tag, der sich bei Voranstellung folgender Zeiten vor den ersten Tag des Überleitungsmonats ergibt. Voranzustellen sind: 1. die bis zum Zeitpunkt des Beginns des Überleitungsmonats als Vordienstzeiten rechtskräftig angerechneten Zeiten, soweit sie nach Vollendung des 18. Lebensjahres zurückgelegt wurden und soweit sie für die Vorrückung wirksam geworden sind, sowie 2. die seit dem Tag der Anstellung zurückgelegten Zeiten, soweit sie für die Vorrückung wirksam geworden sind. Die Voranstellung weiterer Zeiten ist ausgeschlossen. Für jeweils zwei seit dem Stichtag vergangene Jahre gilt die jeweils nächsthöhere Gehaltsstufe als gesetzlich geschützte Einstufung. Eine Gehaltsstufe gilt mit dem auf die Vollendung des zweijährigen Zeitraumes folgenden 1. Jänner oder 1. Juli als erreicht, sofern nicht an diesem Tag die Vorrückung aufgeschoben oder gehemmt war. Die zweijährige Frist gilt auch dann als am jeweiligen 1. Jänner beziehungsweise 1. Juli vollstreckt, wenn sie vor dem Ablauf des jeweils folgenden 31. März beziehungsweise 30. September endet. … (2c)   Mit Abs. 2a und 2b werden die Art. 2 und 6 der Richtlinie [2000/78] für den Bereich des Dienstrechts der Bundesbediensteten und der Landeslehrpersonen so durch Bestimmungen im österreichischen Recht umgesetzt, wie sie durch den Europäischen Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. Juni 2014, C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, ausgelegt wurden. Demzufolge werden die Modalitäten der Überleitung von Beamtinnen und Beamten, die vor dem Inkrafttreten der Bundesbesoldungsreform 2015 ernannt worden sind, in das neue Besoldungssystem festgelegt und vorgesehen, dass zum einen die Gehaltsstufe, der sie nunmehr zugeordnet werden, allein auf der Grundlage des unter dem alten Besoldungssystem erworbenen Gehalts ermittelt wird, obgleich dieses alte System auf einer Diskriminierung wegen des Alters der Beamtin oder des Beamten beruhte, und dass sich zum anderen die weitere Vorrückung in eine höhere Gehaltsstufe nunmehr allein nach der seit dem Inkrafttreten der Bundesbesoldungsreform 2015 erworbenen Berufserfahrung bemisst. (3)   Das Besoldungsdienstalter der übergeleiteten Beamtin oder des übergeleiteten Beamten wird mit jenem Zeitraum festgesetzt, der für die Vorrückung von der ersten Gehaltsstufe (Beginn des 1. Tages) in jene Gehaltsstufe derselben Verwendungsgruppe erforderlich ist, für die in der am 12. Februar 2015 geltenden Fassung das betraglich zum Überleitungsbetrag nächstniedrigere Gehalt angeführt ist. Gleicht der Überleitungsbetrag dem niedrigsten für eine Gehaltsstufe in derselben Verwendungsgruppe angeführten Betrag, so ist diese Gehaltsstufe maßgebend. Alle Vergleichsbeträge sind kaufmännisch auf ganze Euro zu runden. (4)   Das nach Abs. 3 festgesetzte Besoldungsdienstalter wird um den Zeitraum verlängert, der zwischen dem Zeitpunkt der letzten Vorrückung in ein höheres Gehalt und dem Ablauf des Überleitungsmonats vergangen ist, sofern er für die Vorrückung wirksam ist. … (6)   … Wenn das neue Gehalt der Beamtin oder des Beamten geringer ist als der Überleitungsbetrag, erhält sie oder er bis zur Vorrückung in eine den Überleitungsbetrag übersteigende Gehaltsstufe eine ruhegenussfähige Wahrungszulage im Ausmaß des Fehlbetrags als Ergänzungszulage … Die Gegenüberstellung erfolgt einschließlich allfälliger Dienstalterszulagen oder außerordentlicher Vorrückungen. … (9)   Zur Wahrung der erwarteten nächsten Vorrückung, außerordentlichen Vorrückung oder Dienstalterszulage im alten Besoldungssystem gebührt der Beamtin oder dem Beamten ab der Vorrückung in die Überleitungsstufe … eine ruhegenussfähige Wahrungszulage als Ergänzungszulage … …“ 16 Nach § 175 Abs. 79 Nr. 3 des geänderten Gehaltsgesetzes treten die §§ 8 und 12 dieses Gesetzes in der Fassung der Bundesbesoldungsreform 2015, BGBl I, 32/2015, samt Überschriften in Kraft „mit dem 1. Februar 1956; diese Bestimmungen sind in allen vor 11. Februar 2015 kundgemachten Fassungen in laufenden und künftigen Verfahren nicht mehr anzuwenden“. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 17 Herr Leitner, geboren 1968, fällt als Polizist unter das österreichische Beamtendienstrecht. Bis Februar 2015 wurde seine Besoldung durch das alte Besoldungs- und Vorrückungssystem geregelt. Dann wurde er in das durch das geänderte Gehaltsgesetz eingeführte neue Besoldungs- und Vorrückungssystem übergeleitet. 18 Am 27. Januar 2015 beantragte Herr Leitner bei der Landespolizeidirektion Tirol die Neufestsetzung seines Vorrückungsstichtags, damit die Berufserfahrung, die er vor Vollendung des 18. Lebensjahrs erworben habe, angerechnet werden könne. Er beantragte ferner die Nachzahlung der ihm zustehenden Bezüge. 19 Sein Antrag wurde am 30. April 2015 mit der Begründung als unzulässig zurückgewiesen, dass die Bestimmungen betreffend den Vorrückungsstichtag nicht mehr anzuwenden seien. 20 Herr Leitner erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Österreich). Am 7. November 2016 hob das Bundesverwaltungsgericht den Bescheid der Landespolizeidirektion Tirol auf und forderte sie auf, in der Sache über den Antrag von Herrn Leitner zu entscheiden. 21 Am 9. Januar 2017 wies die Landespolizeidirektion Tirol den Antrag mit der Begründung ab, dass Herr Leitner aus dem alten Besoldungs- und Vorrückungssystem keine Ansprüche ableiten könne, da dieses System seit dem rückwirkenden Inkrafttreten des mit dem geänderten Gehaltsgesetz durchgeführten Besoldungsrechtsanpassungsgesetzes 2015 nicht mehr anzuwenden sei. 22 Mit Schriftsatz vom 8. Februar 2017 erhob Herr Leitner beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen diesen Bescheid. 23 Dieses Gericht fragt sich, ob eine Gesetzesänderung wie diejenige, die sich aus dem geänderten Gehaltsgesetz ergebe, tatsächlich jede zuvor bestehende Diskriminierung wegen des Alters beseitigt habe. 24 Es führt aus, da die Überleitung bestehender Dienstverhältnisse auf der Grundlage des nach dem alten Besoldungs- und Vorrückungssystem berechneten Gehalts durchgeführt werde, sei die Beamtengruppe, deren vor Vollendung des 18. Lebensjahrs erworbene Vordienstzeiten für die Berechnung ihres Dienstalters nicht herangezogen würden, in einer weniger günstigen Position als die Beamtengruppe, deren Vordienstzeiten von vergleichbarer Dauer nach Erreichung dieses Alters erworben worden seien. 25 Zudem könnten Vordienstzeiten, die vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegt worden seien, für die Berechnung der Vorrückung der übergeleiteten Beamten nicht berücksichtigt werden. Die Überleitung des Beamten in das neue Besoldungssystem und folglich die Feststellung seiner Position in diesem neuen System erfolgten durch die Festsetzung seines Besoldungsdienstalters. Zur Festsetzung dieses Dienstalters sei der Überleitungsbetrag heranzuziehen, d. h. der Betrag des letzten Gehalts, das der Beamte unter der Geltung des alten Besoldungs- und Vorrückungssystems bezogen habe. Da die Beurteilung der Gebührlichkeit der ausgezahlten Bezüge ausgeschlossen sei, sei im Rahmen der Kontrolle der Berechnung des Überleitungsbetrags nur die Berichtigung bloßer Eingabefehler bei den für die Überleitung herangezogenen Daten möglich. Der Überleitungsbetrag könne daher wegen der Grundlage im alten Besoldungs- und Vorrückungssystem nicht als nicht diskriminierendes Gehalt angesehen werden. 26 Was die Rechtfertigung einer unmittelbaren Ungleichbehandlung angehe, könne das Argument einer Erhöhung der finanziellen Lasten und eventueller administrativer Schwierigkeiten die Nichtbeachtung der Verpflichtungen, die sich aus dem Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ergäben, grundsätzlich nicht rechtfertigen. 27 Im Übrigen habe das Land Tirol, in dem eine dem Ausgangsverfahren vergleichbare Altrechtslage vorgeherrscht habe, als Konsequenz aus dem Urteil vom 11. November 2014, Schmitzer (C‑530/13, EU:C:2014:2359), eine Neuberechnung der Vorrückungsstichtage aller Bestandsbeamten vorgenommen und somit die Altersdiskriminierung nachhaltig abgestellt. 28 Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist das Unionsrecht, insbesondere die Art. 1, 2 und 6 der Richtlinie 2000/78 in Verbindung mit Art. 21 der Charta, dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, die zur Beseitigung einer Diskriminierung von Beamten im Dienststand eine Überleitungsregelung vorsieht, bei der anhand eines „Überleitungsbetrags“, der zwar in Geld bemessen wird, aber dennoch einer bestimmten, konkret zuordenbaren Einstufung entspricht, die Einreihung vom bisherigen Biennalsystem in ein neues (in sich geschlossen für neueintretende Beamte diskriminierungsfreies) Biennalsystem erfolgt und somit die Altersdiskriminierung auf Beamte im Dienststand unvermindert fortwirkt? 2. Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 17 der Richtlinie 2000/78 und Art. 47 der Charta, dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, die verhindert, dass Beamte im Dienststand, entsprechend der vom Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteil vom 11. November 2014, Schmitzer (C‑530/13, EU:C:2014:2359), getroffenen Auslegung zu den Art. 9 und 16 der Richtlinie 2000/78, ihre besoldungsrechtliche Stellung unter Berufung auf Art. 2 der Richtlinie 2000/78 zum Zeitpunkt vor der Überleitung in das neue Besoldungssystem feststellen lassen können, indem die entsprechenden Rechtsgrundlagen rückwirkend mit dem Inkrafttreten ihres historischen Stammgesetzes für nicht mehr anwendbar erklärt werden und insbesondere ausgeschlossen wird, dass Vordienstzeiten vor dem 18. Geburtstag angerechnet werden können? 3. Für den Fall der Bejahung der Frage 2: Gebietet der im Urteil vom 22. November 2005, Mangold (C‑144/04, EU:C:2005:709), und weitere postulierte Anwendungsvorrang des Unionsrechts, dass die rückwirkend außer Kraft getretenen Bestimmungen für Beamte im Dienststand zum Zeitpunkt vor der Überleitung weiterhin anzuwenden sind, so dass diese Beamten rückwirkend diskriminierungsfrei im Altsystem eingereiht werden können und sohin diskriminierungsfrei in das neue Besoldungssystem übergeleitet werden? 4. Ist das Unionsrecht, insbesondere die Art. 1, 2 und 6 der Richtlinie 2000/78 in Verbindung mit den Art. 21 und 47 der Charta, dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine bestehende Altersdiskriminierung (in Bezug auf die Anrechnung von Vordienstzeiten vor dem 18. Lebensjahr) bloß deklarativ beseitigt, indem bestimmt wird, dass die unter der Diskriminierung real zurückgelegten Zeiten rückwirkend nicht mehr als diskriminierend anzusehen sind, obwohl die Diskriminierung faktisch unverändert fortwirkt? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 29 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 1, 2 und 6 der Richtlinie 2000/78 in Verbindung mit Art. 21 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer rückwirkend in Kraft gesetzten nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach zur Beseitigung einer Diskriminierung wegen des Alters die Überleitung von Beamten im Dienststand in ein neues Besoldungs- und Vorrückungssystem vorgesehen ist, in dem sich die erste Einstufung dieser Beamten nach ihrem letzten gemäß dem alten System bezogenen Gehalt richtet. 30 In einem ersten Schritt ist zu untersuchen, ob die fragliche nationale Regelung eine Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 schafft. 31 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der „Gleichbehandlungsgrundsatz“ nach dem Wortlaut dieser Vorschrift dahin verstanden wird, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 genannten Gründe geben darf. Nach ihrem Art. 2 Abs. 2 Buchst. a liegt eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne des Abs. 1 vor, wenn eine Person wegen eines der in ihrem Art. 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person. 32 Im Ausgangsverfahren sind die für die Zwecke dieses Vergleichs maßgeblichen Personengruppen auf der einen Seite die zum Zeitpunkt der Überleitung im Dienststand befindlichen Beamten, die Berufserfahrung, sei es auch nur teilweise, vor Vollendung des 18. Lebensjahrs erworben haben (im Folgenden: vom alten System benachteiligte Beamte), und auf der anderen Seite die Beamten, die eine gleichartige Berufserfahrung von vergleichbarer Dauer nach Vollendung des 18. Lebensjahrs erworben haben (im Folgenden: vom alten System begünstigte Beamte). 33 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass der österreichische Gesetzgeber mit dem Erlass von § 169c des geänderten Gehaltsgesetzes einen Einstufungsmechanismus eingeführt hat, der auf einem anhand der Regeln des früheren Systems berechneten „Überleitungsbetrag“ beruht. Genauer gesagt wird der „Überleitungsbetrag“, der nach § 169c Abs. 2 dieses Gesetzes für die pauschale Festsetzung des Besoldungsdienstalters der übergeleiteten Beamten maßgeblich ist, auf der Grundlage des Gehalts berechnet, das ihnen im Monat vor ihrer Überleitung in das neue System gezahlt wurde. 34 Der Gerichtshof hat aber in seinem Urteil vom 11. November 2014, Schmitzer (C‑530/13, EU:C:2014:2359), bereits festgestellt, dass die Regeln des alten Besoldungs- und Vorrückungssystems eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters im Sinne der Richtlinie 2000/78 schufen. 35 In diesem Urteil hat der Gerichtshof insoweit festgestellt, dass eine nationale Regelung, wonach zur Beseitigung einer Diskriminierung von Beamten wegen des Alters vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegte Schulzeiten und Zeiten der Berufserfahrung berücksichtigt werden, aber zugleich nur für die von dieser Diskriminierung betroffenen Beamten eine Verlängerung des für die Vorrückung von der jeweils ersten in die jeweils zweite Gehaltsstufe jeder Verwendungs- bzw. Entlohnungsgruppe erforderlichen Zeitraums um drei Jahre eingeführt wird, eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters im Sinne von Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a sowie Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 beibehält. 36 Außerdem geht schon aus dem Wortlaut von § 169c Abs. 2c des geänderten Gehaltsgesetzes hervor, dass das alte Besoldungs- und Vorrückungssystem auf einer Diskriminierung der Beamten wegen des Alters beruhte. 37 Unter diesen Umständen ist ein Einstufungsmechanismus wie der durch das geänderte Gehaltsgesetz eingeführte (siehe oben, Rn. 33) geeignet, die Wirkungen des alten Besoldungs- und Vorrückungssystems aufgrund der Verbindung aufrechtzuerhalten, die er zwischen dem letzten Gehalt, das unter dem alten System bezogen wurde, und der Einstufung in das neue Besoldungs- und Vorrückungssystem herstellt. 38 Deshalb ist davon auszugehen, dass § 169c des geänderten Gehaltsgesetzes eine Ungleichbehandlung zwischen den vom alten System benachteiligten Beamten und den von diesem System begünstigten Beamten beibehält, da das Gehalt, das Erstere beziehen, allein wegen ihres Einstellungsalters niedriger ist als das Letzteren gezahlte Gehalt, obwohl sie sich in einer vergleichbaren Situation befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2015, Unland, C‑20/13, EU:C:2015:561, Rn. 40). 39 In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung wegen des Alters im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt sein kann. 40 Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2000/78 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. 41 Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass die Mitgliedstaaten nicht nur bei der Entscheidung darüber, welches konkrete Ziel von mehreren sie im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik verfolgen wollen, sondern auch bei der Festlegung der zu seiner Erreichung geeigneten Maßnahmen über ein weites Ermessen verfügen (Urteil vom 28. Januar 2015, Starjakob, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 In diesem Kontext führt das vorlegende Gericht aus, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung solle vor allem ein diskriminierungsfreies Besoldungs- und Vorrückungssystem schaffen. Diese Regelung verfolge Ziele der Kostenneutralität, der Verwaltungsökonomie, der Besitzstandswahrung und des Vertrauensschutzes. 43 Was zum einen das Ziel der Kostenneutralität der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, neben politischen, sozialen oder demografischen Erwägungen auch Haushaltserwägungen zu berücksichtigen, sofern sie dabei insbesondere das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters beachten. Insoweit können Haushaltserwägungen zwar den sozialpolitischen Entscheidungen eines Mitgliedstaats zugrunde liegen und die Art oder das Ausmaß der von ihm zu treffenden Maßnahmen beeinflussen, für sich allein aber kein legitimes Ziel im Sinne des Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 darstellen. Das Gleiche gilt für die vom vorlegenden Gericht und von der österreichischen Regierung angeführten administrativen Erwägungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Januar 2015, Starjakob, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 36). 44 Was zum anderen die Besitzstandswahrung und den Schutz des berechtigten Vertrauens der vom alten System begünstigten Beamten in Bezug auf ihr Gehalt anbelangt, ist festzustellen, dass sie legitime Ziele der Beschäftigungspolitik und des Arbeitsmarkts darstellen, die die Beibehaltung der bisherigen Vergütungen und somit einer Ungleichbehandlung wegen des Alters während eines Übergangszeitraums rechtfertigen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2014, Schmitzer, C‑530/13, EU:C:2014:2359, Rn. 42). 45 Die genannten Ziele können jedoch keine Maßnahme rechtfertigen, mit der – sei es auch nur für bestimmte Personen – eine Ungleichbehandlung wegen des Alters endgültig festgeschrieben wird, die durch die Reform, zu der diese Maßnahme gehört, beseitigt werden soll. Eine solche Maßnahme ist nicht geeignet, für die benachteiligte Personengruppe ein diskriminierungsfreies System zu schaffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Januar 2015, Starjakob, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Im vorliegenden Fall sieht § 169c des geänderten Gehaltsgesetzes verschiedene Mechanismen zur Vermeidung einer erheblichen Gehaltseinbuße der neu eingestuften Beamten vor. Zu diesen Mechanismen gehört die Zahlung einer Wahrungszulage in Höhe des Unterschieds zwischen dem neuen Gehalt, das der übergeleitete Beamte bezieht, und dem Überleitungsbetrag. Diese Wahrungszulage wird gewährt, weil dieser Beamte nach seiner Überleitung einer Gehaltsstufe des neuen Besoldungs- und Vorrückungssystems zugeordnet ist, der ein Gehaltsniveau entspricht, das sogleich niedriger ist als dasjenige, das er zuletzt nach dem alten System bezogen hat. Zu diesen Mechanismen gehört auch, dass beim Besoldungsdienstalter des übergeleiteten Beamten das Dienstalter von sechs auf 18 Monate erhöht wird. 47 Wie die österreichische Regierung in der mündlichen Verhandlung erläutert hat, gelten all diese Mechanismen aber ohne Unterschied für alle Beamten, die pauschal in das neue Besoldungs- und Vorrückungssystem übergeleitet wurden, unabhängig davon, ob sie vom alten Besoldungs- und Vorrückungssystem benachteiligt wurden oder nicht. 48 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass im Unterschied zu den Rechtssachen, die Gegenstand der Urteile vom 19. Juni 2014, Specht u. a. (C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005), und vom 9. September 2015, Unland (C‑20/13, EU:C:2015:561), waren, in denen der Besoldungsunterschied zwischen den beiden dort in Rede stehenden Gruppen von Bediensteten geringer wurde bzw. in bestimmten Fällen sogar schrittweise verschwand, in der vorliegenden Rechtssache aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervorgeht, dass die in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung vorgesehenen Mechanismen eine schrittweise Angleichung der Behandlung der durch das alte System benachteiligten Beamten an die Behandlung der begünstigten Beamten dergestalt erlauben, dass Erstere mittel- oder sogar kurzfristig die Letzteren gewährten Vorteile aufholen würden. Diese Mechanismen führen nicht dazu, dass sich nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums der Besoldungsunterschied verringert, der zwischen den begünstigten und den benachteiligten Beamten besteht. 49 Auch wenn die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung somit die Wahrung des Besitzstands und den Schutz des berechtigten Vertrauens der vom früheren System begünstigten Beamten sicherzustellen vermag, ist sie nicht geeignet, für die vom alten Besoldungs- und Vorrückungssystem benachteiligten Beamten ein diskriminierungsfreies System zu schaffen, da sie ihnen gegenüber die durch das frühere System geschaffene Diskriminierung wegen des Alters endgültig festschreibt. 50 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 1, 2 und 6 der Richtlinie 2000/78 in Verbindung mit Art. 21 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer rückwirkend in Kraft gesetzten nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach zur Beseitigung einer Diskriminierung wegen des Alters die Überleitung von Beamten im Dienststand in ein neues Besoldungs- und Vorrückungssystem vorgesehen ist, in dem sich die erste Einstufung dieser Beamten nach ihrem letzten gemäß dem alten System bezogenen Gehalt richtet. Zur zweiten Frage 51 Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts betrifft Art. 17 der Richtlinie 2000/78. 52 Nach Art. 17 der Richtlinie 2000/78 legen die Mitgliedstaaten die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren Durchführung zu gewährleisten. Die Sanktionen, die auch Schadensersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. 53 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass den Mitgliedstaaten mit diesem Artikel vorgeschrieben werden soll, die Sanktionen festzulegen, die bei Verstößen gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2000/78 zu verhängen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 61). 54 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht aber in Bezug auf das Ausgangsverfahren nicht hervor, dass es um Verstöße gegen einzelstaatliche Vorschriften geht, die zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassen wurden. 55 Die Auslegung von Art. 17 der Richtlinie 2000/78 ist daher für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich. 56 Im Einklang mit der nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere dem Urteil vom 21. September 2017, Beshkov (C‑171/16, EU:C:2017:710, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung), eingeräumten Möglichkeit ist die zweite Frage in der Weise umzuformulieren, dass mit ihr geklärt werden soll, ob Art. 47 der Charta und Art. 9 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens den Umfang der Kontrolle, die von den nationalen Gerichten ausgeübt werden kann, einschränkt, indem Fragen im Zusammenhang mit der Grundlage des anhand des alten Besoldungs- und Vorrückungssystems berechneten „Überleitungsbetrags“ ausgeschlossen werden. 57 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen vom Unionsrecht erfassten Fällen Anwendung finden und die Anwendbarkeit des Unionsrechts die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte umfasst (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. April 2014, Pfleger u. a., C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 49). 58 Im vorliegenden Fall geht aus § 169c Abs. 2c des geänderten Gehaltsgesetzes hervor, dass es die Durchführung der Richtlinie 2000/78 im österreichischen Recht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta betrifft, so dass der österreichische Gesetzgeber zur Achtung der durch Art. 47 der Charta garantierten Grundrechte und insbesondere des Rechts jeder Person auf wirksamen gerichtlichen Schutz der ihr aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte verpflichtet war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 52). 59 Im Anschluss an diese Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 47 Abs. 1 der Charta jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. 60 Um die Wahrung dieses Grundrechts in der Union zu gewährleisten, verpflichtet Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. 61 Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf wird auch durch die Richtlinie 2000/78 bekräftigt, nach deren Art. 9 die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass alle Personen, die sich durch eine Diskriminierung für verletzt halten, ihre Ansprüche geltend machen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2014, Schmitzer, C‑530/13, EU:C:2014:2359, Rn. 49). 62 Daraus folgt, dass die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes in Bezug auf Personen, die wegen ihres Alters diskriminiert wurden, die Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Schutzes ihres Rechts auf Gleichbehandlung erfordert. 63 Im vorliegenden Fall ist, wie der Generalanwalt in Nr. 74 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Umfang der materiellen Kontrolle, die von den zuständigen nationalen Gerichten im Rahmen des neuen österreichischen Besoldungs- und Vorrückungssystems hinsichtlich des für die Einstufung der betreffenden Beamten maßgebenden „Überleitungsbetrags“ ausgeübt werden kann, stark eingeschränkt. Sie kann sich nämlich nur auf Fehler erstrecken, die bei der Eingabe der relevanten Daten unterlaufen sind, und nicht darauf, ob es bei der Berechnung des Gehalts, auf dem dieser Betrag beruht, eine Unregelmäßigkeit dem Grunde nach gab, wobei der Überleitungsbetrag anhand des Gehalts bestimmt wird, das im Grundsatz und der Höhe nach in Anwendung des alten Besoldungs- und Vorrückungssystems festgelegt wurde. 64 Unter diesen Umständen wäre ein vom alten Besoldungs- und Vorrückungssystem benachteiligter Beamter, wenn er die diskriminierenden Wirkungen des „Überleitungsbetrags“ nicht anfechten kann, entgegen Art. 47 der Charta nicht in der Lage, alle Ansprüche durchzusetzen, die ihm aufgrund des auch durch die Richtlinie 2000/78 garantierten Grundsatzes der Gleichbehandlung zustehen. Dass er einen Rechtsbehelf gegen das neue Besoldungs- und Vorrückungssystem als Ganzes einlegen kann, vermag daran nichts zu ändern. 65 Somit muss ein Beamter, der eine Diskriminierung wegen des Alters erlitten hat, die Möglichkeit haben, unter Berufung auf Art. 2 der Richtlinie 2000/78 die diskriminierenden Wirkungen der Modalitäten seiner Überleitung in das neue Besoldungs- und Vorrückungssystem anzufechten. 66 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 47 der Charta und Art. 9 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens den Umfang der Kontrolle, die von den nationalen Gerichten ausgeübt werden kann, einschränkt, indem Fragen im Zusammenhang mit der Grundlage des anhand des alten Besoldungs- und Vorrückungssystems berechneten „Überleitungsbetrags“ ausgeschlossen werden. Zur dritten Frage 67 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass im Fall einer nationalen Regelung, die wie die im Ausgangsverfahren fragliche gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters und gegen Art. 47 der Charta verstößt, die Situation der im Dienststand befindlichen Beamten, die eine solche Diskriminierung wegen des Alters erlitten haben, bei der Anwendung des Mechanismus zur Überleitung in das neue Besoldungs- und Vorrückungssystem erneut geprüft werden muss und diese Beamten ohne Diskriminierung in das neue System übergeleitet werden müssen. 68 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs den nationalen Gerichten obliegt, unter Berücksichtigung sämtlicher nationaler Rechtsnormen und in Anwendung der im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden zu entscheiden, ob und inwieweit eine nationale Rechtsvorschrift im Einklang mit der Richtlinie 2000/78 ausgelegt werden kann, ohne dass sie contra legem ausgelegt wird (Urteil vom 22. Januar 2019, Cresco Investigation, C‑193/17, EU:C:2019:43, Rn. 74). 69 Ist eine mit den Anforderungen dieser Richtlinie im Einklang stehende Auslegung und Anwendung der nationalen Regelung nicht möglich, muss eine unionsrechtswidrige nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der auch dem Verbot der Diskriminierung wegen des Alters zukommt, unangewendet gelassen werden (Urteil vom 19. Juni 2014, Specht u. a., C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 89). 70 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt wurde und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen wurden, die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes nur dadurch sichergestellt werden, dass den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile gewährt werden wie den Angehörigen der begünstigten Gruppe. Die benachteiligten Personen müssen also in die gleiche Lage versetzt werden wie die Personen, denen der betreffende Vorteil zugutekommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Januar 2019, Cresco Investigation, C‑193/17, EU:C:2019:43, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung). 71 In einem derartigen Fall ist das nationale Gericht gehalten, eine diskriminierende nationale Bestimmung außer Anwendung zu lassen, ohne dass es ihre vorherige Beseitigung durch den Gesetzgeber beantragen oder abwarten müsste, und auf die Mitglieder der benachteiligten Gruppe eben die Regelung anzuwenden, die für die Mitglieder der anderen Gruppe gilt. Diese Verpflichtung obliegt ihm unabhängig davon, ob das innerstaatliche Recht Bestimmungen enthält, die ihm eine entsprechende Befugnis zuweisen (Urteil vom 22. Januar 2019, Cresco Investigation, C‑193/17, EU:C:2019:43, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung). 72 Eine solche Lösung kommt jedoch nur dann zur Anwendung, wenn es ein gültiges Bezugssystem gibt (Urteil vom 22. Januar 2019, Cresco Investigation, C‑193/17, EU:C:2019:43, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). 73 Im vorliegenden Fall ist zum einen im Kontext der Antwort auf die erste Frage darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil vom 11. November 2014, Schmitzer (C‑530/13, EU:C:2014:2359), bereits festgestellt hat, dass die Bestimmungen des alten Besoldungs- und Vorrückungssystems und insbesondere diejenigen, wonach zur Beseitigung einer Diskriminierung von Beamten wegen des Alters vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegte Schulzeiten und Zeiten der Berufserfahrung berücksichtigt werden, aber zugleich nur für die von dieser Diskriminierung betroffenen Beamten eine Verlängerung des für die Vorrückung von der jeweils ersten in die jeweils zweite Gehaltsstufe jeder Verwendungs- bzw. Entlohnungsgruppe erforderlichen Zeitraums um drei Jahre eingeführt wird, eine unmittelbare Diskriminierung wegen des Alters im Sinne von Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a sowie Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 beibehalten. 74 Zum anderen würden die für die begünstigten Beamten geltenden Vorschriften des Besoldungs- und Vorrückungssystems es den benachteiligten Beamten ermöglichen, ohne Diskriminierung in den Gehaltsstufen vorzurücken. 75 Solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen wurden, impliziert daher ihre Wiederherstellung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, dass den vom alten Besoldungs- und Vorrückungssystem benachteiligten Beamten die gleichen Vorteile gewährt werden wie den von diesem System begünstigten Beamten, sowohl in Bezug auf die Berücksichtigung vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegter Vordienstzeiten als auch bei der Vorrückung in der Gehaltstabelle (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Januar 2015, Starjakob, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 48). 76 Daraus folgt ferner, dass ein vom alten Besoldungs- und Vorrückungssystem benachteiligter Beamter Anspruch darauf hat, dass sein Arbeitgeber ihm einen Ausgleichsbetrag in Höhe der Differenz zwischen dem Gehalt, das er hätte beziehen müssen, wenn er nicht diskriminiert worden wäre, und dem tatsächlich bezogenen Gehalt zahlt. 77 Es ist darauf hinzuweisen, dass die vorstehend in den Rn. 75 und 76 dargelegten Erwägungen nur gelten, solange der nationale Gesetzgeber keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Januar 2019, Cresco Investigation, C‑193/17, EU:C:2019:43, Rn. 87). 78 Die Mitgliedstaaten sind nämlich nach Art. 16 der Richtlinie 2000/78 zwar verpflichtet, Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die dem Grundsatz der Gleichbehandlung zuwiderlaufen, aufzuheben, doch schreibt ihnen diese Vorschrift nicht den Erlass bestimmter Maßnahmen im Fall einer Verletzung des Diskriminierungsverbots vor, sondern belässt ihnen nach Maßgabe der unterschiedlichen denkbaren Sachverhalte die Freiheit, unter den verschiedenen zur Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels geeigneten Lösungen die ihrer Ansicht nach dafür am besten geeignete zu wählen (Urteil vom 22. Januar 2019, Cresco Investigation, C‑193/17, EU:C:2019:43, Rn. 88). 79 Nach dem Vorstehenden ist auf die dritte Frage zu antworten, dass das nationale Gericht, wenn nationale Rechtsvorschriften nicht im Einklang mit der Richtlinie 2000/78 ausgelegt werden können, verpflichtet ist, im Rahmen seiner Befugnisse den Rechtsschutz, der dem Einzelnen aus dieser Richtlinie erwächst, zu gewährleisten und für ihre volle Wirkung zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Wiederherstellung der Gleichbehandlung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt wurde und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen wurden, voraussetzt, dass den durch das alte Besoldungs- und Vorrückungssystem benachteiligten Beamten die gleichen Vorteile gewährt werden wie den von diesem System begünstigten Beamten, sowohl in Bezug auf die Berücksichtigung vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegter Vordienstzeiten als auch bei der Vorrückung in der Gehaltstabelle, und dass den diskriminierten Beamten infolgedessen ein finanzieller Ausgleich in Höhe der Differenz zwischen dem Gehalt, das der betreffende Beamte hätte beziehen müssen, wenn er nicht diskriminiert worden wäre, und dem tatsächlich von ihm bezogenen Gehalt gewährt wird. Zur vierten Frage 80 In Anbetracht der Antwort auf die erste und die zweite Frage ist die vierte Frage nicht zu beantworten. Kosten 81 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Art. 1, 2 und 6 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sind in Verbindung mit Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer rückwirkend in Kraft gesetzten nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach zur Beseitigung einer Diskriminierung wegen des Alters die Überleitung von Beamten im Dienststand in ein neues Besoldungs- und Vorrückungssystem vorgesehen ist, in dem sich die erste Einstufung dieser Beamten nach ihrem letzten gemäß dem alten System bezogenen Gehalt richtet. 2. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 9 der Richtlinie 2000/78 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens den Umfang der Kontrolle, die von den nationalen Gerichten ausgeübt werden kann, einschränkt, indem Fragen im Zusammenhang mit der Grundlage des anhand des alten Besoldungs- und Vorrückungssystems berechneten „Überleitungsbetrags“ ausgeschlossen werden. 3. Das nationale Gericht ist, wenn nationale Rechtsvorschriften nicht im Einklang mit der Richtlinie 2000/78 ausgelegt werden können, verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den Rechtsschutz, der dem Einzelnen aus dieser Richtlinie erwächst, zu gewährleisten und für ihre volle Wirkung zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Wiederherstellung der Gleichbehandlung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt wurde und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen wurden, voraussetzt, dass den durch das alte Besoldungs- und Vorrückungssystem benachteiligten Beamten die gleichen Vorteile gewährt werden wie den von diesem System begünstigten Beamten, sowohl in Bezug auf die Berücksichtigung vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegter Vordienstzeiten als auch bei der Vorrückung in der Gehaltstabelle, und dass den diskriminierten Beamten infolgedessen ein finanzieller Ausgleich in Höhe der Differenz zwischen dem Gehalt, das der betreffende Beamte hätte beziehen müssen, wenn er nicht diskriminiert worden wäre, und dem tatsächlich von ihm bezogenen Gehalt gewährt wird. Silva de Lapuerta Arabadjiev Regan Fernlund Rodin Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 8. Mai 2019. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 19. März 2019.#Bashar Ibrahim u. a. gegen Bundesrepublik Deutschland und Bundesrepublik Deutschland gegen Taus Magamadov.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 33 Abs. 2 Buchst. a – Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig durch die Behörden eines Mitgliedstaats, weil zuvor in einem anderen Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt wurde – Art. 52 – Zeitlicher Anwendungsbereich der Richtlinie – Art. 4 und 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Systemische Mängel des Asylverfahrens in dem anderen Mitgliedstaat – Systematische Ablehnung der Asylanträge – Tatsächliche und erwiesene Gefahr, unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden – Lebensbedingungen der Personen, denen im letzteren Staat subsidiärer Schutz zuerkannt wurde.#Verbundene Rechtssachen C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17.
62017CJ0297
ECLI:EU:C:2019:219
2019-03-19T00:00:00
Gerichtshof, Wathelet
62017CJ0297 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 19. März 2019 (*1) [Text berichtigt mit Beschluss vom 30. April 2019] „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 33 Abs. 2 Buchst. a – Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig durch die Behörden eines Mitgliedstaats, weil zuvor in einem anderen Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt wurde – Art. 52 – Zeitlicher Anwendungsbereich der Richtlinie – Art. 4 und 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Systemische Mängel des Asylverfahrens in dem anderen Mitgliedstaat – Systematische Ablehnung der Asylanträge – Tatsächliche und erwiesene Gefahr, unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden – Lebensbedingungen der Personen, denen im letzteren Staat subsidiärer Schutz zuerkannt wurde“ In den verbundenen Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17 betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 23. März 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Mai 2017 (C‑297/17) und am 30. Mai 2017 (C‑318/17 und C‑319/17), sowie mit Entscheidung vom 1. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juli 2017 (C‑438/17), in den Verfahren Bashar Ibrahim (C‑297/17), Mahmud Ibrahim, Fadwa Ibrahim, Bushra Ibrahim, Mohammad Ibrahim, Ahmad Ibrahim (C‑318/17), Nisreen Sharqawi, Yazan Fattayrji, Hosam Fattayrji (C‑319/17) gegen Bundesrepublik Deutschland und Bundesrepublik Deutschland gegen Taus Magamadov (C‑438/17) erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan und F. Biltgen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe und des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, M. Ilešič (Berichterstatter), J. Malenovský, L. Bay Larsen und D. Šváby, Generalanwalt: M. Wathelet, Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2018, [Berichtigt mit Beschluss vom 30. April 2019] unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Bashar Ibrahim, Herrn Mahmud Ibrahim, Frau Fadwa Ibrahim, Herrn Bushra Ibrahim sowie den minderjährigen Kindern Mohammad Ibrahim und Ahmad Ibrahim und von Frau Sharqawi sowie ihren minderjährigen Kindern Yazan Fattayrji und Hosam Fattayrji, vertreten durch Rechtsanwältin D. Kösterke-Zerbe, – von Herrn Magamadov, vertreten durch Rechtsanwältin I. Stern, – der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, R. Kanitz, M. Henning und V. Thanisch als Bevollmächtigte, – der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul und P. Cottin als Bevollmächtigte, – der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, E. de Moustier und E. Armoët als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Cordi und L. D’Ascia, avvocati dello Stato, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer, M. Bulterman, C. S. Schillemans und M. Gijzen als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon und C. Crane als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und C. Ladenburger als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juli 2018 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a und Art. 52 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60, im Folgenden: Verfahrensrichtlinie) sowie der Art. 4 und 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Sie ergehen im Rahmen von vier Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Bashar Ibrahim (Rechtssache C‑297/17), Herrn Mahmud Ibrahim, Frau Fadwa Ibrahim, Herrn Bushra Ibrahim, den minderjährigen Kindern Mohammad und Ahmad Ibrahim (Rechtssache C‑318/17) sowie Frau Nisreen Sharqawi und ihren minderjährigen Kindern Yazan und Hosam Fattayrji (Rechtssache C‑319/17) auf der einen und der Bundesrepublik Deutschland auf der anderen Seite sowie zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Herrn Taus Magamadov (Rechtssache C‑438/17) wegen Bescheiden des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland, im Folgenden: Bundesamt), mit denen den Betroffenen das Recht auf Asyl versagt wurde. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 Art. 3 („Verbot der Folter“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bestimmt: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ Unionsrecht Charta 4 Art. 1 („Würde des Menschen“) der Charta lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ 5 Art. 4 („Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“) der Charta lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ 6 Art. 18 („Asylrecht“) der Charta bestimmt: „Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des [am] 28. Juli 1951 [in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954])] und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden ‚die Verträge‘) gewährleistet.“ 7 Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) Abs. 1 der Charta lautet: „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.“ 8 Art. 51 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Charta bestimmt: „Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.“ 9 Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) Abs. 3 der Charta lautet: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“ Anerkennungsrichtlinie 10 In Art. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie) heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck a) ‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus … … d) ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet; e) ‚Flüchtlingseigenschaft‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat; f) ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikels 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will; g) ‚subsidiärer Schutzstatus‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen durch einen Mitgliedstaat als Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat; h) ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht; …“ 11 In Kapitel II der Anerkennungsrichtlinie sind die Voraussetzungen für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz festgelegt. 12 Zu Kapitel II gehört Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) der Anerkennungsrichtlinie, der in Abs. 3 bestimmt: „Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist: a) alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden; b) die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte; c) die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind; …“ 13 In Kapitel III der Anerkennungsrichtlinie sind die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling festgelegt. In diesem Rahmen sehen die Art. 9 („Verfolgungshandlungen“) und 10 („Verfolgungsgründe“) der Richtlinie die Anhaltspunkte vor, die bei der Prüfung zu berücksichtigen sind, ob der Antragsteller verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte. 14 Kapitel IV („Flüchtlingseigenschaft“) der Anerkennungsrichtlinie enthält deren Art. 13 („Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft“), der lautet: „Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.“ 15 In den Kapiteln V und VI der Anerkennungsrichtlinie sind die Voraussetzungen für subsidiären Schutz bzw. der subsidiäre Schutzstatus festgelegt. 16 In Kapitel VII der Anerkennungsrichtlinie, der deren Art. 20 bis 35 enthält, ist der Inhalt des internationalen Schutzes festgelegt. Dublin‑II-Verordnung und Dublin‑III-Verordnung 17 Mit der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung) wurde die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1, im Folgenden: Dublin‑II-Verordnung) aufgehoben und ersetzt. 18 Während die Dublin‑II-Verordnung nach ihrem Art. 1 in Verbindung mit ihrem Art. 2 Buchst. c nur die Kriterien und Verfahren festlegte, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags im Sinne des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Genfer Konvention) zuständig ist, zur Anwendung gelangen, soll die Dublin‑III‑Verordnung – wie aus ihrem Art. 1 hervorgeht – nunmehr diese Kriterien und Verfahren für Anträge auf internationalen Schutz festlegen, bei denen es sich nach der Definition in Art. 2 Buchst. b der Dublin‑III‑Verordnung, der auf die Definition in Art. 2 Buchst. h der Anerkennungsrichtlinie verweist, um Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder auf Gewährung des subsidiären Schutzstatus handelt. 19 Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung sieht vor, dass der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat verpflichtet ist, einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, dessen Antrag abgelehnt wurde und der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, wieder aufzunehmen. 20 Art. 49 („Inkrafttreten und Anwendbarkeit“) der Dublin‑III-Verordnung bestimmt: „Diese Verordnung tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft. Die Verordnung ist auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar, die ab dem ersten Tag des sechsten Monats nach ihrem Inkrafttreten gestellt werden und gilt ab diesem Zeitpunkt – ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung – für alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern. Für einen Antrag auf internationalen Schutz, der vor diesem Datum eingereicht wird, erfolgt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach den Kriterien der [Dublin‑II-]Verordnung … …“ Richtlinie 2005/85 und Verfahrensrichtlinie 21 Mit der Verfahrensrichtlinie ist die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13) neu gefasst worden. 22 Die Richtlinie 2005/85 hatte nach ihrem Art. 1 den Zweck, Mindestnormen für die Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft festzulegen. Art. 2 Buchst. b der Richtlinie bestimmte den Begriff „Asylantrag“ als den von einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen gestellten Antrag, der als Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedstaats im Sinne der Genfer Konvention betrachtet werden konnte. 23 Art. 25 der Richtlinie 2005/85 bestimmte: „(1)   Zusätzlich zu den Fällen, in denen ein Asylantrag nach Maßgabe der [Dublin‑II-]Verordnung … nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob der Antragsteller als Flüchtling … anzuerkennen ist, wenn ein Antrag gemäß dem vorliegenden Artikel als unzulässig betrachtet wird. (2)   Die Mitgliedstaaten können einen Asylantrag gemäß diesem Artikel als unzulässig betrachten, wenn a) ein anderer Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat; …“ 24 Nach Art. 1 der Verfahrensrichtlinie werden mit ihr gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes gemäß der Anerkennungsrichtlinie eingeführt. 25 Art. 2 Buchst. b der Verfahrensrichtlinie bestimmt den Begriff „Antrag auf internationalen Schutz“ als das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und der nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs der Anerkennungsrichtlinie ersucht. 26 Art. 10 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie lautet: „Bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz stellt die Asylbehörde zuerst fest, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt; ist dies nicht der Fall, wird festgestellt, ob der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat.“ 27 Art. 33 („Unzulässige Anträge“) der Verfahrensrichtlinie bestimmt: „(1)   Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der [Dublin‑III‑]Verordnung … ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der [Anerkennungsrichtlinie] zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird. (2)   Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn a) ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat; … d) es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der [Anerkennungsrichtlinie] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind … …“ 28 Art. 40 („Folgeanträge“) Abs. 2 bis 4 der Verfahrensrichtlinie sieht vor: (2)   Für die Zwecke der gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz wird ein Folgeantrag auf internationalen Schutz zunächst daraufhin geprüft, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der [Anerkennungsrichtlinie] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. (3)   Wenn die erste Prüfung nach Absatz 2 ergibt, dass neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der [Anerkennungsrichtlinie] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, wird der Antrag gemäß Kapitel II weiter geprüft. Die Mitgliedstaaten können auch andere Gründe festlegen, aus denen der Folgeantrag weiter zu prüfen ist. (4)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der Antrag nur dann weiter geprüft wird, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, die in den Absätzen 2 und 3 dargelegten Sachverhalte im früheren Verfahren insbesondere durch Wahrnehmung seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gemäß Artikel 46 vorzubringen.“ 29 Art. 51 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um den Artikeln 1 bis 30, Artikel 31 Absätze 1, 2 und 6 bis 9, den Artikeln 32 bis 46, den Artikeln 49 und 50 sowie dem Anhang I bis spätestens 20. Juli 2015 nachzukommen. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Vorschriften mit.“ 30 Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten wenden die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Artikel 51 Absatz 1 auf förmlich gestellte Anträge auf internationalen Schutz sowie auf eingeleitete Verfahren zur Aberkennung des internationalen Schutzes nach dem 20. Juli 2015 oder früher an. Für vor diesem Datum förmlich gestellte Anträge und vor diesem Datum eingeleitete Verfahren zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft gelten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Maßgabe der Richtlinie [2005/85].“ 31 Gemäß Art. 53 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie wird die Richtlinie 2005/85 im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, die durch diese Richtlinie gebunden sind, unbeschadet der Verpflichtungen dieser Mitgliedstaaten hinsichtlich der in Anhang II Teil B genannten Frist für die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht mit Wirkung vom 21. Juli 2015 aufgehoben. 32 Nach ihrem Art. 54 Abs. 1 „tritt [die Verfahrensrichtlinie] am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft“; dies war der 29. Juni 2013. Deutsches Recht 33 § 29 („Unzulässige Anträge“) des Asylgesetzes (im Folgenden: AsylG) in der mit Wirkung vom 6. August 2016 geänderten Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBI. 2016 I, S. 1939) sieht vor: „(1)   Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn 1. ein anderer Staat a) nach Maßgabe der [Dublin‑III-]Verordnung … oder b) auf Grund von anderen Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, 2. ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 gewährt hat, …“ 34 § 77 Abs. 1 AsylG bestimmt: „In Streitigkeiten nach diesem Gesetz stellt das Gericht auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ab; ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, ist der Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung gefällt wird. …“ Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen Verbundene Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 35 Die Kläger der Ausgangsverfahren sind staatenlose palästinensische Asylbewerber, die ihren Wohnsitz in Syrien hatten. 36 Herr Bashar Ibrahim, der Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑297/17, ist der Sohn von Herrn Mahmud Ibrahim und von Frau Ibrahim sowie der Bruder der drei weiteren Kinder von Herrn und Frau Ibrahim, die wie ihre Eltern Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑318/17 sind. Frau Nisreen Sharqawi und ihre minderjährigen Kinder sind die Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑319/17. 37 Diese Betroffenen verließen Syrien im Jahr 2012 und reisten nach Bulgarien ein, wo ihnen mit Entscheidungen vom 26. Februar und 7. Mai 2013 subsidiärer Schutz gewährt wurde. Im November 2013 reisten sie über Rumänien, Ungarn und Österreich weiter nach Deutschland, wo sie am 29. November 2013 erneut Asylanträge stellten. 38 Am 22. Januar 2014 richtete das Bundesamt mehrere Ersuchen um Wiederaufnahme der Betroffenen an die für Flüchtlinge zuständige bulgarische Verwaltung, die sie mit Schreiben vom 28. Januar und 10. Februar 2014 ablehnte. Die bulgarische Verwaltung gab an, dass der den Klägern der Ausgangsverfahren in Bulgarien bereits zuerkannte subsidiäre Schutz die Wiederaufnahmeregelung der Dublin‑III-Verordnung im vorliegenden Fall unanwendbar mache. Außerdem sei die zuständige bulgarische Behörde die dortige Grenzpolizei. 39 Mit Bescheiden vom 27. Februar und 19. März 2014 lehnte das Bundesamt die Anträge der Betroffenen ohne inhaltliche Prüfung mit der Begründung ab, dass sie aus einem sicheren Drittstaat eingereist seien. Das Bundesamt ordnete ihre Abschiebung nach Bulgarien an. 40 Mit Urteilen vom 20. Mai und 22. Juli 2014 wies das Verwaltungsgericht Trier (Deutschland) die gegen diese Bescheide erhobenen Klagen ab. 41 Mit Urteilen vom 18. Februar 2016 hob das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (Deutschland) die gegen die Betroffenen gerichteten Abschiebungsanordnungen nach Bulgarien auf, wies die Berufungen im Übrigen jedoch zurück. Die Feststellung, dass die Betroffenen kein Recht auf Asyl in Deutschland hätten, sei rechtmäßig, da sie aus einem sicheren Drittstaat, nämlich Österreich, nach Deutschland eingereist seien. Die Abschiebungsanordnungen nach Bulgarien seien hingegen rechtswidrig, weil nicht feststehe, ob die Republik Bulgarien weiterhin bereit sei, die Berufungskläger wieder aufzunehmen. 42 Die Kläger der Ausgangsverfahren legten gegen diese teilweise Zurückweisung ihrer Berufungen Revision beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) ein. Sie machen u. a. geltend, dass gemäß Art. 49 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung ihre Situation weiterhin unter die Dublin‑II-Verordnung falle und die Dublin‑II-Verordnung auch nach Gewährung subsidiären Schutzes anwendbar sei. Nach den Bestimmungen der Dublin‑II-Verordnung sei die ursprüngliche Zuständigkeit der Republik Bulgarien jedoch im Laufe des durch diese Verordnung vorgesehenen Verfahrens auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. 43 Die Bundesrepublik Deutschland ist der Auffassung, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, der inhaltlich Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie entspreche, nunmehr unzulässig seien. 44 Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass das Bundesamt die Prüfung der bei ihm gestellten Asylanträge nicht mit der Begründung habe ablehnen dürfen, dass die Kläger aus einem sicheren Drittstaat eingereist seien. Da das nationale Recht unionsrechtskonform auszulegen sei, könne ein sicherer Drittstaat nämlich nur ein Staat sein, der nicht Mitgliedstaat der Union sei. Daher sei festzustellen, ob die streitigen Bescheide in auf die Unzulässigkeit der Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützte ablehnende Entscheidungen umgedeutet werden könnten. 45 Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 gleichlautende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Steht die Übergangsbestimmung in Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie der Anwendung einer nationalen Regelung entgegen, wonach in Umsetzung der gegenüber der Vorgängerregelung erweiterten Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie ein Antrag auf internationalen Schutz unzulässig ist, wenn dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, soweit die nationale Regelung mangels nationaler Übergangsregelung auch auf vor dem 20. Juli 2015 gestellte Anträge anzuwenden ist? Erlaubt die Übergangsbestimmung in Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie den Mitgliedstaaten insbesondere eine rückwirkende Umsetzung der erweiterten Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie mit der Folge, dass auch vor der nationalen Umsetzung dieser erweiterten Ermächtigung gestellte, zum Zeitpunkt der Umsetzung aber noch nicht bestandskräftig beschiedene Asylanträge unzulässig sind? 2. Räumt Art. 33 der Verfahrensrichtlinie den Mitgliedstaaten ein Wahlrecht ein, ob sie einen Asylantrag wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit (Dublin-Verordnung) oder nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie als unzulässig ablehnen? 3. Falls Frage 2 bejaht wird: Ist ein Mitgliedstaat unionsrechtlich gehindert, einen Antrag auf internationalen Schutz wegen der Gewährung subsidiären Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat in Umsetzung der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie als unzulässig abzulehnen, wenn a) der Antragsteller eine Aufstockung des ihm in einem anderen Mitgliedstaat gewährten subsidiären Schutzes begehrt (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) und das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat mit systemischen Mängeln behaftet war und weiterhin ist oder b) die Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für subsidiär Schutzberechtigte, in dem anderen Mitgliedstaat, der dem Antragsteller bereits subsidiären Schutz gewährt hat, – gegen Art. 4 der Charta bzw. Art. 3 EMRK verstößt oder – den Anforderungen der Art. 20 ff. der Anerkennungsrichtlinie nicht genügt, ohne bereits gegen Art. 4 der Charta bzw. Art. 3 EMRK zu verstoßen? 4. Falls Frage 3b) zu bejahen ist: Gilt dies auch dann, wenn subsidiär Schutzberechtigten keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen gewährt werden, sie insoweit aber nicht anders behandelt werden als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats? 5. Falls Frage 2 zu verneinen ist: a) Findet die Dublin‑III-Verordnung in einem Verfahren auf Gewährung internationalen Schutzes Anwendung, wenn der Asylantrag vor dem 1. Januar 2014, das Wiederaufnahmegesuch aber erst nach dem 1. Januar 2014 gestellt worden ist und der Antragsteller zuvor (im Februar 2013) bereits in dem ersuchten Mitgliedstaat subsidiären Schutz erhalten hat? b) Ist den Dublin-Regelungen ein – ungeschriebener – Zuständigkeitsübergang auf den um Wiederaufnahme eines Antragstellers ersuchenden Mitgliedstaat zu entnehmen, wenn der ersuchte zuständige Mitgliedstaat die fristgerecht beantragte Wiederaufnahme nach den Dublin-Bestimmungen abgelehnt und stattdessen auf ein zwischenstaatliches Rückübernahmeabkommen verwiesen hat? Rechtssache C‑438/17 46 Herr Magamadov, ein Asylbewerber russischer Staatsangehörigkeit und nach eigenen Angaben tschetschenischer Volkszugehörigkeit, reiste 2007 nach Polen ein, wo ihm mit Bescheid vom 13. Oktober 2008 subsidiärer Schutz gewährt wurde. Im Juni 2012 reiste er mit seiner Ehefrau und seinem Kind nach Deutschland ein, wo er am 19. Juni 2012 einen Asylantrag stellte. 47 Am 13. Februar 2013 richtete das Bundesamt ein Ersuchen um Wiederaufnahme des Betroffenen und seiner Familie an die polnischen Behörden, die sich am 18. Februar 2013 bereit erklärten, sie wieder aufzunehmen. 48 Mit Bescheid vom 13. März 2013 stellte das Bundesamt ohne inhaltliche Prüfung fest, dass die Asylanträge des Klägers und seiner Familie unzulässig seien, da die Republik Polen für die Prüfung dieser Anträge zuständig sei, und ordnete ihre Überstellung nach Polen an. Da die Überstellung wegen medizinischer Probleme der Ehefrau von Herrn Magamadov nicht fristgerecht erfolgte, hob das Bundesamt mit Bescheid vom 24. September 2013 seinen Bescheid vom 13. März 2013 auf, da die Bundesrepublik Deutschland wegen Ablaufs dieser Frist für die Prüfung dieser Anträge zuständig geworden sei. Mit Bescheid vom 23. Juni 2014 stellte das Bundesamt fest, dass dem Kläger aufgrund seiner Einreise nach Deutschland aus einem sicheren Drittstaat, nämlich Polen, kein internationaler Schutz und kein Recht auf Asyl zustehe, und ordnete seine Abschiebung dorthin an. 49 Mit Urteil vom 19. Mai 2015 wies das Verwaltungsgericht Potsdam (Deutschland) die Klage gegen den zuletzt genannten Bescheid ab. 50 Mit Urteil vom 21. April 2016 hob das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) den Bescheid des Bundesamts vom 23. Juni 2014 auf. Es war nämlich der Ansicht, dass die Regel, dass einem aus einem sicheren Staat eingereisten ausländischen Staatsangehörigen kein Asylrecht zustehe, im Ausgangsverfahren nicht anwendbar sei, weil die in § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG vorgesehene Ausnahme vorliege, nach der die Regel des sicheren Drittstaats nicht greife, wenn die Bundesrepublik Deutschland – wie hier – nach Unionsrecht für die Prüfung des Antrags des Betroffenen auf Schutz zuständig geworden sei. Da der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Asylantrag vor dem 20. Juli 2015 gestellt worden sei, sei die Richtlinie 2005/85 hier anwendbar. Die Richtlinie lasse die Abweisung eines Asylantrags ohne inhaltliche Prüfung aber nur dann zu, wenn ein anderer Mitgliedstaat der betreffenden Person die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe. 51 Die Bundesrepublik Deutschland legte gegen dieses Urteil beim Bundesverwaltungsgericht Revision ein. Sie macht u. a. geltend, der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in der Fassung des Integrationsgesetzes nunmehr unzulässig, da Herrn Magamadov in Polen internationaler Schutz gewährt worden sei. Der Betroffene ist der Ansicht, dass sein am 19. Juni 2012 gestellter Asylantrag nicht unzulässig sei, da ihm die Republik Polen nicht die Flüchtlingseigenschaft, sondern lediglich subsidiären Schutz zuerkannt habe. 52 Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass das Bundesamt die Prüfung des bei ihm gestellten Asylantrags nicht mit der Begründung habe ablehnen dürfen, dass der Kläger aus einem sicheren Drittstaat eingereist sei. Da das nationale Recht unionsrechtskonform auszulegen sei, könne ein sicherer Drittstaat nur ein Staat sein, der kein Mitgliedstaat der Union sei. Daher sei festzustellen, ob der streitige Bescheid in eine auf die aus § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG folgende Unzulässigkeit des Asylantrags gestützte ablehnende Entscheidung umgedeutet werden könne. 53 Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Steht die Übergangsbestimmung in Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie der Anwendung einer nationalen Regelung entgegen, wonach in Umsetzung der gegenüber der Vorgängerregelung erweiterten Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie ein Antrag auf internationalen Schutz unzulässig ist, wenn dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, soweit die nationale Regelung mangels nationaler Übergangsregelung auch auf vor dem 20. Juli 2015 gestellte Anträge anzuwenden ist? Gilt dies jedenfalls dann, wenn der Asylantrag nach Art. 49 der Dublin‑III-Verordnung noch vollständig dem Anwendungsbereich der Dublin‑II-Verordnung unterfällt? 2. Erlaubt die Übergangsbestimmung in Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie den Mitgliedstaaten insbesondere eine rückwirkende Umsetzung der erweiterten Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie mit der Folge, dass auch vor dem Inkrafttreten der Verfahrensrichtlinie und vor der nationalen Umsetzung dieser erweiterten Ermächtigung gestellte, zum Zeitpunkt der Umsetzung aber noch nicht bestandskräftig beschiedene Asylanträge unzulässig sind? Verfahren vor dem Gerichtshof 54 Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. Juni 2017 sind die Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden, da die Vorlagefragen in diesen drei Rechtssachen identisch sind. Ferner sind mit Beschluss des Gerichtshofs vom 30. Januar 2018 diese Rechtssachen und die Rechtssache C‑438/17 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden. 55 In seinen Vorabentscheidungsersuchen hat das vorlegende Gericht die Anwendung des beschleunigten Verfahrens gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt. Diese Anträge sind mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. Juli 2017, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:561), und vom 19. September 2017, Magamadov (C‑438/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:723), zurückgewiesen worden. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 und zu den Fragen in der Rechtssache C‑438/17 56 Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat gestattet, eine unmittelbare Anwendung der Bestimmung des nationalen Rechts zur Umsetzung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie auf noch nicht bestandskräftig beschiedene Asylanträge vorzusehen, die vor dem 20. Juli 2015 und vor dem Inkrafttreten der Bestimmung des nationalen Rechts gestellt worden sind. Im Rahmen der Rechtssache C‑438/17 möchte das vorlegende Gericht zudem wissen, ob dies auch dann gilt, wenn der Asylantrag vor dem Inkrafttreten der Verfahrensrichtlinie gestellt worden ist und nach Art. 49 der Dublin‑III-Verordnung noch vollständig in den Geltungsbereich der Dublin‑II-Verordnung fällt. 57 Gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat. 58 Durch die Möglichkeit, dass ein Mitgliedstaat einen solchen Antrag auch in den Situationen, in denen dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat nur subsidiärer Schutz gewährt wurde, als unzulässig ablehnen kann, erweitert diese Bestimmung die zuvor in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 vorgesehene Befugnis, die eine solche Zurückweisung nur gestattete, wenn dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war. 59 Aus Art. 51 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen hatten, die erforderlich waren, um u. a. Art. 33 der Richtlinie bis spätestens 20. Juli 2015 nachzukommen. Ferner wurde die Richtlinie 2005/85 gemäß Art. 53 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie mit Wirkung vom 21. Juli 2015 aufgehoben. 60 Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie enthält Übergangsbestimmungen. 61 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Verfahrensrichtlinie wenden die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Art. 51 Abs. 1 auf förmlich gestellte Anträge auf internationalen Schutz sowie auf eingeleitete Verfahren zur Aberkennung des internationalen Schutzes „nach dem 20. Juli 2015 oder früher“ an. 62 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Verfahrensrichtlinie gelten für vor dem 20. Juli 2015 förmlich gestellte Anträge und „vor diesem Datum“ eingeleitete Verfahren zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft die Rechts- und Verwaltungsvorschriften nach Maßgabe der Richtlinie 2005/85. 63 Aus der Prüfung der Vorarbeiten zur Verfahrensrichtlinie und insbesondere aus einem Vergleich des am 6. Juni 2013 festgelegten Standpunkts (EU) Nr. 7/2013 des Rates in erster Lesung im Hinblick auf den Erlass einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, C 179 E, S. 27) mit dem Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzstatus (KOM[2009] 554 endgültig) ergibt sich, dass die Wendung „oder früher“ in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Verfahrensrichtlinie im Gesetzgebungsverfahren hinzugefügt wurde (Urteil vom 25. Juli 2018, Alheto, C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 71). 64 Folglich geht ungeachtet des Spannungsverhältnisses zwischen den Sätzen 1 und 2 von Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie aus diesen Vorarbeiten hervor, dass der Unionsgesetzgeber es den Mitgliedstaaten, die dies wünschten, gestatten wollte, ihre zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften mit sofortiger Wirkung auf vor dem 20. Juli 2015 gestellte Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden (Urteil vom 25. Juli 2018, Alheto, C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 72). 65 Des Weiteren enthalten diese Vorarbeiten keine Anhaltspunkte dafür, dass der Unionsgesetzgeber diese Befugnis, die Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie den Mitgliedstaaten eröffnet, allein auf die Vorschriften beschränken wollte, die für Personen, die internationalen Schutz beantragen, günstiger sind als die zuvor zur Umsetzung der Richtlinie 2005/85 erlassenen Vorschriften. 66 Gleichwohl wurde den Mitgliedstaaten durch Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie zwar gestattet, ihre Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie auf vor dem 20. Juli 2015 gestellte Anträge auf internationalen Schutz anzuwenden, aber sie wurden nicht dazu verpflichtet. Da diese Bestimmung durch den Gebrauch der Wendung „nach dem 20. Juli 2015 oder früher“ in zeitlicher Hinsicht mehrere Anwendungsmöglichkeiten bietet, muss – damit bei der Umsetzung des Unionsrechts die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gleichheit vor dem Gesetz gewahrt sind, so dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, vor Willkür geschützt sind – jeder der durch diese Richtlinie gebundenen Mitgliedstaaten die in seinem Hoheitsgebiet im selben Zeitraum gestellten Anträge auf internationalen Schutz vorhersehbar und einheitlich prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Alheto, C‑585/16, EU:C:2018:584, Rn. 73). 67 Aus den Vorlageentscheidungen ergibt sich, dass die Bestimmung zur Umsetzung des in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie vorgesehenen zusätzlichen Unzulässigkeitsgrundes in deutsches Recht, nämlich § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, am 6. August 2016 in Kraft trat und das vorlegende Gericht in Ermangelung nationaler Übergangsbestimmungen gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG bei seiner Entscheidung in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Verhandlung bzw. im Fall der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung und folglich auf § 29 AsylG in der dann gültigen Fassung abzustellen hat, sofern Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie nicht verbietet, dass diese Fassung auf vor ihrem Inkrafttreten gestellte, aber noch nicht bestandskräftig beschiedene Anträge unmittelbar angewandt wird. 68 Insoweit ist erstens festzustellen, dass eine nationale Bestimmung wie § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG gewährleistet, dass Anträge auf internationalen Schutz, die im selben Zeitraum im deutschen Hoheitsgebiet gestellt und beim Inkrafttreten von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG noch nicht bestandskräftig beschieden worden sind, vorhersehbar und einheitlich geprüft werden. 69 Wie sich zweitens aus den Ausführungen in den Rn. 64 und 65 des vorliegenden Urteils ergibt, verbietet Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie nicht, dass eine nationale Bestimmung zur Umsetzung des in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie vorgesehenen zusätzlichen Unzulässigkeitsgrundes nach nationalem Recht in zeitlicher Hinsicht auf Asylanträge angewandt werden kann, die vor dem 20. Juli 2015 und vor dem Inkrafttreten dieser Übergangsbestimmung gestellt, aber noch nicht bestandskräftig beschieden worden sind. 70 Drittens verbietet Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie zwar ebenso wenig grundsätzlich eine unmittelbare Anwendung der Bestimmungen dieser Richtlinie auf vor ihrem Inkrafttreten gestellte Anträge, doch ist festzustellen, dass die unmittelbare Anwendung des in ihrem Art. 33 Abs. 2 Buchst. a vorgesehenen zusätzlichen Unzulässigkeitsgrundes in einer Situation wie der in der Rechtssache C‑438/17 in Rede stehenden an ihre Grenzen stößt, in der sowohl der in Deutschland gestellte Asylantrag als auch das Wiederaufnahmegesuch vor dem 1. Januar 2014 gestellt worden sind, so dass der Asylantrag nach Art. 49 der Dublin‑III-Verordnung noch vollständig in den Geltungsbereich der Dublin‑II-Verordnung fällt. 71 Die Verfahrensrichtlinie, die am selben Tag wie die Dublin‑III-Verordnung erlassen wurde, sieht ebenso wie diese Verordnung nämlich vor, dass ihr Anwendungsbereich gegenüber der Richtlinie 2005/85, die ihre Vorgängerin ist und nur das Asylverfahren regelte, auf Anträge auf internationalen Schutz erstreckt wird. In dieses weiter gefasste Regelwerk wurde der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie vorgesehene zusätzliche Unzulässigkeitsgrund eingeführt, der es den Mitgliedstaaten gestattet, einen Asylantrag auch dann als unzulässig abzulehnen, wenn dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat kein Recht auf Asyl, sondern nur subsidiärer Schutz gewährt worden ist. 72 Des Weiteren verweist Art. 33 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie anders als Art. 25 Abs. 1 der Richtlinie 2005/85, der sich auf die Dublin‑II-Verordnung bezog, auf die Dublin‑III-Verordnung. 73 Somit ergibt sich aus der Systematik der Dublin‑III-Verordnung und der der Verfahrensrichtlinie sowie aus dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie, dass der in deren Art. 33 Abs. 2 Buchst. a vorgesehene zusätzliche Unzulässigkeitsgrund nicht dazu bestimmt ist, auf einen Asylantrag angewandt zu werden, der noch vollständig in den Geltungsbereich der Dublin‑II-Verordnung fällt. 74 Nach alledem ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 und auf die Fragen in der Rechtssache C‑438/17 zu antworten, dass Art. 52 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat gestattet, eine unmittelbare Anwendung der nationalen Bestimmung zur Umsetzung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie auf noch nicht bestandskräftig beschiedene Asylanträge vorzusehen, die vor dem 20. Juli 2015 und vor dem Inkrafttreten der nationalen Bestimmung gestellt worden sind. Dagegen verbietet Art. 52 Abs. 1 der Richtlinie insbesondere in Verbindung mit deren Art. 33 diese unmittelbare Anwendung in einer Situation, in der sowohl der Asylantrag als auch das Wiederaufnahmegesuch vor dem Inkrafttreten der Verfahrensrichtlinie gestellt worden sind und nach Art. 49 der Dublin‑III-Verordnung noch vollständig in den Geltungsbereich der Dublin‑II-Verordnung fallen. Zur zweiten Frage in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 75 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass das vorlegende Gericht mit dieser Frage wissen möchte, ob Art. 33 der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es den Mitgliedstaaten gestattet, einen Asylantrag nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie als unzulässig abzulehnen, ohne dass sie vorrangig auf das von der Dublin‑II-Verordnung oder der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren zurückgreifen müssen. 76 Gemäß Art. 33 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie müssen die Mitgliedstaaten zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Dublin‑III-Verordnung ein Antrag nicht geprüft wird, nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Anerkennungsrichtlinie zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage von Art. 33 der Verfahrensrichtlinie als unzulässig betrachtet wird. Art. 33 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie zählt abschließend die Situationen auf, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können. 77 Aus dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 1 der Verfahrensrichtlinie, insbesondere aus der Wendung „[z]usätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der [Dublin‑III-]Verordnung … ein Antrag nicht geprüft wird“, sowie aus dem mit dieser Bestimmung verfolgten Ziel der Verfahrensökonomie geht hervor, dass sie es in den in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie genannten Situationen den Mitgliedstaaten gestattet, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, ohne dass sie vorrangig auf die von der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren zurückgreifen müssen. 78 Darüber hinaus kann ein Mitgliedstaat bei Anträgen auf internationalen Schutz wie den in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 in Rede stehenden, die zum Teil unter die Dublin‑III-Verordnung fallen, einen anderen Mitgliedstaat nicht im Rahmen der durch diese Verordnung festgelegten Verfahren wirksam darum ersuchen, einen Angehörigen eines Drittstaats aufzunehmen oder wieder aufzunehmen, der im ersten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem ihm im zweiten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist. 79 Für diese Situation hat der Unionsgesetzgeber nämlich die Auffassung vertreten, dass die Ablehnung eines solchen Antrags auf internationalen Schutz durch eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie und nicht durch eine Überstellungsentscheidung ohne Prüfung gemäß Art. 26 der Dublin‑III-Verordnung sicherzustellen sei (vgl. Beschluss vom 5. April 2017, Ahmed, C‑36/17, EU:C:2017:273, Rn. 39 und 41). 80 Daher ist auf die zweite Frage in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 zu antworten, dass in einer Situation wie der in diesen Rechtssachen in Rede stehenden Art. 33 der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es den Mitgliedstaaten gestattet, einen Asylantrag nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie als unzulässig abzulehnen, ohne dass sie vorrangig auf das von der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren zurückgreifen müssen oder dürfen. Zu den Fragen 3 und 4 in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 81 Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis auszuüben, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wenn die Lebensbedingungen der Personen, denen in dem anderen Mitgliedstaat subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, entweder gegen Art. 4 der Charta verstoßen oder den Bestimmungen in Kapitel VII der Anerkennungsrichtlinie nicht genügen, ohne jedoch gegen Art. 4 der Charta zu verstoßen. Es möchte wissen, ob dies gegebenenfalls auch dann gilt, wenn diesen subsidiär Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen gewährt werden, sie insoweit aber nicht anders behandelt werden als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats. 82 Zum anderen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, diese Befugnis auszuüben, wenn das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat mit systemischen Mängeln behaftet war und weiterhin ist. 83 Was erstens die in Rn. 81 des vorliegenden Urteils genannte Situation betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden, und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihren Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C‑163/17, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung). 84 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten hat im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C‑163/17, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). 85 Folglich muss im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der EMRK steht (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C‑163/17, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies gilt insbesondere bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie, in dem im Rahmen des mit dieser Richtlinie eingerichteten gemeinsamen Asylverfahrens der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zum Ausdruck kommt. 86 Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C‑163/17, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). 87 In diesem Kontext ist in Anbetracht des allgemeinen und absoluten Charakters des Verbots in Art. 4 der Charta, das eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist und ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbietet, festzustellen, dass es für die Anwendung von Art. 4 der Charta gleichgültig ist, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine solche Behandlung zu erfahren (vgl. entsprechend Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C‑163/17, Rn. 88). 88 Daher ist das Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein neuer Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt wurde, in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem bereits subsidiären Schutz gewährenden Mitgliedstaat nachzuweisen, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (vgl. entsprechend Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C‑163/17, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung). 89 Insoweit ist festzustellen, dass die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Schwachstellen nur dann unter Art. 4 der Charta, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, fallen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C‑163/17, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung). 90 Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C‑163/17, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). 91 Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C‑163/17, Rn. 93). 92 Im Hinblick auf die insoweit vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen ist festzustellen, dass unter Berücksichtigung der Bedeutung, die der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat, Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie, die nicht zu einer Verletzung von Art. 4 der Charta führen, die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, ihre durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie eingeräumte Befugnis auszuüben. 93 Der vom vorlegenden Gericht ebenfalls genannte Umstand, dass subsidiär Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die den in den Rn. 89 bis 91 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien entspricht. 94 Jedenfalls kann der bloße Umstand, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als in dem bereits subsidiären Schutz gewährenden Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren (vgl. entsprechend Urteil vom heutigen Tag, Jawo, C‑163/17, Rn. 97). 95 Was zweitens die in Rn. 82 des vorliegenden Urteils genannte Situation betrifft, geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die vom vorlegenden Gericht angeführten Mängel im Asylverfahren nach seinen Angaben darin bestehen, dass der subsidiären Schutz gewährende Mitgliedstaat Personen, die internationalen Schutz beantragen, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorhersehbar und unter Verstoß gegen die Anerkennungsrichtlinie verweigere und unter Verstoß gegen Art. 40 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie ebenso wenig Folgeanträge trotz Vorliegens neuer Elemente oder Erkenntnisse, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitrügen, dass der Antragsteller als Flüchtling anzuerkennen sei, prüfe. 96 Das vorlegende Gericht möchte insoweit wissen, ob Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 78 AEUV es gebietet, dass in einer solchen Situation ein Mitgliedstaat den neuen Antrag auf internationalen Schutz entgegen einer Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie umsetzenden nationalen Rechtsvorschrift prüft. 97 Es ist festzustellen, dass sowohl die Anerkennungsrichtlinie als auch die Verfahrensrichtlinie auf der Grundlage von Art. 78 AEUV verabschiedet worden sind, damit das in ihm genannte Ziel verwirklicht und die Einhaltung von Art. 18 der Charta gewährleistet wird. 98 Nach der Anerkennungsrichtlinie, insbesondere ihrem Art. 13, müssen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III der Richtlinie erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen. Um festzustellen, ob dies der Fall ist, müssen sie nach Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie jeden Antrag auf internationalen Schutz individuell prüfen. Daher dürfen die Mitgliedstaaten nur dann, wenn sie nach dieser individuellen Prüfung feststellen, dass eine diesen Schutz beantragende Person nicht die Voraussetzungen von Kapitel III, sondern die von Kapitel V der Richtlinie erfüllt, diesem Antragsteller anstatt der Flüchtlingseigenschaft den subsidiären Schutzstatus zuerkennen. 99 Sollte das Asylverfahren in einem Mitgliedstaat dazu führen, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen und die Voraussetzungen der Kapitel II und III der Anerkennungsrichtlinie erfüllen, systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert wird, so könnte die Behandlung der Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat nicht als mit den Pflichten nach Art. 18 der Charta im Einklang stehend angesehen werden. 100 Nichtsdestotrotz können die übrigen Mitgliedstaaten den neuen Antrag, den der Betroffene bei ihnen gestellt hat, nach dem im Licht des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens auszulegenden Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie als unzulässig ablehnen. In einem solchen Fall hat der subsidiären Schutz gewährende Mitgliedstaat das Verfahren zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wieder aufzunehmen. 101 Nach alledem sind die Fragen 3 und 4 in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 wie folgt zu beantworten: – Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis auszuüben, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als subsidiär Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren. Der Umstand, dass Personen, denen solch ein subsidiärer Schutz zuerkannt wird, in dem Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch insofern anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. – Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, diese Befugnis auszuüben, wenn das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat, der dem Antragsteller subsidiären Schutz gewährt hat, dazu führt, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen und die Voraussetzungen der Kapitel II und III der Anerkennungsrichtlinie erfüllen, systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert wird. Zur fünften Frage in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 102 Insbesondere unter Berücksichtigung der Antwort auf die zweite Frage in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 braucht die in diesen Rechtssachen gestellte fünfte Frage nicht mehr beantwortet zu werden. Kosten 103 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 52 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat gestattet, eine unmittelbare Anwendung der nationalen Bestimmung zur Umsetzung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie auf noch nicht bestandskräftig beschiedene Asylanträge vorzusehen, die vor dem 20. Juli 2015 und vor dem Inkrafttreten der nationalen Bestimmung gestellt worden sind. Dagegen verbietet Art. 52 Abs. 1 der Richtlinie insbesondere in Verbindung mit ihrem Art. 33 diese unmittelbare Anwendung in einer Situation, in der sowohl der Asylantrag als auch das Wiederaufnahmegesuch vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 2013/32 gestellt worden sind und nach Art. 49 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, noch vollständig in den Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, fallen. 2. In einer Situation wie der in den Rechtssachen C‑297/17, C‑318/17 und C‑319/17 in Rede stehenden ist Art. 33 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass er es den Mitgliedstaaten gestattet, einen Asylantrag nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie als unzulässig abzulehnen, ohne dass sie vorrangig auf das von der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehene Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren zurückgreifen müssen oder dürfen. 3. Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis auszuüben, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als subsidiär Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erfahren. Der Umstand, dass Personen, denen solch ein subsidiärer Schutz zuerkannt wird, in dem Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch insofern anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich einer solchen Gefahr ausgesetzt wäre, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verbietet, diese Befugnis auszuüben, wenn das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat, der dem Antragsteller subsidiären Schutz gewährt hat, dazu führt, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen und die Voraussetzungen der Kapitel II und III der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes erfüllen, systematisch und ohne echte Prüfung die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert wird. Lenaerts Prechal Vilaras Regan Biltgen Jürimäe Lycourgos Rosas Juhász Ilešič Malenovský Bay Larsen Šváby Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. März 2019. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 14. Februar 2019.#Verfahren auf Betreiben des Sergejs Buivids.#Vorabentscheidungsersuchen der Augstākā tiesa.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46/EG – Art. 3 – Anwendungsbereich – Videoaufzeichnung von Polizeibeamten in einer Polizeidienststelle während der Vornahme von Verfahrenshandlungen – Veröffentlichung auf einer Video-Website – Art. 9 – Verarbeitung personenbezogener Daten allein zu journalistischen Zwecken – Begriff – Freiheit der Meinungsäußerung – Schutz der Privatsphäre.#Rechtssache C-345/17.
62017CJ0345
ECLI:EU:C:2019:122
2019-02-14T00:00:00
Gerichtshof, Sharpston
62017CJ0345 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 14. Februar 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46/EG – Art. 3 – Anwendungsbereich – Videoaufzeichnung von Polizeibeamten in einer Polizeidienststelle während der Vornahme von Verfahrenshandlungen – Veröffentlichung auf einer Video-Website – Art. 9 – Verarbeitung personenbezogener Daten allein zu journalistischen Zwecken – Begriff – Freiheit der Meinungsäußerung – Schutz der Privatsphäre“ In der Rechtssache C‑345/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) mit Entscheidung vom 1. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Juni 2017, in dem Verfahren auf Betreiben des Sergejs Buivids, Beteiligte: Datu valsts inspekcija, erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zweiten Kammer, der Richterinnen A. Prechal und C. Toader sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter) und M. Ilešič, Generalanwältin: E. Sharpston, Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. Juni 2018, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Buivids, vertreten durch sich selbst, – der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kucina, G. Bambāne, E. Petrocka-Petrovska und E. Plaksins als Bevollmächtigte, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und O. Serdula als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato, – der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und C. Vieira Guerra als Bevollmächtigte, – der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, P. Smith, H. Shev, L. Zettergren und A. Alriksson als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Nardi und I. Rubene als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 27. September 2018 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31), insbesondere von Art. 9 dieser Richtlinie. 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits über die von Herrn Sergejs Buivids gegen die Datu valsts inspekcija (nationale Datenschutzbehörde, Lettland) erhobene Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Entscheidung dieser Behörde, wonach Herr Buivids gegen nationales Recht verstoßen haben soll, indem er auf der Website www.youtube.com ein von ihm selbst gefilmtes Video über die Aufnahme seiner Aussage in den Räumlichkeiten einer Dienststelle der lettischen nationalen Polizei im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens veröffentlicht habe. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Gegenstand der Richtlinie 95/46, die durch die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 2016, L 119, S. 1) aufgehoben wurde, war nach ihrem Art. 1 der Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere der Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sowie die Beseitigung der Hemmnisse für den freien Verkehr personenbezogener Daten; in den Erwägungsgründen 2, 14, 15, 17, 27 und 37 der Richtlinie 95/46 hieß es: „(2) Die Datenverarbeitungssysteme stehen im Dienste des Menschen; sie haben, ungeachtet der Staatsangehörigkeit oder des Wohnorts der natürlichen Personen, deren Grundrechte und ‑freiheiten und insbesondere deren Privatsphäre zu achten und zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt, zur Entwicklung des Handels sowie zum Wohlergehen der Menschen beizutragen. … (14) In Anbetracht der Bedeutung der gegenwärtigen Entwicklung im Zusammenhang mit der Informationsgesellschaft bezüglich Techniken der Erfassung, Übermittlung, Veränderung, Speicherung, Aufbewahrung oder Weitergabe von personenbezogenen Ton- und Bilddaten muss diese Richtlinie auch auf die Verarbeitung dieser Daten Anwendung finden. (15) Die Verarbeitung solcher Daten wird von dieser Richtlinie nur erfasst, wenn sie automatisiert erfolgt oder wenn die Daten, auf die sich die Verarbeitung bezieht, in Dateien enthalten oder für solche bestimmt sind, die nach bestimmten personenbezogenen Kriterien strukturiert sind, um einen leichten Zugriff auf die Daten zu ermöglichen. … (17) Bezüglich der Verarbeitung von Ton- und Bilddaten für journalistische, literarische oder künstlerische Zwecke, insbesondere im audiovisuellen Bereich, finden die Grundsätze dieser Richtlinie gemäß Artikel 9 eingeschränkt Anwendung. … (27) Datenschutz muss sowohl für automatisierte als auch für nicht automatisierte Verarbeitungen gelten. In der Tat darf der Schutz nicht von den verwendeten Techniken abhängen, da andernfalls ernsthafte Risiken der Umgehung entstehen würden. Bei manuellen Verarbeitungen erfasst diese Richtlinie lediglich Dateien, nicht jedoch unstrukturierte Akten. … … (37) Für die Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen, literarischen oder künstlerischen Zwecken, insbesondere im audiovisuellen Bereich, sind Ausnahmen von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie vorzusehen, soweit sie erforderlich sind, um die Grundrechte der Person mit der Freiheit der Meinungsäußerung und insbesondere der Freiheit, Informationen zu erhalten oder weiterzugeben, die insbesondere in Artikel 10 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten garantiert ist, in Einklang zu bringen. Es obliegt deshalb den Mitgliedstaaten, unter Abwägung der Grundrechte Ausnahmen und Einschränkungen festzulegen, die bei den allgemeinen Maßnahmen zur Rechtmäßigkeit der Verarbeitung von Daten … erforderlich sind …“ 4 Art. 2 der Richtlinie 95/46 bestimmte: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck a) ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person (‚betroffene Person‘); als bestimmbar wird eine Person angesehen, die direkt oder indirekt identifiziert werden kann, insbesondere durch Zuordnung zu einer Kennnummer oder zu einem oder mehreren spezifischen Elementen, die Ausdruck ihrer physischen, physiologischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität sind; b) ‚Verarbeitung personenbezogener Daten‘ (‚Verarbeitung‘) jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Speichern, die Organisation, die Aufbewahrung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Benutzung, die Weitergabe durch Übermittlung, Verbreitung oder jede andere Form der Bereitstellung, die Kombination oder die Verknüpfung sowie das Sperren, Löschen oder Vernichten; … d) ‚für die Verarbeitung Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder jede andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet. Sind die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten in einzelstaatlichen oder [unionsrechtliche] Rechts- und Verwaltungsvorschriften festgelegt, so können der für die Verarbeitung Verantwortliche bzw. die spezifischen Kriterien für seine Benennung durch einzelstaatliche oder [unionsrechtliche] Rechtsvorschriften bestimmt werden; …“ 5 Art. 3 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie sah vor: „(1)   Diese Richtlinie gilt für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nicht automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einer Datei gespeichert sind oder gespeichert werden sollen. (2)   Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten, – die für die Ausübung von Tätigkeiten erfolgt, die nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, beispielsweise Tätigkeiten gemäß den Titeln V und VI des Vertrags über die Europäische Union [in seiner vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Fassung], und auf keinen Fall auf Verarbeitungen betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates (einschließlich seines wirtschaftlichen Wohls, wenn die Verarbeitung die Sicherheit des Staates berührt) und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich; – die von einer natürlichen Person zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten vorgenommen wird.“ 6 In Art. 7 der Richtlinie hieß es: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten lediglich erfolgen darf, wenn eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist: … f) die Verarbeitung ist erforderlich zur Verwirklichung des berechtigten Interesses, das von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder von dem bzw. den Dritten wahrgenommen wird, denen die Daten übermittelt werden, sofern nicht das Interesse oder die Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die gemäß Artikel 1 Absatz 1 geschützt sind, überwiegen.“ 7 Art. 9 der Richtlinie bestimmte: „Die Mitgliedstaaten sehen für die Verarbeitung personenbezogener Daten, die allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgt, Abweichungen und Ausnahmen von diesem Kapitel sowie von den Kapiteln IV und VI nur insofern vor, als sich dies als notwendig erweist, um das Recht auf Privatsphäre mit den für die Freiheit der Meinungsäußerung geltenden Vorschriften in Einklang zu bringen.“ Lettisches Recht 8 Nach Art. 1 des Fizisko personu datu aizsardzības likums (Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten natürlicher Personen) vom 23. März 2000 (Latvijas Vēstnesis, 2000, Nr. 123/124, im Folgenden: Datenschutzgesetz) soll dieses Gesetz den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere den Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten gewährleisten. 9 Nach Art. 2 Nr. 3 des Datenschutzgesetzes sind unter „personenbezogenen Daten“ sämtliche Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person zu verstehen. 10 Art. 2 Nr. 4 des Datenschutzgesetzes definiert die „Verarbeitung personenbezogener Daten“ als jeden im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten ausgeführten Vorgang wie deren Erheben, Speichern und Eingeben, ihre Aufbewahrung, Organisation, Veränderung, Benutzung, Weitergabe, Übermittlung und Verbreitung sowie ihr Sperren oder Löschen. 11 Nach Art. 3 Abs. 1 des Datenschutzgesetzes ist dieses Gesetz vorbehaltlich der Ausnahmen, die es vorsieht, auf alle Arten der Verarbeitung personenbezogener Daten und auf sämtliche natürlichen und juristischen Personen anzuwenden, wenn: – der für die Verarbeitung Verantwortliche in Lettland registriert ist; – die Datenverarbeitung zwar außerhalb der Grenzen der Republik Lettland, aber in Gebieten stattfindet, die nach völkerrechtlichen Übereinkünften zu dieser gehören; – sich in der Republik Lettland Anlagen befinden, die für die Datenverarbeitung verwendet werden, es sei denn, diese Anlagen werden ausschließlich zur Übertragung personenbezogener Daten über das Gebiet der Republik Lettland verwendet. 12 Art. 3 Abs. 3 des Datenschutzgesetzes sieht vor, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten diesem Gesetz dann nicht unterfällt, wenn sie von natürlichen Personen zur Ausübung persönlicher oder häuslicher bzw. familiärer Tätigkeiten vorgenommen wird. 13 Nach Art. 5 des Datenschutzgesetzes sind vorbehaltlich entgegenstehender gesetzlicher Vorschriften die Art. 7 bis 9, 11 und 21 dieses Gesetzes dann nicht anzuwenden, wenn die personenbezogenen Daten zu journalistischen Zwecken nach dem Par presi un citiem masu informācijas līdzekļiem likums (Gesetz über die Presse und andere Masseninformationsmedien) oder zu künstlerischen oder literarischen Zwecken verarbeitet werden. 14 Art. 8 Abs. 1 des Datenschutzgesetzes sieht vor, dass bei der Erhebung personenbezogener Daten der für die Verarbeitung Verantwortliche verpflichtet ist, der betroffenen Person folgende Informationen zur Verfügung zu stellen, sofern ihr diese noch nicht vorliegen: – die Firma bzw. den Vor- und Nachnamen sowie die Anschrift des für die Datenverarbeitung Verantwortlichen; – die für die Verarbeitung der personenbezogenen Daten vorgesehene Zweckbestimmung. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 15 Herr Buivids filmte in den Räumlichkeiten einer Dienststelle der lettischen nationalen Polizei die Aufnahme seiner Aussage im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens. 16 Er veröffentlichte das so aufgezeichnete Video (im Folgenden: in Rede stehendes Video), das Polizeibeamte und deren Tätigkeit in der Polizeidienststelle zeigte, auf der Website www.youtube.com. Diese Website bietet Nutzern die Möglichkeit, Videos zu veröffentlichen, anzuschauen und zu teilen. 17 Nach dieser Veröffentlichung stellte die nationale Datenschutzbehörde in einer Entscheidung vom 30. August 2013 fest, dass Herr Buivids gegen Art. 8 Abs. 1 des Datenschutzgesetzes verstoßen habe, da er die Polizeibeamten in ihrer Eigenschaft als betroffene Personen nicht nach Maßgabe dieser Vorschrift über den Zweck der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten informiert habe. Herr Buivids habe der nationalen Datenschutzbehörde auch keine Informationen über den Zweck der Aufzeichnung des in Rede stehenden Videos und dessen Veröffentlichung auf einer Website erteilt, die belegt hätten, dass der verfolgte Zweck mit dem Datenschutzgesetz in Einklang gestanden habe. Die nationale Datenschutzbehörde forderte Herrn Buivids daher auf, die Löschung des Videos auf der Website www.youtube.com und anderen Websites zu veranlassen. 18 Herr Buivids erhob bei der Administratīvā rajona tiesa (Verwaltungsgericht erster Instanz, Lettland) eine Klage, mit der er beantragte, die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung der nationalen Datenschutzbehörde festzustellen und ihm Ersatz für die Schäden zuzusprechen, die ihm seiner Ansicht nach entstanden sind. Er trug vor, er habe mit der Veröffentlichung des in Rede stehenden Videos die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf ein seiner Auffassung nach rechtswidriges Handeln der Polizei lenken wollen. Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab. 19 Mit Urteil vom 11. November 2015 wies die Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht, Lettland) das Rechtsmittel von Herrn Buivids gegen die Entscheidung der Administratīvā rajona tiesa (Verwaltungsgericht erster Instanz) zurück. 20 Die Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht) begründete ihre Entscheidung damit, dass in dem in Rede stehenden Video die Polizeidienststelle sowie mehrere Polizeibeamten in Ausübung ihres Amtes zu sehen seien und die Kommunikation mit den Polizeibeamten bei der Vornahme von Verwaltungshandlungen sowie die Stimmen von Polizeibeamten, von Herrn Buivids und seines Begleiters zu hören seien. 21 Im Übrigen könne nicht festgestellt werden, ob das Recht von Herrn Buivids auf freie Meinungsäußerung oder das Recht anderer Personen auf Privatsphäre Vorrang haben müsse, da Herr Buivids nicht angegeben habe, zu welchem Zweck er das in Rede stehende Video veröffentlicht habe. Auch zeige das Video weder aktuelle Ereignisse, die für die Gesellschaft von Interesse wären, noch ein unehrenhaftes Verhalten von Polizeibeamten. Da Herr Buivids das in Rede stehende Video weder zu journalistischen Zwecken im Sinne des Gesetzes über die Presse und andere Masseninformationsmedien noch zu künstlerischen oder literarischen Zwecken erstellt habe, sei Art. 5 des Datenschutzgesetzes nicht anwendbar. 22 Die Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht) gelangte daher zu dem Ergebnis, dass Herr Buivids durch das Filmen der Polizeibeamten bei der Ausübung ihres Amtes, ohne ihnen den Zweck der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten mitzuteilen, gegen Art. 8 Abs. 1 des Datenschutzgesetzes verstoßen habe. 23 Herr Buivids erhob beim vorlegenden Gericht, der Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland), Kassationsbeschwerde gegen das Urteil der Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht) und berief sich dabei auf sein Recht auf freie Meinungsäußerung. 24 Er machte insbesondere geltend, dass das in Rede stehende Video Beamte der nationalen Polizei zeige, d. h. öffentliche Personen an einem für die Öffentlichkeit zugänglichen Ort, die daher nicht in den persönlichen Anwendungsbereich des Datenschutzgesetzes fielen. 25 Das vorlegende Gericht hat zum einen Zweifel, ob das Filmen von Polizeibeamten in einer Polizeidienststelle bei der Ausübung ihres Amtes und die Veröffentlichung des so aufgezeichneten Videos im Internet in den Anwendungsbereich der Richtlinie 95/46 fällt. Es ist insoweit zwar der Ansicht, dass das Verhalten von Herrn Buivids nicht unter die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie genannten Ausnahmen vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie falle, weist jedoch darauf hin, dass es im vorliegenden Fall um eine Aufzeichnung gehe, die nur ein einziges Mal erfolgt sei, und dass Herr Buivids die Polizeibeamten bei der Ausübung ihres öffentlichen Amtes, d. h., während sie als Vertreter der öffentlichen Gewalt gehandelt hätten, gefilmt habe. Unter Bezugnahme auf Nr. 95 der Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Rīgas satiksme (C‑13/16, EU:C:2017:43) weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das Hauptanliegen, das den Schutz personenbezogener Daten rechtfertige, aber das mit der groß angelegten Verarbeitung dieser Daten verbundene Risiko sei. 26 Zum anderen möchte das vorlegende Gericht wissen, wie der Ausdruck „allein zu journalistischen Zwecken“ in Art. 9 der Richtlinie 95/46 auszulegen ist und ob dieser Ausdruck einen Sachverhalt erfassen kann, wie er Herrn Buivids zur Last gelegt wird. 27 Unter diesen Umständen hat die Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Fallen Tätigkeiten wie die im vorliegenden Fall in Rede stehende Aufzeichnung von Polizeibeamten in einer Polizeidienststelle bei der Vornahme von Verfahrenshandlungen und die Veröffentlichung des aufgezeichneten Videos auf der Website www.youtube.com in den Geltungsbereich der Richtlinie 95/46? 2. Ist die Richtlinie 95/46 dahin auszulegen, dass die genannten Tätigkeiten als eine Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken im Sinne von Art. 9 dieser Richtlinie angesehen werden können? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 28 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen ist, dass die Aufzeichnung von Polizeibeamten in einer Polizeidienststelle auf Video während der Aufnahme einer Aussage und die Veröffentlichung des so aufgezeichneten Videos auf einer Video-Website, auf der die Nutzer Videos versenden, anschauen und teilen können, in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt. 29 Die Richtlinie 95/46 gilt nach ihrem Art. 3 Abs. 1 „für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nicht automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einer Datei gespeichert sind oder gespeichert werden sollen“. 30 Der Begriff „personenbezogene Daten“ im Sinne dieser Bestimmung bezieht sich nach der Definition in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 95/46 auf „alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person“. Als bestimmbar wird eine Person angesehen, „die direkt oder indirekt identifiziert werden kann, insbesondere durch Zuordnung zu … einem oder mehreren spezifischen Elementen, die Ausdruck ihrer physischen Identität sind“. 31 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs fällt das von einer Kamera aufgezeichnete Bild einer Person unter den Begriff „personenbezogene Daten“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 95/46, sofern es die Identifikation der betroffenen Person ermöglicht. (vgl. Urteil vom 11. Dezember 2014, Ryneš, C‑212/13, EU:C:2014:2428, Rn. 22). 32 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Polizeibeamten auf dem in Rede stehenden Video zu sehen und zu verstehen sind, so dass davon auszugehen ist, dass die Bilder der so aufgezeichneten Personen personenbezogene Daten im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 95/46 darstellen. 33 Der Begriff „Verarbeitung personenbezogener Daten“ bezeichnet nach Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 „jeden … Vorgang oder jede Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Speichern, die Organisation, die Aufbewahrung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Benutzung, die Weitergabe durch Übermittlung, Verbreitung oder jede andere Form der Bereitstellung, die Kombination oder die Verknüpfung sowie das Sperren, Löschen oder Vernichten“. 34 In Bezug auf eine Videoüberwachungsanlage hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Videoaufzeichnung von Personen auf einer kontinuierlichen Speichervorrichtung, der Festplatte der Überwachungsanlage, gemäß Art. 2 Buchst. b und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 eine automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2014, Ryneš, C‑212/13, EU:C:2014:2428, Rn. 23 und 25). 35 In der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hat Herr Buivids vorgetragen, dass er zur Aufzeichnung des in Rede stehenden Videos eine Digitalkamera verwendet habe. Dabei handelt es sich um eine Videoaufzeichnung von Personen auf einer kontinuierlichen Speichervorrichtung, dem Speicher der Kamera. Eine solche Aufzeichnung stellt somit eine automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 dar. 36 Insoweit ist der Umstand, dass eine solche Aufzeichnung nur ein einziges Mal erfolgt ist, ohne Bedeutung für die Frage, ob dieser Vorgang in den Anwendungsbereich der Richtlinie 95/46 fällt. Wie sich nämlich aus dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. b in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie ergibt, gilt diese für „jeden Vorgang“, der eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne dieser Bestimmungen darstellt. 37 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass der Vorgang, der darin besteht, personenbezogene Daten auf eine Website zu stellen, ebenfalls als eine solche Verarbeitung anzusehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. November 2003, Lindqvist, C‑101/01, EU:C:2003:596, Rn. 25, und vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 26). 38 Insoweit hat der Gerichtshof im Übrigen klargestellt, dass es zur Wiedergabe von Informationen auf einer Internetseite eines Hochladens dieser Seite auf einen Server sowie der erforderlichen Vorgänge bedarf, um diese Seite den mit dem Internet verbundenen Personen zugänglich zu machen. Diese Vorgänge erfolgen zumindest teilweise in automatisierter Form (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2003, Lindqvist, C‑101/01, EU:C:2003:596, Rn. 26). 39 Somit stellt die Veröffentlichung einer Videoaufzeichnung – wie das in Rede stehende Video –, die personenbezogene Daten enthält, auf einer Video-Website, auf der die Nutzer Videos versenden, anschauen und teilen können, eine ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung dieser Daten im Sinne von Art. 2 Buchst. b und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 dar. 40 Gemäß Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 95/46 findet diese Richtlinie im Übrigen auf zwei Arten der Verarbeitung personenbezogener Daten keine Anwendung. Dabei handelt es sich zum einen um Verarbeitungen, die für die Ausübung von Tätigkeiten erfolgen, die nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, beispielsweise Tätigkeiten gemäß den Titeln V und VI des Vertrags über die Europäische Union in seiner vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Fassung, und in jedem Fall Verarbeitungen betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich. Zum anderen schließt diese Bestimmung Verarbeitungen personenbezogener Daten aus, die von einer natürlichen Person zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten vorgenommen werden. 41 Da die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 95/46 vorgesehenen Ausnahmen zur Unanwendbarkeit der Regelung zum Schutz personenbezogener Daten führen, die die Richtlinie vorsieht, und damit von dem ihr zugrunde liegenden Ziel, den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – wie das durch Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie das durch Art. 8 der Charta garantierte Recht auf Schutz personenbezogener Daten – sicherzustellen, abweichen, müssen sie eng ausgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. September 2017, Puškár, C‑73/16, EU:C:2017:725, Rn. 38, und vom 10. Juli 2018, Jehovan todistajat, C‑25/17, EU:C:2018:551, Rn. 37). 42 Was das Ausgangsverfahren anbelangt, geht aus den beim Gerichtshof eingereichten Unterlagen hervor, dass zum einen die Aufzeichnung und die Veröffentlichung des in Rede stehenden Videos weder als eine Verarbeitung personenbezogener Daten angesehen werden können, die für die Ausübung von Tätigkeiten erfolgte, die nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, noch als eine Verarbeitung betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates oder die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich im Sinne von Art. 3 Abs. 2 erster Gedankenstrich der Richtlinie 95/46. Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Tätigkeiten, die in der genannten Vorschrift beispielhaft aufgeführt werden, allesamt spezifische Tätigkeiten des Staates oder staatlicher Stellen sind, die mit den Tätigkeitsbereichen von Privatpersonen nichts zu tun haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2017, Puškár, C‑73/16, EU:C:2017:725, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Zum anderen erfolgte die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verarbeitung personenbezogener Daten aufgrund dessen, dass Herr Buivids das in Rede stehende Video ohne Zugangsbeschränkung auf einer Video-Website veröffentlicht hat, auf der die Nutzer Videos versenden, anschauen und teilen können, wodurch personenbezogene Daten einer unbestimmten Zahl von Personen zugänglich gemacht wurden, nicht im Rahmen der Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten (vgl. entsprechend Urteile vom 6. November 2003, Lindqvist, C‑101/01, EU:C:2003:596, Rn. 47, vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 44, vom 11. Dezember 2014, Ryneš, C‑212/13, EU:C:2014:2428, Rn. 31 und 33, und vom 10. Juli 2018, Jehovan todistajat, C‑25/17, EU:C:2018:551, Rn. 42). 44 Des Weiteren kann der Umstand, dass Polizeibeamte im Rahmen der Ausübung ihres Amtes auf Video aufgezeichnet werden, nicht zum Ausschluss einer solchen Art der Verarbeitung personenbezogener Daten aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie 95/46 führen. 45 Wie die Generalanwältin in Nr. 29 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, sieht diese Richtlinie nämlich keine Ausnahme vor, die Verarbeitungen personenbezogener Daten, die Beamte betreffen, vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausschließen würde. 46 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht ferner hervor, dass Informationen nicht deshalb nicht als „personenbezogene Daten“ einzustufen sind, weil sie im Kontext einer beruflichen Tätigkeit stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, ClientEarth und PAN Europe/EFSA, C‑615/13 P, EU:C:2015:489, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen ist, dass die Aufzeichnung von Polizeibeamten in einer Polizeidienststelle auf Video während der Aufnahme einer Aussage und die Veröffentlichung des so aufgezeichneten Videos auf einer Video-Website, auf der die Nutzer Videos versenden, anschauen und teilen können, in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt. Zur zweiten Frage 48 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen ist, dass ein Sachverhalt wie der des Ausgangsverfahrens, d. h. die Aufzeichnung von Polizeibeamten in einer Polizeidienststelle auf Video während der Aufnahme einer Aussage und die Veröffentlichung des so aufgezeichneten Videos auf einer Video-Website, auf der die Nutzer Videos versenden, anschauen und teilen können, eine Verarbeitung personenbezogener Daten zu journalistischen Zwecken im Sinne dieser Bestimmung darstellt. 49 Zunächst ist festzustellen, dass die Bestimmungen einer Richtlinie nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs mit Blick auf ihre Ziele und das mit ihr eingeführte System auszulegen sind (Urteil vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Wie sich aus ihrem Art. 1 ergibt, soll die Richtlinie 95/46 den Mitgliedstaaten den freien Verkehr personenbezogener Daten ermöglichen und gleichzeitig den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten, insbesondere den Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung dieser Daten gewährleisten. Dieses Ziel lässt sich jedoch nur erreichen, wenn berücksichtigt wird, dass die genannten Grundrechte in einem gewissen Maß mit dem Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung in Einklang gebracht werden müssen. Im 37. Erwägungsgrund der Richtlinie 95/46 wird klargestellt, dass mit ihrem Art. 9 bezweckt wird, zwei Grundrechte miteinander in Einklang zu bringen, nämlich zum einen den Schutz der Privatsphäre und zum anderen die Freiheit der Meinungsäußerung. Diese Aufgabe obliegt den Mitgliedstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 52 bis 54). 51 Der Gerichtshof hat bereits entscheiden, dass in Anbetracht der Bedeutung, die der Freiheit der Meinungsäußerung in jeder demokratischen Gesellschaft zukommt, die damit zusammenhängenden Begriffe, zu denen der des Journalismus gehört, weit ausgelegt werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 56). 52 So ergibt sich aus den Vorarbeiten zur Richtlinie 95/46, dass die in ihrem Art. 9 vorgesehenen Befreiungen und Ausnahmen nicht nur für Medienunternehmen, sondern für jeden gelten, der journalistisch tätig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 58). 53 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind „journalistische Tätigkeiten“ solche Tätigkeiten, die zum Zweck haben, Informationen, Meinungen oder Ideen, mit welchem Übertragungsmittel auch immer, in der Öffentlichkeit zu verbreiten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 61). 54 Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die Verarbeitung personenbezogener Daten, die Herr Buivids vorgenommen hat, diesem Zweck entspricht, jedoch kann der Gerichtshof diesem Gericht die für die ihm obliegende Beurteilung erforderlichen Auslegungshinweise geben. 55 So schließt der Umstand, dass Herr Buivids kein Berufsjournalist ist, in Anbetracht der in den Rn. 52 und 53 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs es offenbar nicht aus, dass die Aufzeichnung des in Rede stehenden Videos und dessen Veröffentlichung auf einer Video-Website, auf der die Nutzer Videos versenden, anschauen und teilen können, unter diese Bestimmung fallen können. 56 Insbesondere kann der Umstand, dass Herr Buivids diese Aufzeichnung auf einer solchen Website, im vorliegenden Fall der Website www.youtube.com‚ online gestellt hat, für sich genommen dieser Verarbeitung personenbezogener Daten nicht die Eigenschaft als „allein zu journalistischen Zwecken“ im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 95/46 erfolgt nehmen. 57 Es muss nämlich die Entwicklung und die Vervielfältigung der Mittel zur Kommunikation und zur Verbreitung von Informationen berücksichtigt werden. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist der Träger, mit dem die verarbeiteten Daten übermittelt werden – ob es sich um einen klassischen Träger wie Papier oder Radiowellen oder aber um einen elektronischen Träger wie das Internet handelt –, nicht ausschlaggebend für die Beurteilung, ob es sich um eine Tätigkeit „allein zu journalistischen Zwecken“ handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 60). 58 Allerdings kann, wie die Generalanwältin in Nr. 55 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht davon ausgegangen werden, dass jegliche im Internet veröffentlichte Information, die sich auf personenbezogene Daten bezieht, unter den Begriff der „journalistischen Tätigkeiten“ fiele und daher für sie die in Art. 9 der Richtlinie 95/46 vorgesehenen Abweichungen und Ausnahmen gälten. 59 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob aus dem in Rede stehenden Video hervorgeht, dass die Aufzeichnung und die Veröffentlichung dieses Videos ausschließlich zum Ziel hatten, Informationen, Meinungen oder Ideen in der Öffentlichkeit zu verbreiten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 62). 60 Dabei kann das vorlegende Gericht u. a. berücksichtigen, dass das in Rede stehende Video nach den Angaben von Herrn Buivids auf einer Website veröffentlicht wurde, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf die angeblich vorschriftswidrigen Praktiken der Polizei zu lenken, die während der Aufnahme seiner Aussage angewandt worden seien. 61 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Feststellung derartiger vorschriftswidriger Praktiken keine Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 9 der Richtlinie 95/46 ist. 62 Hingegen könnte dann, wenn sich erweisen sollte, dass die Aufzeichnung und die Veröffentlichung dieses Videos nicht ausschließlich zum Ziel hatten, Informationen, Meinungen oder Ideen in der Öffentlichkeit zu verbreiten, nicht davon ausgegangen werden, dass die Verarbeitung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden personenbezogenen Daten „allein zu journalistischen Zwecken“ erfolgte. 63 Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 9 der Richtlinie 95/46 vorgesehenen Befreiungen und Ausnahmen nur in dem Umfang angewandt werden dürfen, in dem sie sich als notwendig erweisen, um zwei Grundrechte, nämlich das Recht auf Schutz der Privatsphäre und das Recht auf freie Meinungsäußerung, miteinander in Einklang zu bringen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 55). 64 Um ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Grundrechten herzustellen, erfordert der Schutz der Privatsphäre demnach, dass sich die Ausnahmen und Einschränkungen in Bezug auf den Datenschutz, die in den Kapiteln II, IV und VI der Richtlinie 95/46 vorgesehen sind, auf das absolut Notwendige beschränken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 56). 65 Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Charta, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betrifft, Rechte enthält, die den in Art. 8 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) gewährleisteten Rechten entsprechen, und dass diesem Art. 7 gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta somit die gleiche Bedeutung und Tragweite beizumessen ist wie Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 70). Gleiches gilt für Art. 11 der Charta und Art. 10 EMRK (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 147). 66 Insoweit geht aus dieser Rechtsprechung hervor, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für die Zwecke der Abwägung zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und dem Recht auf freie Meinungsäußerung eine Reihe relevanter Kriterien entwickelt hat, die zu berücksichtigen sind, darunter der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, der Bekanntheitsgrad der betroffenen Person, der Gegenstand der Berichterstattung, das vorangegangene Verhalten der betroffenen Person, Inhalt, Form und Auswirkungen der Veröffentlichung, die Art und Weise sowie die Umstände, unter denen die Informationen erlangt worden sind, und deren Richtigkeit (vgl. in diesem Sinne EGMR, 27. Juni 2017, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy/Finnland, CE:ECHR:2017:0627JUD000093113, § 165). Ebenso muss die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass der für die Verarbeitung Verantwortliche Maßnahmen ergreift, die es ermöglichen, das Ausmaß des Eingriffs in das Recht auf Privatsphäre zu verringern. 67 Im vorliegenden Fall geht aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte hervor, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Aufzeichnung und die Veröffentlichung des in Rede stehenden Videos, die erfolgt sind, ohne dass die betroffenen Personen über diese Aufzeichnung und deren Zwecke informiert wurden, einen Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens dieser Personen, d. h. der in diesem Video zu sehenden Polizeibeamten, darstellt. 68 Sollte es sich erweisen, dass die Aufzeichnung und die Veröffentlichung des in Rede stehenden Videos ausschließlich zum Ziel hatten, Informationen, Meinungen oder Ideen in der Öffentlichkeit zu verbreiten, so ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die in Art. 9 der Richtlinie 95/46 vorgesehenen Befreiungen und Ausnahmen sich als notwendig erweisen, um das Recht auf Privatsphäre mit den für die Freiheit der Meinungsäußerung geltenden Vorschriften in Einklang zu bringen, und ob sich diese Befreiungen und Ausnahmen auf das absolut Notwendige beschränken. 69 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 9 der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen ist, dass ein Sachverhalt wie der des Ausgangsverfahrens, d. h. die Aufzeichnung von Polizeibeamten in einer Polizeidienststelle auf Video während der Aufnahme einer Aussage und die Veröffentlichung des so aufgezeichneten Videos auf einer Video-Website, auf der die Nutzer Videos versenden, anschauen und teilen können, eine Verarbeitung personenbezogener Daten allein zu journalistischen Zwecken im Sinne dieser Bestimmung darstellen kann, sofern aus diesem Video hervorgeht, dass diese Aufzeichnung und diese Veröffentlichung ausschließlich zum Ziel hatten, Informationen, Meinungen oder Ideen in der Öffentlichkeit zu verbreiten, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Kosten 70 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 3 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr ist dahin auszulegen, dass die Aufzeichnung von Polizeibeamten in einer Polizeidienststelle auf Video während der Aufnahme einer Aussage und die Veröffentlichung des so aufgezeichneten Videos auf einer Video-Website, auf der die Nutzer Videos versenden, anschauen und teilen können, in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt. 2. Art. 9 der Richtlinie 95/46 ist dahin auszulegen, dass ein Sachverhalt wie der des Ausgangsverfahrens, d. h. die Aufzeichnung von Polizeibeamten in einer Polizeidienststelle auf Video während der Aufnahme einer Aussage und die Veröffentlichung des so aufgezeichneten Videos auf einer Video-Website, auf der die Nutzer Videos versenden, anschauen und teilen können, eine Verarbeitung personenbezogener Daten allein zu journalistischen Zwecken im Sinne dieser Bestimmung darstellen kann, sofern aus diesem Video hervorgeht, dass diese Aufzeichnung und diese Veröffentlichung ausschließlich zum Ziel hatten, Informationen, Meinungen oder Ideen in der Öffentlichkeit zu verbreiten, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Lettisch.
Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 7. Dezember 2018 (Auszüge).#GE.CO.P. Generale Costruzioni e Progettazioni SpA gegen Europäische Kommission.#Öffentliche Aufträge – Haushaltsordnung – Ausschluss von den Verfahren über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und die Gewährung von Zuschüssen aus dem Gesamthaushalt der Union für eine Dauer von zwei Jahren – Art. 108 der Haushaltsordnung – Verteidigungsrechte – Nachweis des Erhalts einer Zustellung.#Rechtssache T-280/17.
62017TJ0280
ECLI:EU:T:2018:889
2018-12-07T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62017TJ0280 URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer) 7. Dezember 2018 (*1) „Öffentliche Aufträge – Haushaltsordnung – Ausschluss von den Verfahren über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und die Gewährung von Zuschüssen aus dem Gesamthaushalt der Union für eine Dauer von zwei Jahren – Art. 108 der Haushaltsordnung – Verteidigungsrechte – Nachweis des Erhalts einer Zustellung“ In der Rechtssache T‑280/17 GE.CO. P. Generale Costruzioni e Progettazioni SpA, mit Sitz in Rom (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin G. Naticchioni, Klägerin, gegen Europäische Kommission, vertreten durch F. Dintilhac und F. Moro als Bevollmächtigte, Beklagte, wegen einer Klage gemäß Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung zum einen des Beschlusses der Kommission vom 7. März 2017 über den Ausschluss der Klägerin von der Teilnahme an den Verfahren über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und die Gewährung von Zuschüssen aus dem Gesamthaushalt der Europäischen Union sowie von der Teilnahme an den Verfahren der Gewährung von Mitteln im Rahmen der Verordnung (EU) 2015/323 des Rates vom 2. März 2015 über die Finanzregelung für den 11. Europäischen Entwicklungsfonds (ABl. 2015, L 58, S. 17) und die Veröffentlichung dieses Ausschlusses auf der Internet-Seite der Kommission, und zum anderen sämtlicher Rechtsakte, die vor oder nach diesem Beschluss ergangen sind, einschließlich derer, von denen die Klägerin keine Kenntnis hat, erlässt DAS GERICHT (Dritte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Frimodt Nielsen sowie des Richters V. Kreuschitz und der Richterin N. Półtorak (Berichterstatterin), Kanzler: E. Coulon, folgendes Urteil (1 ) [nicht wiedergegeben] Rechtliche Würdigung [nicht wiedergegeben] Zur Begründetheit [nicht wiedergegeben] Zum ersten Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 108 der Haushaltsordnung und Art. 41 der Charta der Grundrechte gerügt wird [nicht wiedergegeben] 42 Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte ein tragender Grundsatz des Unionsrechts ist, mit dem der Anspruch darauf, gehört zu werden, untrennbar verbunden ist (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 28 sowie die angeführte Rechtsprechung). 43 Der Anspruch darauf, gehört zu werden, ist heute nicht nur durch die Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte verbürgt, die die Wahrung der Verteidigungsrechte sowie das Recht auf ein faires Verfahren im Rahmen jedes Gerichtsverfahrens gewährleisten, sondern auch durch Art. 41 der Charta der Grundrechte, der das Recht auf eine gute Verwaltung sicherstellt. Nach Art. 41 Abs. 2 der Charta der Grundrechte umfasst das Recht auf eine gute Verwaltung insbesondere das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Gemäß diesem Grundsatz, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen, müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Recht, gehört zu werden, gilt auch dann, wenn die anwendbare Regelung eine solche Formalität nicht ausdrücklich vorsieht (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 31 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 45 Im vorliegenden Fall sieht die anwendbare Regelung in Art. 108 Abs. 8 Buchst. c der Haushaltsordnung vor, dass das in Art. 108 genannte Gremium, bevor es eine Empfehlung abgibt, dem Wirtschaftsteilnehmer und den öffentlichen Auftraggebern Gelegenheit zur Stellungnahme gibt. In dieser Bestimmung wird auch klargestellt, dass der Wirtschaftsteilnehmer und die öffentlichen Auftraggeber über eine Frist von mindestens 15 Tagen verfügen, um ihre Stellungnahme abzugeben. 46 Die anwendbare Regelung legt allerdings nicht fest, im Wege welchen Kommunikationsmittels das in Art. 108 genannte Gremium den Wirtschaftsteilnehmer von der rechtlichen Einordnung der jeweiligen Umstände und der in Aussicht genommenen Sanktion zu unterrichten hat. 47 Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass eine Entscheidung – und daher erst recht ein Schreiben, das die rechtliche Einordnung der jeweiligen Umstände und die von dem in Art. 108 genannten Gremium in Aussicht genommene Sanktion enthält – ordnungsgemäß zugestellt wird, wenn sie ihrem Empfänger mitgeteilt wird und wenn dieser in die Lage versetzt wird, davon Kenntnis zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 9. Juli 2013, Page Protective Services/EAD, T‑221/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:363, Rn. 12). 48 Im vorliegenden Fall ist zwischen den Parteien streitig, ob die Kommission der Klägerin das streitige Schreiben ordnungsgemäß zugestellt hat. Erstens weist die Kommission im angefochtenen Beschluss darauf hin, dass sie das streitige Schreiben einem Eil‑Kuriertransport übergeben habe. Zweitens gibt sie an, dass sie dieses Schreiben auch per E‑Mail dem alleinigen Geschäftsführer der Klägerin übermittelt habe. Zum Nachweis der ordnungsgemäßen Zustellung des streitigen Schreibens beruft sich die Kommission auf die E‑Mail vom 23. Dezember 2016 und den Lesebericht, den sie am selben Tag erhalten habe. Die Klägerin behauptet, zu keinem Zeitpunkt von der Existenz des streitigen Schreibens oder von seiner Versendung Kenntnis gehabt zu haben. [nicht wiedergegeben] 60 Wie sich aus den Rn. 42 bis 44 und 47 des vorliegenden Urteils ergibt, obliegt es der Kommission, die Effektivität des Rechts, gehört zu werden, sicherzustellen, weshalb sie den Nachweis dafür zu erbringen hat, dass sie die Klägerin in die Lage versetzt hat, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die sie ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigte, sachdienlich vorzutragen. Im vorliegenden Fall durfte sich die Kommission nicht mit dem Lesebericht begnügen – im Hinblick auf den sie anerkennt, dass es sich um eine E‑Mail handelt, die vom IT‑System der Empfängerin automatisch gesendet wurde –, um zu behaupten, wie sie dies im angefochtenen Beschluss getan hat, dass die Klägerin in die Lage versetzt worden sei, von dem streitigen Schreiben Kenntnis zu nehmen, und dass sie auf dieses Schreiben nicht geantwortet habe. 61 In Anbetracht der Akte und insbesondere der von der Kommission vorgelegten Elemente sowie unter Berücksichtigung der Erklärungen der Parteien zu diesen Elementen ist nämlich darauf hinzuweisen, dass der Lesebericht eine E‑Mail ist, die vom IT‑System des Empfängers einer E‑Mail automatisch generiert und gesendet werden kann, ohne dass der Empfänger manuell eingreifen müsste, und, folglich, ohne dass dieser notwendigerweise Kenntnis von der Existenz dieser E‑Mail erlangen konnte. Daher ist festzustellen, dass der Lesebericht der Kommission nicht den Nachweis ermöglicht, dass die Klägerin ordnungsgemäß in die Lage versetzt wurde, vom streitigen Schreiben Kenntnis zu nehmen, oder dass sie von der Existenz eines solchen Schreibens oder seiner Versendung Kenntnis hatte. 62 Hierzu ist festzustellen, dass die Zustellung im Wege eines eingeschriebenen Briefes mit Empfangsbestätigung zwar nicht die einzige für Verwaltungsentscheidungen in Frage kommende Zustellungsart darstellt, dass sie aber dank der besonderen Garantien, die sie sowohl für den Betreffenden als auch für die Verwaltung aufweist, eine besonders sichere Lösung ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 16. Dezember 2010, AG/Parlament, F‑25/10, EU:F:2010:171, Rn. 38), und zwar umso mehr, wenn der Betreffende keiner der Institutionen angehört (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 16. Dezember 2010, AG/Parlament, F‑25/10, EU:F:2010:171, Rn. 39). Eine dieser Garantien ist u. a. die – dank der Anbringung der Unterschrift des Empfängers auf der Empfangsbestätigung – bestehende Versicherung, dass dieser Empfänger weiß, dass ein Berief für ihn bestimmt ist und seine Aufmerksamkeit erfordert. Aus der Akte ergibt sich aber, dass der Lesebericht, anders als die postalische Empfangsbestätigung, keine solche Garantie bietet. Im Gegensatz zu dem Fall, in dem der Empfänger eines Schreibens auf der Empfangsbestätigung unterschreibt oder eine Bestätigung, dass er eine E‑Mail erhalten hat, verfasst und absendet, lässt sich anhand des in Rede stehenden Leseberichts, da er, wie in Rn. 61 des vorliegenden Urteils beschrieben, vom IT‑System des Empfängers automatisch generiert und gesendet wird, nicht zweifelsfrei feststellen, dass die Klägerin Kenntnis vom streitigen Schreiben hatte oder in die Lage versetzt wurde, von diesem Schreiben am Tag, an dem der Bericht übermittelt wurde, Kenntnis zu erlangen. 63 Geht es wie im vorliegenden Fall um die Effektivität des Rechts, gehört zu werden, kann der Lesebericht, wie er von der Kommission vorgelegt wird, nicht genügen, um nachzuweisen, dass sie hinreichend darauf geachtet habe, dass die Klägerin in die Lage versetzt worden sei, ihren Standpunkt sachdienlich geltend machen zu können. 64 Da nicht nachgewiesen wurde, dass die Klägerin ordnungsgemäß in die Lage versetzt wurde, ihren Standpunkt zu den Elementen darzulegen, auf die die Kommission den Beschluss zu stützen beabsichtigte, ist dem ersten Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen Art. 108 der Haushaltsordnung und Art. 41 der Charta der Grundrechte gerügt wird, stattzugeben. 65 Folglich ist der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären, ohne dass die Begründetheit des übrigen von der Klägerin im Rahmen des ersten Klagegrundes geltend gemachten Vorbringens zu prüfen ist. [nicht wiedergegeben] Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Der Beschluss der Europäischen Kommission vom 7. März 2017, mit dem die GE.CO. P. Generale Costruzioni e Progettazioni SpA von der Teilnahme an den Verfahren über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen und von den Verfahren über die Gewährung von Zuschüssen aus dem Gesamthaushalt der Europäischen Union sowie von der Teilnahme an den Verfahren zur Gewährung von Mitteln im Rahmen der Verordnung (EU) 2015/323 des Rates vom 2. März 2015 über die Finanzregelung für den 11. Europäischen Entwicklungsfonds (ABl. 2015, L 58, S. 17) ausgeschlossen und die Veröffentlichung dieses Ausschlusses auf der Internet-Seite der Kommission angeordnet wird, wird für nichtig erklärt. 2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 3. Die Kommission trägt die Kosten. Frimodt Nielsen Kreuschitz Półtorak Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. Dezember 2018. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Italienisch. (1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
Beschluss des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 27. September 2018.#FR gegen Ministero dell’interno – Commissione Territoriale per il riconoscimento della Protezione Internazionale presso la Prefettura U.T.G. di Milano.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Milano.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 46 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird – Nationale Regelung, die einen zweiten Rechtszug vorsieht – Auf die Klage beschränkte aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes.#Rechtssache C-422/18 PPU.
62018CO0422
ECLI:EU:C:2018:784
2018-09-27T00:00:00
Gerichtshof, Sharpston
EUR-Lex - CELEX:62018CO0422 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62018CO0422 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62018CO0422 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Beschluss des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 6. September 2018.#Sophie Montel gegen Europäisches Parlament.#Rechtsmittel – Zulässigkeit – Europäisches Parlament – Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Zulage für parlamentarische Assistenz – Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge.#Rechtssache C-84/18 P.
62018CO0084
ECLI:EU:C:2018:693
2018-09-06T00:00:00
Gerichtshof, Wathelet
EUR-Lex - CELEX:62018CO0084 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62018CO0084 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62018CO0084 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Beschluss des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 6. September 2018.#Dominique Bilde gegen Europäisches Parlament.#Rechtsmittel – Zulässigkeit – Europäisches Parlament – Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Zulage für parlamentarische Assistenz – Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge.#Rechtssache C-67/18 P.
62018CO0067
ECLI:EU:C:2018:692
2018-09-06T00:00:00
Wathelet, Gerichtshof
EUR-Lex - CELEX:62018CO0067 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62018CO0067 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62018CO0067 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 28. Februar 2018.#Sporting Odds Ltd gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Központi Irányítása.#Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Dienstleistungsverkehr – Art. 56 AEUV – Art. 4 Abs. 3 EUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Beschränkungen – Glücksspiel – Nationale Regelung – Veranstaltung bestimmter Arten von Glücksspielen durch den Staat – Ausschließlichkeit – Konzessionssystem für andere Arten von Spielen – Erfordernis einer Erlaubnis – Verwaltungsrechtliche Sanktion.#Rechtssache C-3/17.
62017CJ0003
ECLI:EU:C:2018:130
2018-02-28T00:00:00
Gerichtshof, Szpunar
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62017CJ0003 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) 28. Februar 2018 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Dienstleistungsverkehr – Art. 56 AEUV – Art. 4 Abs. 3 EUV – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Beschränkungen – Glücksspiel – Nationale Regelung – Veranstaltung bestimmter Arten von Glücksspielen durch den Staat – Ausschließlichkeit – Konzessionssystem für andere Arten von Spielen – Erfordernis einer Erlaubnis – Verwaltungsrechtliche Sanktion“ In der Rechtssache C‑3/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 4. Oktober 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Januar 2017, in dem Verfahren Sporting Odds Ltd gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Központi Irányítása erlässt DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. G. Fernlund sowie der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin (Berichterstatter), Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Sporting Odds Ltd, vertreten durch A. Nemescsói und Gy. V. Radics, ügyvédek, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte, – der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von P. Vlaemminck, R. Verbeke und J. Auwerx, avocats, – der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte, – der maltesischen Regierung, vertreten durch A. Buhagiar als Bevollmächtigte, – der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo, A. Silva Coelho und P. de Sousa Inês als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Tserepa-Lacombe und L. Havas als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 56 AEUV sowie der Art. 41, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Sporting Odds Ltd und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Központi Irányítása (Zentraldirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen deren Entscheidung, Sporting Odds ein Bußgeld in Höhe von 3500000 ungarischen Forint (HUF) (etwa 11306 Euro) aufzuerlegen (im Folgenden: streitige Entscheidung), weil Sporting Odds ohne die hierfür erforderliche Konzession oder Erlaubnis Online-Glücksspiele veranstaltet habe. Rechtlicher Rahmen Das Glücksspielgesetz 3 § 2 Abs. 2 des Szerencsejáték szervezéséről szóló 1991. évi XXXIV. törvény (Gesetz Nr. XXXIV von 1991 über die Veranstaltung von Glücksspielen) in der zur Zeit des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung (im Folgenden: Glücksspielgesetz) lautet: „Die Veranstaltung von Glücksspielen bedarf – außer in den in diesem Gesetz vorgesehenen Fällen – der Erlaubnis durch die nationale Steuerbehörde. …“ 4 In § 3 Abs. 1, 1(a), 1(b) und 3 des Glücksspielgesetzes heißt es: „(1)   Mit Ausnahme der Veranstaltung von Online-Glücksspielen oder des Betriebs von Online-Casinos kann die Veranstaltung von nicht liberalisierten Glücksspielen a) von einer zu 100 % im Eigentum des ungarischen Staates stehenden und zur regelmäßigen Veranstaltung von Glücksspielen gegründeten Wirtschaftsorganisation (im Folgenden: staatlicher Spielveranstalter), von einer im ausschließlichen Eigentum des staatlichen Spielveranstalters stehenden Handelsgesellschaft oder von einer Wirtschaftsorganisation, an der der Staat mehrheitlich beteiligt ist, durchgeführt werden; b) der Staat kann das Recht zur Ausübung dieser Tätigkeit durch Konzessionsvertrag zeitweilig auf eine andere Person übertragen. (1a)   Der Fernvertrieb von Glücksspielen darf a) mit Ausnahme von Pferdewetten ausschließlich von der zu 100 % im Eigentum des ungarischen Staates stehenden Szerencsejáték Zrt., b) wenn es sich um Pferdewetten handelt, ausschließlich von der zu 100 % im Eigentum des ungarischen Staates stehenden Magyar Lóversenyfogadást-szervező Kft. veranstaltet werden. (1b)   Zur Veranstaltung von Online-Casinospielen sind ausschließlich Inhaber von Konzessionen zum Betrieb eines auf dem Gebiet Ungarns gelegenen Spielcasinos berechtigt, die die Online-Casinospiele über die zum Zweck der Veranstaltung von Casinospielen konzessionierte Gesellschaft durchführen dürfen. … (3)   Zur Veranstaltung von Zahlenlotterien und von Wetten – mit Ausnahme von Pferdewetten, Glücksspielen im Fernvertrieb und Buchmacherwetten – ist ausschließlich der staatliche Spielveranstalter berechtigt.“ 5 § 4 Abs. 1 und 6 des Glücksspielgesetzes bestimmt: „(1)   Der Abschluss eines Konzessionsvertrags erfolgt aufgrund öffentlicher Ausschreibung durch den Minister nach § 5 Abs. 1 des [A koncesszióról szóló 1991. évi XVI. törvény (Gesetz Nr. XVI von 1991 über die Konzessionen; im Folgenden: Konzessionsgesetz)]. Die Ausschreibung erfordert – außer bei einer landesweiten Ausschreibung – auch die Zustimmung der Vertretungskörperschaft der Gemeindeselbstverwaltung, in Budapest der Hauptstädtischen Selbstverwaltungsvollversammlung. Bei einem über eine landesweite Ausschreibung vergebenen Konzessionsrecht erteilt die staatliche Steuerverwaltung die Erlaubnis für die Gemeinden, bei denen die betreffende Selbstverwaltungskörperschaft – in Budapest die Hauptstädtische Selbstverwaltungsvollversammlung – der Ausübung der Tätigkeit auf dem Gemeindegebiet zugestimmt hat. … (6)   Gemäß § 10/C Abs. 2 des Konzessionsgesetzes kann der Minister mit einem zuverlässigen Glücksspielveranstalter im Sinne des vorliegenden Gesetzes einen Konzessionsvertrag auch ohne öffentliche Ausschreibung abschließen.“ 6 § 5 Abs. 1 des Glücksspielgesetzes lautet: „Bei einer öffentlichen Ausschreibung gemäß § 5 Abs. 1 des Konzessionsgesetzes kann der Minister den Konzessionsvertrag mit dem Zuschlagsempfänger abschließen.“ 7 In § 37 Nr. 30 dieses Gesetzes heißt es: „Zuverlässiger Glücksspielveranstalter ist ein Glücksspielveranstalter, der als transparente Organisation im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 des Nemzeti vagyonról szóló 2011. évi CXCVI. törvény [Gesetz Nr. CXCVI von 2011 über das Nationalvermögen] gilt und a) seinen Erklärungs- und Zahlungspflichten hinsichtlich sämtlicher bei der staatlichen Steuerbehörde registrierter öffentlicher Abgaben von mehr als 500000 HUF nachgekommen und mit der Erfüllung solcher Pflichten nie mehr als 90 Tage in Rückstand geraten ist, b) dessen Bankkonten niemals mit einem Soforteinzug in Höhe eines Betrags von mehr als 500000 HUF zugunsten der Steuerbehörde belastet waren und gegen den im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit nie ein Vollstreckungsverfahren über einen Betrag von mehr als 500000 HUF eingeleitet wurde, c) bei seiner Tätigkeit bzw. im Zusammenhang damit keine Rechtsverletzung begangen hat, die im Einzelfall mit einem Bußgeld von mehr als 5000000 HUF bewehrt ist, d) mindestens zehn Jahre eine auf die Veranstaltung von Glücksspielen gerichtete Tätigkeit in Ungarn ausgeübt hat, e) die Regeln bezüglich der Feststellung der Identität der Spieler und der damit verbundenen Datenverwaltung vollständig beachtet hat, sofern er dazu verpflichtet war.“ Das Konzessionsgesetz 8 In § 10/C Abs. 1 und 2 des Konzessionsgesetzes in der zu der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit geltenden Fassung heißt es: „(1)   Ein Konzessionsvertrag kann auch nach Maßgabe dieses Paragrafen mit einem zuverlässigen Glücksspielveranstalter im Sinne des branchenspezifischen Gesetzes geschlossen werden. (2)   Der Fachminister kann von der öffentlichen Ausschreibung einer Konzession Abstand nehmen, wenn der Konzessionsvertrag auch mit einem zuverlässigen Glücksspielveranstalter geschlossen werden kann.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 9 Sporting Odds ist eine britische Gesellschaft, die eine Erlaubnis zur Veranstaltung von Online-Glücksspielen im Vereinigten Königreich besitzt. Sie bietet Online-Glücksspieldienstleistungen in Ungarn an, verfügt aber über keine Konzession oder Erlaubnis zur Veranstaltung solcher Spiele in diesem Mitgliedstaat. 10 Aufgrund einer zwischen dem 6. und dem 12. Januar 2016 durchgeführten Kontrolle der Website „hu.sportingbeteuro.com“ stellte die Finanzverwaltung fest, dass Sporting Odds Sportwetten veranstaltet habe, ohne die nach den ungarischen Rechtsvorschriften dafür erforderliche Konzession oder Erlaubnis zu besitzen. Da die Finanzverwaltung der Auffassung war, dass es nach nationalem Recht nicht erforderlich sei, Sporting Odds von der Kontrolle oder dem Verfahren vorher in Kenntnis zu setzen, gelangte sie allein auf der Grundlage der bei der Kontrolle der Website von Sporting Odds gemachten Feststellungen zu dem Ergebnis, dass ein Rechtsverstoß vorliege. Infolgedessen verhängte sie mit der streitigen Entscheidung gegen Sporting Odds ein Bußgeld in Höhe von 3500000 HUF. 11 Da Sporting Odds die ungarische Regelung für die Glücksspielbranche für unionsrechtswidrig hielt, beschloss sie, gegen die streitige Entscheidung Klage beim Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht, Ungarn) zu erheben. 12 Das vorlegende Gericht hat zum einen Zweifel, ob das Verfahren für die Vergabe von Konzessionen zur Veranstaltung von Glücksspielen in einer Weise ausgestaltet war, dass es Sporting Odds möglich war, eine solche Konzession zu beantragen, und zum anderen, ob eine wirksame gerichtliche Kontrolle des Verfahrens für die Vergabe solcher Konzessionen sichergestellt war. Es stellte insoweit fest, dass der Wirtschaftsminister keine Ausschreibung durchgeführt habe und für Sporting Odds keine Möglichkeit bestanden habe, eine Bewerbung abzugeben, um eine Konzession für die Veranstaltung von Glücksspielen zu erhalten, die als „zuverlässig“ geltenden Glücksspielveranstaltern vorbehalten sei, weil in diese Kategorie nur Glücksspielveranstalter fielen, die zehn Jahre lang Glücksspiele in Ungarn veranstaltet hätten. 13 Das vorlegende Gericht weist im Übrigen darauf hin, dass die nationalen Rechtsvorschriften keine Aussage darüber träfen, ob der Wirtschaftsminister verpflichtet sei, einer Bewerbung stattzugeben, und seine Entscheidung keiner Kontrolle durch die nationalen Gerichte zugänglich sei, da diese kein behördlicher Akt öffentlicher Gewalt sei. 14 Das vorlegende Gericht beschäftigt sich außerdem mit den Vergleichsparametern, die bei der Prüfung zu berücksichtigen sind, ob die Einschränkungen von Art. 56 AEUV, die sich zum einen aus der Regelung über das staatliche Monopol bei bestimmten Arten von Glücksspielen und zum anderen aus der Konzessionsregelung ergeben, kohärent und systematisch sind. Nach seinen Feststellungen werden, was Casinospiele und Online-Casinospiele betrifft, entgegen den Zielen des Verbraucherschutzes und der öffentlichen Gesundheit, die in den einschlägigen Rechtsvorschriften genannt würden, für die Verbraucher Anreize geschaffen, an dieser Art von Glücksspielen teilzunehmen. 15 Dem vorlegenden Gericht zufolge ergibt sich im Übrigen aus dem Register der Szerencsejáték Zrt. (zu 100 % im Eigentum des ungarischen Staates stehende Gesellschaft, die für die Veranstaltung von Glücksspielen verantwortlich ist), dass nur in Ungarn registrierte und ansässige Unternehmen Inhaber von Casinokonzessionen seien. Insoweit fragt es sich, ob eine Regel, wonach nur Gesellschaften, die eine Konzession für ein im Gebiet Ungarns belegenes Casino besitzen, Online-Glücksspiele veranstalten dürfen, ein nicht gerechtfertigtes Hindernis darstellt. 16 Das vorlegende Gericht stellt außerdem die Frage, auf der Grundlage welcher Regeln zu prüfen ist, ob die den freien Dienstleistungsverkehr einschränkenden Maßnahmen kohärent und systematisch sind. Insoweit fragt es sich, ob es im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Amts wegen Beweise erheben oder ob es die Beweislast zwischen den Verfahrensparteien oder sogar anderen Personen aufteilen müsse. 17 Ferner sei fraglich, ob eine nationale Regel, nach der eine Partei die Frage der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht erst im Stadium des gerichtlichen Verfahrens aufwerfen kann, gegen das von der Charta gewährleistete Recht auf eine gute Verwaltung – nämlich das Recht, gehört zu werden, und die Begründungspflicht – verstößt. 18 Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht, Ungarn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 56 AEUV, das Diskriminierungsverbot und das Erfordernis, dass die von einem Mitgliedstaat vorgenommene Begrenzung von Glücksspieltätigkeiten, deren gesetzliches Ziel dem Mitgliedstaat zufolge im Wesentlichen die Bekämpfung der Spielsucht und der Verbraucherschutz sein soll, in einer kohärenten und systematischen Weise erfolgen muss, dahin auszulegen, dass das nationale Monopol des Mitgliedstaats auf on- und offline veranstaltete Sport- und Pferdewetten im Widerspruch zu ihnen steht, wenn im Übrigen in dem Mitgliedstaat seit der durch ihn vorgenommenen Neuordnung des Marktes private Anbieter andere Online- und Offline-Glücksspiele (Casinospiele, Kartenspiele, Geldspielautomaten, Online-Casinospiele und Online-Kartenspiele), die eine erhebliche Suchtgefahr in sich bergen, im Rahmen einer Konzession in Präsenzspielbanken veranstalten dürfen? 2. Sind Art. 56 AEUV, das Diskriminierungsverbot und das Erfordernis, dass die von einem Mitgliedstaat vorgenommene Begrenzung von Glücksspieltätigkeiten in einer kohärenten und systematischen Weise erfolgen muss, dahin auszulegen, dass ein Verstoß gegen diesen Artikel vorliegt und dieses Erfordernis nicht erfüllt ist, wenn sich feststellen lässt, dass die mit der Bekämpfung der Spielsucht und dem gesetzlichen Ziel des Verbraucherschutzes begründete Neuordnung der Marktstruktur in Wirklichkeit zur Folge hat oder bewirkt, dass seit der durch den Mitgliedstaat vorgenommenen Neuordnung des Marktes die Zahl der Spielbanken, die jährlichen Steuern auf Glücksspiele in Spielbanken, die in der staatlichen Haushaltsplanung vorgesehenen Einnahmen aus Gebühren für Spielbankkonzessionen, die von Spielern erworbenen Spielmarken und die zum Erwerb des Spielrechts an Geldspielautomaten erforderlichen Geldbeträge fortlaufend zunehmen? 3. Sind Art. 56 AEUV, das Diskriminierungsverbot und das Erfordernis, dass die von einem Mitgliedstaat vorgenommene Begrenzung von Glücksspieltätigkeiten in einer kohärenten und systematischen Weise erfolgen muss, dahin auszulegen, dass ein Verstoß gegen diesen Artikel vorliegt und dieses Erfordernis nicht erfüllt ist, wenn sich feststellen lässt, dass neben die im Wesentlichen mit der Bekämpfung der Spielsucht und dem gesetzlichen Ziel des Verbraucherschutzes begründete Einführung eines staatlichen Monopols und die zugelassene Veranstaltung von Glücksspielen durch private Anbieter das wirtschaftspolitische Ziel tritt, höhere Nettoeinnahmen aus den Spielen zu erzielen und in möglichst kurzer Zeit außerordentlich hohe Erträge auf dem Spielbankenmarkt zu generieren, um andere Ausgaben aus dem Staatshaushalt und öffentliche Aufgaben zu finanzieren? 4. Sind Art. 56 AEUV, das Diskriminierungsverbot und das Erfordernis, dass die von einem Mitgliedstaat vorgenommene Begrenzung von Glücksspieltätigkeiten in einer kohärenten und systematischen Weise erfolgen muss, dahin auszulegen, dass ein Verstoß gegen diesen Artikel vorliegt und dieses Erfordernis nicht erfüllt ist sowie eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Anbietern vorliegt, wenn sich feststellen lässt, dass der Mitgliedstaat – unter Berufung auf ein und denselben Grund der öffentlichen Ordnung – einige Online-Glücksspielangebote dem staatlichen Monopol vorbehält, während er den Zugang zu anderen Glücksspielangeboten ermöglicht, indem er eine steigende Zahl von Konzessionen vergibt? 5. Sind Art. 56 AEUV und das Diskriminierungsverbot dahin auszulegen, dass es mit ihnen unvereinbar ist, wenn ausschließlich Anbieter, die über eine Präsenzspielbank (mit Konzession) in Ungarn verfügen, eine Genehmigung für Online-Casinospiele erhalten können, weshalb Anbieter, die nicht über eine Präsenzspielbank in Ungarn verfügen (einschließlich solcher Anbieter, die in einem anderen Mitgliedstaat über eine Präsenzspielbank verfügen), von Genehmigungen für Online-Casinospiele ausgeschlossen sind? 6. Sind Art. 56 AEUV und das Diskriminierungsverbot dahin auszulegen, dass es zu ihnen im Widerspruch steht, wenn der Mitgliedstaat durch eine eventuelle Ausschreibung von Konzessionen für Präsenzspielbanken bzw. dadurch, dass er es zuverlässigen Glücksspielveranstaltern erlaubt, sich um eine Konzession für eine Präsenzspielbank zu bewerben, zwar die grundsätzliche Möglichkeit gewährleistet, dass jeder Anbieter, der die gesetzlichen Vorgaben erfüllt – auch solche, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind – eine Konzession für eine Präsenzspielbank und, wenn er eine solche besitzt, die Genehmigung für eine Online-Spielbank erhalten kann, der fragliche Mitgliedstaat aber keine öffentliche und transparente Ausschreibung der Vergabe von Konzessionen durchführt und der Anbieter in der Praxis auch nicht die Möglichkeit hat, eine Bewerbung abzugeben und die Behörden des Mitgliedstaats demgegenüber feststellen, dass der Anbieter widerrechtlich gehandelt habe, als er ohne Erlaubnis tätig geworden sei, und gegen ihn eine als verwaltungsrechtlich eingestufte Sanktion verhängen? 7. Sind Art. 56 AEUV, das Diskriminierungsverbot und das Erfordernis, dass das Genehmigungsverfahren transparent, objektiv und öffentlich sein muss, dahin auszulegen, dass es zu ihnen im Widerspruch steht, wenn der Mitgliedstaat ein System zur Ausschreibung von Konzessionen für bestimmte Glücksspielangebote schafft, aber gleichzeitig die Stelle, die über die Konzessionen entscheidet, anstatt die Konzessionen auszuschreiben, auch Konzessionsverträge mit einzelnen Personen abschließen kann, die als zuverlässige Glücksspielveranstalter eingestuft sind, statt allen Anbietern mit einer einzigen Ausschreibung zu ermöglichen, zu gleichen Bedingungen am Vergabeverfahren teilzunehmen? 8. Für den Fall, dass die siebte Frage zu verneinen ist und dass in dem betreffenden Mitgliedstaat unterschiedliche Verfahren für die Vergabe identischer Konzessionen geschaffen werden dürfen: Muss der Mitgliedstaat in Anwendung von Art. 56 AEUV unter Berücksichtigung des Erfordernisses, dass das Genehmigungsverfahren transparent, objektiv und öffentlich sein muss, und des Gleichbehandlungsgrundsatzes zur wirksamen Durchsetzung der Unionsvorschriften über die Grundfreiheiten die Gleichwertigkeit dieser Verfahren sicherstellen? 9. Hat es Einfluss auf die Antworten auf die Fragen 6 bis 8, wenn gegen die Entscheidung über die Konzessionsvergabe weder im einen noch im anderen Fall eine gerichtliche Überprüfung oder ein anderer wirksamer Rechtsbehelf gewährleistet ist? 10. Sind Art. 56 AEUV, der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit sowie die institutionelle und die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta sowie den sich daraus ergebenden Rechten auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle und auf Verteidigung dahin auszulegen, dass das mit der Sache befasste nationale Gericht bei der Prüfung der sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden unionsrechtlichen Anforderungen sowie der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgeschriebenen Begrenzung auch dann von Amts wegen eine Prüfung und eine Beweiserhebung anordnen und durchführen darf, wenn das nationale Verfahrensrecht des Mitgliedstaats ansonsten keine gesetzliche Befugnis hierzu verleiht? 11. Ist Art. 56 AEUV in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta und den sich daraus ergebenden Rechten auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle und auf Verteidigung dahin auszulegen, dass das mit der Sache befasste nationale Gericht bei der Prüfung der sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden unionsrechtlichen Anforderungen sowie der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der von dem betreffenden Mitgliedstaat vorgeschriebenen Begrenzung die Beweislast nicht den von der Begrenzung betroffenen Anbietern auferlegen darf, sondern dass es dem Mitgliedstaat obliegt – konkret der staatlichen Behörde, die die in dem Rechtsstreit angefochtene Entscheidung erlassen hat –, die Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit dem Unionsrecht sowie deren Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit darzulegen und zu beweisen, so dass in Ermangelung dessen automatisch feststeht, dass die nationale Regelung gegen das Unionsrecht verstößt? 12. Ist Art. 56 AEUV auch unter Berücksichtigung des in Art. 41 Abs. 1 der Charta verankerten Rechts auf ein faires Verfahren, des in ihrem Art. 41 Abs. 2 Buchst. a verankerten Rechts, gehört zu werden, und der in ihrem Art. 41 Abs. 2 Buchst. c verankerten Begründungspflicht sowie des in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit, aber auch der institutionellen und der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten dahin auszulegen, dass diese Vorgaben nicht erfüllt sind, wenn die mit der Sache befasste Behörde des Mitgliedstaats den Glücksspielveranstalter gemäß den Bestimmungen des nationalen Rechts weder über die Einleitung des Verfahrens zur Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion unterrichtet noch später im Verlauf des Verwaltungsverfahrens seine Stellungnahme zur Vereinbarkeit der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats mit dem Unionsrecht einholt und in einem Verfahren mit nur einer Instanz eine vom nationalem Recht als verwaltungsrechtlich eingestufte Sanktion verhängt, ohne in der Begründung ihrer Entscheidung diese Vereinbarkeit oder die sie untermauernden Beweise im Einzelnen darzulegen? 13. Sind unter Berücksichtigung von Art. 56 AEUV, von Art. 41 Abs. 1, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a und c, Art. 47 und Art. 48 der Charta sowie der sich daraus ergebenden Rechte auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle und auf Verteidigung die in den genannten Artikeln vorgesehenen Anforderungen erfüllt, wenn der Glücksspielveranstalter die Unvereinbarkeit der nationalen Regelung mit dem Unionsrecht erstmals und ausschließlich vor dem nationalen Gericht geltend machen kann? 14. Kann Art. 56 AEUV bzw. die Pflicht der Mitgliedstaaten, Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs zu rechtfertigen bzw. zu begründen, dahin ausgelegt werden, dass der Mitgliedstaat dieser Pflicht nicht genügt hat, wenn weder zum Zeitpunkt der Einführung der Beschränkung noch zum Zeitpunkt ihrer Überprüfung eine einschlägige Folgenabschätzung vorlag bzw. vorliegt, die die mit der Beschränkung verfolgten Zwecke der öffentlichen Ordnung untermauert? 15. Lässt sich unter Berücksichtigung des gesetzlichen Rahmens für die Höhe der zu verhängenden verwaltungsrechtlichen Sanktion, der Natur der mit der Sanktion belegten Tätigkeit, insbesondere der Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Tätigkeit, sowie des repressiven Zwecks der Geldbuße auf der Grundlage der Art. 47 und 48 der Charta feststellen, dass die fragliche verwaltungsrechtliche Sanktion „Strafcharakter“ hat, und wirkt sich dieser Umstand auf die Antworten auf die Fragen 11 bis 14 aus? 16. Ist Art. 56 AEUV dahin auszulegen, dass das mit der Sache befasste Gericht, falls es aufgrund der Antworten auf die vorhergehenden Fragen feststellt, dass die Regelung und ihre Anwendung rechtswidrig sind, feststellen muss, dass auch die Sanktion, die auf der nicht mit Art. 56 AEUV im Einklang stehenden nationalen Regelung beruht, gegen Unionsrecht verstößt? Zu den Vorlagefragen Zu den Fragen 1 bis 4 19 Mit seinen Fragen 1 bis 4 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einem dualen System zur Organisation des Glücksspielmarkts entgegensteht, in dessen Rahmen bestimmte Arten von Glücksspielen einem staatlichen Monopol unterliegen, während für die Veranstaltung anderer Glücksspiele ein Konzessions- und Erlaubnissystem gilt. 20 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Regelung der Glücksspiele zu den Bereichen gehört, in denen beträchtliche sittliche, religiöse und kulturelle Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen. In Ermangelung einer diesbezüglichen Harmonisierung durch die Europäische Union ist es Sache der einzelnen Mitgliedstaaten, in diesen Bereichen im Einklang mit ihrer eigenen Wertordnung zu beurteilen, welche Erfordernisse sich aus dem Schutz der betroffenen Interessen ergeben (Urteil vom 8. September 2009, Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, C‑42/07, EU:C:2009:519, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 21 Im Rahmen mit dem AEU-Vertrag vereinbarer Rechtsvorschriften obliegt sodann die Wahl der Bedingungen für die Organisation und die Kontrolle der in der Veranstaltung von und der Teilnahme an Glücks- oder Geldspielen bestehenden Tätigkeiten den nationalen Behörden im Rahmen ihres Ermessens (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2010, Carmen Media Group, C‑46/08, EU:C:2010:505, Rn. 59). 22 Der Gerichtshof hat schließlich klargestellt, dass im Bereich der Glücksspiele grundsätzlich gesondert für jede mit einer nationalen Rechtsvorschrift auferlegte Beschränkung namentlich zu prüfen ist, ob sie geeignet ist, die Verwirklichung des Ziels oder der Ziele zu gewährleisten, die von dem fraglichen Mitgliedstaat geltend gemacht werden, und ob sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels oder dieser Ziele erforderlich ist (Urteil vom 8. September 2010, Carmen Media Group, C‑46/08, EU:C:2010:505, Rn. 60). 23 Nach ständiger Rechtsprechung kann der Umstand, dass von verschiedenen Arten von Glücksspielen einige einem staatlichen Monopol und andere einer Regelung unterliegen, nach der private Veranstalter eine Erlaubnis benötigen, im Hinblick darauf, dass mit Maßnahmen, die – wie das staatliche Monopol – auf den ersten Blick als am restriktivsten und wirkungsvollsten erscheinen, legitime Ziele verfolgt werden, für sich genommen nicht dazu führen, dass diese Maßnahmen ihre Rechtfertigung verlieren. Derart divergierende rechtliche Regelungen ändern nämlich als solche nichts an der Eignung eines solchen staatlichen Monopols zur Verwirklichung des mit seiner Errichtung verfolgten Ziels, Anreize für die Bürger zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen zu vermeiden und die Spielsucht zu bekämpfen (Urteil vom 8. September 2010, Carmen Media Group, C‑46/08, EU:C:2010:505, Rn. 63). 24 Ein solches duales System zur Organisation des Glücksspielmarkts kann sich jedoch als im Widerspruch zu Art. 56 AEUV stehend erweisen, wenn festgestellt wird, dass die zuständigen Behörden in Bezug auf andere Glücksspiele als die, die dem staatlichen Monopol unterliegen, eine Politik verfolgen, die eher darauf abzielt, zur Teilnahme an diesen anderen Spielen zu ermuntern, als darauf, die Spielgelegenheiten zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen, was zur Folge hat, dass das der Errichtung dieses Monopols zugrunde liegende Ziel, Anreize zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen zu vermeiden und die Spielsucht zu bekämpfen, mit ihm nicht mehr wirksam verfolgt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2010, Carmen Media Group, C‑46/08, EU:C:2010:505, Rn. 68). 25 Im vorliegenden Fall beruft sich die ungarische Regierung zur Rechtfertigung des dualen Systems zur Regelung von Glücksspielen sowohl auf Gründe der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Sicherheit als auch auf zwingende Gründe des Verbraucherschutzes, der Suchtprävention und der Betrugsverhütung. 26 Solche Gründe können Beschränkungen von Glücksspieltätigkeiten sowohl in Gestalt der Regelung über das staatliche Monopol bei bestimmten Arten von Glücksspielen als auch in Gestalt der Regelung, wonach für die Veranstaltung von Glücksspielen eine Konzession oder Erlaubnis erforderlich ist, rechtfertigen. 27 Als Beleg für die Inkohärenz des ungarischen Systems für die Veranstaltung von Glücksspielen führt Sporting Odds allerdings an, Hauptzweck der nationalen Rechtsvorschriften sei in Wirklichkeit die Erhöhung der Haushaltseinnahmen, die aus Abgaben stammten, die auf Casinos erhoben würden, wobei sich die erwarteten Mehreinnahmen aus Gebühren für die Konzessionen der Casinos sowie aus dem Wert der von den Spielern erworbenen Jetons ergäben. Die Maßnahmen zur Liberalisierung bestimmter Arten von Glücksspielen hätten im Widerspruch zu den Zielen des Verbraucherschutzes und der Suchtprävention eine Ausweitung von Casinospielen begünstigt. 28 Insoweit vermag das Ziel, die Einnahmen der Staatskasse zu maximieren, für sich allein eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zwar nicht zu rechtfertigen, doch steht der Umstand, dass eine Beschränkung von Glücksspieltätigkeiten als Nebenfolge auch dem Haushalt des betreffenden Mitgliedstaats zugutekommt, einer Rechtfertigung dieser Beschränkung nicht entgegen, soweit damit in erster Linie wirklich Ziele verfolgt werden, die sich auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses beziehen, was zu prüfen Sache des nationalen Gerichts ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 60 und 61). 29 Was zudem die Politik der Liberalisierung bestimmter Arten von Glücksspielen betrifft, die sich im Rahmen einer Politik der kontrollierten Expansion von Glücksspieltätigkeiten bewegen kann, hat der Gerichtshof entschieden, dass eine derartige Politik sowohl mit dem Ziel, die Ausnutzung von Glücksspieltätigkeiten zu kriminellen oder betrügerischen Zwecken zu verhindern, als auch mit dem Ziel der Vermeidung von Anreizen zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen und der Bekämpfung der Spielsucht in Einklang stehen kann, indem die Verbraucher zu dem Angebot zugelassenen Anbieter gelenkt werden, bei dem davon auszugehen ist, dass es vor kriminellen Elementen geschützt und darauf ausgelegt ist, die Verbraucher besser vor übermäßigen Ausgaben und vor Spielsucht zu bewahren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 69 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Um dieses Ziel, die Spieltätigkeiten in kontrollierte Bahnen zu lenken, zu erreichen, müssen die zugelassenen Anbieter somit eine verlässliche und zugleich attraktive Alternative zu verbotenen Tätigkeiten bereitstellen, wozu u. a. der Einsatz neuer Vertriebstechniken gehören kann (Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 70 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Eine Politik der kontrollierten Expansion von Glücksspieltätigkeiten kann jedoch nur dann als kohärent angesehen werden, wenn zum einen die mit dem Spielen verbundenen kriminellen und betrügerischen Tätigkeiten und zum anderen die Spielsucht zu der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit in Ungarn ein Problem darstellen konnten und eine Ausweitung der zugelassenen und regulierten Tätigkeiten geeignet war, diesem Problem abzuhelfen (Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 71 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Rahmen der bei ihm anhängigen Rechtssache zu prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind und, gegebenenfalls, ob die in Rede stehende Politik der Expansion nicht einen Umfang hat, die sie mit den von der ungarischen Regierung angegebenen Zielen unvereinbar macht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 72 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 33 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die Fragen 1 bis 4 zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einem dualen System zur Organisation des Glücksspielmarkts, in dessen Rahmen bestimmte Arten von Glücksspielen einem staatlichen Monopol unterliegen, während für die Veranstaltung anderer Glücksspiele ein Konzessions- und Erlaubnissystem gilt, nicht grundsätzlich entgegensteht, sofern das vorlegende Gericht feststellt, dass die den freien Dienstleistungsverkehr einschränkende Regelung tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise die vom betreffenden Mitgliedstaat angegebenen Ziele verfolgt. Zur fünften Frage 34 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, nach der ausschließlich solche Glücksspielveranstalter, die aufgrund einer Konzession ein Casino im Inland betreiben, eine Erlaubnis für die Veranstaltung von Online-Glücksspielen erhalten können. 35 Für die Beantwortung dieser Frage ist zu berücksichtigen, dass der freie Dienstleistungsverkehr die Beseitigung jeder Diskriminierung gegenüber dem Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder des Umstands voraussetzt, dass er in einem anderen als dem Mitgliedstaat niedergelassen ist, in dem die Dienstleistung zu erbringen ist. Die Bedingung, wonach ein Unternehmen in dem Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, eine feste Niederlassung oder ein Tochterunternehmen gründen muss, läuft dem freien Dienstleistungsverkehr direkt zuwider, da sie die Erbringung von Dienstleistungen in diesem Mitgliedstaat durch in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen unmöglich macht (Urteil vom 21. Januar 2010, Kommission/Deutschland, C‑546/07, EU:C:2010:25, Rn. 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Der Gerichtshof hat zwar entschieden, dass Art. 56 AEUV einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der Wirtschaftsteilnehmer, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, in denen sie rechtmäßig entsprechende Dienstleistungen erbringen, im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats keine Glücksspiele über das Internet anbieten dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2009, Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, C‑42/07, EU:C:2009:519, Rn. 73); mit der nationalen Regelung, die im Rahmen der Rechtssache geprüft wurde, in der dieses Urteil ergangen ist, war aber ein Glücksspielmonopol geschaffen worden, das einer Einrichtung unter wirksamer Aufsicht des Staates Ausschließlichkeitsrechte für die Veranstaltung solcher Spiele gewährleistete. 37 Im Ausgangsverfahren beschränkt die streitige Regelung die Veranstaltung von Glücksspielen über das Internet auf Wirtschaftsteilnehmer, die ein im Inland gelegenes Casino betreiben und zu diesem Zweck über eine Konzession und eine Erlaubnis verfügen. 38 Insoweit ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung, dass ein System von Konzessionen und Erlaubnissen für die Veranstaltung von Glücksspielen auf objektiven und nicht diskriminierenden Kriterien beruhen muss, die im Voraus bekannt sind, so dass dem Ermessen der nationalen Behörden Grenzen gesetzt werden, die seine missbräuchliche Ausübung verhindern (Urteil vom 22. Juni 2017, Unibet International, C‑49/16, EU:C:2017:491, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Eine Beschränkung wie die im Ausgangsverfahren festgestellte stellt somit eine Diskriminierung dar. Sie ist nur dann mit dem Unionsrecht vereinbar, wenn sie einer ausdrücklichen Ausnahmebestimmung wie Art. 52 AEUV zugeordnet werden kann, d. h. der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Urteil vom 9. September 2010, Engelmann, C‑64/08, EU:C:2010:506, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Die ungarische Regierung beruft sich auf Gründe der öffentlichen Ordnung und Gesundheit und macht insoweit geltend, dass die staatliche Kontrolle über online durchgeführte Spiele eingeschränkt sei und die nationale Regel sicherstelle, dass Online-Glücksspiele, die größere Risiken mit sich brächten als traditionelle Glücksspiele, zuverlässigen Veranstaltern vorbehalten seien, die ein im Inland gelegenes Casino betrieben und den Erfordernissen des Verbraucherschutzes und der öffentlichen Ordnung genügten. 41 Auch wenn feststeht, dass Glücksspiele über das Internet, verglichen mit den herkömmlichen Glücksspielmärkten, wegen des fehlenden unmittelbaren Kontakts zwischen dem Verbraucher und dem Anbieter anders geartete und größere Gefahren in sich bergen, dass die Verbraucher eventuell von den Anbietern betrogen werden (Urteil vom 8. September 2009, Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International, C‑42/07, EU:C:2009:519, Rn. 70), muss die in Rede stehende Regel den sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Anforderungen hinsichtlich ihrer Verhältnismäßigkeit genügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2007, Placanica u. a., C‑338/04, C‑359/04 und C‑360/04, EU:C:2007:133, Rn. 48). 42 Speziell erfordert die Zulässigkeit einer Einschränkung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, nach der ein Online-Glücksspielveranstalter eine Konzession für ein auf ungarischem Gebiet gelegenes Casino erhalten muss, damit er Online-Glücksspiele anbieten darf, den Nachweis, dass diese Einschränkung eine unerlässliche Voraussetzung für die Erreichung des verfolgten Ziels ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 1997, Parodi, C‑222/95, EU:C:1997:345, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Es ist aber offensichtlich, dass eine Einschränkung, die darauf hinausläuft, dass Betreibern von im Inland gelegenen Casinos der Zugang zum Markt für Online-Glücksspiele vorbehalten ist, über das hinausgeht, was als verhältnismäßig angesehen werden kann, sofern weniger restriktive Maßnahmen zur Erreichung der von der ungarischen Regierung angeführten Ziele zur Verfügung stehen. 44 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, nach der ausschließlich solche Glücksspielveranstalter, die aufgrund einer Konzession ein Casino im Inland betreiben, eine Erlaubnis für die Veranstaltung von Online-Glücksspielen erhalten können, sofern diese Regelung keine unerlässliche Voraussetzung für die Erreichung der verfolgten Ziele ist und weniger restriktive Maßnahmen zu ihrer Erreichung zur Verfügung stehen. Zu den Fragen 6 bis 8 45 Mit seinen Fragen 6 bis 8 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, mit der ein System von Konzessionen und Erlaubnissen für die Veranstaltung von Online-Glücksspielen errichtet wird, wonach Wirtschaftsteilnehmer einen Vertrag über eine Casinokonzession abschließen und auf dessen Grundlage eine Erlaubnis zur Veranstaltung von Online-Glücksspielen erhalten können, indem sie sich entweder an einer vom Wirtschaftsminister durchgeführten Ausschreibung zur Vergabe eines Vertrags über eine Casinokonzession beteiligen oder beim Wirtschaftsminister eine Bewerbung zum Erhalt eines Konzessionsvertrags abgeben, wobei die letztgenannte Möglichkeit, Glücksspielbetreibern vorbehalten ist, die als „zuverlässig“ im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften eingestuft werden. 46 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil vom 22. Juni 2017, Unibet International (C‑49/16, EU:C:2017:491), bereits Fragen zu den Modalitäten der Vergabe von Konzessionen und Erlaubnissen für die Veranstaltung von Glücksspielen in Ungarn beantwortet hat. Der einzige Unterschied zwischen der sechsten Vorlagefrage und den Fragen, die der Gerichtshof bereits beantwortet hat, betrifft die Art der Konzession, die erforderlich ist, damit einem Wirtschaftsteilnehmer eine Erlaubnis zur Veranstaltung von Online-Glücksspielen erteilt werden kann. 47 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass sich die Verfahren zur Konzessionsvergabe, nämlich die vom Wirtschaftsminister durchgeführte Ausschreibung zur Vergabe eines Konzessionsvertrags und die als „zuverlässig“ eingestuften Glücksspielveranstaltern vorbehaltene Möglichkeit, beim Wirtschaftsminister eine Bewerbung zum Erhalt eines Konzessionsvertrags abzugeben, nicht geändert haben. Zudem geht aus der Vorlageentscheidung auch hervor, dass immer noch keine in die Zuständigkeit des Wirtschaftsministers fallende Ausschreibung durchgeführt worden ist und die Voraussetzung, dass ein als „zuverlässig“ eingestufter Glücksspielbetreiber zehn Jahre lang in Ungarn Glücksspiele veranstaltet haben muss, sich weiterhin in den auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren ungarischen Rechtsvorschriften findet. 48 Daher ergibt sich, ohne dass es erforderlich wäre, eine Prüfung der im Ausgangsverfahren streitigen Regelung vorzunehmen, aus Rn. 48 des Urteils vom 22. Juni 2017, Unibet International (C‑49/16, EU:C:2017:491), dass diese Regelung gegen Art. 56 AEUV verstößt. 49 Nach alledem ist auf die Fragen 6 bis 8 zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, mit der ein System von Konzessionen und Erlaubnissen für die Veranstaltung von Online-Glücksspielen errichtet wird, sofern sie Vorschriften enthält, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer diskriminieren, oder wenn sie Vorschriften vorsieht, die nicht diskriminierend sind, aber nicht transparent angewandt werden oder in einer Weise gehandhabt werden, die die Bewerbung bestimmter Bieter, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, verhindert oder erschwert. Zur neunten Frage 50 Da aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass Sporting Odds eine Konzession weder beantragt noch erhalten hat, ist die Antwort auf diese Frage, bei der es um die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen über die Vergabe von Konzessionen geht, hypothetisch. 51 Infolgedessen ist die neunte Frage unzulässig. Zur zehnten Frage 52 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, nach denen nicht von Amts wegen zu prüfen ist, ob die Maßnahmen, die den freien Dienstleistungsverkehr im Sinne von Art. 56 AEUV beschränken, verhältnismäßig sind und die Beweislast den Verfahrensparteien auferlegt ist. 53 Insoweit steht fest, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, eine Gesamtwürdigung der Umstände, unter denen eine restriktive Regelung erlassen worden ist und durchgeführt wird, auf der Grundlage der Beweise vorzunehmen, die die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats vorgelegt haben, um das Vorliegen von Zielen, mit denen sich eine Beschränkung einer vom AEU-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit rechtfertigen lässt, und deren Verhältnismäßigkeit darzutun (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juni 2017, Online Games u. a., C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 65). 54 Die nationalen Gerichte können nach den nationalen Verfahrensregeln zwar verpflichtet sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorlage solcher Beweise zu fördern, doch können diese Gerichte nicht verpflichtet sein, anstelle der zuständigen Behörden die Rechtfertigungsgründe vorzubringen, die die betreffenden Behörden vorzubringen haben. Werden solche Rechtfertigungsgründe wegen der Abwesenheit oder der Passivität dieser Behörden nicht vorgebracht, müssen die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben (Urteil vom 14. Juni 2017, Online Games u. a., C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 66). 55 Der Gerichtshof hat im Übrigen entschieden, dass das Unionsrecht einem nationalen System nicht entgegensteht, wonach ein nationales Gericht, das über die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung, die die Ausübung einer Unionsgrundfreiheit einschränkt, mit dem Unionsrecht entscheiden muss, die Umstände der bei ihm anhängigen Rechtssache von Amts wegen zu ermitteln hat, sofern dieses System nicht zur Folge hat, dass das Gericht an die Stelle der zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats zu treten hat, denen es obliegt, die Beweise vorzulegen, die erforderlich sind, damit das Gericht prüfen kann, ob die Beschränkung gerechtfertigt ist (Urteil vom 14. Juni 2017, Online Games u. a., C‑685/15, EU:C:2017:452, Rn. 67). 56 Daraus folgt, dass das Unionsrecht nicht verlangt, dass die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die Grundfreiheiten beschränkende Maßnahmen von Amts wegen geprüft werden, und stehen somit einer nationalen Regelung nicht entgegen, nach der die Beweislast den Parteien auferlegt ist. 57 Nach alledem ist auf die zehnte Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegenstehen, nach denen nicht von Amts wegen zu prüfen ist, ob die Maßnahmen, die den freien Dienstleistungsverkehr im Sinne von Art. 56 AEUV beschränken, verhältnismäßig sind und die Beweislast den Verfahrensparteien auferlegt ist. Zur elften Frage 58 Mit seiner elften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen ist, dass es dem Mitgliedstaat, der eine restriktive Regelung durchgeführt hat, obliegt, die Beweise beizubringen, um das Vorliegen von Zielen, mit denen sich eine Beschränkung einer vom AEU-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit rechtfertigen lässt, und deren Verhältnismäßigkeit darzutun, oder ob es zulässig ist, eine solche Verpflichtung der anderen Verfahrenspartei aufzuerlegen. 59 Zum einen obliegt es – wie sich aus den Rn. 52 und 53 dieses Urteils ergibt – den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, der eine restriktive Regelung durchgeführt hat, die Beweise beizubringen, um das Vorliegen von Zielen, mit denen sich eine Beschränkung einer vom AEU-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit rechtfertigen lässt, und deren Verhältnismäßigkeit darzutun. Zum anderen müssen die nationalen Gerichte, wenn diese Rechtfertigungsgründe wegen der Abwesenheit oder der Passivität dieser Behörden nicht vorgebracht werden, alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben. 60 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist Art. 56 AEUV in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen, dass es dem Mitgliedstaat, der eine restriktive Regelung durchgeführt hat, obliegt, die Beweise beizubringen, um das Vorliegen von Zielen, mit denen sich eine Beschränkung einer vom AEU-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit rechtfertigen lässt, und deren Verhältnismäßigkeit darzutun, und in Ermangelung dessen die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben. Zur vierzehnten Frage 61 Mit seiner vierzehnten Frage, die im Anschluss an die elfte Frage zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat seiner Pflicht zur Rechtfertigung einer restriktiven Maßnahme nicht genügt hat, weil er zum Zeitpunkt der Einführung dieser Maßnahme in die nationalen Rechtsvorschriften oder zum Zeitpunkt ihrer Überprüfung durch das nationale Gericht hinsichtlich der Maßnahme keine Folgenabschätzung vorgelegt hat. 62 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es dem Mitgliedstaat, der sich auf ein Ziel berufen möchte, mit dem sich eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen lässt, obliegt, dem nationalen Gericht alle Umstände darzulegen, anhand deren dieses Gericht sich vergewissern kann, dass die Maßnahme tatsächlich den sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebenden Anforderungen genügt (Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a., C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). 63 Jedoch lässt sich aus dieser Rechtsprechung nicht ableiten, dass einem Mitgliedstaat nur deshalb die Möglichkeit genommen wäre, zu belegen, dass eine innerstaatliche restriktive Maßnahme diesen Anforderungen genügt, weil er keine Untersuchungen vorlegen kann, die dem Erlass der fraglichen Regelung zugrunde lagen (Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a., C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 64 Es ist nämlich Sache des nationalen Gerichts, eine Gesamtwürdigung der Umstände vorzunehmen, unter denen eine restriktive Regelung erlassen worden ist und durchgeführt wird (Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a., C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 52), und nicht lediglich festzustellen, dass im Vorfeld keine Studie dazu durchgeführt wurde, wie sich eine Regelung auswirken wird. 65 Nach alledem ist auf die vierzehnte Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass nicht festgestellt werden kann, dass ein Mitgliedstaat seiner Pflicht zur Rechtfertigung einer restriktiven Maßnahme nicht genügt hat, weil er zum Zeitpunkt der Einführung dieser Maßnahme in die nationalen Rechtsvorschriften oder zum Zeitpunkt ihrer Überprüfung durch das nationale Gericht hinsichtlich der Maßnahme keine Folgenabschätzung vorgelegt hat. Zur sechzehnten Frage 66 Mit seiner sechzehnten Frage, die vor der zwölften, der dreizehnten und der fünfzehnten Frage zu beantworten ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Sanktion wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die wegen Verstoßes gegen nationale Rechtsvorschriften verhängt wird, mit denen ein System von Konzessionen und Erlaubnissen für die Veranstaltung von Glücksspielen errichtet wird, falls sich herausstellt, dass solche nationalen Rechtsvorschriften gegen Art. 56 AEUV verstoßen. 67 Insoweit genügt der Hinweis, dass der Verstoß eines Wirtschaftsteilnehmers gegen eine beschränkende Regelung im Glücksspielbereich nicht zu einer Sanktion führen kann, wenn diese Regelung mit Art. 56 AEUV nicht vereinbar ist (Urteil vom 22. Juni 2017, Unibet International, C‑49/16, EU:C:2017:491, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). 68 In Anbetracht dessen ist auf die sechzehnte Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Sanktion wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die wegen Verstoßes gegen nationale Rechtsvorschriften verhängt wird, mit denen ein System von Konzessionen und Erlaubnissen für die Veranstaltung von Glücksspielen errichtet wird, falls sich herausstellt, dass solche nationalen Rechtsvorschriften gegen Art. 56 AEUV verstoßen. 69 Unter Berücksichtigung der Antwort auf diese Frage brauchen die zwölfte, die dreizehnte und die fünfzehnte Frage nicht beantwortet zu werden. Kosten 70 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einem dualen System zur Organisation des Glücksspielmarkts, in dessen Rahmen bestimmte Arten von Glücksspielen einem staatlichen Monopol unterliegen, während für die Veranstaltung anderer Glücksspiele ein Konzessions- und Erlaubnissystem gilt, nicht grundsätzlich entgegensteht, sofern das vorlegende Gericht feststellt, dass die den freien Dienstleistungsverkehr einschränkende Regelung tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise die vom betreffenden Mitgliedstaat angegebenen Ziele verfolgt. 2. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, nach der ausschließlich solche Glücksspielveranstalter, die aufgrund einer Konzession ein Casino im Inland betreiben, eine Erlaubnis für die Veranstaltung von Online-Glücksspielen erhalten können, sofern diese Regelung keine unerlässliche Voraussetzung für die Erreichung der verfolgten Ziele ist und weniger restriktive Maßnahmen zu ihrer Erreichung zur Verfügung stehen. 3. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, mit der ein System von Konzessionen und Erlaubnissen für die Veranstaltung von Online-Glücksspielen errichtet wird, sofern sie Vorschriften enthält, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Wirtschaftsteilnehmer diskriminieren, oder wenn sie Vorschriften vorsieht, die nicht diskriminierend sind, aber nicht transparent angewandt werden oder in einer Weise gehandhabt werden, die die Bewerbung bestimmter Bieter, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, verhindert oder erschwert. 4. Art. 56 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegenstehen, nach denen nicht von Amts wegen zu prüfen ist, ob die Maßnahmen, die den freien Dienstleistungsverkehr im Sinne von Art. 56 AEUV beschränken, verhältnismäßig sind und die Beweislast den Verfahrensparteien auferlegt ist. 5. Art. 56 AEUV in Verbindung mit den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass es dem Mitgliedstaat, der eine restriktive Regelung durchgeführt hat, obliegt, die Beweise beizubringen, um das Vorliegen von Zielen, mit denen sich eine Beschränkung einer vom AEU-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit rechtfertigen lässt, und deren Verhältnismäßigkeit darzutun, und in Ermangelung dessen die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben. 6. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass nicht festgestellt werden kann, dass ein Mitgliedstaat seiner Pflicht zur Rechtfertigung einer restriktiven Maßnahme nicht genügt hat, weil er zum Zeitpunkt der Einführung dieser Maßnahme in die nationalen Rechtsvorschriften oder zum Zeitpunkt ihrer Überprüfung durch das nationale Gericht hinsichtlich der Maßnahme keine Folgenabschätzung vorgelegt hat. 7. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Sanktion wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die wegen Verstoßes gegen nationale Rechtsvorschriften verhängt wird, mit denen ein System von Konzessionen und Erlaubnissen für die Veranstaltung von Glücksspielen errichtet wird, falls sich herausstellt, dass solche nationalen Rechtsvorschriften gegen Art. 56 AEUV verstoßen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 13. Dezember 2017.#Soufiane El Hassani gegen Minister Spraw Zagranicznych.#Vorabentscheidungsersuchen des Naczelny Sąd Administracyjny.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 32 Abs. 3 – Visakodex der Gemeinschaft – Ablehnung eines Visumantrags – Recht des Antragstellers auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung – Verpflichtung eines Mitgliedstaats, das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf zu garantieren.#Rechtssache C-403/16.
62016CJ0403
ECLI:EU:C:2017:960
2017-12-13T00:00:00
Bobek, Gerichtshof
62016CJ0403 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 13. Dezember 2017 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 32 Abs. 3 – Visakodex der Gemeinschaft – Ablehnung eines Visumantrags – Recht des Antragstellers auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung – Verpflichtung eines Mitgliedstaats, das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf zu garantieren“ In der Rechtssache C‑403/16 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 28. Juni 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juli 2016, in dem Verfahren Soufiane El Hassani gegen Minister Spraw Zagranicznych erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter C. G. Fernlund, A. Arabadjiev, S. Rodin und E. Regan, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Mai 2017, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn El Hassani, vertreten durch J. Białas, radca prawny, – des Minister Spraw Zagranicznych, vertreten durch K. Pawłowska-Nojszewska und M. Arciszewski als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Kamejsza-Kozłowska und K. Straś als Bevollmächtigte, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte, – der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Stobiecka-Kuik und C. Cattabriga als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 2017 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 32 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. 2009, L 243, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Visakodex). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Soufiane El Hassani und dem Minister Spraw Zagranicznych (Minister für auswärtige Angelegenheiten, Polen) wegen einer Entscheidung des Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen), mit der die Klage von Herrn El Hassani gegen die Ablehnung seines Visumantrags durch einen Bescheid des Konsul Rzeczypospolitej Polskiej w Rabacie (Konsul der Republik Polen in Rabat [Marokko]) vom 27. Januar 2015 abgewiesen wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Im 29. Erwägungsgrund des Visakodex heißt es: „Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] des Europarates und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.“ 4 Art. 1 Abs. 1 des Visakodex bestimmt: „Mit dieser Verordnung werden die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festgelegt.“ 5 Art. 32 Abs. 1 und 3 des Visakodex lautet: „(1)   Unbeschadet des Artikels 25 Absatz 1 wird das Visum verweigert, … b) wenn begründete Zweifel an der Echtheit der von dem Antragsteller vorgelegten Belege oder am Wahrheitsgehalt ihres Inhalts, an der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen oder der von ihm bekundeten Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen. … (3)   Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, steht ein Rechtsmittel zu. Die Rechtsmittel sind gegen den Mitgliedstaat, der endgültig über den Visumantrag entschieden hat, und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats zu führen. Die Mitgliedstaaten informieren die Antragsteller über das im Falle der Einlegung eines Rechtsmittels zu befolgende Verfahren nach Anhang VI.“ Polnisches Recht 6 Art. 76 Abs. 1 der ustawa o cudzoziemcach (Ausländergesetz) vom 12. Dezember 2013 bestimmt: „Im Fall der Ablehnung der Erteilung des Schengen-Visums … kann, falls 1. der Konsul den Bescheid erlassen hat, die erneute Überprüfung der Angelegenheit durch diese Behörde beantragt werden; 2. der Komendant Główny Straży Granicznej [(Kommandant einer Grenzschutzstelle)] den Bescheid erlassen hat, Widerspruch beim Komendant placówki Straży Granicznej [(Hauptkommandant des Grenzschutzes)] eingelegt werden.“ 7 In Art. 5 der ustawa-Prawo o postępowaniu przed sądami administracyjnymi (Verwaltungsgerichtsordnung) vom 30. August 2002 heißt es: „Die Verwaltungsgerichte sind nicht zuständig in Verfahren: … 4. über die Erteilung von Visa durch die Konsuln; dies gilt nicht für Visa, die Ausländern erteilt werden, die im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der ustawa … o wjeździe na terytorium Rzeczypospolitej Polskiej, pobycie oraz wyjeździe z tego terytorium obywateli państw członkowskich Unii Europejskiej i członków ich rodzin [(Gesetz über die Einreise in die Republik Polen, den Aufenthalt und die Ausreise aus der Republik Polen von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihren Familienangehörigen)] vom 14. Juli 2006 [(im Folgenden: Einreisegesetz)] Familienangehörige eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union, eines Mitgliedstaats der Europäischen Freihandelsassoziation und Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum [(EWR)] oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft sind.“ 8 Art. 58 Nr. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung sieht vor: „Das Gericht weist die Klage ab, 1. wenn die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nicht gegeben ist; …“ 9 In Art. 2 des Einreisegesetzes heißt es: „Für die Zwecke dieses Gesetzes bezeichnen die Begriffe: … 3. EU-Bürger – einen Ausländer, der a) Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union ist, b) Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Freihandelsassoziation und Vertragsstaats des [EWR‑]Abkommens … ist, c) Staatsangehöriger der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist, 4. Familienangehöriger – einen Ausländer, der unabhängig davon, ob er selbst EU-Bürger ist, a) Ehegatte eines EU-Bürgers ist, b) Verwandter in gerader absteigender Linie eines EU‑Bürgers oder von dessen Ehegatten ist, soweit er nicht älter als 21 Jahre ist oder ihm von diesem EU-Bürger oder dessen Ehegatten Unterhalt gewährt wird, c) Verwandter in gerader aufsteigender Linie eines EU‑Bürgers oder von dessen Ehegatten ist, soweit ihm von diesem EU‑Bürger oder dessen Ehegatten Unterhalt gewährt wird“. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage 10 Herr El Hassani beantragte in Rabat beim Konsul der Republik Polen die Erteilung eines Schengen-Visums, um seine Ehefrau und sein Kind, die beide die polnische Staatsangehörigkeit haben, besuchen zu können. Dieser Antrag wurde vom Konsul mit Bescheid vom 5. Januar 2015 abgelehnt. 11 Wie im polnischen Verfahrensrecht vorgesehen, beantragte Herr El Hassani die Überprüfung durch denselben Konsul, der am 27. Januar 2015 die Erteilung des Visums erneut ablehnte. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass nicht sicher sei, ob Herr El Hassani beabsichtige, Polen vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des Visums wieder zu verlassen. 12 Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens Klage beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau). Er macht geltend, die Nichterteilung des Visums unter diesen Umständen stelle einen Verstoß gegen Art. 60 des Ausländergesetzes in Verbindung mit Art. 8 EMRK dar. Ferner sehe Art. 76 des Ausländergesetzes keinen Art. 13 EMRK entsprechenden Schutzstandard vor. 13 Herr El Hassani macht außerdem geltend, dass zwar seine Ehefrau und sein Kind polnische Staatsangehörige seien, dass es ihm aber nach polnischem Recht nicht erlaubt sei, bei einem Verwaltungsgericht Klage zu erheben, wenn sein Visumantrag abgelehnt werde, wohingegen ausländischen Ehegatten von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Union diese Möglichkeit offenstehe. 14 In seiner Klageerwiderung vom 30. März 2015 beantragte der Minister für Auswärtige Angelegenheiten, die Klage als unzulässig im Sinne von Art. 5 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung oder – hilfsweise – als unbegründet abzuweisen und das Verfahren einzustellen. 15 Daraufhin beantragte Herr El Hassani beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau), den Gerichtshof um Vorabentscheidung bezüglich der Auslegung von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex zu ersuchen, um festzustellen, ob diese Vorschrift auch das Recht auf gerichtliche Kontrolle der Ablehnung des Visumantrags umfasst. 16 Mit Beschluss vom 24. November 2015 wies der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau) die Klage gemäß Art. 5 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung ab, da die Verwaltungsgerichte für Klagen gegen die Nichterteilung eines Schengen-Visums durch den Konsul nicht zuständig seien. Eine Vorlage an den Gerichtshof lehnte das Gericht ab. 17 Herr El Hassani legte am 28. April 2016 Kassationsbeschwerde beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) ein und machte geltend, als Drittstaatsangehöriger, der nach dem Einreisegesetz nicht Familienangehöriger eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Union sei, habe er kein Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf vor einem nationalen Gericht. Dies verstoße gegen Art. 13 EMRK und gegen Art. 32 Abs. 3 des Visakodex in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), die einen Anspruch auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gewährleisteten. 18 Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts hängt die Möglichkeit, bei einem Verwaltungsgericht Klage gegen einen Bescheid über einen Visumantrag zu erheben, davon ab, welche Stelle den Bescheid erlassen hat und welchen Status der Kläger hat. 19 Zwar kann gegen ablehnende Bescheide nationaler Stellen über Visumanträge, wenn sie vom Hauptkommandanten des Grenzschutzes oder vom Minister für Auswärtige Angelegenheiten erlassen wurden, und gegen ablehnende Bescheide des Woiwoden (Polen) über die Verlängerung eines Visums Klage beim Verwaltungsgericht erhoben werden. Doch bei ablehnenden Bescheiden eines Konsuls über Visumanträge – auch Anträge auf Erteilung von Schengen-Visa – gilt dies nicht immer. Ein Drittstaatsangehöriger kann gegen einen solchen Bescheid nur dann bei einem Verwaltungsgericht klagen, wenn er im Sinne des Art. 2 Nr. 4 des Einreisegesetzes Familienangehöriger eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Union, eines Mitgliedstaats der Europäischen Freihandelsassoziation und Vertragsstaats des EWR-Abkommens oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist. Anderen Drittstaatsangehörigen steht gemäß Art. 76 Abs. 1 Nr. 1 des Ausländergesetzes nur ein Rechtsbehelf auf Verwaltungsebene, nämlich ein Antrag auf Überprüfung durch dieselbe Stelle, zur Verfügung. 20 Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die in Art. 5 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung festgelegte Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte für Verfahren über die Visaerteilung durch Konsuln gegen Art. 32 Abs. 3 des Visakodex in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta, der das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gewährleiste, verstoßen könne. 21 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Art. 32 Abs. 3 des Visakodex in Anbetracht des 29. Erwägungsgrundes des Visakodex und von Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat dazu verpflichtet, einen Rechtsbehelf (Rechtsmittel) bei einem Gericht zu gewährleisten? Zur Vorlagefrage 22 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 32 Abs. 3 des Visakodex im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, einen gerichtlichen Rechtsbehelf vorzusehen. 23 Nach dem Wortlaut von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex steht Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, ein „Rechtsmittel“ zu, das gegen den Mitgliedstaat, der endgültig über den Visumantrag entschieden hat, „in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats“ zu führen ist. 24 Diese Bestimmung gibt demnach Antragstellern bei einer endgültigen Ablehnung des Visumantrags ausdrücklich die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats einzulegen, der die Entscheidung erlassen hat. 25 Der Unionsgesetzgeber hat somit die Entscheidung, welche Art von Rechtsbehelf in welcher konkreten Ausgestaltung den Visumantragstellern zur Verfügung stehen soll, den Mitgliedstaaten überlassen. 26 Nach ständiger Rechtsprechung ist es mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der Rechtsbehelfe, die zum Schutz der Rechte der Bürger bestimmt sind, festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 15. März 2017, Aquino, C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 27 Daraus ergibt sich, dass zwei kumulative Voraussetzungen, nämlich die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes und des Effektivitätsgrundsatzes, erfüllt sein müssen, damit sich ein Mitgliedstaat in Situationen, die dem Unionsrecht unterliegen, auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie berufen kann (Urteil vom 15. März 2017, Aquino, C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 49). 28 Diese Erfordernisse in Bezug auf die Äquivalenz und Effektivität sind Ausdruck der allgemeinen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den gerichtlichen Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten. Sie gelten sowohl für die Bestimmung der Gerichte, die für die Entscheidung über auf dieses Recht gestützte Klagen zuständig sind, als auch für die Bestimmung der Verfahrensmodalitäten (Urteil vom 18. März 2010, Alassini u. a., C‑317/08 bis C‑320/08, EU:C:2010:146, Rn. 49). 29 Zum einen verlangt der Äquivalenzgrundsatz, dass bei der Anwendung sämtlicher für Rechtsbehelfe geltenden Vorschriften nicht danach unterschieden wird, ob ein Verstoß gegen Unionsrecht oder gegen innerstaatliches Recht gerügt wird (Urteil vom 15. März 2017, Aquino, C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Zum anderen darf nach dem Effektivitätsgrundsatz eine nationale Verfahrensvorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Frage stehende die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Urteil vom 15. März 2017, Aquino, C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Es ist Sache des für die Auslegung nationalen Rechts allein zuständigen vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob und inwieweit die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Überprüfungsregelung diesen Anforderungen entspricht. 32 Das nationale Gericht muss dabei berücksichtigen, dass die Auslegung der Bestimmungen des Visakodex nach dessen 29. Erwägungsgrund in Einklang mit den durch die Charta anerkannten Grundrechten und Grundsätzen stehen muss. 33 Nach ständiger Rechtsprechung sollen die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Regelung nicht anhand der Charta beurteilen kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald dagegen eine solche Regelung in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert (vgl. u. a. Urteil vom 26. September 2013, Texdata Software, C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34 Im vorliegenden Fall steht außer Frage, dass die Ablehnung des vom Kläger des Ausgangsverfahrens gestellten Visumantrags, die ihm mit dem Standardformular aus Anhang VI des Visakodex mitgeteilt wurde, auf einen der in Art. 32 Abs. 1 des Visakodex genannten Gründe gestützt war. 35 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass der Visakodex die Voraussetzungen der Erteilung, Annullierung und Aufhebung von Visa regelt und die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten folglich die Erteilung eines einheitlichen Visums nicht unter Berufung auf einen anderen Grund als die in diesem Kodex vorgesehenen Gründe verweigern dürfen (Urteil vom 19. Dezember 2013, Koushkaki, C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 47 und 51). 36 Zwar verfügen die nationalen Behörden bei der Prüfung von Visumanträgen in Bezug auf die Anwendungsvoraussetzungen der die im Visakodex vorgesehenen Ablehnungsgründe und die Würdigung der relevanten Tatsachen über einen weiten Beurteilungsspielraum, doch dieser Beurteilungsspielraum ändert nichts daran, dass die Behörden unmittelbar eine unionsrechtliche Vorschrift anwenden. 37 Folglich ist die Charta anwendbar, wenn ein Mitgliedstaat eine Entscheidung erlässt, mit der er nach Art. 32 Abs. 1 des Visakodex ein Visum verweigert. 38 Art. 47 der Charta, der den Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt, bestimmt in Abs. 1, dass jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Art. 47 Abs. 2 der Charta sieht vor, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verhandelt wird. Die Wahrung dieses Rechts setzt voraus, dass die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, die die Voraussetzungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht selbst erfüllt, einer späteren Kontrolle durch ein Gericht unterliegt, das insbesondere befugt sein muss, sich mit allen relevanten Fragen zu befassen (Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 55). 40 Der Begriff der Unabhängigkeit, die dem Auftrag des Richters innewohnt, bedeutet vor allem, dass die betreffende Stelle gegenüber der Behörde, die die mit einem Rechtsbehelf angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat (Urteil vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 49). 41 Folglich sind die Mitgliedstaaten entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 119 seiner Schlussanträge nach Art. 47 der Charta verpflichtet, zu gewährleisten, dass in irgendeinem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit besteht, wegen einer endgültigen Ablehnung eines Visumantrags ein Gericht anzurufen. 42 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 32 Abs. 3 des Visakodex im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, ein Rechtsbehelfsverfahren gegen die Ablehnung von Visumanträgen vorzusehen, dessen Ausgestaltung – unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Sache der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist. Bei diesem Verfahren muss in irgendeinem Stadium ein gerichtlicher Rechtsbehelf gewährleistet sein. Kosten 43 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Art. 32 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, ein Rechtsbehelfsverfahren gegen die Ablehnung von Visumanträgen vorzusehen, dessen Ausgestaltung – unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Sache der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist. Bei diesem Verfahren muss in irgendeinem Stadium ein gerichtlicher Rechtsbehelf gewährleistet sein. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
Urteil des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 19. Oktober 2017.#Hansruedi Raimund gegen Michaela Aigner.#Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges und gewerbliches Eigentum – Unionsmarke – Verordnung (EG) Nr. 207/2009 – Art. 96 Buchst. a – Verletzungsklage – Art. 99 Abs. 1 – Vermutung der Rechtsgültigkeit – Art. 100 – Widerklage auf Nichtigerklärung – Verhältnis zwischen Verletzungsklage und Widerklage auf Nichtigerklärung – Verfahrensautonomie.#Rechtssache C-425/16.
62016CJ0425
ECLI:EU:C:2017:776
2017-10-19T00:00:00
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
62016CJ0425 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer) 19. Oktober 2017 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges und gewerbliches Eigentum – Unionsmarke – Verordnung (EG) Nr. 207/2009 – Art. 96 Buchst. a – Verletzungsklage – Art. 99 Abs. 1 – Vermutung der Rechtsgültigkeit – Art. 100 – Widerklage auf Nichtigerklärung – Verhältnis zwischen Verletzungsklage und Widerklage auf Nichtigerklärung – Verfahrensautonomie“ In der Rechtssache C‑425/16 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 12. Juli 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 1. August 2016, in dem Verfahren Hansruedi Raimund gegen Michaela Aigner erlässt DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer) unter Mitwirkung des Richters E. Juhász in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos (Berichterstatter), Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Raimund, vertreten durch Rechtsanwalt C. Hadeyer, – von Frau Aigner, vertreten durch die Rechtsanwälte F. Gütlbauer, S. Sieghartsleitner und M. Pichlmair, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Juni 2017 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 99 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Unionsmarke (ABl. 2009, L 78, S. 1). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Hansruedi Raimund und Frau Michaela Aigner betreffend eine Klage wegen Verletzung einer Unionswortmarke und eine Widerklage auf Nichtigerklärung dieser Marke. Rechtlicher Rahmen 3 Im 16. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 207/2009 heißt es, dass „[d]ie Entscheidungen über die Gültigkeit und die Verletzung der [Unions]marke … sich wirksam auf das gesamte Gebiet der [Europäischen Union] erstrecken [müssen], da nur so widersprüchliche Entscheidungen der Gerichte und des [Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO)] und eine Beeinträchtigung des einheitlichen Charakters der [Unions]marke vermieden werden können“. 4 Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung bestimmt: „Die [Unions]marke ist einheitlich. Sie hat einheitliche Wirkung für die gesamte [Union]: sie kann nur für dieses gesamte Gebiet eingetragen oder übertragen werden oder Gegenstand eines Verzichts oder einer Entscheidung über den Verfall der Rechte des Inhabers oder die Nichtigkeit sein, und ihre Benutzung kann nur für die gesamte [Union] untersagt werden. Dieser Grundsatz gilt, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist.“ 5 Gemäß Art. 6 der Verordnung wird die Unionsmarke durch Eintragung erworben. 6 Art. 52 („Absolute Nichtigkeitsgründe“) Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 sieht vor: „(1)   Die [Unions]marke wird auf Antrag beim [EUIPO] oder auf Widerklage im Verletzungsverfahren für nichtig erklärt, … b) wenn der Anmelder bei der Anmeldung der Marke bösgläubig war. …“ 7 In Art. 96 Buchst. a und d der Verordnung heißt es: „Die [Unions]markengerichte sind ausschließlich zuständig a) für alle Klagen wegen Verletzung und – falls das nationale Recht dies zulässt – wegen drohender Verletzung einer [Unions]marke; … d) für die in Artikel 100 genannten Widerklagen auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit der [Unions]marke.“ 8 Art. 99 („Vermutung der Rechtsgültigkeit; Einreden“) Abs. 1 bestimmt: „Die [Unions]markengerichte haben von der Rechtsgültigkeit der [Unions]marke auszugehen, sofern diese nicht durch den Beklagten mit einer Widerklage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit angefochten wird.“ 9 In Art. 100 der Verordnung Nr. 207/2009 heißt es: „(1)   Die Widerklage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit kann nur auf die in dieser Verordnung geregelten Verfalls- oder Nichtigkeitsgründe gestützt werden. (2)   Ein [Unions]markengericht weist eine Widerklage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit ab, wenn das [EUIPO] über einen Antrag wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien bereits eine unanfechtbar gewordene Entscheidung erlassen hat. … (4)   Das [Unions]markengericht, bei dem Widerklage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit einer [Unions]marke erhoben worden ist, teilt dem [EUIPO] den Tag der Erhebung der Widerklage mit. Das [EUIPO] vermerkt diese Tatsache im Register für [Unions]marken. … (6)   Ist die Entscheidung des [Unions]markengerichts über eine Widerklage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit rechtskräftig geworden, so wird eine Ausfertigung dieser Entscheidung dem [EUIPO] zugestellt. Jede Partei kann darum ersuchen, von der Zustellung unterrichtet zu werden. Das [EUIPO] trägt nach Maßgabe der Durchführungsverordnung einen Hinweis auf die Entscheidung im Register für [Unions]marken ein. …“ 10 Art. 104 Abs. 1 und 2 der Verordnung bestimmt: „(1)   Ist vor einem [Unions]markengericht eine Klage im Sinne des Artikels 96 – mit Ausnahme einer Klage auf Feststellung der Nichtverletzung – erhoben worden, so setzt es das Verfahren, soweit keine besonderen Gründe für dessen Fortsetzung bestehen, von Amts wegen nach Anhörung der Parteien oder auf Antrag einer Partei nach Anhörung der anderen Parteien aus, wenn die Rechtsgültigkeit der [Unions]marke bereits vor einem anderen [Unions]markengericht im Wege der Widerklage angefochten worden ist oder wenn beim [EUIPO] bereits ein Antrag auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit gestellt worden ist. (2)   Ist beim [EUIPO] ein Antrag auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit gestellt worden, so setzt es das Verfahren, soweit keine besonderen Gründe für dessen Fortsetzung bestehen, von Amts wegen nach Anhörung der Parteien oder auf Antrag einer Partei nach Anhörung der anderen Parteien aus, wenn die Rechtsgültigkeit der [Unions]marke im Wege der Widerklage bereits vor einem [Unions]markengericht angefochten worden ist. Das [Unions]markengericht kann jedoch auf Antrag einer Partei des bei ihm anhängigen Verfahrens nach Anhörung der anderen Parteien das Verfahren aussetzen. In diesem Fall setzt das [EUIPO] das bei ihm anhängige Verfahren fort.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 11 Herr Raimund ist Inhaber der Unionswortmarke Baucherlwärmer und vertreibt unter dieser Marke ungefähr seit dem Jahr 2000 einen Kräuteransatz. Frau Aigner bietet ihrerseits eine Kräutermischung zum Ansetzen in hochprozentigem Alkohol zum Kauf an, die sie ebenfalls mit Baucherlwärmer kennzeichnet. 12 Herr Raimund erhob beim Handelsgericht Wien (Österreich) eine Klage wegen Verletzung der Unionsmarke – deren Inhaber er ist –, mit der er begehrt, Frau Aigner zu verpflichten, es zu unterlassen, das Zeichen „Baucherlwärmer“ für die Waren und Dienstleistungen der von der genannten Marke erfassten Klassen zu benutzen. Frau Aigner, die Beklagte des Ausgangsverfahrens, vertritt u. a. die Auffassung, dass Herr Raimund die genannte Marke sittenwidrig und bösgläubig erworben habe, und erhob daher ihrerseits bei diesem Gericht eine Widerklage auf Nichtigerklärung dieser Marke. 13 Das Handelsgericht Wien beschloss, das Verfahren über die Widerklage bis zur rechtskräftigen Erledigung des Verfahrens über die Verletzungsklage, die den Gegenstand des Ausgangsverfahrens bildet, zu unterbrechen. Da der Beschluss zur Unterbrechung des Verfahrens über die Widerklage jedoch behoben wurde, ist diese Klage nach wie vor in erster Instanz anhängig. Die Verletzungsklage wies das Handelsgericht Wien mit der Begründung zurück, Herr Raimund habe die Unionsmarke bösgläubig angemeldet. 14 Das Oberlandesgericht Wien (Österreich) bestätigte in der Berufung die erstinstanzliche Entscheidung, woraufhin Herr Raimund beim Obersten Gerichtshof (Österreich) Revision einlegte. 15 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Unionsmarke tatsächlich bösgläubig erworben habe und dass diese folglich gemäß Art. 52 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 für nichtig zu erklären sei. Jedoch hat es Zweifel hinsichtlich der von Herrn Raimund im Rahmen seiner Berufung aufgeworfenen Frage, ob die Vorinstanzen ohne rechtskräftige Entscheidung im Widerklageverfahren die Frage der Bösgläubigkeit im Verletzungsverfahren hätten prüfen dürfen. 16 In Anbetracht dessen, dass die Beklagte des Ausgangsverfahrens einen absoluten Nichtigkeitsgrund im Sinne von Art. 52 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 geltend macht, der nach Art. 99 Abs. 1 dieser Verordnung im Rahmen eines Verletzungsverfahrens nur dann wirksam erhoben werden kann, wenn der Beklagte eine auf einen solchen Nichtigkeitsgrund gestützte Widerklage erhebt, fragt der Oberste Gerichtshof, ob es genügt, eine Widerklage wegen bösgläubigen Markenrechtserwerbs zu erheben, damit die Verletzungsklage noch vor der Entscheidung über diese Widerklage abgewiesen werden kann (erste Möglichkeit), oder ob die Verletzungsklage nur dann aus diesem Grund abgewiesen werden kann, wenn die betreffende Marke zumindest zugleich aufgrund der Widerklage für nichtig erklärt wird (zweite Möglichkeit), oder ob der Einwand des bösgläubigen Markenrechtserwerbs im Verletzungsverfahren überhaupt erst dann Erfolg haben kann, wenn die Marke aufgrund der Widerklage zuvor rechtskräftig für nichtig erklärt wurde (dritte Möglichkeit). 17 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass im vorliegenden Fall der Erfolg oder die Abweisung der Verletzungsklage allein vom Einwand der Nichtigkeit abhänge. Es schlägt dem Gerichtshof vor, sich für die zweite Möglichkeit zu entscheiden, da sich aus Art. 99 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 ergebe, dass eine Verletzungsklage nur dann wegen des Vorliegens eines Nichtigkeitsgrundes abgewiesen werden dürfe, wenn zumindest zugleich der Widerklage aus diesem Grund stattgegeben werde. Seiner Ansicht nach sollte das bloße Erheben einer Widerklage nicht ausreichen, aber auch ein Warten auf die Rechtskraft der Entscheidung über die Widerklage sollte nicht erforderlich sein. Eine etwaige Verpflichtung, bis zur Rechtskraft der Entscheidung über die Widerklage zuzuwarten, sollte wie die mögliche Verbindung von Verletzungs- und Widerklageverfahren und die Gestaltung des Rechtsmittelverfahrens ausschließlich nach nationalem Verfahrensrecht beurteilt werden. 18 Außerdem könne mit der von ihm vorgeschlagenen zweiten Möglichkeit sichergestellt werden, dass der Einwand der Nichtigkeit oder des Verfalls im Verletzungsverfahren inter partes nur Erfolg habe, wenn die Marke aus demselben Grund im Widerklageverfahren mit Wirkung erga omnes für nichtig oder verfallen erklärt werde. Insbesondere müsse der in erster Instanz unterlegene Kläger des Verletzungsverfahrens sowohl die Entscheidung über die Verletzungsklage als auch jene über die Widerklage anfechten, um im Rechtsmittelverfahren Erfolg zu haben. Bekämpfe er nur die Entscheidung über die Verletzungsklage, müsste sein Rechtsmittel scheitern, weil dann die rechtskräftige Entscheidung über die Widerklage einem Erfolg der Verletzungsklage von vornherein entgegenstünde. 19 Allerdings gesteht der Oberste Gerichtshof zu, dass der Wortlaut oder der Zweck von Art. 99 der Verordnung Nr. 207/2009 auch zu einer anderen Auslegung als der von ihm vorgeschlagenen führen könnte. 20 Unter diesen Umständen hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Darf eine Klage wegen Verletzung einer Unionsmarke (Art. 96 lit. a der Verordnung Nr. 207/2009) aufgrund des Einwands der böswilligen Markenrechtsanmeldung (Art. 52 Abs. 1 lit. b der Verordnung Nr. 207/2009) abgewiesen werden, wenn der Beklagte zwar eine damit begründete Widerklage auf Nichtigerklärung der Unionsmarke erhoben (Art. 99 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009), das Gericht über diese Widerklage aber noch nicht entschieden hat? 2. Wenn nein: Darf das Gericht die Verletzungsklage aufgrund des Einwands der böswilligen Markenrechtsanmeldung abweisen, wenn es zumindest zugleich der Widerklage auf Nichtigerklärung stattgibt, oder hat es mit der Entscheidung über die Verletzungsklage jedenfalls bis zur Rechtskraft der Entscheidung über die Widerklage zuzuwarten? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 21 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 99 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 dahin auszulegen ist, dass eine bei einem Unionsmarkengericht nach Art. 96 Buchst. a dieser Verordnung erhobene Verletzungsklage wegen eines absoluten Nichtigkeitsgrundes wie des in Art. 52 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung vorgesehenen abgewiesen werden darf, ohne dass dieses Gericht der vom Beklagten des Verletzungsverfahrens gemäß Art. 100 Abs. 1 der Verordnung erhobenen und auf denselben Nichtigkeitsgrund gestützten Widerklage auf Nichtigerklärung stattgegeben hat. 22 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (Urteile vom 19. September 2000, Deutschland/Kommission, C‑156/98, EU:C:2000:467, Rn. 50, vom 25. Oktober 2011, eDate Advertising u. a., C‑509/09 und C‑161/10, EU:C:2011:685, Rn. 54, und vom 26. Juli 2017, Jafari, C‑646/16, EU:C:2017:586, Rn. 73). 23 Was den Wortlaut von Art. 99 („Vermutung der Rechtsgültigkeit; Einreden“) der Verordnung Nr. 207/2009 anbelangt, der in Abschnitt 2 („Streitigkeiten über die Verletzung und Rechtsgültigkeit der Unionsmarken“) von Titel X dieser Verordnung enthalten ist, bestimmt diese Vorschrift in Abs. 1, dass die Unionsmarkengerichte von der Rechtsgültigkeit der Unionsmarke auszugehen haben, sofern diese nicht durch den Beklagten mit einer Widerklage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit angefochten wird. 24 Aus dieser Vorschrift geht somit zwar hervor, dass für die Unionsmarke eine Vermutung der Rechtsgültigkeit streitet, die im Rahmen eines Verletzungsverfahrens durch eine Widerklage auf Nichtigerklärung widerlegt werden kann, jedoch ist festzustellen, dass anhand des bloßen Wortlauts dieser Vorschrift nicht bestimmt werden kann, ob das Unionsmarkengericht in dem Fall, in dem der Beklagte des Verletzungsverfahrens gegen die Verletzungsklage einen Grund für die Nichtigkeit der Marke einwendet und darüber hinaus eine auf denselben Nichtigkeitsgrund gestützte Widerklage auf Nichtigerklärung erhebt, der Widerklage stattgeben muss, bevor es die Verletzungsklage abweisen kann. 25 Hinsichtlich des Kontexts, in dem Art. 99 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 steht, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 104 Abs. 1 dieser Verordnung verlangt, dass das Unionsmarkengericht, bei dem eine Klage nach Art. 96 der Verordnung erhoben worden ist, das Verfahren, soweit keine besonderen Gründe für dessen Fortsetzung bestehen, aussetzt, wenn die Rechtsgültigkeit der Unionsmarke bereits vor einem anderen Unionsmarkengericht angefochten worden ist oder wenn beim EUIPO bereits ein Antrag auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit gestellt worden ist. 26 Demnach hätte eine Auslegung von Art. 99 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009, wonach die Erhebung einer Widerklage auf Nichtigerklärung bei einem Unionsmarkengericht dafür genügen soll, dass dieses Gericht noch vor der Entscheidung über diese Widerklage über die gemäß Art. 96 Buchst. a dieser Verordnung erhobene Verletzungsklage entscheiden kann, indem es sich auf denselben Nichtigkeitsgrund wie den mit der Widerklage geltend gemachten stützt, zur sinnwidrigen Folge, dass die Bestimmungen der Verordnung über die Konnexität von bei unterschiedlichen Unionsmarkengerichten anhängigen Verfahren strenger wären als diejenigen über die Konnexität von Verfahren, die bei ein und demselben Unionsmarkengericht anhängig sind. 27 Hinsichtlich des mit der Verordnung Nr. 207/2009 verfolgten Ziels ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung der Grundsatz der Einheitlichkeit der Unionsmarke verankert ist. Da sie einheitliche Wirkung für die gesamte Union hat, kann die Marke nach dieser Bestimmung nur für dieses gesamte Gebiet eingetragen oder übertragen werden oder Gegenstand eines Verzichts oder einer Entscheidung über den Verfall der Rechte des Inhabers oder die Nichtigkeit sein, und ihre Benutzung kann nur für die gesamte Union untersagt werden. 28 Insoweit sieht der 16. Erwägungsgrund vor, dass die Entscheidungen über die Gültigkeit der Unionsmarke sich wirksam auf das gesamte Gebiet der Union erstrecken müssen, da nur so widersprüchliche Entscheidungen der Gerichte und des EUIPO und eine Beeinträchtigung der Einheitlichkeit der Unionsmarke vermieden werden können. 29 Aus dem mit der Verordnung Nr. 207/2009 verfolgten Ziel ergibt sich somit, dass zur Gewährleistung der Einheitlichkeit der Unionsmarke die Entscheidung eines Unionsmarkengerichts, mit der im Rahmen einer gemäß Art. 100 Abs. 1 dieser Verordnung erhobenen Widerklage auf Nichtigerklärung eine Unionsmarke für nichtig erklärt wird, zwingend in der gesamten Union Wirkung erga omnes hat. 30 Die Wirkung erga omnes einer solchen Entscheidung wird im Übrigen sowohl durch Art. 100 Abs. 6 der Verordnung Nr. 207/2009 bestätigt, wonach ein Unionsmarkengericht dem EUIPO eine Ausfertigung der rechtskräftigen Entscheidung über eine Widerklage auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit einer Unionsmarke zuzustellen hat, als auch durch die im Zusammenhang stehende Verfahren betreffenden Bestimmungen des Art. 104 dieser Verordnung, auf die in Rn. 25 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist. 31 Umgekehrt kommt, wie der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Entscheidung, die ein solches Gericht über eine Verletzungsklage erlässt, nur Wirkung inter partes zu, so dass diese Entscheidung, nachdem sie rechtskräftig geworden ist, nur die an dem entsprechenden Verfahren beteiligten Parteien bindet. 32 Dies ist der Fall, wenn wie im Ausgangsverfahren das Unionsmarkengericht die Verletzungsklage wegen eines absoluten Nichtigkeitsgrundes wie der böswilligen Markenrechtsanmeldung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 207/2009 abweist, ohne zuvor über die Widerklage auf Nichtigerklärung zu entscheiden, die der Beklagte des Verletzungsverfahrens erhoben hat. 33 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass in Anbetracht der Einheitlichkeit der Unionsmarke und des Zwecks, widersprüchliche Entscheidungen in diesem Bereich zu vermeiden, die auf einen solchen absoluten Nichtigkeitsgrund gestützte Nichtigerklärung einer Unionsmarke für die gesamte Union und nicht nur für die Parteien der Verletzungsklage gelten muss. Dieses Erfordernis impliziert, dass das betreffende Unionsmarkengericht über die Widerklage auf Nichtigerklärung entscheidet, bevor es über die Verletzungsklage entscheidet. 34 Das Unionsmarkengericht muss somit der Widerklage auf Nichtigerklärung einer Unionsmarke, die gemäß Art. 100 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 im Rahmen eines Verfahrens wegen Verletzung dieser Marke nach Art. 96 Buchst. a dieser Verordnung erhoben wird, stattgeben, bevor es die Verletzungsklage wegen desselben Nichtigkeitsgrundes abweisen kann. 35 Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass Art. 99 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 dahin auszulegen ist, dass eine bei einem Unionsmarkengericht nach Art. 96 Buchst. a dieser Verordnung erhobene Verletzungsklage wegen eines absoluten Nichtigkeitsgrundes wie des in Art. 52 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung vorgesehenen nicht abgewiesen werden darf, ohne dass dieses Gericht der vom Beklagten des Verletzungsverfahrens gemäß Art. 100 Abs. 1 der Verordnung erhobenen und auf denselben Nichtigkeitsgrund gestützten Widerklage auf Nichtigerklärung stattgegeben hat. Zur zweiten Frage 36 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 207/2009 dahin auszulegen ist, dass das Unionsmarkengericht die Verletzungsklage nach Art. 96 Buchst. a dieser Verordnung wegen eines absoluten Nichtigkeitsgrundes wie des in Art. 52 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung vorgesehenen abweisen darf, obwohl die Entscheidung über die gemäß Art. 100 Abs. 1 der Verordnung erhobene und auf denselben Nichtigkeitsgrund gestützte Widerklage auf Nichtigerklärung nicht rechtskräftig ist. 37 Aus der Antwort auf die erste Frage ergibt sich, dass Art. 99 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 dem Unionsmarkengericht zur Gewährleistung der Einheitlichkeit der Unionsmarke und zur Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen die Pflicht auferlegt, der nach Art. 100 Abs. 1 dieser Verordnung erhobenen Widerklage stattzugeben, bevor es die Verletzungsklage nach Art. 96 Buchst. a der Verordnung abweisen kann. 38 Wie der Generalanwalt in Nr. 80 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, enthält die Verordnung Nr. 207/2009 jedoch weder eine Regelung, die verlangen würde, dass die Entscheidung, mit der der Widerklage auf Nichtigerklärung stattgegeben wurde, rechtskräftig sein muss, damit das Unionsmarkengericht die Verletzungsklage abweisen kann, noch eine Regelung, die es diesem Gericht untersagen würde, abzuwarten, bis die Entscheidung, mit der der Widerklage auf Nichtigerklärung stattgegeben wurde, rechtskräftig geworden ist, um die Verletzungsklage abzuweisen. 39 Diese Verordnung enthält nämlich keine Bestimmung, die die für das Unionsmarkengericht bestehende Möglichkeit, die Markenverletzungsklage wegen eines Nichtigkeitsgrundes abzuweisen, von der Voraussetzung abhängig machen würde, dass die Entscheidung, mit der es wegen desselben Nichtigkeitsgrundes der Widerklage auf Nichtigerklärung dieser Marke stattgegeben hat, rechtskräftig geworden ist, während ein solches Erfordernis für andere Fälle in Art. 100 der Verordnung Nr. 207/2009 vorgesehen ist. 40 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es in Ermangelung einer einschlägigen Unionsregelung nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache des innerstaatlichen Rechts jedes einzelnen Mitgliedstaats ist, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei die Mitgliedstaaten allerdings für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 47, und vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 35). 41 Nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5, vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck, C‑312/93, EU:C:1995:437, Rn. 12, und vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 36). 42 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gelten die sich aus den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität ergebenden Anforderungen u. a. für die Bestimmung der für auf das Unionsrecht gestützte Klagen geltenden Verfahrensmodalitäten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass nach österreichischem Recht gemäß der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs eine Verletzungsklage nur dann wegen eines Grundes für die Nichtigkeit der Unionsmarke abgewiesen werden kann, wenn diese zumindest zugleich aufgrund einer Widerklage für nichtig erklärt wird. Nach Ansicht dieses Gerichts gewährleistet dieses Erfordernis, dass der Einwand der Nichtigkeit im Rahmen der Verletzungsklage, die lediglich Wirkung inter partes habe, nur Erfolg habe, wenn die Unionsmarke aus demselben Grund im Widerklageverfahren mit Wirkung erga omnes für nichtig erklärt werde. 44 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 86 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dann, wenn wie im Ausgangsverfahren dasselbe Gericht zugleich über eine Klage wegen Verletzung einer Marke und über eine Widerklage auf Nichtigerklärung dieser Marke zu entscheiden hat, die Kohärenz mit der Entscheidung, die dieses Gericht im Rahmen des Widerklageverfahrens erlässt, dieses Gericht daran hindern wird, im Rahmen des Verletzungsverfahrens eine widersprüchliche Entscheidung zu erlassen. 45 Das Unionsmarkengericht ist zwar verpflichtet, den Ausgang des Verfahrens über die Widerklage auf Nichtigerklärung abzuwarten, um über die Verletzungsklage zu entscheiden. Jedoch würde, wie das vorlegende Gericht zu Recht ausführt, die Verknüpfung des Ausgangs des Verletzungsverfahrens mit dem Verhalten der Parteien hinsichtlich Rechtsmittel gegen die Entscheidung, mit der der Widerklage auf Nichtigerklärung stattgegeben wurde, dieses Verfahren aller Wahrscheinlichkeit nach erheblich verzögern. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, da sich in beiden Verfahren dieselben Parteien gegenüberstehen, sie, wie der Generalanwalt in Nr. 89 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, über dieselben Verteidigungsmittel verfügen und die Konsequenzen ihrer Handlungen tragen müssen. Der mögliche Fall, dass eine der Parteien versucht, mit anschließenden Rechtsmitteln den Eintritt der Rechtskraft der erstinstanzlichen Entscheidungen zu verzögern, kann somit nicht mehr Gewicht haben als die Verpflichtung des Gerichts, den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden. 46 Somit erscheint der Umstand, dass das Unionsmarkengericht die Widerklage auf Nichtigerklärung nach Art. 100 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 und die nach Art. 96 Buchst. a dieser Verordnung erhobene Verletzungsklage zusammen behandeln muss, als geeignet, die Wahrung des Grundsatzes der Effektivität zu gewährleisten. 47 Hinsichtlich des Äquivalenzgrundsatzes ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im vorliegenden Fall über keinen Anhaltspunkt verfügt, der zu Zweifeln an der Vereinbarkeit einer Rechtsprechungspraxis wie der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechungspraxis des Obersten Gerichtshofs mit diesem Grundsatz Anlass gäbe, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist. 48 Unter diesen Umständen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 207/2009 dahin auszulegen ist, dass sie es nicht verbietet, dass das Unionsmarkengericht die Verletzungsklage nach Art. 96 Buchst. a dieser Verordnung wegen eines absoluten Nichtigkeitsgrundes wie des in Art. 52 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung vorgesehenen abweisen darf, obwohl die Entscheidung über die gemäß Art. 100 Abs. 1 der Verordnung erhobene und auf denselben Nichtigkeitsgrund gestützte Widerklage auf Nichtigerklärung nicht rechtskräftig ist. Kosten 49 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 99 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Unionsmarke ist dahin auszulegen, dass eine bei einem Unionsmarkengericht nach Art. 96 Buchst. a dieser Verordnung erhobene Verletzungsklage wegen eines absoluten Nichtigkeitsgrundes wie des in Art. 52 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung vorgesehenen nicht abgewiesen werden darf, ohne dass dieses Gericht der vom Beklagten des Verletzungsverfahrens gemäß Art. 100 Abs. 1 der Verordnung erhobenen und auf denselben Nichtigkeitsgrund gestützten Widerklage auf Nichtigerklärung stattgegeben hat. 2. Die Verordnung Nr. 207/2009 ist dahin auszulegen, dass sie es nicht verbietet, dass das Unionsmarkengericht die Verletzungsklage nach Art. 96 Buchst. a dieser Verordnung wegen eines absoluten Nichtigkeitsgrundes wie des in Art. 52 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung vorgesehenen abweisen darf, obwohl die Entscheidung über die gemäß Art. 100 Abs. 1 der Verordnung erhobene und auf denselben Nichtigkeitsgrund gestützte Widerklage auf Nichtigerklärung nicht rechtskräftig ist. Juhász Jürimäe Lycourgos Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. Oktober 2017. Der Kanzler A. Calot Escobar Für den Präsidenten der Neunten Kammer E. Juhász (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 14. September 2017.#K. gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie.#Vorabentscheidungsersuchen der Rechtbank Den Haag zittingsplaats Haarlem.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 9 – Berechtigung zum Verbleib in einem Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b – Haft – Überprüfung der Identität oder Staatsangehörigkeit – Sicherung der Beweise, auf die sich der Antrag auf internationalen Schutz stützt – Gültigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 6 und 52 – Beschränkung – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-18/16.
62016CJ0018
ECLI:EU:C:2017:680
2017-09-14T00:00:00
Gerichtshof, Sharpston
62016CJ0018 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 14. September 2017 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 9 – Berechtigung zum Verbleib in einem Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b – Haft – Überprüfung der Identität oder Staatsangehörigkeit – Sicherung der Beweise, auf die sich der Antrag auf internationalen Schutz stützt – Gültigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 6 und 52 – Beschränkung – Verhältnismäßigkeit“ In der Rechtssache C‑18/16 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande) mit Entscheidung vom 13. Januar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Januar 2016, in dem Verfahren K. gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), der Richter E. Juhász und C. Vajda, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters C. Lycourgos, Generalanwältin: E. Sharpston, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. Noort als Bevollmächtigte, – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte, – der estnischen Regierung, vertreten durch K. Kraavi-Käerdi als Bevollmächtigte, – von Irland, vertreten durch E. Creedon, L. Williams und A. Joyce als Bevollmächtigte, – des Europäischen Parlaments, vertreten durch T. Lukácsi und R. van de Westelaken als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Chavrier F. Naert und K. Pleśniak als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, H. Krämer und G. Wils als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 4. Mai 2017 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn K. und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) wegen der Inhaftnahme von Herrn K. Rechtlicher Rahmen EMRK 3 Art. 5 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt in Abs. 1: „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden: … f) rechtmäßige Festnahme oder rechtmäßige Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.“ Unionsrecht Charta 4 Art. 6 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“ 5 In Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) der Charta heißt es: „(1)   Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. … (3)   Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt. … (7)   Die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, sind von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.“ Richtlinie 2011/95/EU 6 In Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) heißt es: „(1)   Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen. (2)   Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen zu diesen Angaben. …“ Richtlinie 2013/32/EU 7 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) bestimmt: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … c) ‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine bestandskräftige Entscheidung ergangen ist; … p) ‚Verbleib im Mitgliedstaat‘ den Verbleib im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder geprüft wird; …“ 8 Art. 9 („Berechtigung zum Verbleib im Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor: „Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat. Aus dieser Berechtigung zum Verbleib ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.“ 9 Art. 13 („Verpflichtungen der Antragsteller“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten verpflichten die Antragsteller, mit den zuständigen Behörden zur Feststellung ihrer Identität und anderer in Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 2011/95/EU genannter Angaben zusammenzuarbeiten. …“ Richtlinie 2013/33 10 In den Erwägungsgründen 2, 12, 15, 17, 20 und 35 der Richtlinie 2013/33 heißt es: „(2) Eine gemeinsame Asylpolitik einschließlich eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist wesentlicher Bestandteil des Ziels der Europäischen Union, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen. … … (12) Einheitliche Bedingungen für die Aufnahme von Antragstellern sollten dazu beitragen, die auf unterschiedliche Aufnahmevorschriften zurückzuführende Sekundärmigration von Antragstellern einzudämmen. … (15) Die Inhaftnahme von Antragstellern sollte im Einklang mit dem Grundsatz erfolgen, wonach eine Person nicht allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil sie um internationalen Schutz nachsucht, insbesondere sollte die Inhaftnahme im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und unter Beachtung von Artikel 31 des [am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), ergänzt durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967] erfolgen. Antragsteller dürfen nur in den in der Richtlinie eindeutig definierten Ausnahmefällen und im Einklang mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Art und Weise und den Zweck der Inhaftnahme in Haft genommen werden. Befindet sich ein Antragsteller in Haft, sollte er effektiven Zugang zu den erforderlichen Verfahrensgarantien haben und beispielsweise zur Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einer nationalen Justizbehörde berechtigt sein. … (17) Die in dieser Richtlinie aufgeführten Gründe für die Haft lassen andere Haftgründe – einschließlich der Haftgründe im Rahmen eines Strafverfahrens – unberührt, die nach dem einzelstaatlichen Recht unabhängig vom Antrag eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen auf internationalen Schutz anwendbar sind. … (20) Die Inhaftnahme eines Antragstellers sollte lediglich als letztes Mittel eingesetzt werden und darf erst zur Anwendung kommen, nachdem alle Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen sorgfältig darauf geprüft worden sind, ob sie besser geeignet sind, die körperliche und geistige Unversehrtheit des Antragstellers sicherzustellen. Alle Alternativen zur Haft müssen mit den grundlegenden Menschenrechten der Antragsteller in Einklang stehen. … (35) Diese Richtlinie steht in Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der [Charta] anerkannt wurden. Sie zielt vor allem darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Artikel 1, 4, 6, 7, 18, 21, 24 und 47 der Charta zu fördern, und muss entsprechend umgesetzt werden.“ 11 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2013/33 heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck: … b) ‚Antragsteller‘, einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde; … h) ‚Haft‘ die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat; …“ 12 In Art. 8 („Haft“) der Richtlinie heißt es: „(1)   Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Antragsteller im Sinne der Richtlinie [2013/32] ist. (2)   In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. (3)   Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden, a) um seine Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen; b) um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht; … e) wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist, … Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht geregelt. (4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten wie zum Beispiel Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten.“ 13 In Art. 9 („Garantien für in Haft befindliche Antragsteller“) der Richtlinie 2013/33 heißt es: „(1)   Ein Antragsteller wird für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind. Die Verwaltungsverfahren in Bezug auf die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe für die Inhaftnahme werden mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt. Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren, die nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind, rechtfertigen keine Fortdauer der Haft. (2)   Die Haft der Antragsteller wird von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben. (3)   Wird die Haft von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so sorgen die Mitgliedstaaten von Amts wegen und/oder auf Antrag des Antragstellers für eine zügige gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme. Findet eine derartige Überprüfung von Amts wegen statt, so wird so schnell wie möglich nach Beginn der Haft entschieden. Findet die Überprüfung auf Antrag des Antragstellers statt, so wird über sie so schnell wie möglich nach Einleitung des diesbezüglichen Verfahrens entschieden. Zu diesem Zweck legen die Mitgliedstaaten in ihrem einzelstaatlichen Recht die Frist fest, in der die gerichtliche Überprüfung von Amts wegen und/oder die gerichtliche Überprüfung auf Antrag des Antragstellers durchzuführen ist. Falls sich die Haft infolge der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig herausstellt, wird der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen. (4)   In Haft befindliche Antragsteller werden unverzüglich schriftlich und in einer Sprache, die sie verstehen, oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit informiert, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen. (5)   Die Haft wird in angemessenen Zeitabständen von Amts wegen und/oder auf Antrag des betroffenen Antragstellers von einer Justizbehörde überprüft, insbesondere wenn sie von längerer Dauer ist oder sich maßgebliche Umstände ergeben oder neue Informationen vorliegen, die sich auf die Rechtmäßigkeit der Haft auswirken könnten. …“ Niederländisches Recht 14 Art. 8 der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz von 2000, im Folgenden: Ausländergesetz) bestimmt: „Ein Ausländer hält sich nur dann rechtmäßig in den Niederlanden auf, … f) wenn in Erwartung der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung [einer befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen Asyls] die Abschiebung des Antragstellers nach diesem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes oder einer gerichtlichen Entscheidung unterbleiben muss, bis über den Antrag entschieden wurde. h) wenn in Erwartung der Entscheidung über einen Widerspruch oder eine Klage die Abschiebung des Antragstellers nach diesem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes oder einer gerichtlichen Entscheidung unterbleiben muss, bis über den Widerspruch oder die Klage entschieden wurde. …“ 15 In Art. 28 des Ausländergesetzes heißt es: „Der Minister ist befugt, dem Antrag auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis stattzugeben. …“ 16 Art. 59b des Ausländergesetzes sieht vor: „(1)   Der Ausländer, dessen Aufenthalt aufgrund von Art. 8 Buchst. f … rechtmäßig ist, soweit dies einen Antrag auf Erteilung einer [befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen Asyls] betrifft, kann von dem Minister in Haft genommen werden, wenn a) die Inhaftnahme erforderlich ist, um die Identität oder Staatsangehörigkeit des Ausländers festzustellen; b) die Inhaftnahme erforderlich ist, um Beweise zu sichern, die für die Beurteilung eines Antrags auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis im Sinne von Art. 28 benötigt werden, insbesondere wenn die Gefahr besteht, dass er sich dem Zugriff entziehen wird; … (2)   Die Haftdauer beträgt in den Fällen von Abs. 1 Buchst. a, b oder c höchstens vier Wochen, es sei denn, dass Art. 39 des Ausländergesetzes zur Anwendung kommt. In diesem Fall beträgt die Haftdauer höchstens sechs Wochen. …“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 17 Der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein Drittstaatsangehöriger, kam am 30. November 2015 mit einem Flug aus Wien (Österreich) am Flughafen Amsterdam Schiphol (Niederlande) an. Er hatte vor, am selben Tag nach Edinburgh (Vereinigtes Königreich) weiterzufliegen. 18 Bei der Ausweiskontrolle vor dem Boarding für den Flug nach Edinburgh geriet er in Verdacht, einen falschen Pass zu benutzen, und wurde deshalb in Untersuchungshaft genommen. 19 Am 15. Dezember 2015 erklärte der Strafrichter die Verfolgung der Straftat des Klägers des Ausgangsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft für unzulässig. Durch eine Anordnung der „sofortigen Freilassung“ vom 16. Dezember 2015 wurde seine Freilassung angeordnet. 20 Am 17. Dezember 2015 stellte der Kläger des Ausgangsverfahrens einen Asylantrag. Durch Beschluss vom selben Tag wurde er gemäß dem zur Umsetzung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 erlassenen Art. 59b Abs. 1 Buchst. a und b des Ausländergesetzes inhaftiert. Der Beschluss wurde damit begründet, dass diese Maßnahme erforderlich sei, um die Identität oder Staatsangehörigkeit des Klägers festzustellen und um bei Fluchtgefahr Beweise zu sichern, die für die Beurteilung seines Antrags benötigt würden. 21 Am 17. Dezember 2015 erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens Klage gegen den Beschluss zur Anordnung seiner Inhaftierung und beantragte eine Entschädigung. 22 Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung beim vorlegenden Gericht am 28. Dezember 2015 war K. einmal zu seinem Asylantrag gehört worden, ohne dass darüber entschieden worden war. Somit war zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorlageentscheidung ihm gegenüber noch keine Rückkehrentscheidung erlassen worden. 23 K. macht im Ausgangsverfahren geltend, dass Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 gegen Art. 5 EMRK und daher gegen Art. 6 der Charta verstoße. 24 Das vorlegende Gericht verweist auf die Ähnlichkeit zwischen dem Ausgangsverfahren und der Rechtssache, in der das Urteil vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84), ergangen ist, in der es um die Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 ging. 25 Das vorlegende Gericht macht sich die Erwägungen sinngemäß zu eigen, die der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) in der Rechtssache angestellt hat, die zu jenem Urteil geführt hat, und möchte im Ausgangsverfahren wissen, ob Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 6 der Charta gültig ist. 26 Wie der Raad van State (Staatsrat) führt die Rechtbank Den Haag zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande) zum einen aus, dass nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) die in Art. 6 vorgesehenen Rechte denen entsprächen, die durch Art. 5 EMRK gewährleistet seien, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hätten. Daraus folge, dass die Einschränkungen, die legitim an diesen Rechten vorgenommen werden könnten, nicht über die Einschränkungen hinausgehen dürften, die nach dem Wortlaut des Art. 5 EMRK zulässig seien. 27 Das vorlegende Gericht verweist zum anderen auf Rn. 29 des Urteils des EGMR vom 22. September 2015, Nabil u. a./Ungarn (CE:ECHR:2015:0922JUD006211612), wonach eine auf Art. 5 Abs. 1 Buchst. f zweiter Halbsatz EMRK gestützte Freiheitsentziehung nur solange gerechtfertigt sei, wie ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange sei. Wenn ein solches Verfahren nicht mit der gebotenen Sorgfalt betrieben werde, sei die Inhaftierung nicht mehr durch Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK gerechtfertigt. Im Ausgangsverfahren sei gegenwärtig jedoch kein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange. 28 Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 6 der Charta gültig, 1. wenn ein Drittstaatsangehöriger gemäß Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b dieser Richtlinie in Haft genommen wurde und nach Art. 9 der Richtlinie 2013/32 das Recht hat, in einem Mitgliedstaat zu verbleiben, bis erstinstanzlich über seinen Asylantrag entschieden wurde, und 2. angesichts der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, wonach die Einschränkungen, die legitim an den Rechten aus Art. 6 der Charta vorgenommen werden können, nicht über die Einschränkungen hinausgehen dürfen, die im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK zulässig sind, und der vom EGMR u. a. im Urteil vom 22. September 2015, Nabil u. a./Ungarn (CE:ECHR:2015:0922JUD006211612), vorgenommenen Auslegung dieser Bestimmung, nach der die Inhaftnahme eines Asylbewerbers gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK verstößt, wenn sie nicht im Hinblick auf die Abschiebung vorgenommen wird? 29 Am 1. Februar 2016 hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es mit Urteil vom 25. Januar 2016 der Klage des Klägers des Ausgangsverfahrens gegen die damals gültige Haftmaßnahme stattgegeben und die Aufhebung der Maßnahme ab dem zweiten Datum angeordnet habe. Verfahren vor dem Gerichtshof 30 Auf Antrag des vorlegenden Gerichts hat die hierfür bestimmte Kammer die Notwendigkeit geprüft, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Am 1. Februar 2016 hat die Kammer nach Anhörung der Generalanwältin beschlossen, diesem Antrag nicht stattzugeben. Zur Vorlagefrage 31 Mit seiner Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, die Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 6 der Charta zu prüfen. 32 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die durch die EMRK anerkannten Grundrechte, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, zwar als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind und dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden, doch stellt die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44, sowie vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung). Somit ist die Prüfung der Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 allein anhand der durch die Charta garantierten Grundrechte vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 28. Juli 2016, Ministerrat, C‑543/14, EU:C:2016:605, Rn. 23). 33 Insoweit ist festzustellen, dass Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 es erlaubt, eine Person, die internationalen Schutz beantragt, in Haft zu nehmen, um ihre Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen oder um Beweise zu sichern, auf die sich ihr Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr der Person besteht. Durch die Gestattung einer solchen Maßnahme sieht diese Bestimmung eine Einschränkung der Ausübung des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit vor. 34 Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss aber jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und ihren Wesensgehalt achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte und Freiheiten nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 35 Hierzu ist festzustellen, dass die sich aus Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 ergebende Einschränkung der Ausübung des Rechts auf Freiheit von einem Rechtsetzungsakt der Union vorgesehen ist und den Wesensgehalt des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit nicht berührt. Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie stellt nämlich die Gewährleistung dieses Rechts nicht in Frage und verleiht, wie aus seinem Wortlaut und aus dem 15. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, den Mitgliedstaaten nur aufgrund eines individuellen Verhaltens eines Antragstellers und in den von dieser Bestimmung erfassten Ausnahmefällen, für die überdies alle in den Art. 8 und 9 der Richtlinie enthaltenen Voraussetzungen gelten, die Befugnis, ihn in Haft zu nehmen (vgl. entsprechend Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 51 und 52). 36 Wie die Generalanwältin in den Nrn. 56 und 58 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich aus Art. 78 AEUV, dass das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf der Anwendung gemeinsamer Kriterien der Mitgliedstaaten beruht, ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel ist, das von der Union anerkannt wird. Dieses System trägt nach dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 zur Erreichung des Ziels der Union bei, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz nachsuchen. Eine auf die in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie genannten Gründe gestützte Maßnahme entspricht jedoch dem Ziel, das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu gewährleisten, da sich mit ihr die Personen identifizieren lassen, die internationalen Schutz beantragen, und feststellen lässt, ob sie die Voraussetzungen erfüllen, um diesen Schutz beanspruchen zu können, um – sollte dies nicht der Fall sein – zu verhindern, dass sie unerlaubt in das Unionsgebiet einreisen und sich dort unerlaubt aufhalten. 37 Zur Verhältnismäßigkeit des festgestellten Eingriffs ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei die durch sie verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. Juni 2016, Pesce u. a., C‑78/16 und C‑79/16, EU:C:2016:428, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs ist zu berücksichtigen, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, nach Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 verpflichtet sind, mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten, insbesondere zur Feststellung ihrer Identität, ihrer Staatsangehörigkeit und der Gründe für ihren Antrag, was voraussetzt, dass die geforderten Nachweise und gegebenenfalls die verlangten Erklärungen und Auskünfte vorgelegt werden. 39 Daher wird durch die Inhaftnahme eines Antragstellers zur Feststellung oder Überprüfung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit oder zur Sicherung der Beweise, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht, ermöglicht, dass der Antragsteller den nationalen Behörden weiterhin zur Verfügung steht, insbesondere um ihn anzuhören, und infolgedessen dazu beizutragen, dass etwaige Sekundärmigration von Antragstellern verhindert wird, wie es im zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 heißt und mit der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31) angestrebt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. März 2016, Mirza, C‑695/15 PPU, EU:C:2016:188, Rn. 52). Folglich ist diese Maßnahme ihrer Art nach geeignet, das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu gewährleisten, und kann somit zur Erreichung des mit Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b dieser Richtlinie verfolgten Ziels beitragen, wie es in Rn. 36 des vorliegenden Urteils bestimmt worden ist. 40 Zur Erforderlichkeit der den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung verliehenen Befugnis, einen Antragsteller in Haft zu nehmen, ist hervorzuheben, dass angesichts der Bedeutung des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit und der Schwere des in einer solchen Inhaftnahme bestehenden Eingriffs in dieses Recht die Einschränkungen seiner Ausübung auf das absolut Notwendige beschränkt bleiben müssen (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Insoweit ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut und dem Kontext als auch aus der Entstehungsgeschichte von Art. 8 der Richtlinie 2013/33, dass diese Befugnis von der Einhaltung einer ganzen Reihe von Voraussetzungen abhängig ist, mit denen der Rückgriff auf eine solche Maßnahme eng begrenzt werden soll. 42 Erstens werden in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33 die verschiedenen Gründe, aus denen eine Inhaftnahme gerechtfertigt sein kann, erschöpfend aufgezählt, und entspricht jeder von ihnen einem besonderen Bedürfnis und hat somit autonomen Charakter (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 59). Insoweit geht aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie hervor, dass ein Antragsteller nur dann einer solchen Maßnahme unterworfen werden kann, wenn er seine Identität oder Staatsangehörigkeit nicht mitgeteilt hat oder Identitätsdokumente zum Nachweis hiervon nicht übermittelt hat, obwohl er zur Zusammenarbeit verpflichtet ist. Desgleichen ergibt sich aus Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie, dass ein Antragsteller nur dann inhaftiert werden kann, wenn bestimmte Beweise, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt, „ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht“. 43 Ferner heißt es in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/33, dass die Haftgründe im einzelstaatlichen Recht geregelt werden. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, wenn die Bestimmungen einer Richtlinie ihnen einen Beurteilungsspielraum für die Festlegung der an die verschiedenen denkbaren Sachverhalte angepassten Umsetzungsmaßnahmen lassen, bei der Durchführung dieser Maßnahmen nicht nur ihr nationales Recht in einer mit der fraglichen Richtlinie konformen Weise auslegen müssen, sondern auch darauf zu achten haben, dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinie stützen, die mit den Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Zweitens hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass in den übrigen Absätzen von Art. 8 der Richtlinie 2013/33 die den Mitgliedstaaten eingeräumte Befugnis zur Inhaftnahme erheblich eingeschränkt wird. So verbietet Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie den Mitgliedstaaten, eine Person allein deshalb in Haft zu nehmen, weil sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Außerdem darf nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie eine Inhaftnahme nur in Fällen angeordnet werden, in denen dies erforderlich ist, und muss auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung erfolgen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten vor, sicherzustellen, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten, wie z. B. Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 61). 45 Des Weiteren bestimmt Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33, dass ein Antragsteller für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen wird, wie die in Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie genannten Gründe gegeben sind. Überdies sind nach Art. 9 Abs. 2 bis 5 der Richtlinie bei der Haftanordnung wichtige das Verfahren und die gerichtliche Überprüfung betreffende Garantien zu beachten. So sind nach Art. 9 Abs. 2 und 4 der Richtlinie in der Haftanordnung die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft schriftlich anzugeben, und dem Antragsteller müssen in einer Sprache, die er versteht, oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass er sie versteht, eine Reihe von Informationen übermittelt werden. Art. 9 Abs. 3 und 5 der Richtlinie regelt, welche Modalitäten die Mitgliedstaaten für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme vorsehen müssen (Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 62). 46 Drittens hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass die in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a bis c der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Haftgründe auf der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats über Maßnahmen zur Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern vom 16. April 2003 und auf den Richtlinien des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (HCR) über anzuwendende Kriterien und Standards betreffend die Haft von Asylsuchenden vom 26. Februar 1999 beruht, aus denen in ihrer im Jahr 2012 verabschiedeten Fassung hervorgeht, dass Haft zum einen nur in Ausnahmefällen und zum anderen nur als letztes Mittel verhängt werden darf, wenn festgestellt wurde, dass sie notwendig, angemessen und in Bezug auf einen legitimen Zweck verhältnismäßig ist (vgl. in diesem Sinne, Urteil vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 63). 47 Die in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Einschränkungen der Ausübung des durch Art. 6 der Charta verliehenen Rechts stehen auch nicht außer Verhältnis zu den genannten Zielen. Insoweit ist festzustellen, dass in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie das dem Gemeinwohl dienende verfolgte Ziel – das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das es ermöglicht, den Antragstellern internationalen Schutz zu gewähren, die ihn tatsächlich benötigen, und die Anträge derjenigen abzulehnen, die die Voraussetzungen nicht erfüllen – und der durch eine Inhaftierung herbeigeführte Eingriff in das Recht auf Freiheit ausgewogen gewichtet werden. 48 Das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erfordert de facto zwar, dass die zuständigen nationalen Behörden über verlässliche Informationen bezüglich der Identität oder Staatsbürgerschaft der Person, die internationalen Schutz beantragt, und bezüglich der Beweise, auf die sich ihr Antrag stützt, verfügen, doch lässt sich mit dieser Vorschrift nicht rechtfertigen, dass Haftmaßnahmen beschlossen werden, ohne dass diese nationalen Behörden zuvor im Einzelfall geprüft haben, ob die Maßnahmen im Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen. Diese Prüfung verlangt die Vergewisserung, dass jede der in den Rn. 44 bis 46 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt ist, und insbesondere, dass die Inhaftnahme in jedem konkreten Fall nur als letztes Mittel eingesetzt wird. Darüber hinaus ist darauf zu achten, dass die Inhaftierung in keinem Fall den kürzest möglichen Zeitraum überschreitet. 49 In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen hat der Unionsgesetzgeber beim Erlass von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Recht auf Freiheit des Antragstellers und den Erfordernissen hinsichtlich seiner Identifizierung bzw. der Feststellung seiner Staatsangehörigkeit oder hinsichtlich der Sicherung der Beweise, auf die sich sein Antrag stützt, gewahrt, den das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verlangt. 50 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass mit Art. 52 Abs. 3 der Charta, da die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Juli 2016, JZ, C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher ist Art. 5 Abs. 1 EMRK bei der Auslegung von Art. 6 der Charta zu berücksichtigen. Beim Erlass von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 hat der Unionsgesetzgeber aber das durch Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK gebotene Schutzniveau nicht verkannt. 51 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen zwar hervor, dass das vorlegende Gericht vor der Frage steht, wie sich der zweite Satzteil von Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK auf Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 auswirkt, doch lässt das Ersuchen nichts erkennen, woraus sich schließen ließe, dass der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens unter Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK fiele oder inwiefern sich in der vorliegenden Rechtssache die auf das Urteil des EGMR vom 22. September 2015, Nabil u. a./Ungarn (CE:ECHR:2015:0922JUD006211612), zurückgehende Rechtsprechung auf die Beurteilung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 auswirken könnte. Die in dem Ersuchen enthaltene Information, dass gegenüber dem Kläger des Ausgangsverfahrens keine Rückkehrentscheidung erlassen worden ist, scheint vielmehr auszuschließen, dass ihm gegenüber ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. f zweiter Satzteil EMRK im Gange ist. 52 In Bezug auf die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. f erster Satzteil EMRK enthaltene Garantie, dass die Freiheit nur bei rechtmäßiger Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise entzogen werden darf, wie sie vom EGMR ausgelegt wird, ist darauf hinzuweisen, dass sie nicht verhindert, dass gegenüber Drittstaatsangehörigen, die internationalen Schutz beantragt haben, erforderliche Haftmaßnahmen erlassen werden können, sofern eine solche Maßnahme rechtmäßig ist und unter Bedingungen durchgeführt wird, die dem Ziel des Schutzes des Einzelnen vor Willkür entsprechen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 29. Januar 2008, Saadi/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2008:0129JUD001322903, §§ 64 bis 74, und vom 26. November 2015, Mahamed Jama/Malta, CE:ECHR:2015:1126JUD001029013, §§ 136 bis 140). 53 Wie aus den Ausführungen im Rahmen der Prüfung der Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 52 Abs. 1 der Charta hervorgeht, genügt die zuerst genannte Bestimmung, deren Tragweite eng begrenzt ist, aber diesen Erfordernissen. 54 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Prüfung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33 nichts ergeben hat, was die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht von Art. 6 und Art. 52 Abs. 1 und 3 der Charta berühren könnte. Kosten 55 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: Die Prüfung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht von Art. 6 und Art. 52 Abs. 1 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union berühren könnte. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 5. Juli 2017.#Werner Fries gegen Lufthansa CityLine GmbH.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EU) Nr. 1178/2011 – Anhang I, FCL.065 Buchst. b – Verbot für Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein – Gültigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 15 – Berufsfreiheit – Art. 21 – Gleichbehandlung – Diskriminierung wegen des Alters – Gewerblicher Luftverkehr – Begriff.#Rechtssache C-190/16.
62016CJ0190
ECLI:EU:C:2017:513
2017-07-05T00:00:00
Bobek, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62016CJ0190 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 5. Juli 2017 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Luftverkehr — Verordnung (EU) Nr. 1178/2011 — Anhang I, FCL.065 Buchst. b — Verbot für Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein — Gültigkeit — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 15 — Berufsfreiheit — Art. 21 — Gleichbehandlung — Diskriminierung wegen des Alters — Gewerblicher Luftverkehr — Begriff“ In der Rechtssache C‑190/16 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland), mit Entscheidung vom 27. Januar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 5. April 2016, in dem Verfahren Werner Fries gegen Lufthansa CityLine GmbH erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Regan, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev und S. Rodin, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Herrn Fries, vertreten durch Rechtsanwalt M. Mensching, — der Lufthansa CityLine GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt C. Schalast, — der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato, — der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin, W. Mölls und F. Wilman als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. März 2017 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit und hilfsweise die Auslegung von FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011 der Kommission vom 3. November 2011 zur Festlegung technischer Vorschriften und von Verwaltungsverfahren in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt gemäß der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2011, L 311, S. 1). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den Herr Werner Fries gegen die Lufthansa CityLine GmbH (im Folgenden: Lufthansa), einer in Deutschland niedergelassenen Fluggesellschaft, wegen der Zahlung der auf die Monate November und Dezember des Jahres 2013 entfallenden Vergütung führt, die die Lufthansa Herrn Fries schulden soll. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht Abkommen von Chicago 3 Das am 7. Dezember 1944 in Chicago unterzeichnete Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt (im Folgenden: Abkommen von Chicago) ist von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifiziert worden; die Europäische Union ist allerdings selbst nicht Vertragspartei dieses Abkommens. Mit dem Abkommen von Chicago ist die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation (International Civil Aviation Organization, ICAO) geschaffen worden; deren Aufgabe ist nach Art. 44 dieses Abkommens, die Grundsätze und die Technik der internationalen Luftfahrt zu entwickeln sowie die Planung und Entwicklung des internationalen Luftverkehrs zu fördern. 4 In Anhang 1 („Lizenzierung von Luftfahrtpersonal“) des Abkommens von Chicago, der durch den ICAO-Rat verabschiedet wurde, sind die Richtlinien und Empfehlungen zusammengefasst, die die Erteilung von Lizenzen an die Flugbesatzung (Piloten, Flugingenieure und ‑navigatoren), an Fluglotsen, Funker der Flugfernmeldestelle, Wartungspersonal und Flugdienstberater regeln. Insbesondere erhält dieser Anhang die folgenden Bestimmungen: „2.1.10.1 Ein Vertragsstaat, der eine Pilotenlizenz vergeben hat, gestattet einem Inhaber dieser Lizenz, die Funktion eines verantwortlichen Piloten eines Flugzeugs, mit dem internationale gewerbliche Flüge durchgeführt werden, bis zum Alter von 60 Jahren wahrzunehmen, oder von 65 Jahren bei Flügen mit mehr als einem Piloten, sofern der andere Pilot weniger als 60 Jahre alt ist. 2.1.10.2 Empfehlung – Es wird empfohlen, dass ein Vertragsstaat, der Pilotenlizenzen erteilt hat, den Lizenzinhabern gestattet, die Funktion des Kopiloten eines Luftfahrzeugs, mit dem internationale gewerbliche Flüge durchgeführt werden, bis zum Alter von 65 Jahren wahrzunehmen.“ JAR-FCL 1 5 Die internationalen Regelungswerke betreffend Privat-, Berufs- und Verkehrsflugzeugführer wurden von einer internationalen Institution namens „Joint Aviation Authorities“, an der die Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist, erarbeitet. Eines dieser Regelungswerke, die Joint Aviation Requirements – Flight Crew Licensing 1 (im Folgenden: JAR-FCL 1) wurde am 15. April 2003 erlassen. Die JAR-FCL 1 wurde vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen im Bundesanzeiger Nr. 80a vom 29. April 2003 bekannt gemacht. 6 Die JAR-FCL 1.060 bestimmt: „Beschränkungen für Lizenzinhaber nach Vollendung des 60. Lebensjahres … a) 60–64 Jahre – Der Inhaber einer Lizenz darf nach Vollendung des 60. Lebensjahres nicht mehr als Pilot von Flugzeugen bei der gewerbsmäßigen Beförderung eingesetzt werden, es sei denn: (1) [E]r ist Mitglied einer Flugbesatzung, die aus mehreren Piloten besteht und (2) die anderen Piloten haben das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet. b) 65 Jahre – Der Inhaber einer Lizenz darf nach Vollendung des 65. Lebensjahres nicht mehr als Pilot von Flugzeugen bei der gewerbsmäßigen Beförderung tätig sein.“ Unionsrecht Verordnung (EG) Nr. 216/2008 7 Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Europäischen Agentur für Flugsicherheit, zur Aufhebung der Richtlinie 91/670/EWG des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1592/2002 und der Richtlinie 2004/36/EG (ABl. 2008, L 79, S. 1) bestimmt: „Hauptziel dieser Verordnung ist die Schaffung und die Aufrechterhaltung eines einheitlichen, hohen Niveaus der zivilen Flugsicherheit in Europa.“ Verordnung Nr. 1178/2011 8 Die Erwägungsgründe 1 und 11 der Verordnung Nr. 1178/2011 lauten: „(1) Ziel der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 ist die Schaffung und die Aufrechterhaltung eines einheitlichen, hohen Sicherheitsniveaus der Zivilluftfahrt in Europa. Diese Verordnung sieht die zum Erreichen dieses Ziels sowie anderer Ziele auf dem Gebiet der Sicherheit der Zivilluftfahrt notwendigen Mittel vor. … (11) Um einen reibungslosen Übergang und ein hohes einheitliches Sicherheitsniveau der Zivilluftfahrt in der Europäischen Union zu gewährleisten, sollten die Durchführungsmaßnahmen dem Stand der Technik, einschließlich bewährter Praktiken, sowie dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt im Bereich der Pilotenausbildung und der flugmedizinischen Tauglichkeit des fliegenden Personals entsprechen. Dementsprechend sollten technische Anforderungen und Verwaltungsverfahren, die von der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO) und bis 30. Juni 2009 von den Gemeinsamen Luftfahrtbehörden („Joint Aviation Authorities“, JAA) beschlossen wurden, sowie bestehende Rechtsvorschriften zu einem spezifischen einzelstaatlichen Umfeld Berücksichtigung finden.“ 9 Art. 3 („Erteilung von Pilotenlizenzen und Tauglichkeitszeugnissen“) der Verordnung Nr. 1178/2001 bestimmt: „Unbeschadet Artikel 7 haben Piloten von Luftfahrzeugen, auf die in Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben b und c und in Artikel 4 Absatz 5 der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 Bezug genommen wird, die in Anhang I und Anhang IV der vorliegenden Verordnung festgelegten technischen Anforderungen und Verwaltungsverfahren zu erfüllen.“ 10 In FCL.010 („Begriffsbestimmungen“) in Anhang I der Verordnung Nr. 1178/2011 heißt es: „Für die Zwecke dieses Teils gelten die folgenden Begriffsbestimmungen: … ‚Gewerblicher Luftverkehr‘ bezeichnet die entgeltliche Beförderung von Fluggästen, Fracht oder Post. …“ 11 FCL.065 („Einschränkung der Rechte von Lizenzinhabern, die 60 Jahre oder älter sind, im gewerblichen Luftverkehr“) in Anhang I der Verordnung Nr. 1178/2011 bestimmt: „a) Altersgruppe 60–64 Jahre. Flugzeuge und Hubschrauber. Ein Inhaber einer Pilotenlizenz, der das Alter von 60 Jahren erreicht hat, darf nicht als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig sein, außer: (1) als Mitglied einer Besatzung mit mehreren Piloten und (2) unter der Voraussetzung, dass ein solcher Inhaber der einzige Pilot in der Flugbesatzung ist, der das Alter von 60 Jahren erreicht hat. b) Altersgruppe ab 65 Jahren. Ein Inhaber einer Pilotenlizenz, der das Alter von 65 Jahren erreicht hat, darf nicht als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig sein.“ Deutsches Recht 12 § 241 („Pflichten aus dem Schuldverhältnis“) Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (im Folgenden: BGB) bestimmt: „Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten.“ 13 § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB lautet: „Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen.“ 14 § 293 („Annahmeverzug“) BGB bestimmt: „Der Gläubiger kommt in Verzug, wenn er die ihm angebotene Leistung nicht annimmt.“ 15 In § 297 („Unvermögen des Schuldners“) BGB heißt es: „Der Gläubiger kommt nicht in Verzug, wenn der Schuldner zur Zeit des Angebots … außerstande ist, die Leistung zu bewirken.“ 16 § 615 („Vergütung bei Annahmeverzug und bei Betriebsrisiko“) Satz 1 BGB lautet: „Kommt der Dienstberechtigte mit der Annahme der Dienste in Verzug, so kann der Verpflichtete für die infolge des Verzugs nicht geleisteten Dienste die vereinbarte Vergütung verlangen, ohne zur Nachleistung verpflichtet zu sein.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 17 Herr Fries, der Kläger des Ausgangsverfahrens, war von 1986 bis zum 31. Dezember 2013 bei der Lufthansa als Flugkapitän beschäftigt. Daneben wurde er aufgrund einer Zusatzvereinbarung auch in der Ausbildung anderer Piloten eingesetzt. 18 Im Oktober 2013 wurde der Kläger des Ausgangsverfahrens 65 Jahre alt. Am 31. Dezember 2013 endete sein Arbeitsvertrag, da er nach dem anwendbaren Tarifvertrag die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht hatte. 19 Die Lufthansa beschäftigte Herrn Fries nach dem 31. Oktober 2013 nicht mehr. Sie berief sich darauf, er dürfe seit diesem Datum nach FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 nicht mehr als Pilot im gewerblichen Luftverkehr tätig sein. 20 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Herr Fries vom 31. Oktober bis 31. Dezember 2013 weiterhin über seine allgemeine Lizenz zum Führen von Verkehrsflugzeugen (ATPL) einschließlich der Musterberechtigung für das Flugzeugmuster Embraer, die Berechtigung als Type Rating Instructor (TRI) zur Ausbildung von Flugzeugführern auf dem Flugzeugmuster Embraer im Flugzeug und im Simulator, die Berechtigung als Type Rating Examiner (TRE) zur Abnahme von Überprüfungen im Flugzeug und im Simulator zum Erhalt oder zur Verlängerung von Lizenzen auf dem Flugzeugmuster Embraer sowie die Anerkennung als Senior Examiner (SEN) zur Abnahme der Überprüfung von Type Rating Examinern (TREs) unabhängig vom Flugzeugmuster verfügte. 21 Herr Fries macht vor dem Bundesarbeitsgericht (Deutschland) geltend, die Weigerung der Lufthansa, ihn als Pilot zu beschäftigen, sei rechtswidrig, und beantragte, die Lufthansa zur Zahlung der Vergütung für die Monate November und Dezember 2013 zu verurteilen. 22 Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass der Arbeitgeber nach den nationalen Vorschriften in Annahmeverzug komme, wenn er im erfüllbaren Arbeitsverhältnis die ihm vom Arbeitnehmer ordnungsgemäß angebotene Arbeitsleistung nicht annehme. Obwohl er nicht arbeite, könne der Arbeitnehmer in diesem Fall vom Arbeitgeber die Vergütung fordern, die er erhalten hätte, wenn der Arbeitgeber im Verzugszeitraum die Arbeitsleistung angenommen hätte. Doch sei der Annahmeverzug des Arbeitgebers ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer außerstande sei, die Arbeitsleistung zu bewirken. Sei es dem Arbeitnehmer unmöglich, die arbeitsvertraglich vereinbarte Leistung in Gänze oder zum Teil zu erbringen, könne es die Rücksichtnahmepflicht des Arbeitgebers gebieten, den Arbeitnehmer mit anderen Arbeiten, für die er leistungsfähig ist, zu beschäftigen. Verletze der Arbeitgeber diese Rücksichtnahmepflicht, könne er sich schadensersatzpflichtig machen. 23 Die Lufthansa ist der Ansicht, dass sie sich für die Monate November und Dezember 2013 nicht im Annahmeverzug des Arbeitsangebots von Herrn Fries befinde, da der Kläger des Ausgangsverfahrens gemäß FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 ab dem Alter von 65 Jahren nicht mehr als Verkehrspilot im gewerblichen Luftverkehr tätig sein dürfe, so dass er außerstande gewesen sei, die vereinbarte Leistung vom 1. November 2013 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses zu erbringen. 24 Das vorlegende Gericht äußert jedoch Zweifel an der Gültigkeit von FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 im Hinblick auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und insbesondere dem in Art. 21 Abs. 1 der Charta enthaltenen Verbot der Diskriminierung wegen des Alters und dem in Art. 15 Abs. 1 der Charta verbürgten Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben. 25 Im Übrigen könnte Herr Fries, falls FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung mit der Charta im Einklang stehe, nach den nationalen Vorschriften seine Forderung als Schadensersatz geltend machen, wenn sich herausstellen sollte, dass er nach Erreichen des Alters von 65 Jahren noch Leerflüge hätte durchführen dürfen und/oder als Ausbilder und Prüfer im Flugzeug hätte tätig werden können. Für diese Forderung komme es auf die Auslegung des Begriffs „gewerblicher Luftverkehr“ im Sinne von FCL.065 Buchst. b in Verbindung mit FCL.010 des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 an. 26 Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 mit dem Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in Art. 21 Abs. 1 der Charta vereinbar? 2. Ist FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 mit Art. 15 Abs. 1 der Charta, wonach jede Person das Recht hat, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben, vereinbar? 3. Falls die erste und die zweite Frage bejaht werden: a) Fallen unter den Begriff des „gewerblichen Luftverkehrs“ im Sinne der FCL.065 Buchst. b bzw. der Bestimmung dieses Begriffs in FCL.010 des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 auch sogenannte Leerflüge im Gewerbebetrieb eines Luftverkehrsunternehmens, bei denen weder Fluggäste noch Fracht oder Post befördert werden? b) Fallen unter den Begriff des „gewerblichen Luftverkehrs“ im Sinne der FCL.065 Buchst. b bzw. der Bestimmung dieses Begriffs in FCL.010 des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 die Ausbildung und Abnahme von Prüfungen, bei denen der über 65‑jährige Pilot sich als nicht fliegendes Mitglied der Crew im Cockpit des Flugzeugs aufhält? Zu den Vorlagefragen Zur ersten und zur zweiten Frage 27 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 im Hinblick auf Art. 15 Abs. 1 bzw. auf Art. 21 Abs. 1 der Charta gültig ist. 28 Zur Beantwortung dieser Fragen ist in einem ersten Schritt zu bestimmen, ob der Unionsgesetzgeber gegen den in Art. 21 Abs. 1 der Charta verankerten Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoßen hat, nach dem „Diskriminierungen insbesondere wegen … des Alters“ verboten sind, indem er Inhabern einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, verboten hat, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Flugverkehr tätig zu sein. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob der Unionsgesetzgeber durch dieses Verbot hinsichtlich der von ihm betroffenen Lizenzinhaber gegen das in Art. 15 Abs. 1 der Charta verankerte Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben, verstoßen hat. Art. 21 Abs. 1 der Charta 29 Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der in Art. 20 der Charta niedergelegt ist. Das Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 der Charta stellt eine besondere Ausprägung dieses Grundsatzes dar. 30 Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt dieser allgemeine Grundsatz, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 1. März 2011, Association belge des Consommateurs Test-Achats u. a., C‑236/09, EU:C:2011:100, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Somit ist erstens zu prüfen, ob FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 eine Ungleichbehandlung aufgrund des Alters begründet. 32 Nach dieser Bestimmung darf der Inhaber einer Pilotenlizenz, nachdem er das Alter von 65 Jahren erreicht hat, nicht als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig sein. 33 FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 gewährt so dem Inhaber einer Pilotenlizenz, der das Alter von 65 Jahren erreicht hat, eine weniger günstige Behandlung als dem, der jünger als 65 Jahre ist. 34 Somit ist festzustellen, dass diese Bestimmung eine Ungleichbehandlung wegen des Alters darstellt. 35 Zweitens ist zu prüfen, ob diese Ungleichbehandlung jedoch mit Art. 21 Abs. 1 der Charta im Einklang steht, da sie den in Art. 52 Abs. 1 der Charta angeführten Kriterien entspricht. 36 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 37 Es steht fest, dass das Verbot für Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein, als gesetzlich vorgesehene Einschränkung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta anzusehen ist, da sie sich aus FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 ergibt. 38 Des Weiteren achtet diese Einschränkung, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, den Wesensgehalt des Diskriminierungsverbots. Sie stellt diesen Grundsatz als solchen nämlich nicht in Frage, da es nur um die spezifische Frage der Beschränkung der Pilotenaufgaben im Hinblick auf die Sicherstellung der Flugsicherheit geht (vgl. entsprechend Urteil vom 29. April 2015, Léger, C‑528/13, EU:C:2015:288, Rn. 54). 39 Es ist jedoch weiter zu prüfen, ob diese Einschränkung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta dem Gemeinwohl dient, und wenn ja, ob sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne dieser Bestimmung wahrt. 40 Im Hinblick auf das von FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 verfolgte Ziel ist anzumerken, dass diese Verordnung, wie aus ihrem Titel hervorgeht, die technischen Vorschriften und Verwaltungsverfahren in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt gemäß der Verordnung Nr. 216/2008 festlegt. So wurde die Verordnung Nr. 1178/2011 erlassen, um die Bestimmungen der Verordnung Nr. 216/2008 durchzuführen. 41 Da FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 eine Durchführung der Verordnung Nr. 216/2008 darstellt, ist somit festzustellen, dass die Bestimmung, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, dasselbe Ziel wie die letztgenannte Verordnung verfolgt, nämlich die Schaffung und Aufrechterhaltung eines einheitlichen, hohen Sicherheitsniveaus der Zivilluftfahrt in Europa, wie sowohl aus Art. 2 der Verordnung Nr. 216/2008 als auch aus den Erwägungsgründen 1 und 11 der Verordnung Nr. 1178/2011 hervorgeht. 42 Jedoch hat der Gerichtshof im Hinblick auf die Flugsicherheit bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 5 und von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) entschieden, dass das Ziel der Gewährleistung der Flugsicherheit einen rechtmäßigen Zweck im Sinne dieser Bestimmungen darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2011, Prigge u. a., C‑447/09, EU:C:2011:573, Rn. 58 und 69). 43 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass es sich beim Ziel der Schaffung und Aufrechterhaltung eines einheitlichen, hohen Sicherheitsniveaus der Zivilluftfahrt in Europa um eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung handelt. 44 Somit ist zu prüfen, ob FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011, durch den Inhabern einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, verboten wird, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein, eine verhältnismäßige Anforderung vorschreibt, d. h., ob diese Maßnahme geeignet ist, das verfolgte Ziel zu erreichen, und nicht über das hierfür Erforderliche hinausgeht. 45 Was erstens die Geeignetheit dieser Bestimmung im Hinblick auf das verfolgte Ziel angeht, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass in Bezug auf die Flugsicherheit Maßnahmen, die auf die Vermeidung von Flugzeugunglücken durch Kontrolle der Tauglichkeit und körperlichen Fähigkeiten der Piloten abzielen, damit menschliche Schwächen nicht zur Ursache derartiger Unfälle werden, unbestreitbar Maßnahmen darstellen, die geeignet sind, die Sicherheit des Flugverkehrs zu gewährleisten (vgl. entsprechend Urteil vom 13. September 2011, Prigge u. a., C‑447/09, EU:C:2011:573, Rn. 58). 46 Des Weiteren hat der Gerichtshof ausgeführt, dass es wesentlich ist, dass Verkehrspiloten über angemessene körperliche Fähigkeiten verfügen, da körperliche Schwächen in diesem Beruf beträchtliche Konsequenzen haben können, und festgestellt, dass diese Fähigkeiten unbestreitbar mit zunehmendem Alter abnehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2011, Prigge u. a., C‑447/09, EU:C:2011:573, Rn. 67). 47 So sind die Bestimmungen von FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011, da mit ihnen ausgeschlossen werden kann, dass ein Abnehmen dieser körperlichen Fähigkeiten nach dem 65. Lebensjahr zur Unfallursache wird, geeignet, die verfolgte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung zu erreichen. 48 Allerdings sind Rechtsvorschriften nach ständiger Rechtsprechung nur dann geeignet, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen; Ausnahmen von den Bestimmungen eines Gesetzes können in bestimmten Fällen dessen Kohärenz beeinträchtigen, insbesondere wenn sie wegen ihres Umfangs zu einem Ergebnis führen, das dem mit dem Gesetz verfolgten Ziel widerspricht (Urteil vom 21. Juli 2011, Fuchs und Köhler, C‑159/10 und C‑160/10, EU:C:2011:508, Rn. 85 und 86). 49 Hierzu geht aus dem Wortlaut von FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 hervor, dass die Altersgrenze von 65 Jahren auf dem Gebiet des nicht gewerblichen Luftverkehrs nicht anwendbar ist. Nach Ansicht von Herrn Fries beeinträchtigt ein solcher Ausschluss die Kohärenz dieser Vorschrift im Hinblick auf das verfolgte Ziel, wodurch die fragliche Beschränkung unverhältnismäßig werde. 50 Indem der Unionsgesetzgeber diese Altersgrenze nur für den gewerblichen Luftverkehr festgelegt hat, hat er jedoch die Unterschiede zwischen gewerblichem und nicht gewerblichem Luftverkehr berücksichtigt, nämlich insbesondere die größere technische Komplexität der Luftfahrzeuge und die höhere Anzahl betroffener Personen im gewerblichen Luftverkehr. Solche Unterschiede rechtfertigen die Aufstellung unterschiedlicher Regelungen, um die Sicherheit des Flugverkehrs für die beiden Verkehrsarten zu gewährleisten. 51 Unter diesen Umständen scheint der Umstand, dass die Altersgrenze von 65 Jahren nur auf den gewerblichen Luftverkehr Anwendung findet, eher für als gegen die Verhältnismäßigkeit der betrachteten Maßnahme zu sprechen. 52 Somit stellt das Verbot für den Inhaber einer Pilotenlizenz, der das Alter von 65 Jahren erreicht hat, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein, ein geeignetes Mittel dar, um ein angemessenes Sicherheitsniveau der Zivilluftfahrt in Europa aufrechtzuerhalten. 53 Um sodann zu ermitteln, ob diese Maßnahme über das zur Erreichung des angestrebten Ziels Erforderliche hinausgeht und die Interessen der über 65-jährigen Inhaber von Pilotenlizenzen übermäßig beeinträchtigt, ist sie in dem Regelungskontext zu betrachten, in den sie sich einfügt, und sind sowohl die Nachteile, die sie für die Betroffenen bewirken kann, als auch die Vorteile zu berücksichtigen, die sie für die Gesellschaft im Allgemeinen und die diese bildenden Individuen bedeutet (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juli 2012, Hörnfeldt, C‑141/11, EU:C:2012:421, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 54 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 zu den vom Unionsgesetzgeber aufgestellten Regeln gehört, mit denen die für das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt geltenden Anforderungen definiert werden, um zu gewährleisten, dass dieses Personal qualifiziert, gewissenhaft und kompetent ist, so dass es die ihm anvertrauten Aufgaben bestmöglich erfüllt, und dies mit Blick auf die Verbesserung der Flugsicherheit. 55 Da die Piloten von Luftfahrzeugen in der Kette der Akteure der Luftfahrt ein wesentliches Glied darstellen, bleibt die Kompetenz dieser Spezialisten eine der Hauptgarantien für die Zuverlässigkeit und Sicherheit der Zivilluftfahrt. Vor diesem Hintergrund ist der Erlass von Maßnahmen, mit denen gewährleistet werden soll, dass nur die über die erforderlichen körperlichen Fähigkeiten verfügenden Personen Luftfahrzeuge fliegen dürfen, unerlässlich, um die Gefahr von Zwischenfällen aufgrund menschlichen Versagens auf ein Mindestmaß zu verringern. 56 Unter diesen Umständen erscheint es nicht unvernünftig, dass es der Unionsgesetzgeber unter Berücksichtigung der Bedeutung menschlicher Faktoren auf dem Gebiet der Zivilluftfahrt sowie des über die Jahre fortschreitenden Verlusts der für die Ausübung des Pilotenberufs erforderlichen körperlichen Fähigkeiten für erforderlich hält, für die Tätigkeit als Pilot im gewerblichen Luftverkehr eine Altersgrenze festzulegen, um ein angemessenes Sicherheitsniveau der Zivilluftfahrt in Europa aufrechtzuerhalten. 57 Was die Festlegung der Altersgrenze speziell auf 65 Jahre angeht, beanstandet Herr Fries diese Grenze und bringt u. a. vor, dass zum einen keine wissenschaftlich gesicherten medizinischen Erkenntnisse eine erhöhte Gefahr im Zusammenhang mit dem Einsatz von Piloten nach Vollendung des 65. Lebensjahrs im gewerblichen Luftverkehr belegten und dass sich zum anderen der Rückgang der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit nicht mit Vollendung eines bestimmten Lebensalters einstelle, sondern von individuellen Faktoren, darunter der Lebensgeschichte, abhänge. 58 Diesem Vorbringen kann jedoch nicht gefolgt werden. 59 Zunächst ist nämlich darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber über ein weites Ermessen im Hinblick auf komplexe Fragen medizinischer Art verfügt wie der, ob bei Personen, die ein bestimmtes Alter überschritten haben, besondere körperliche Fähigkeiten, die für die Ausübung des Berufs des Verkehrspiloten erforderlich sind, nicht vorhanden sind, und dass er bei Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit Schutzmaßnahmen treffen kann, ohne abwarten zu müssen, bis das Vorliegen und die Schwere dieser Risiken in vollem Umfang nachgewiesen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Mai 2014, Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 64 und 65). 60 Aufgrund der engen Verbindung zwischen der Sicherheit der Zivilluftfahrt und dem Schutz der Besatzungsmitglieder, der Fluggäste und der Bewohner der überflogenen Gebiete steht es dem Unionsgesetzgeber frei, wenn er sich für die Festlegung einer Altersgrenze wie der in der vorliegenden Rechtssache fraglichen entscheidet, angesichts wissenschaftlicher Ungewissheiten Maßnahmen den Vorzug zu geben, bei denen er sich sicher ist, dass sie ein hohes Maß an Sicherheit bieten, sofern diese auf objektiven Tatsachen gegründet sind. 61 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Altersgrenze von 65 Jahren als hinreichend weit fortgeschritten betrachtet werden kann, um als Endpunkt der Zulassung als Pilot im gewerblichen Luftverkehr zu dienen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Januar 2010, Petersen, C‑341/08, EU:C:2010:4, Rn. 52). 62 Des Weiteren spiegelt FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 völkerrechtliche Vorschriften auf dem Gebiet der internationalen gewerblichen Luftfahrt wider, auf die der elfte Erwägungsgrund der Verordnung im Übrigen ausdrücklich Bezug nimmt und die dieselbe Altersgrenze festlegen. 63 Wie der Generalanwalt in Nr. 56 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellen solche Vorschriften, da sie auf einer intensiven Fachdiskussion sowie auf Sachverstand beruhen, als objektive und vernünftige Anhaltspunkte für die Entscheidungsträger ein besonders maßgebliches Element dar, um die Verhältnismäßigkeit der in der vorliegenden Rechtssache fraglichen Bestimmung des Unionsrechts zu beurteilen. 64 Ferner ist der Unionsgesetzgeber angesichts des ihm zur Verfügung stehenden Wertungsspielraums nicht dazu verpflichtet, statt einer Altersgrenze eine individuelle Prüfung der körperlichen und psychischen Fähigkeiten jedes Inhabers einer Pilotenlizenz vorzusehen, der älter als 65 Jahre ist. 65 Wie der Generalanwalt u. a. in den Nrn. 60 und 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat der Gesetzgeber insoweit entschieden, eine einzelfallbezogene Vorgehensweise für die Altersgruppe von 60 bis 64 Jahren mit der Altersgrenze von 65 Jahren zu kombinieren, was nach den vorstehenden Ausführungen eine Entscheidung darstellt, die fest in den maßgeblichen völkerrechtlichen Vorschriften verankert ist, die ihrerseits auf dem aktuellen Stand des medizinischem Fachwissens auf diesem Gebiet beruhen. 66 Zudem ist zu betonen, dass diese Altersgrenze nicht automatisch bewirkt, dass die Betroffenen gezwungen werden, endgültig aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden. Mit ihr wird keine zwingende Regelung zur Versetzung in den Ruhestand von Amts wegen eingeführt, und sie bringt auch nicht notwendigerweise mit sich, dass das Arbeitsverhältnis eines Beschäftigten beendet werden müsste, weil dieser das Alter von 65 Jahren erreicht hat (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juli 2012, Hörnfeldt, C‑141/11, EU:C:2012:421, Rn. 40). 67 FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 schließt nämlich die Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, nicht von jeglicher Aktivität auf dem Gebiet der Luftfahrt aus, sondern verbietet ihnen lediglich, als Pilot im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein. 68 Somit ist festzustellen, dass das Verbot für Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein, nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung erforderlich ist. 69 Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass die durch FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 eingerichtete Ungleichbehandlung aufgrund des Alters mit Art. 21 Abs. 1 der Charta im Einklang steht. Art. 15 Abs. 1 der Charta. 70 Art. 15 Abs. 1 der Charta verankert das Recht jeder Person, zu arbeiten und einen frei gewählten Beruf auszuüben. 71 Vorliegend führt die Anwendung von FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 zu einer Beschränkung der Berufsfreiheit der Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, die darin besteht, dass sie vom Datum ihres 65. Geburtstags an ihren Beruf als Pilot im gewerblichen Luftverkehr nicht mehr ausüben können. 72 Wie bereits in Rn. 36 des vorliegenden Urteils dargelegt worden ist, lässt jedoch Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen der Ausübung der in ihr verankerten Rechte zu, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten, unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 73 Was insbesondere die Berufsfreiheit und die unternehmerische Freiheit betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die freie Berufsausübung, ebenso wie das Eigentumsrecht, nicht absolut gewährleistet wird, sondern im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Funktion zu sehen ist. Die Ausübung dieser Freiheiten kann daher Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich den dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Urteil vom 6. September 2012, Deutsches Weintor, C‑544/10, EU:C:2012:526, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 74 Wie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, ist das Verbot für Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein, als gesetzlich vorgesehen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta zu betrachten. 75 Des Weiteren tastet die betreffende Einschränkung nicht den Wesensgehalt der Berufsfreiheit selbst an, da sie die berufliche Tätigkeit der Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, lediglich bestimmten Einschränkungen unterwirft. 76 Im Hinblick auf das durch die streitige Maßnahme verfolgte Ziel geht aus den Rn. 40 bis 43 des vorliegenden Urteils hervor, dass mit FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 die Schaffung und Aufrechterhaltung eines einheitlichen, hohen Sicherheitsniveaus der Zivilluftfahrt in Europa angestrebt wird, was eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung darstellt. 77 Was die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit angeht, ergibt sich aus den Rn. 45 bis 52 des vorliegenden Urteils, dass die Maßnahme, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, geeignet ist, die dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung zu gewährleisten. 78 Des Weiteren lässt die Gesamtheit der Erwägungen in den Rn. 53 bis 68 des vorliegenden Urteils den Schluss zu, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Bestimmung, deren Gültigkeit in Frage gestellt wird, die Anforderungen der Flugsicherheit gegen das individuelle Recht des Inhabers einer Pilotenlizenz, der älter als 65 Jahre ist, zu arbeiten und einen gewählten Beruf auszuüben, in der Weise abgewogen hat, bei der nicht angenommen werden kann, dass sie außer Verhältnis zum verfolgten Ziel steht. 79 Somit ist das Verbot gemäß FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 für Inhaber einer Pilotenlizenz, die das Alter von 65 Jahren erreicht haben, als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig zu sein, mit Art. 15 Abs. 1 der Charta vereinbar. 80 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass die Prüfung der ersten und der zweiten Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 im Hinblick auf Art. 15 Abs. 1 bzw. Art. 21 Abs. 1 der Charta beeinträchtigen könnte. Zur dritten Frage 81 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 dahin auszulegen ist, dass er dem Inhaber einer Pilotenlizenz, der das Alter von 65 Jahren erreicht hat, verbietet, als Pilot Leer- oder Überführungsflüge im Gewerbebetrieb eines Luftverkehrsunternehmens durchzuführen, bei denen weder Fluggäste noch Fracht oder Post befördert werden, sowie – ohne Mitglied der Flugbesatzung zu sein – als Ausbilder und/oder Prüfer an Bord eines Luftfahrzeugs tätig zu sein. 82 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass gemäß FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung der Inhaber einer Pilotenlizenz, der das Alter von 65 Jahren erreicht hat, nicht als Pilot eines Luftfahrzeugs im gewerblichen Luftverkehr tätig sein darf. 83 Aus dem Wortlaut selbst dieser Bestimmung ergibt sich, dass nur die Sachverhalte der durch diese Bestimmung vorgesehenen Einschränkung unterfallen, bei denen kumulativ drei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich dass der Inhaber einer Pilotenlizenz das Alter von 65 Jahren erreicht hat, dass er als Pilot eines Luftfahrzeugs tätig wird und dass dieses im gewerblichen Luftverkehr betrieben wird. 84 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass FCL.010 des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 den Begriff „gewerblicher Luftverkehr“ ausdrücklich als die entgeltliche Beförderung von Fluggästen, Fracht oder Post definiert. 85 Bei Leer- oder Überführungsflügen handelt es sich jedoch, wie aus der Vorlageentscheidung und dem Wortlaut der dritten Frage hervorgeht, nicht um Flüge, die der Beförderung von Fluggästen, Fracht oder Post dienen. 86 Des Weiteren steht fest, was die Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Ausbildung und Prüfung von Piloten angeht, dass sich der Inhaber einer Pilotenlizenz, der als Ausbilder und/oder Prüfer tätig ist, zwar im Cockpit des Flugzeugs aufhält, dieses aber nicht fliegt. 87 Somit ist festzustellen, dass weder Leer- noch Überführungsflüge noch Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Ausbildung und Prüfung von Piloten der Maßnahme gemäß FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 unterfallen. 88 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 dahin auszulegen ist, dass er dem Inhaber einer Pilotenlizenz, der das Alter von 65 Jahren erreicht hat, weder verbietet, als Pilot Leer- oder Überführungsflüge im Gewerbebetrieb eines Luftverkehrsunternehmens durchzuführen, bei denen weder Fluggäste noch Fracht oder Post befördert werden, noch – ohne Mitglied der Flugbesatzung zu sein –, als Ausbilder und/oder Prüfer an Bord eines Luftfahrzeugs tätig zu sein. Kosten 89 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Prüfung der ersten und der zweiten Frage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011 der Kommission vom 3. November 2011 zur Festlegung technischer Vorschriften und von Verwaltungsverfahren in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt gemäß der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf Art. 15 Abs. 1 bzw. Art. 21 Abs. 1 der Charta beeinträchtigen könnte. 2. FCL.065 Buchst. b des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 ist dahin auszulegen, dass er dem Inhaber einer Pilotenlizenz, der das Alter von 65 Jahren erreicht hat, weder verbietet, als Pilot Leer- oder Überführungsflüge im Gewerbebetrieb eines Luftverkehrsunternehmens durchzuführen, bei denen weder Fluggäste noch Fracht oder Post befördert werden, noch – ohne Mitglied der Flugbesatzung zu sein –, als Ausbilder und/oder Prüfer an Bord eines Luftfahrzeugs tätig zu sein. Silva de Lapuerta Regan Bonichot Arabadjiev Rodin Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. Juli 2017. Der Kanzler A. Calot Escobar Die Präsidentin der Ersten Kammer R. Silva de Lapuerta (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 29. Juni 2017.#Energie-Control Austria für die Regulierung der Elektrizitäts- und Erdgaswirtschaft (E-Control) gegen Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden.#Energie – Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel – Entscheidungen nationaler Regierungsbehörden, mit denen die Methoden für die Zuweisung grenzüberschreitender Stromübertragungskapazitäten genehmigt werden – Vereinbarkeit mit der Verordnung (EG) Nr. 714/2009 – Stellungnahme der ACER – Begriff der Entscheidung, gegen die bei der ACER Beschwerde erhoben werden kann – Art. 19 der Verordnung (EG) Nr. 713/2009 – Entscheidung des Beschwerdeausschusses der ACER, mit der die Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen wird – Rechtsfehler – Begründungspflicht.#Rechtssache T-63/16.
62016TJ0063
ECLI:EU:T:2017:456
2017-06-29T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62016TJ0063 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62016TJ0063 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62016TJ0063 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 14. Juni 2017.#Verband Sozialer Wettbewerb e. V. gegen TofuTown.com GmbH.#Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Trier.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse – Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 – Art. 78 und Anhang VII Teil III – Beschluss 2010/791/EU – Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen und Verkehrsbezeichnungen – ‚Milch‘ und ‚Milcherzeugnisse‘ – Bezeichnungen zur Förderung des Absatzes und der Vermarktung rein pflanzlicher Lebensmittel.#Rechtssache C-422/16.
62016CJ0422
ECLI:EU:C:2017:458
2017-06-14T00:00:00
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62016CJ0422 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer) 14. Juni 2017 (*1) [Berichtigt durch Beschluss vom 19. Juli 2017] „Vorlage zur Vorabentscheidung — Gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse — Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 — Art. 78 und Anhang VII Teil III — Beschluss 2010/791/EU — Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen und Verkehrsbezeichnungen — ‚Milch‘ und ‚Milcherzeugnisse‘ — Bezeichnungen zur Förderung des Absatzes und der Vermarktung rein pflanzlicher Lebensmittel“ In der Rechtssache C-422/16 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Trier (Deutschland) mit Entscheidung vom 28. Juli 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 1. August 2016, in dem Verfahren Verband Sozialer Wettbewerb e. V. gegen TofuTown.com GmbH erlässt DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal sowie der Richter A. Rosas und E. Jarašiūnas (Berichterstatter), Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der TofuTown.com GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt M. Beuger, — der deutschen Regierung, vertreten durch K. Stranz und T. Henze als Bevollmächtigte, — der griechischen Regierung, vertreten durch G. Kanellopoulos und O. Tsirkinidou als Bevollmächtigte, — der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato, — der Europäischen Kommission, vertreten durch A. X. P. Lewis und D. Triantafyllou als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 78 Abs. 2 und des Anhangs VII Teil III Nrn. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 671, und Berichtigung ABl. 2016, L 130, S. 18). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Verband Sozialer Wettbewerb e. V. (im Folgenden: VSW) und der TofuTown.com GmbH (im Folgenden: TofuTown) wegen einer Unterlassungsklage des VSW. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Verordnung Nr. 1308/2013 3 Die Erwägungsgründe 64 und 76 der Verordnung Nr. 1308/2013 lauten: „(64) Die Anwendung von Normen für die Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse kann zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen für die Erzeugung und Vermarktung sowie der Qualität dieser Erzeugnisse beitragen. Die Anwendung solcher Normen ist daher im Interesse der Erzeuger, der Händler und der Verbraucher. ... (76) Für bestimmte Sektoren und Erzeugnisse bilden Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen und Verkehrsbezeichnungen wichtige Aspekte für die Festlegung der Wettbewerbsbedingungen. Es ist daher angezeigt, für diese Sektoren und/oder Erzeugnisse Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen und/oder Verkehrsbezeichnungen festzulegen, die in der Union nur für die Vermarktung von Erzeugnissen verwendet werden dürfen, die mit den entsprechenden Anforderungen übereinstimmen.“ 4 Die Verordnung enthält in ihrem den Binnenmarkt betreffenden Teil II einen Titel II mit Vorschriften für die Vermarktung und die Erzeugerorganisationen. Titel II Kapitel I Abschnitt 1 Unterabschnitt 2 („Sektor- oder erzeugnisspezifische Vermarktungsnormen“) umfasst die Art. 74 bis 83 der Verordnung. 5 Art. 78 der Verordnung Nr. 1308/2013 („Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen und Verkehrsbezeichnungen für bestimmte Sektoren und Erzeugnisse“) bestimmt: „(1)   Zusätzlich zu den geltenden Vermarktungsnormen gelten gegebenenfalls die Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen und Verkehrsbezeichnungen des Anhangs VII für die folgenden Sektoren oder Erzeugnisse: ... c) Milch und Milcherzeugnisse für den menschlichen Verzehr ... (2)   Die Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen oder Verkehrsbezeichnungen im Sinne des Anhangs VII [dürfen] in der Union nur für die Vermarktung eines Erzeugnisses verwendet werden, das den entsprechenden Anforderungen dieses Anhangs genügt. (3)   Der Kommission wird die Befugnis übertragen, delegierte Rechtsakte ... zu erlassen betreffend der Änderungen und Abweichungen oder Ausnahmen von den Begriffsbestimmungen und Verkehrsbezeichnungen des Anhangs VII. Diese delegierten Rechtsakte sind strikt auf Fälle zu beschränken, in denen nachweislich Bedarf aufgrund geänderter Verbrauchererwartungen, aufgrund des technischen Fortschritts oder aufgrund des Bedarfs an Produktinnovation besteht. ... (5)   Um den Verbrauchererwartungen und den Entwicklungen auf dem Markt für Milcherzeugnisse Rechnung zu tragen, wird der Kommission die Befugnis übertragen, ... delegierte Rechtsakte zu erlassen, in denen die Milcherzeugnisse aufgeführt werden, bei denen die Tierart, von der die Milch stammt – falls es sich nicht um Kuhmilch handelt – anzugeben ist, und die notwendigen Vorschriften festgelegt werden.“ 6 Teil II Titel II Kapitel I Abschnitt 1 Unterabschnitt 5 („Gemeinsame Bestimmungen“) der Verordnung Nr. 1308/2013 enthält Art. 91, der Folgendes bestimmt: „Die Kommission kann Durchführungsrechtsakte zu Folgendem erlassen: a) Erstellung des Verzeichnisses der Erzeugnisse des Sektors Milch und Milcherzeugnisse gemäß Anhang VII Teil III Nummer 5 Unterabsatz 2 ... auf der Grundlage der von den Mitgliedstaaten an die Kommission zu übermittelnden vorläufigen Verzeichnisse der Erzeugnisse, die diese[r] Bestimmun[g] nach Ansicht der Mitgliedstaaten in ihrem Hoheitsgebiet entsprechen; ...“ 7 Anhang VII der Verordnung trägt die Überschrift „Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen und Verkehrsbezeichnungen von Erzeugnissen gemäß Artikel 78“. Gemäß dem einleitenden Absatz dieses Anhangs versteht man für die Zwecke dieses Anhangs unter „Verkehrsbezeichnung“ u. a. „die Bezeichnung des Lebensmittels im Sinne von Artikel 17 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nrn. 1924/2006 und 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission (ABl. 2011, L 304, S. 18)]“. 8 Anhang VII Teil III („Milch und Milcherzeugnisse“) lautet: „1. Der Ausdruck ‚Milch‘ ist ausschließlich dem durch ein- oder mehrmaliges Melken gewonnenen Erzeugnis der normalen Eutersekretion, ohne jeglichen Zusatz oder Entzug, vorbehalten. Jedoch kann die Bezeichnung ‚Milch‘ a) für Milch verwendet werden, die einer ihre Zusammensetzung nicht verändernden Behandlung unterzogen worden ist, wie auch für Milch, deren Fettgehalt ... standardisiert worden ist; b) zusammen mit einem oder mehreren Worten verwendet werden, um den Typ, die Qualitätsklasse, den Ursprung und/oder die vorgesehene Verwendung der Milch zu bezeichnen oder um die physikalische Behandlung, der die Milch unterzogen worden ist, oder die in der Zusammensetzung der Milch eingetretenen Veränderungen zu beschreiben, sofern diese Veränderungen lediglich in dem Zusatz und/oder dem Entzug natürlicher Milchbestandteile bestehen. 2. ‚Milcherzeugnisse‘ im Sinne dieses Teils sind ausschließlich aus Milch gewonnene Erzeugnisse, wobei jedoch für die Herstellung erforderliche Stoffe zugesetzt werden können, sofern diese nicht verwendet werden, um einen der Milchbestandteile vollständig oder teilweise zu ersetzen. Folgende Bezeichnungen sind ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehalten: a) auf allen Vermarktungsstufen folgende Bezeichnungen: i) Molke, ii) Rahm, iii) Butter, iv) Buttermilch, ... viii) Käse, ix) Joghurt, ... b) die tatsächlich für Milcherzeugnisse verwendeten Bezeichnungen im Sinne von ... Artikel 17 der [Verordnung Nr. 1169/2011]. 3. Die Bezeichnung ‚Milch‘ und die für Milcherzeugnisse verwendeten Bezeichnungen können auch zusammen mit einem oder mehreren Worten für die Bezeichnung von zusammengesetzten Erzeugnissen verwendet werden, bei denen kein Bestandteil einen beliebigen Milchbestandteil ersetzt oder ersetzen soll und bei dem die Milch oder ein Milcherzeugnis einen nach der Menge oder nach der für das Erzeugnis charakteristischen Eigenschaft wesentlichen Teil darstellt. 4. Bei Milch ist, falls es sich nicht um Kuhmilch handelt, die Tierart des Ursprungs anzugeben. 5. Die Bezeichnungen gemäß den Nummern 1, 2 und 3 dürfen nur für die in der betreffenden Nummer genannten Erzeugnisse verwendet werden. Dies gilt jedoch nicht für Erzeugnisse, deren Art aufgrund ihrer traditionellen Verwendung genau bekannt ist, und/oder wenn die Bezeichnungen eindeutig zur Beschreibung einer charakteristischen Eigenschaft des Erzeugnisses verwandt werden. 6. Bei anderen als den unter den Nummern 1, 2 und 3 dieses Teils genannten Erzeugnissen darf nicht durch Etikett, Handelsdokumente, Werbematerial, Werbung irgendwelcher Art ... oder Aufmachung irgendwelcher Art behauptet oder der Eindruck erweckt werden, dass es sich bei dem betreffenden Erzeugnis um ein Milcherzeugnis handelt. ...“ 9 Anhang VII Teil III der Verordnung Nr. 1308/2013 übernimmt im Wesentlichen unverändert die Bestimmungen des Anhangs XII der Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 des Rates vom 22. Oktober 2007 über eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte und mit Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung über die einheitliche GMO) (ABl. 2007, L 299, S. 1), die wiederum im Wesentlichen unverändert die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1898/87 des Rates vom 2. Juli 1987 über den Schutz der Bezeichnung der Milch und Milcherzeugnisse bei ihrer Vermarktung (ABl. 1987, L 182, S. 36) übernommen hatte. Beschluss 2010/791/EU 10 Gemäß Art. 1 des Beschlusses 2010/791/EU der Kommission vom 20. Dezember 2010 zur Festlegung des Verzeichnisses der Erzeugnisse gemäß Anhang XII Abschnitt III Nummer 1 Unterabsatz 2 der Verordnung Nr. 1234/2007 (ABl. 2010, L 336, S. 55) sind in Anhang I dieses Beschlusses die Erzeugnisse aufgeführt, die im Gebiet der Union den Erzeugnissen gemäß diesem Unterabsatz entsprechen. 11 Im dritten Erwägungsgrund des Beschlusses heißt es: „Die Mitgliedstaaten müssen der Kommission ein vorläufiges Verzeichnis der Erzeugnisse mitteilen, die ihrer Ansicht nach in ihrem Hoheitsgebiet den Kriterien für die ... Ausnahme entsprechen. In dem Verzeichnis sind die Bezeichnungen der betreffenden Erzeugnisse gemäß ihrer traditionellen Verwendung in den verschiedenen Sprachen der Union anzugeben, damit diese Bezeichnungen in allen Mitgliedstaaten verwendet werden können ...“ 12 Gemäß Art. 230 Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 2 der Verordnung Nr. 1308/2013 hebt diese die Verordnung Nr. 1234/2007 auf, und Verweise auf die Verordnung Nr. 1234/2007 gelten als Verweise auf die Verordnung Nr. 1308/2013. Im Beschluss 2010/791 wird also nun das Verzeichnis der Erzeugnisse des Anhangs VII Teil III Nr. 5 Unterabs. 2 der Verordnung 1308/2013 aufgeführt. Verordnung Nr. 1169/2011 13 Art. 17 („Bezeichnung des Lebensmittels“) der Verordnung Nr. 1169/2011 sieht in seinem Abs. 1 vor: „Ein Lebensmittel wird mit seiner rechtlich vorgeschriebenen Bezeichnung bezeichnet. Fehlt eine solche, so wird das Lebensmittel mit seiner verkehrsüblichen Bezeichnung oder, falls es keine verkehrsübliche Bezeichnung gibt oder diese nicht verwendet wird, mit einer beschreibenden Bezeichnung bezeichnet.“ Deutsches Recht 14 § 3a des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (im Folgenden: UWG) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung lautet: „Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 15 Der VSW ist ein deutscher Verein, zu dessen Aufgaben insbesondere die Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs gehört. TofuTown ist eine Gesellschaft, deren Tätigkeit in der Herstellung und im Vertrieb von vegetarischen/veganen Lebensmitteln besteht. Sie bewirbt und vertreibt u. a. rein pflanzliche Produkte unter den Bezeichnungen „Soyatoo Tofubutter“, „Pflanzenkäse“, „Veggie-Cheese“, „Cream“ und unter anderen ähnlichen Bezeichnungen. 16 Da der VSW die Förderung des Absatzes dieser rein pflanzlichen Produkte durch TofuTown für wettbewerbswidrig hält, nahm er diese Gesellschaft vor dem Landgericht Trier (Deutschland) auf Unterlassung in Anspruch und machte einen Verstoß gegen § 3a UWG in Verbindung mit Anhang VII Teil III Nrn. 1 und 2 sowie Art. 78 der Verordnung Nr. 1308/2013 geltend. 17 TofuTown ist dagegen der Auffassung, dass ihre Werbung für die pflanzlichen Produkte mit den in Rede stehenden Bezeichnungen nicht gegen diese Bestimmungen des Unionsrechts verstoße. Zum einen habe sich das Verbraucherverständnis in den letzten Jahren massiv verändert. Zum anderen verwende sie Bezeichnungen wie „Butter“ oder „Cream“ nicht isoliert, sondern nur in Verbindung mit Begriffen, die einen Hinweis auf den pflanzlichen Ursprung der in Rede stehenden Produkte enthielten, etwa „Tofu-Butter“ oder „Rice Spray Cream“. 18 Das vorlegende Gericht nimmt Bezug auf das Urteil vom 16. Dezember 1999, UDL (C-101/98, EU:C:1999:615), in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass die Verordnung Nr. 1898/87 der Verwendung der Bezeichnung „Käse“ für ein Milcherzeugnis entgegensteht, bei dem der Fettanteil der Milch durch ein pflanzliches Fett ersetzt worden ist. Dies gilt selbst dann, wenn diese Bezeichnung durch beschreibende Zusätze ergänzt wird. Gleichwohl möchte das vorlegende Gericht wissen, wie Art. 78 der Verordnung Nr. 1308/2013 in Verbindung mit deren Anhang VII Teil III Nrn. 1 und 2 für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits auszulegen ist. 19 Unter diesen Umständen hat das Landgericht Trier beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Kann Art. 78 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1308/2013 dahin gehend ausgelegt werden, dass die Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen und Verkehrsbezeichnungen im Sinne des Anhangs VII den entsprechenden Anforderungen dieses Anhangs nicht genügen müssen, wenn die entsprechenden Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen oder Verkehrsbezeichnungen durch klarstellende bzw. beschreibende Zusätze (wie etwa „Tofubutter“ für ein rein pflanzliches Produkt) ergänzt werden? 2. Ist Anhang VII Teil III Nr. 1 der Verordnung Nr. 1308/2013 dahin gehend zu verstehen, dass der Ausdruck „Milch“ ausschließlich dem durch ein- oder mehrmaliges Melken gewonnenen Erzeugnis der normalen Eutersekretion, ohne jeglichen Zusatz oder Entzug, vorbehalten ist, oder darf der Ausdruck „Milch“ – gegebenenfalls bei Hinzufügung erläuternder Begriffe wie etwa „Soja-Milch“ – auch für pflanzliche (vegane) Erzeugnisse bei deren Vermarktung verwendet werden? 3. Ist Anhang VII Teil III Nr. 2 zu Art. 78 der Verordnung Nr. 1308/2013 dahin gehend auszulegen, dass die dort unter Nr. 2 Buchst. a im Einzelnen aufgeführten Bezeichnungen, wie insbesondere „Molke“, „Rahm“, „Butter“, „Buttermilch“, „Käse“, „Joghurt“ oder der Begriff „Sahne“ etc. ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehalten sind, oder können auch rein pflanzliche/vegane Produkte, die ohne (tierische) Milch hergestellt wurden, in den Anwendungsbereich von Anhang VII Teil III Nr. 2 der Verordnung Nr. 1308/2013 fallen? Zu den Vorlagefragen 20 Mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 78 Abs. 2 und Anhang VII Teil III der Verordnung Nr. 1308/2013 dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Bezeichnung „Milch“ und die nach dieser Verordnung ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehaltenen Bezeichnungen bei der Vermarktung oder Werbung zur Bezeichnung eines rein pflanzlichen Produkts verwendet werden, und zwar selbst dann, wenn diese Bezeichnungen durch klarstellende oder beschreibende Zusätze ergänzt werden, die auf den pflanzlichen Ursprung des in Rede stehenden Produkts hinweisen. 21 Gemäß Art. 78 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1308/2013 dürfen die Begriffsbestimmungen, Bezeichnungen oder Verkehrsbezeichnungen im Sinne des Anhangs VII dieser Verordnung in der Union nur für die Vermarktung eines Erzeugnisses verwendet werden, das den entsprechenden Anforderungen dieses Anhangs genügt. 22 Anhang VII Teil III der Verordnung betrifft Milch und Milcherzeugnisse. Für Milch sieht Teil III Nr. 1 Unterabs. 1 vor, dass der Ausdruck „Milch“„ausschließlich dem durch ein- oder mehrmaliges Melken gewonnenen Erzeugnis der normalen Eutersekretion, ohne jeglichen Zusatz oder Entzug, vorbehalten [ist]“. Jedoch präzisiert Unterabs. 2 Buchst. a dieser Bestimmung, dass die Bezeichnung „Milch“„für Milch verwendet werden [kann], die einer ihre Zusammensetzung nicht verändernden Behandlung unterzogen worden ist, wie auch für Milch, deren Fettgehalt ... standardisiert worden ist“. Nach Unterabs. 2 Buchst. b kann diese Bezeichnung „zusammen mit einem oder mehreren Worten verwendet werden, um den Typ, die Qualitätsklasse, den Ursprung und/oder die vorgesehene Verwendung der Milch zu bezeichnen oder um die physikalische Behandlung, der die Milch unterzogen worden ist, oder die in der Zusammensetzung der Milch eingetretenen Veränderungen zu beschreiben, sofern diese Veränderungen lediglich in dem Zusatz und/oder dem Entzug natürlicher Milchbestandteile bestehen“. 23 Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung (Nr. 1) geht also klar hervor, dass die Bezeichnung „Milch“ grundsätzlich nicht rechtmäßig für ein rein pflanzliches Produkt verwendet werden darf, da es sich bei Milch im Sinne dieser Vorschrift um ein Produkt tierischen Ursprungs handelt. Dies ergibt sich auch aus Anhang VII Teil III Nr. 4 der Verordnung Nr. 1308/2013, wonach bei Milch, falls es sich nicht um Kuhmilch handelt, die Tierart des Ursprungs anzugeben ist, und aus Art. 78 Abs. 5 dieser Verordnung, durch den der Kommission die Befugnis übertragen wird, delegierte Rechtsakte zu erlassen, in denen die Milcherzeugnisse aufgeführt werden, bei denen die Tierart, von der die Milch stammt – falls es sich nicht um Kuhmilch handelt – anzugeben ist. 24 Ferner ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung Nr. 1, dass gemäß ihrem Unterabs. 2 Buchst. b klarstellende oder beschreibende Zusätze, durch die auf den pflanzlichen Ursprung des betreffenden Produkts hingewiesen werden soll – wie etwa im Ausgangsverfahren „aus Soja“ oder „aus Tofu“ – nicht zu den Begriffen gehören, die zusammen mit der Bezeichnung „Milch“ verwendet werden können, da die Veränderungen der Zusammensetzung der Milch, die durch zusätzliche Begriffe bezeichnet werden können, nach dieser Bestimmung auf den Zusatz und/oder den Entzug natürlicher Milchbestandteile beschränkt sind, so dass ein vollständiger Ersatz der Milch durch ein rein pflanzliches Produkt hiervon nicht umfasst ist. 25 Anhang VII Teil III Nr. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1308/2013 bestimmt in Bezug auf „Milcherzeugnisse“, dass dies „ausschließlich aus Milch gewonnene Erzeugnisse [sind], wobei jedoch für die Herstellung erforderliche Stoffe zugesetzt werden können, sofern diese nicht verwendet werden, um einen der Milchbestandteile vollständig oder teilweise zu ersetzen“. Weiter heißt es in dessen Unterabs. 2 zum einen, dass die auf allen Vermarktungsstufen verwendeten und in dieser Bestimmung unter Buchst. a aufgezählten Bezeichnungen, zu denen „Molke“, „Rahm“, „Butter“, „Buttermilch“, „Käse“ und „Joghurt“ gehören, und zum anderen namentlich die „tatsächlich für Milcherzeugnisse verwendeten“ Bezeichnungen im Sinne von Art. 17 der Verordnung Nr. 1169/2011 „ausschließlich Milcherzeugnissen“ vorbehalten sind. 26 Dem Wortlaut dieser Bestimmung (Nr. 2) ist somit zu entnehmen, dass ein „Milcherzeugnis“, das ausschließlich aus Milch gewonnen wurde, deren Bestandteile enthalten muss. Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass ein Milcherzeugnis, bei dem irgendein Milchbestandteil, sei es auch nur teilweise, ersetzt worden ist, nicht mit einer der in Anhang VII Teil III Nr. 2 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1308/2013 genannten Bezeichnungen gekennzeichnet werden darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 1999, UDL, C-101/98, EU:C:1999:615, Rn. 20 bis 22). Dies gilt grundsätzlich erst recht für ein rein pflanzliches Produkt, da dieses naturgemäß keinen Milchbestandteil enthält. 27 Folglich können die vom vorlegenden Gericht angeführten Bezeichnungen aus Anhang VII Teil III Nr. 2 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1308/2013 – „Molke“, „Rahm“, „Butter“, „Buttermilch“, „Käse“ und „Joghurt“ – grundsätzlich nicht rechtmäßig verwendet werden, um ein rein pflanzliches Produkt zu bezeichnen. 28 Dasselbe Verbot muss gemäß Anhang VII Teil III Nr. 2 Unterabs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 1308/2013 auch in Bezug auf die tatsächlich für Milcherzeugnisse verwendeten Bezeichnungen im Sinne von Art. 17 der Verordnung Nr. 1169/2011 gelten. Insoweit ist daran zu erinnern, dass gemäß Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung ein Lebensmittel mit seiner rechtlich vorgeschriebenen Bezeichnung oder, wenn eine solche fehlt, mit seiner verkehrsüblichen Bezeichnung oder, falls es keine verkehrsübliche Bezeichnung gibt oder diese nicht verwendet wird, mit einer beschreibenden Bezeichnung bezeichnet wird. 29 Zwar ist der deutsche Begriff „Sahne“ – den das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen von dem in Anhang VII Teil III Nr. 2 Unterabs. 2 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung Nr. 1308/2013 aufgeführten Begriff „Rahm“ abgegrenzt hat – ebenso wenig wie der französische Begriff „chantilly“ in Anhang VII Teil III Nr. 2 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1308/2013 als Bezeichnung für Milcherzeugnisse aufgeführt, doch bezeichnet er den Rahm, der geschlagen werden kann. 30 Es handelt sich also um eine tatsächlich für Milcherzeugnisse verwendete Bezeichnung im Sinne von Art. 17 der Verordnung Nr. 1169/2011. Folglich kann grundsätzlich auch dieser Begriff nicht rechtmäßig zur Bezeichnung eines rein pflanzlichen Produkts verwendet werden. 31 In Bezug auf die Frage, ob die Hinzufügung klarstellender oder beschreibender Zusätze, die auf den pflanzlichen Ursprung des betreffenden Produkts hinweisen – wie etwa die vom vorlegenden Gericht erwähnten „aus Soja“ oder „aus Tofu“ – für die Beurteilung der rechtmäßigen Verwendung der Bezeichnung „Milch“ oder der durch die Verordnung Nr. 1308/2013 ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehaltenen Bezeichnungen für ein rein pflanzliches Produkt relevant sein kann, ist darauf hinzuweisen, dass nach Anhang VII Teil III Nr. 3 dieser Verordnung „[d]ie Bezeichnung ‚Milch‘ und die für Milcherzeugnisse verwendeten Bezeichnungen auch zusammen mit einem oder mehreren Worten für die Bezeichnung von zusammengesetzten Erzeugnissen verwendet werden können, bei denen kein Bestandteil einen beliebigen Milchbestandteil ersetzt oder ersetzen soll und bei dem die Milch oder ein Milcherzeugnis einen nach der Menge oder nach der für das Erzeugnis charakteristischen Eigenschaft wesentlichen Teil darstellt“. 32 Rein pflanzliche Produkte erfüllen diese Bedingungen jedoch nicht, da sie weder Milch noch Milcherzeugnisse enthalten. Anhang VII Teil III Nr. 3 der Verordnung Nr. 1308/2013 kann daher nicht als Rechtsgrundlage für eine rechtmäßige Verwendung der Bezeichnung „Milch“ oder der ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehaltenen Bezeichnungen ergänzt durch einen oder mehrere klarstellende oder beschreibende Zusätze, die auf den pflanzlichen Ursprung des in Rede stehenden Produkts hinweisen, für ein rein pflanzliches Produkt herangezogen werden. 33 Im Übrigen dürfen zwar die Bezeichnungen gemäß Anhang VII Teil III Nrn. 1, 2 und 3 der Verordnung Nr. 1308/2013 nach dessen Nr. 5 Unterabs. 1 nicht für andere als die dort aufgeführten Erzeugnisse verwendet werden, doch sieht Unterabs. 2 dieser Bestimmung vor, dass Unterabs. 1 „[nicht] gilt ... für Erzeugnisse, deren Art aufgrund ihrer traditionellen Verwendung genau bekannt ist, und/oder wenn die Bezeichnungen eindeutig zur Beschreibung einer charakteristischen Eigenschaft des Erzeugnisses verwandt werden“. 34 Das Verzeichnis der in dieser Bestimmung angesprochenen Erzeugnisse ist gemäß Art. 121 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1234/2007, jetzt Art. 91 Unterabs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1308/2013, in Anhang I des Beschlusses 2010/791 festgelegt. Somit fallen nur die in diesem Anhang aufgeführten Erzeugnisse unter die Ausnahme von Anhang VII Teil III Nr. 5 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1308/2013. 35 Für den vorliegenden Fall ist festzustellen, dass Soja und Tofu nicht in diesem Verzeichnis aufgeführt sind. 36 [Berichtigt durch Beschluss vom 19. Juli 2017] Außerdem führt das Verzeichnis zwar in französischer Sprache das Erzeugnis ‚crème de riz‘ auf, nicht aber in englischer Sprache das vom vorlegenden Gericht als eines der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Produkte angegebene ‚rice spray cream‘, noch nicht einmal das Produkt ‚rice cream‘. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich aus dem dritten Erwägungsgrund des Beschlusses 2010/791 ergibt, dass das mit diesem Beschluss erstellte Verzeichnis die Erzeugnisse enthält, für die die Mitgliedstaaten festgestellt haben, dass sie in ihrem Hoheitsgebiet den Kriterien des Anhangs VII Teil III Nr. 5 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1308/2013 entsprechen, und dass die Bezeichnungen der betreffenden Erzeugnisse gemäß ihrer traditionellen Verwendung in den verschiedenen Sprachen der Union angegeben sind. Somit kann allein aus dem Umstand, dass für die Bezeichnung ‚crème de riz‘ in französischer Sprache anerkannt wurde, dass sie diesen Kriterien entspricht, nicht geschlossen werden, dass dies auch für die Bezeichnung ‚rice cream‘ gilt. 37 Gemäß diesem Verzeichnis ist zwar die Verwendung des Begriffs „cream“ mit einem ergänzenden Zusatz bei der Bezeichnung eines Erzeugnisses unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, etwa zur Bezeichnung von alkoholischen Getränken oder von Suppen, doch scheint bei einer Bezeichnung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden „rice spray cream“ keine dieser Voraussetzungen erfüllt zu sein. Ferner ist die Verwendung des Begriffs „creamed“ zusammen mit der Bezeichnung eines pflanzlichen Produkts zulässig, doch nur dann, wenn „das Wort ‚creamed‘ die charakteristische Konsistenz des Erzeugnisses bezeichnet“. 38 Dies zeigt also, dass die vom vorlegenden Gericht beispielhaft genannten Produkte allesamt nicht in dem Verzeichnis aufgeführt sind und folglich keine der von diesem Gericht genannten Bezeichnungen unter die Ausnahme gemäß Anhang VII Teil III Nr. 5 Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1308/2013 fällt, was dieses jedoch für jedes einzelne der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Produkte zu prüfen hat. 39 Überdies sieht Art. 78 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1308/2013 vor, dass die Kommission delegierte Rechtsakte betreffend der Änderungen und Abweichungen oder Ausnahmen von den Begriffsbestimmungen und Verkehrsbezeichnungen des Anhangs VII dieser Verordnung erlassen darf, um einem nachweislich bestehenden Bedarf aufgrund geänderter Verbrauchererwartungen, des technischen Fortschritts oder des Bedarfs an Produktinnovation nachzukommen. Ein solcher Rechtsakt wurde für die Begriffsbestimmungen und Verkaufsbezeichnungen von Milch und Milcherzeugnissen von der Kommission bisher aber nicht erlassen. 40 Nach alledem können die Bezeichnung „Milch“ und die ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehaltenen Bezeichnungen nur dann rechtmäßig zur Bezeichnung rein pflanzlicher Produkte verwendet werden, wenn das Erzeugnis im Verzeichnis in Anhang I des Beschlusses 2010/791 aufgeführt ist, da die Verwendung klarstellender oder beschreibender Zusätze wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, die auf den pflanzlichen Ursprung des betreffenden Produkts hinweisen, keine Auswirkungen auf dieses Verbot hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 1999, UDL, C‑101/98, EU:C:1999:615, Rn. 25 bis 28). 41 Darüber hinaus geht aus Art. 78 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1308/2013 in Verbindung mit deren Anhang VII Teil III Nr. 6 Unterabs. 1 hervor, dass dieses Verbot sowohl für die Vermarktung als auch für die Werbung gilt. 42 Entgegen den Ausführungen von TofuTown wird die in den Rn. 40 und 41 des vorliegenden Urteils dargestellte Auslegung von den Zielen der Verordnung gedeckt und verstößt weder gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit noch gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. 43 Wie aus den Erwägungsgründen 64 und 76 der Verordnung hervorgeht, sollen die in Rede stehenden Bestimmungen im Interesse der Erzeuger, der Händler und der Verbraucher u. a. zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen für die Erzeugung und Vermarktung sowie der Qualität der Erzeugnisse, zum Verbraucherschutz und zum Erhalt der Wettbewerbsbedingungen beitragen. Diese Bestimmungen tragen zur Erreichung dieser Ziele bei, indem sie vorsehen, dass nur die Produkte, die den vorgegebenen Anforderungen entsprechen, mit der Bezeichnung „Milch“ und den ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehaltenen Bezeichnungen gekennzeichnet werden dürfen, und zwar auch dann, wenn diese Bezeichnungen durch klarstellende oder beschreibende Zusätze wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ergänzt werden. 44 Fehlte eine solche Beschränkung, könnten anhand dieser Bezeichnungen die Produkte, die über die mit der natürlichen Zusammensetzung der tierischen Milch verbundenen besonderen Eigenschaften verfügen, nicht mehr eindeutig bestimmt werden. Aufgrund der dadurch geschaffenen Verwechslungsgefahr widerspräche dies dem Verbraucherschutz. Ferner liefe dies dem Ziel der Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen für die Erzeugung und Vermarktung sowie der Qualität der „Milch“ und der „Milcherzeugnisse“ zuwider. 45 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane geeignet sein müssen, die mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele zu erreichen, ohne die Grenzen dessen zu überschreiten, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist. Stehen dabei mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die verursachten Nachteile dürfen nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1999, UDL, C‑101/98, EU:C:1999:615, Rn. 30, und vom 17. März 2011, AJD Tuna, C‑221/09, EU:C:2011:153, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Der Unionsgesetzgeber verfügt auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik über ein weites Ermessen, das der politischen Verantwortung entspricht, die ihm die Art. 40 und 43 AEUV übertragen, so dass die Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein kann, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des Ziels, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1999, UDL, C‑101/98, EU:C:1999:615, Rn. 31, und vom 17. Oktober 2013, Schaible, C‑101/12, EU:C:2013:661, Rn. 48). 47 Wie bereits in Rn. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, sollen die Bestimmungen, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, zur Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen für die Erzeugung und Vermarktung der betreffenden Erzeugnisse sowie ihrer Qualität, zum Verbraucherschutz und zum Erhalt der Wettbewerbsbedingungen beitragen. 48 Die Tatsache, dass die Möglichkeit der Verwendung der Bezeichnung „Milch“ und der ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehaltenen Bezeichnungen bei der Vermarktung oder der Werbung nur für die Produkte besteht, die den Anforderungen gemäß Anhang VII Teil III der Verordnung Nr. 1308/2013 entsprechen, garantiert den Erzeugern dieser Produkte unverfälschte Wettbewerbsbedingungen und den Verbrauchern, dass die so bezeichneten Produkte alle denselben Qualitätsstandards genügen. Gleichzeitig werden die Verbraucher vor Verwechslungen in Bezug auf die Zusammensetzung der Produkte geschützt, die sie zu erwerben beabsichtigen. Die in Rede stehenden Bestimmungen sind daher zur Erreichung dieser Ziele geeignet. Sie gehen auch nicht über das hinaus, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist, da – wie der Gerichtshof bereits entschieden hat – durch klarstellende oder beschreibende Zusätze bei der Bezeichnung der Produkte, die diesen Anforderungen nicht entsprechen, eine Verwechslungsgefahr in der Vorstellung des Verbrauchers nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Folglich verstoßen die in Rede stehenden Bestimmungen nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 1999, UDL, C‑101/98, EU:C:1999:615, Rn. 32 bis 34). 49 Der Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, eine solche Behandlung ist objektiv gerechtfertigt (Urteil vom 6. Dezember 2005, ABNA u. a., C‑453/03, C‑11/04, C‑12/04 und C‑194/04, EU:C:2005:741, Rn. 63, sowie, in diesem Sinne, Urteil vom 30. Juni 2016, Lidl, C‑134/15, EU:C:2016:498, Rn. 46). 50 Im vorliegenden Fall kann es nicht als ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung angesehen werden, dass die Erzeuger vegetarischer oder veganer Fleisch- oder Fisch-Alternativprodukte – wie TofuTown ausführt – in Bezug auf die Verwendung von Verkaufsbezeichnungen keinen Beschränkungen unterliegen, die denen vergleichbar wären, die von den Erzeugern vegetarischer oder veganer Alternativprodukte für Milch oder Milcherzeugnisse gemäß Anhang VII Teil III der Verordnung Nr. 1308/2013 zu beachten sind. 51 Jeder Sektor der durch diese Verordnung geschaffenen gemeinsamen Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse weist seine eigenen Besonderheiten auf. Dies hat zur Folge, dass der Vergleich der für die Regelung der verschiedenen Marktbereiche verwendeten technischen Mechanismen keine taugliche Grundlage für den Vorwurf der Diskriminierung zwischen ungleichen Erzeugnissen, die verschiedenen Vorschriften unterliegen, darstellen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Oktober 1982, Lion u. a., 292/81 und 293/81, EU:C:1982:375, Rn. 24, sowie vom 30. Juni 2016, Lidl, C‑134/15, EU:C:2016:498, Rn. 49). Milch und Milcherzeugnisse gehören einem anderen Sektor an als die verschiedenen Fleischarten oder die Erzeugnisse der Fischerei, die sogar einer anderen gemeinsamen Marktorganisation angehören. 52 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 78 Abs. 2 und Anhang VII Teil III der Verordnung Nr. 1308/2013 dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Bezeichnung „Milch“ und die nach dieser Verordnung ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehaltenen Bezeichnungen bei der Vermarktung oder Werbung zur Bezeichnung eines rein pflanzlichen Produkts verwendet werden, und zwar selbst dann, wenn diese Bezeichnungen durch klarstellende oder beschreibende Zusätze ergänzt werden, die auf den pflanzlichen Ursprung des in Rede stehenden Produkts hinweisen, es sei denn, das Erzeugnis ist in Anhang I des Beschlusses 2010/791 aufgeführt. Kosten 53 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt: Art. 78 Abs. 2 und Anhang VII Teil III der Verordnung (EU) Nr. 1308/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 922/72, (EWG) Nr. 234/79, (EG) Nr. 1037/2001 und (EG) Nr. 1234/2007 des Rates sind dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass die Bezeichnung „Milch“ und die nach dieser Verordnung ausschließlich Milcherzeugnissen vorbehaltenen Bezeichnungen bei der Vermarktung oder Werbung zur Bezeichnung eines rein pflanzlichen Produkts verwendet werden, und zwar selbst dann, wenn diese Bezeichnungen durch klarstellende oder beschreibende Zusätze ergänzt werden, die auf den pflanzlichen Ursprung des in Rede stehenden Produkts hinweisen, es sei denn, das Erzeugnis ist in Anhang I des Beschlusses 2010/791/EU der Kommission vom 20. Dezember 2010 zur Festlegung des Verzeichnisses der Erzeugnisse gemäß Anhang XII Abschnitt III Nummer 1 Unterabsatz 2 der Verordnung Nr. 1234/2007 des Rates aufgeführt. Prechal Rosas Jarašiūnas Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. Juni 2017. Der Kanzler Die Präsidentin der Siebten Kammer A. Calot Escobar A. Prechal (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Mai 2017.#Berlioz Investment Fund S.A. gegen Directeur de l'administration des contributions directes.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour administrative (Luxemburg).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/16/EU – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Art. 1 Abs. 1 – Art. 5 – An einen Dritten gerichtetes Informationsersuchen – Verweigerung einer Antwort – Sanktion – Begriff der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen – Prüfung durch die ersuchte Behörde – Kontrolle durch den Richter – Umfang – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 51 – Durchführung des Unionsrechts – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf – Zugang des Richters und des Dritten zum Informationsersuchen der ersuchenden Behörde.#Rechtssache C-682/15.
62015CJ0682
ECLI:EU:C:2017:373
2017-05-16T00:00:00
Wathelet, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62015CJ0682 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 16. Mai 2017 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 2011/16/EU — Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung — Art. 1 Abs. 1 — Art. 5 — An einen Dritten gerichtetes Informationsersuchen — Verweigerung einer Antwort — Sanktion — Begriff der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen — Prüfung durch die ersuchte Behörde — Kontrolle durch den Richter — Umfang — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 51 — Durchführung des Unionsrechts — Art. 47 — Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf — Zugang des Richters und des Dritten zum Informationsersuchen der ersuchenden Behörde“ In der Rechtssache C‑682/15 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) mit Entscheidung vom 17. Dezember 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Dezember 2015, in dem Verfahren Berlioz Investment Fund SA gegen Directeur de l’administration des contributions directes erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentinnen M. Berger und A. Prechal, des Richters A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, D. Šváby, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund (Berichterstatter), C. Vajda und S. Rodin, Generalanwalt: M. Wathelet, Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. November 2016, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der Berlioz Investment Fund SA, vertreten durch J.‑P. Drescher, avocat, — der luxemburgischen Regierung, vertreten durch A. Germeaux und D. Holderer als Bevollmächtigte im Beistand von P.‑E. Partsch und T. Evans, avocats, — der belgischen Regierung, vertreten durch J.‑C. Halleux und M. Jacobs als Bevollmächtigte, — der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze als Bevollmächtigten, — der französischen Regierung, zunächst vertreten durch S. Ghiandoni als Bevollmächtigte, dann durch E. de Moustier als Bevollmächtigte, — der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Garofoli, avvocato dello Stato, — der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, — der finnischen Regierung, vertreten durch S. Hartikainen als Bevollmächtigten, — der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal, J.‑F. Brakeland, H. Krämer und W. Roels als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Januar 2017 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1) sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Berlioz Investment Fund SA (im Folgenden: Berlioz) und dem Directeur de l’administration des contributions directes (Direktor der Verwaltung für direkte Abgaben, Luxemburg, im Folgenden: Directeur) über eine Geldbuße, die der Directeur gegen Berlioz verhängte, weil sie sich geweigert hatte, im Rahmen eines Informationsaustauschs mit der französischen Steuerverwaltung einem Informationsersuchen nachzukommen. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Charta 3 Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta bestimmt: „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen. …“ Richtlinie 2011/16 4 In den Erwägungsgründen 1, 2, 6 bis 9 und 19 der Richtlinie 2011/16 heißt es: „(1) … Durch die erhebliche Zunahme der Mobilität der Steuerpflichtigen, der Anzahl der grenzüberschreitenden Transaktionen und der Internationalisierung der Finanzinstrumente wird es für die Mitgliedstaaten immer schwieriger, die geschuldeten Steuern ordnungsgemäß festzusetzen. Diese zunehmende Schwierigkeit wirkt sich auf das Funktionieren der Steuersysteme aus und zieht Doppelbesteuerung nach sich, was wiederum zu Steuerbetrug und Steuerhinterziehung Anlass gibt … (2) … Um die negativen Auswirkungen dieser Situation zu beseitigen, ist es unumgänglich, eine neue Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten zu entwickeln. Es besteht Bedarf an Instrumenten zur Vertrauensbildung zwischen den Mitgliedstaaten, die dafür Sorge tragen, dass für alle Mitgliedstaaten dieselben Regeln, Pflichten und Rechte gelten. … (6) … Die vorliegende neue Richtlinie wird daher als geeignetes Instrument für eine wirksame Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden angesehen. (7) Diese Richtlinie baut auf dem durch die Richtlinie 77/799/EWG [des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern (ABl. 1977, L 336, S. 15)] Erreichten auf, sieht aber klarere und präzisere Regeln für die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten vor, wenn dies erforderlich ist, um, insbesondere was den Austausch von Informationen angeht, den Anwendungsbereich der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden zwischen den Mitgliedstaaten auszudehnen. … (8) [Es] sollten mehr direkte Kontakte zwischen den Verwaltungsdienststellen vorgesehen werden, um die Zusammenarbeit effizienter zu machen und sie zu beschleunigen. … (9) Mitgliedstaaten sollten Informationen über einzelne Fälle austauschen, wenn sie von einem anderen Mitgliedstaat darum ersucht werden, und sollten die notwendigen Ermittlungen durchführen, um die betreffenden Informationen zu beschaffen. Mit dem Standard der ‚voraussichtlichen Erheblichkeit‘ soll gewährleistet werden, dass ein Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten im größtmöglichen Umfang stattfindet, und zugleich klargestellt werden, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, sich an Beweisausforschungen (‚fishing expeditions‘) zu beteiligen oder um Informationen zu ersuchen, bei denen es unwahrscheinlich ist, dass sie für die Steuerangelegenheiten eines bestimmten Steuerpflichtigen erheblich sind. Zwar enthält Artikel 20 dieser Richtlinie Verfahrensvorschriften, aber diese müssen großzügig ausgelegt werden, damit der effiziente Informationsaustausch nicht vereitelt wird. … (19) Die Umstände, unter denen ein ersuchter Mitgliedstaat die Übermittlung von Informationen ablehnen kann, sollten eindeutig umschrieben und abgegrenzt sein, wobei bestimmten schützenswerten privaten Interessen ebenso Rechnung zu tragen ist wie dem öffentlichen Interesse.“ 5 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 bestimmt: „Diese Richtlinie legt die Regeln und Verfahren fest, nach denen die Mitgliedstaaten untereinander im Hinblick auf den Austausch von Informationen zusammenarbeiten, die für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten über die in Artikel 2 genannten Steuern voraussichtlich erheblich sind.“ 6 Art. 5 der Richtlinie sieht vor: „Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde übermittelt die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde alle in Artikel 1 Absatz 1 genannten Informationen, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat.“ 7 In Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie heißt es: „Die Informationen, die nach Maßgabe dieser Richtlinie in irgendeiner Form zwischen Mitgliedstaaten übermittelt werden, unterliegen der Geheimhaltungspflicht und genießen den Schutz, den das nationale Recht des Mitgliedstaats, der sie erhalten hat, für vergleichbare Informationen gewährt. … …“ 8 Art. 17 („Beschränkungen“) der Richtlinie bestimmt: „(1)   Eine ersuchte Behörde eines Mitgliedstaats erteilt einer ersuchenden Behörde eines anderen Mitgliedstaats die Informationen gemäß Artikel 5 unter der Voraussetzung, dass die ersuchende Behörde die üblichen Informationsquellen ausgeschöpft hat, die sie unter den gegebenen Umständen zur Erlangung der erbetenen Informationen genutzt haben könnte, ohne die Erreichung ihres Ziels zu gefährden. (2)   Die vorliegende Richtlinie verpflichtet einen ersuchten Mitgliedstaat nicht zu Ermittlungen oder zur Übermittlung von Informationen, wenn die Durchführung solcher Ermittlungen bzw. die Beschaffung der betreffenden Informationen durch diesen Mitgliedstaat für seine eigenen Zwecke mit seinen Rechtsvorschriften unvereinbar wäre. (3)   Die zuständige Behörde eines ersuchten Mitgliedstaats kann die Übermittlung von Informationen ablehnen, wenn der ersuchende Mitgliedstaat seinerseits aus rechtlichen Gründen nicht zur Übermittlung entsprechender Informationen in der Lage ist. (4)   Die Übermittlung von Informationen kann abgelehnt werden, wenn sie zur Preisgabe eines Handels-, Gewerbe- oder Berufsgeheimnisses oder eines Geschäftsverfahrens führen würde oder wenn die Preisgabe der betreffenden Information die öffentliche Ordnung verletzen würde. (5)   Die ersuchte Behörde teilt der ersuchenden Behörde die Gründe mit, aus denen ein Auskunftsersuchen abgelehnt wurde.“ 9 In Art. 18 („Pflichten“) der Richtlinie 2011/16 heißt es: „(1)   Ersucht ein Mitgliedstaat im Einklang mit dieser Richtlinie um Informationen, so trifft der ersuchte Mitgliedstaat die ihm zur Beschaffung von Informationen zur Verfügung stehenden Maßnahmen, um sich die erbetenen Informationen zu verschaffen, auch wenn dieser Mitgliedstaat solche Informationen möglicherweise nicht für eigene Steuerzwecke benötigt. Diese Verpflichtung gilt unbeschadet des Artikels 17 Absätze 2, 3 und 4, der jedoch nicht so ausgelegt werden kann, dass sich ein ersuchter Mitgliedstaat darauf berufen kann, um die Bereitstellung der Informationen allein deshalb abzulehnen, weil er kein eigenes Interesse daran hat. (2)   Artikel 17 Absätze 2 und 4 ist in keinem Fall so auszulegen, dass die ersuchte Behörde eines Mitgliedstaats die Erteilung von Informationen nur deshalb ablehnen kann, weil die Informationen sich bei einer Bank, einem sonstigen Finanzinstitut, einem Bevollmächtigten, Vertreter oder Treuhänder befinden oder sich auf Eigentumsanteile an einer Person beziehen. …“ 10 Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 sieht hinsichtlich von Ersuchen um Informationen und behördliche Ermittlungen gemäß Art. 5 der Richtlinie vor, soweit möglich ein von der Kommission angenommenes Formblatt zu verwenden. Art. 20 Abs. 2 lautet: „Das Standardformblatt nach Absatz 1 beinhaltet zumindest die folgenden Informationen, die von der ersuchenden Behörde zu übermitteln sind: a) die Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt; b) der steuerliche Zweck, zu dem die Informationen beantragt werden. Die ersuchende Behörde kann – soweit bekannt und im Einklang mit den Entwicklungen auf internationaler Ebene – Name und Anschrift jeder Person, von der angenommen wird, dass sie über die gewünschten Informationen verfügt, wie auch jede Angabe übermitteln, welche die Beschaffung von Informationen durch die ersuchte Behörde erleichtern könnte.“ 11 Art. 22 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2011/16 sieht vor: „Die Mitgliedstaaten treffen alle notwendigen Maßnahmen, um … c) das reibungslose Funktionieren der in dieser Richtlinie festgelegten Regelungen über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden sicherzustellen.“ Luxemburgisches Recht Gesetz vom 29. März 2013 12 Die Richtlinie 2011/16 wurde durch das Gesetz vom 29. März 2013 zur Umsetzung der Richtlinie 2011/16 und 1. zur Änderung des allgemeinen Steuergesetzes und 2. zur Aufhebung des geänderten Gesetzes vom 15. März 1979 über die internationale Amtshilfe im Bereich der direkten Steuern (Mémorial A 2013, S. 756, im Folgenden: Gesetz vom 29. März 2013) in luxemburgisches Recht umgesetzt. 13 Art. 6 des Gesetzes vom 29. März 2013 sieht vor: „Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde übermittelt die ersuchte luxemburgische Behörde ihr alle für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts des ersuchenden Mitgliedstaats über die in Art. 1 genannten Steuern voraussichtlich erheblichen Informationen, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat.“ 14 Art. 8 Abs. 1 des Gesetzes vom 29. März 2013 bestimmt: „Die ersuchte luxemburgische Behörde stellt die in Art. 6 genannten Informationen möglichst rasch, spätestens jedoch sechs Monate nach dem Zeitpunkt des Eingangs des Ersuchens zur Verfügung. Ist die ersuchte luxemburgische Behörde jedoch bereits im Besitz dieser Informationen, so werden sie innerhalb von zwei Monaten ab diesem Zeitpunkt zur Verfügung gestellt.“ Gesetz vom 25. November 2014 15 Das Gesetz vom 25. November 2014 über das auf den Informationsaustausch auf Ersuchen in Steuerangelegenheiten anzuwendende Verfahren sowie zur Änderung des Gesetzes vom 31. März 2010 über die Genehmigung der Besteuerungsübereinkünfte und über das darauf anzuwendende Verfahren für den Informationsaustausch auf Ersuchen (Mémorial A 2014, S. 4170, im Folgenden: Gesetz vom 25. November 2014) enthält folgende Bestimmungen. 16 Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 bestimmt: „Dieses Gesetz findet ab seinem Inkrafttreten auf Ersuchen um Austausch von Informationen in Steuerangelegenheiten Anwendung, die von der zuständigen Behörde des ersuchenden Staates auf folgender Grundlage gestellt werden: … 4. nach dem [Gesetz vom 29. März 2013] über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung; …“ 17 Art. 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 sieht vor: „(1)   Die Steuerbehörden sind befugt, die zur Durchführung des in den Übereinkünften und Gesetzen vorgesehenen Informationsaustauschs erbetenen Informationen aller Art von demjenigen zu verlangen, der über sie verfügt. (2)   Der Informationsinhaber ist verpflichtet, die verlangten Auskünfte vollständig, genau und unverändert innerhalb eines Monats nach Zustellung der die verlangten Auskünfte anordnenden Entscheidung zu erteilen. Diese Verpflichtung schließt die Übermittlung der unveränderten Schriftstücke ein, auf denen diese Auskünfte beruhen. …“ 18 In Art. 3 des Gesetzes vom 25. November 2014 heißt es: „(1)   Die zuständige Steuerverwaltung prüft die formelle Ordnungsmäßigkeit des Ersuchens um Informationsaustausch. Das Ersuchen um Informationsaustausch ist formell ordnungsgemäß, wenn es die Angabe der rechtlichen Grundlage und der ersuchenden zuständigen Behörde sowie die weiteren in den Übereinkünften und Gesetzen vorgesehenen Angaben enthält. … (3)   Verfügt die zuständige Steuerverwaltung nicht über die erbetenen Informationen, stellt der Leiter der zuständigen Steuerbehörde oder dessen Vertreter dem Informationsinhaber seine die Erteilung der erbetenen Auskünfte anordnende Entscheidung durch eingeschriebenen Brief zu. Die Zustellung der Entscheidung an den Inhaber der erbetenen Informationen gilt als Zustellung an jede andere darin genannte Person. (4)   Das Ersuchen um Informationsaustausch darf nicht bekannt gegeben werden. Die Anordnung enthält nur die Angaben, auf die der Informationsinhaber angewiesen ist, um zu erkennen, welche Auskünfte verlangt werden. …“ 19 Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 bestimmt: „Werden die verlangten Auskünfte nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung der die Erteilung der erbetenen Auskünfte anordnenden Entscheidung erteilt, kann gegen den Informationsinhaber eine steuerliche Geldbuße von bis zu 250000 Euro verhängt werden. Ihre Höhe wird vom Leiter der zuständigen Finanzbehörde oder dessen Vertreter festgesetzt.“ 20 In Art. 6 des Gesetzes vom 25. November 2014 heißt es: „(1)   Gegen die in Art. 3 Abs. 1 und 3 genannten Ersuchen um Informationsaustausch und Anordnungen findet kein Rechtsbehelf statt. (2)   Gegen die in Art. 5 genannten Entscheidungen kann der Informationsinhaber Abänderungsklage vor dem Verwaltungsgericht erheben. Diese Klage ist innerhalb eines Monats nach Zustellung der Entscheidung an den Inhaber der verlangten Informationen zu erheben. Die Klage hat aufschiebende Wirkung. … Gegen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts kann Berufung zur Cour administrative [Verwaltungsgerichtshof] eingelegt werden. Die Berufung muss innerhalb von 15 Tagen nach Zustellung des Urteils durch die Geschäftsstelle eingelegt werden … Die Cour administrative entscheidet innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klagebeantwortung, ansonsten innerhalb eines Monats nach Ablauf der Frist zur Einreichung dieses Schriftsatzes.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 21 Berlioz ist eine Aktiengesellschaft luxemburgischen Rechts, die Dividenden erhielt, die ihr ihre Tochtergesellschaft, die vereinfachte Aktiengesellschaft französischen Rechts Cofima, unter Befreiung von der Quellensteuer gezahlt hatte. 22 Am 3. Dezember 2014 richtete die französische Steuerverwaltung aufgrund von Zweifeln, ob die von Cofima in Anspruch genommene Befreiung die Voraussetzungen nach französischem Recht erfüllt, an die luxemburgische Steuerverwaltung ein u. a. auf die Richtlinie 2011/16 gestütztes Informationsersuchen, das Berlioz betraf. 23 Infolge dieses Ersuchens erließ der Directeur am 16. März 2015 eine Entscheidung, in der er darauf hinwies, dass die französischen Steuerbehörden die Steuerangelegenheiten von Cofima prüften und Auskünfte benötigten, um sich zur Anwendung der Quellensteuer auf die von Cofima an Berlioz ausgeschütteten Dividenden äußern zu können. In der Entscheidung forderte er Berlioz gemäß Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 auf, ihm eine Reihe von Informationen mitzuteilen, und bat sie insbesondere um — Mitteilung unter Vorlage entsprechender Belege, ob die Gesellschaft über einen tatsächlichen Verwaltungssitz in Luxemburg verfüge und welches ihre Hauptmerkmale seien, d. h. die Beschreibung dieses Sitzes, die Fläche ihrer Büroräume, die ihr gehörende Einrichtung und IT‑Ausstattung, eine Kopie des Mietvertrags über die Geschäftsräume und die Geschäftsanschrift; — Einreichung einer Liste ihrer Arbeitnehmer mit Angabe ihrer Funktion in der Gesellschaft und Identifizierung der dem Gesellschaftssitz zugewiesenen Arbeitnehmer; — Mitteilung, ob sie in Luxemburg Leiharbeitnehmer beschäftige; — Mitteilung, ob zwischen Berlioz und Cofima ein Vertrag bestehe, und gegebenenfalls um Einreichung einer Kopie dieses Vertrags; — Mitteilung ihrer Beteiligungen an anderen Unternehmen und Angabe, wie diese Beteiligungen finanziert worden seien, unter Vorlage entsprechender Belege; — Mitteilung der Namen und Anschriften ihrer Anteilsinhaber sowie der Höhe und der Beteiligungsquote der von ihnen jeweils gehaltenen Kapitalanteile; — Mitteilung der Beträge, mit denen die Beteiligungen an Cofima vor deren Hauptversammlung vom 7. März 2012 bei den Aktiva von Berlioz verbucht worden seien, und Einreichung einer chronologischen Übersicht der Eingangswerte der als Aktiva verbuchten Beteiligungen an Cofima anlässlich der Einbringungen vom 5. Dezember 2002 und 31. Oktober 2003 sowie des Erwerbs vom 2. Oktober 2007. 24 Am 21. April 2015 äußerte Berlioz, dass sie der Anordnung vom 16. März 2015 Folge leiste, außer in Bezug auf die Namen und Anschriften ihrer Gesellschafter sowie auf die Höhe und die Beteiligungsquote der von den einzelnen Gesellschaftern jeweils gehaltenen Kapitalanteile, und begründete das damit, dass diese Informationen nicht im Sinne der Richtlinie 2011/16 voraussichtlich erheblich seien für die Beurteilung, ob die Dividendenausschüttungen ihrer Tochtergesellschaft dem Quellenabzug unterlägen, was von der französischen Steuerverwaltung geprüft werde. 25 Mit Entscheidung vom 18. Mai 2015 verhängte der Directeur gemäß Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 eine Geldbuße in Höhe von 250000 Euro gegen Berlioz, weil sie sich geweigert hatte, diese Informationen mitzuteilen. 26 Am 18. Juni 2015 erhob Berlioz beim Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, Luxemburg) Klage gegen die Entscheidung des Directeur, mit der eine Sanktion gegen sie verhängt worden war, und beantragte die Prüfung der Begründetheit der Anordnung vom 16. März 2015. 27 Mit Urteil vom 13. August 2015 gab das Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) dem Hauptantrag auf Abänderung teilweise statt und setzte die Geldbuße auf 150000 Euro herab, wies die Klage im Übrigen jedoch unter Hinweis darauf ab, dass über den hilfsweise gestellten Aufhebungsantrag nicht zu entscheiden sei. 28 Hiergegen legte Berlioz mit Berufungsschrift vom 31. August 2015 Berufung bei der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) ein, in der sie vortrug, dass die auf Art. 6 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 gestützte Weigerung des Tribunal administratif (Verwaltungsgericht), die Begründetheit der Anordnung vom 16. März 2015 zu prüfen, sie in ihrem durch Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf verletze. 29 Die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) vertrat die Auffassung, es könne erforderlich sein, die Charta, insbesondere deren Art. 47, der das Recht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK widerspiegele, zu berücksichtigen, und forderte die Parteien des Ausgangsverfahrens auf, hierzu Stellung zu nehmen. 30 Die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) fragt sich, ob ein Verwaltungsunterworfener wie Berlioz ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf habe, wenn er die Gültigkeit der die Grundlage der gegen ihn verhängten Sanktion darstellenden Anordnung – zumindest auf eine Einrede hin – nicht überprüfen lassen könne. Er stellt insbesondere Fragen zu dem in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 enthaltenen Begriff der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen und zum Umfang der Kontrolle, die die Steuerbehörden und die Gerichte des ersuchten Staates insoweit auszuüben hätten, ohne den Zweck der Richtlinie zu beeinträchtigen. 31 Unter diesen Umständen hat die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Führt ein Mitgliedstaat das Unionsrecht durch und eröffnet daher den Anwendungsbereich der Charta gemäß deren Art. 51 Abs. 1, wenn er in einer Situation wie der hier vorliegenden gegen einen Verwaltungsunterworfenen eine Geldbuße wegen des Vorwurfs der Verletzung seiner Mitwirkungspflichten festsetzt, die sich aus einer Anordnung ergeben, die die zuständige nationale Behörde auf der Grundlage der zu diesem Zweck eingeführten Verfahrensvorschriften des innerstaatlichen Rechts im Rahmen der diesem Mitgliedstaat in seiner Eigenschaft als ersuchtem Staat obliegenden Erledigung eines Ersuchens um Austausch von Informationen erlassen hat, das von einem anderen Mitgliedstaat ausgeht und von diesem u. a. auf die Bestimmungen der Richtlinie 2011/16 über den Informationsaustausch auf Ersuchen gestützt wird? 2. Falls die Anwendbarkeit der Charta auf den vorliegenden Fall bejaht wird: Kann sich der Verwaltungsunterworfene auf Art. 47 der Charta berufen, wenn er der Ansicht ist, dass die vorstehend genannte gegen ihn festgesetzte Geldbuße darauf gerichtet sei, ihn zur Mitteilung von Informationen im Rahmen der von der zuständigen Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, in dem er ansässig ist, besorgten Erledigung eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgehenden Auskunftsersuchens zu verpflichten, das hinsichtlich des tatsächlichen steuerlichen Ziels in keiner Weise gerechtfertigt sei, so dass es im vorliegenden Fall an einem legitimen Ziel fehle, und das darauf abziele, Informationen zu erhalten, denen es an der voraussichtlichen Erheblichkeit für den betreffenden Besteuerungsfall fehle? 3. Falls die Anwendbarkeit der Charta auf den vorliegenden Fall bejaht wird: Erfordert das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf Zugang zu einem unparteiischen Gericht, wie es in Art. 47 der Charta verankert ist und ohne dass nach Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen zulässig wären, dass das zuständige nationale Gericht zu unbeschränkter Nachprüfung befugt sein und somit die Befugnis haben muss, zumindest auf eine entsprechende Einrede hin die Gültigkeit einer Anordnung, die die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats im Rahmen der Erledigung eines von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats u. a. auf der Grundlage der Richtlinie 2011/16 vorgelegten Auskunftsersuchens erlassen hat, im Rahmen der Klage zu überprüfen, die der Dritte, der die Informationen besitzt und Adressat der Anordnung ist, erhoben hat und die gegen die Festsetzung einer Geldbuße wegen der ihm vorgeworfenen Verletzung seiner Pflicht zur Mitwirkung im Rahmen des genannten Ersuchens gerichtet ist? 4. Falls die Anwendbarkeit der Charta auf den vorliegenden Fall bejaht wird: Sind Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 im Licht der Parallelität zum Erfordernis der voraussichtlichen Erheblichkeit, das sich aus dem Musterabkommen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen ergibt, einerseits und des in Art. 4 EUV verankerten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit andererseits sowie im Licht des Regelungszwecks der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen, dass die voraussichtliche Erheblichkeit der Informationen, um die ein Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat ersucht, für den betreffenden Besteuerungsfall und den angegebenen steuerlichen Zweck eine Voraussetzung darstellt, die das Auskunftsersuchen erfüllen muss, um die Verpflichtung der zuständigen Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, ihm zu entsprechen, auszulösen und eine von ihr gegen einen die Informationen besitzenden Dritten erlassene Anordnung zu rechtfertigen? 5. Falls die Anwendbarkeit der Charta auf den vorliegenden Fall bejaht wird: Sind Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die die Prüfung der Gültigkeit eines Auskunftsersuchens durch die zuständige nationale Behörde in ihrer Eigenschaft als Behörde des ersuchten Mitgliedstaats allgemein auf eine Kontrolle der formellen Ordnungsmäßigkeit beschränkt, und dass sie das nationale Gericht im Rahmen einer bei ihm anhängigen Klage, wie sie oben in der dritten Vorlagefrage beschrieben ist, verpflichten, die Einhaltung der Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen unter allen Gesichtspunkten, die mit dem jeweiligen konkreten Besteuerungsfall, dem geltend gemachten steuerlichen Zweck und der Beachtung von Art. 17 der Richtlinie 2011/16 in Zusammenhang stehen, zu prüfen? 6. Falls die Anwendbarkeit der Charta auf den vorliegenden Fall bejaht wird: Steht Art. 47 Abs. 2 der Charta einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegen, die es untersagt, dem zuständigen nationalen Gericht des ersuchten Staates im Rahmen einer bei ihm anhängigen Klage, wie sie oben in der dritten Vorlagefrage beschrieben ist, das von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats gestellte Auskunftsersuchen vorzulegen, und gebietet er es, dem zuständigen nationalen Gericht dieses Dokument vorzulegen und dem die Informationen besitzenden Dritten Zugang zu ihm zu gewähren oder zumindest dem nationalen Gericht dieses Dokument vorzulegen, ohne dass dieser Dritte – wegen der Vertraulichkeit dieses Dokuments – Zugang zu ihm erhält, sofern sämtliche Schwierigkeiten, die dem Dritten aufgrund einer Beschränkung seiner Rechte entstehen, durch das Verfahren vor dem zuständigen nationalen Gericht hinreichend aufgewogen werden? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 32 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 51 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat im Sinne dieser Vorschrift das Unionsrecht durchführt und daher die Charta anwendbar ist, wenn er in seinen Rechtsvorschriften eine Geldbuße gegen einen Verwaltungsunterworfenen vorsieht, der sich im Rahmen eines u. a. auf die Bestimmungen der Richtlinie 2011/16 gestützten Informationsaustauschs zwischen Steuerbehörden weigert, Informationen mitzuteilen. 33 Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gelten deren Bestimmungen für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Daher ist zu prüfen, ob eine nationale Maßnahme, die eine solche Sanktion vorsieht, als eine Durchführung des Unionsrechts angesehen werden kann. 34 Insoweit ist festzustellen, dass die Richtlinie 2011/16 den Mitgliedstaaten bestimmte Pflichten auferlegt. Insbesondere sieht Art. 5 der Richtlinie vor, dass die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde bestimmte Informationen übermittelt. 35 Außerdem trifft der ersuchte Mitgliedstaat nach Art. 18 („Pflichten“) der Richtlinie 2011/16 die ihm zur Beschaffung von Informationen zur Verfügung stehenden Maßnahmen, um sich die erbetenen Informationen zu verschaffen. 36 Ferner müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 22 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2011/16 alle notwendigen Maßnahmen treffen, um das reibungslose Funktionieren der in der Richtlinie festgelegten Regelungen über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden sicherzustellen. 37 Unter Verweis auf die im nationalen Recht vorhandenen Instrumente zur Beschaffung von Informationen schreibt die Richtlinie 2011/16 den Mitgliedstaaten somit vor, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um sich die erbetenen Informationen zu verschaffen, damit sie ihre Pflichten im Bereich des Informationsaustauschs erfüllen. 38 Um die praktische Wirksamkeit der Richtlinie sicherzustellen, müssen diese Maßnahmen jedoch Instrumente wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Geldbuße umfassen, die gewährleisten, dass für den Verwaltungsunterworfenen ein hinreichender Anreiz dafür besteht, den Ersuchen der Steuerbehörden nachzukommen, und es der ersuchten Behörde damit ermöglichen, ihren Pflichten gegenüber der ersuchenden Behörde nachzukommen. 39 Der Umstand, dass die Richtlinie 2011/16 nicht ausdrücklich die Anwendung von Sanktionen vorsieht, steht der Annahme, dass Sanktionen zur Durchführung der Richtlinie und folglich zum Anwendungsbereich des Unionsrechts gehören, nicht entgegen. Denn der Begriff „zur Beschaffung von Informationen zur Verfügung stehende Maßnahmen“ im Sinne von Art. 18 der Richtlinie und der Begriff „notwendige Maßnahmen, um das reibungslose Funktionieren der Regelungen über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden sicherzustellen“ im Sinne von Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie können solche Maßnahmen umfassen. 40 Daher ist es unerheblich, dass die nationale Bestimmung, die einer Sanktion wie der gegen Berlioz verhängten als Grundlage dient, in einem Gesetz steht, das nicht zur Umsetzung der Richtlinie 2011/16 verabschiedet wurde, da die Anwendung der nationalen Bestimmung die Anwendung der Richtlinie gewährleisten soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 28). 41 Eine nationale Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die eine Sanktion wegen Nichtbefolgung eines Ersuchens der nationalen Steuerbehörde vorsieht, das es der Behörde ermöglichen soll, die in der Richtlinie 2011/16 vorgesehenen Pflichten einzuhalten, muss infolgedessen als eine Durchführung der Richtlinie angesehen werden. 42 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 51 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat im Sinne dieser Vorschrift das Unionsrecht durchführt und daher die Charta anwendbar ist, wenn er in seinen Rechtsvorschriften eine Geldbuße gegen einen Verwaltungsunterworfenen vorsieht, der sich im Rahmen eines u. a. auf die Bestimmungen der Richtlinie 2011/16 gestützten Austauschs zwischen Steuerbehörden weigert, Informationen mitzuteilen. Zur zweiten Frage 43 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Verwaltungsunterworfener, gegen den eine Geldbuße verhängt wurde, weil er eine Verwaltungsentscheidung nicht befolgt hat, mit der im Rahmen eines Austauschs zwischen nationalen Steuerbehörden aufgrund der Richtlinie 2011/16 von ihm die Mitteilung von Informationen verlangt wurde, das Recht hat, die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung anzufechten. Zum Bestehen eines auf Art. 47 der Charta gestützten Rechts auf einen Rechtsbehelf 44 Nach Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) der Charta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Diesem Recht entspricht die Pflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. 45 Mehrere Regierungen haben vorgetragen, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens kein „durch das Recht der Union [garantiertes Recht]“ im Sinne von Art. 47 der Charta vorliege, da die Richtlinie 2011/16 Einzelpersonen keine Rechte verleihe. Nach Ansicht dieser Regierungen betrifft die Richtlinie 2011/16 wie die vom Gerichtshof im Urteil vom 22. Oktober 2013, Sabou (C‑276/12, EU:C:2013:678), geprüfte Richtlinie 77/799 nur den Informationsaustausch zwischen Steuerverwaltungen und verleihe nur ihnen Rechte. Folglich könne ein Verwaltungsunterworfener wie Berlioz nicht aufgrund des Art. 47 der Charta beanspruchen, dass er über ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verfüge. 46 Der Gerichtshof hat insoweit in den Rn. 30 bis 36 des genannten Urteils entschieden, dass die Richtlinie 77/799, die die Regelung der Zusammenarbeit der Finanzbehörden der Mitgliedstaaten zum Gegenstand hat, die Erteilung von Auskünften zwischen zuständigen Behörden koordiniert, indem sie den Mitgliedstaaten bestimmte Verpflichtungen auferlegt, dem Steuerpflichtigen jedoch keine spezifischen Rechte hinsichtlich der Teilnahme an dem Verfahren des Informationsaustauschs zwischen diesen Behörden verleiht. Insbesondere sieht die Richtlinie 77/799 keine Verpflichtung für diese Behörden vor, den Steuerpflichtigen anzuhören. 47 Die Richtlinie 2011/16 baut nach ihrem siebten Erwägungsgrund auf dem durch die Richtlinie 77/799 Erreichten auf, indem sie klarere und präzisere Regeln für die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten vorsieht, wenn dies erforderlich ist, um den Anwendungsbereich dieser Zusammenarbeit auszudehnen. Es ist festzustellen, dass die Richtlinie 2011/16 damit ein Ziel verfolgt, das dem der Richtlinie 77/799 entspricht, die sie ersetzt. 48 Dieser Umstand bedeutet jedoch nicht, dass ein Verwaltungsunterworfener in der Lage von Berlioz im Rahmen der Anwendung der Richtlinie 2011/16 nicht gemäß Art. 47 der Charta seine Sache vor einem Gericht verteidigen kann. 49 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs finden die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte nämlich in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung und umfasst die Anwendbarkeit des Unionsrechts die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19 bis 21, und vom 26. September 2013, Texdata Software, C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 72 und 73). 50 Hier geht es im Ausgangsrechtsstreit um eine Sanktion gegen einen Verwaltungsunterworfenen wegen Nichtbefolgung einer Entscheidung, mit der ihm gegenüber angeordnet wurde, der ersuchten Behörde Informationen mitzuteilen, die es dieser Behörde ermöglichen sollen, einem Ersuchen nachzukommen, das die ersuchende Behörde u. a. aufgrund der Richtlinie 2011/16 gestellt hatte. Da sich diese Sanktion auf eine nationale Bestimmung stützt, mit der – wie aus der Antwort auf die erste Frage hervorgeht – im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta das Recht der Union durchgeführt wird, sind die Bestimmungen der Charta, insbesondere Art. 47, folglich auf die Umstände des Ausgangsrechtsstreits anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2013, Texdata Software, C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 74 bis 77). 51 Insbesondere zu dem Erfordernis eines durch das Recht der Union garantierten Rechts im Sinne von Art. 47 der Charta ist darauf hinzuweisen, dass der Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person nach einer ständigen Rechtsprechung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt (Urteile vom 21. September 1989, Hoechst/Kommission, 46/87 und 227/88, EU:C:1989:337, Rn. 19, und vom 22. Oktober 2002, Roquette Frères, C‑94/00, EU:C:2002:603, Rn. 27, und Beschluss vom 17. November 2005, Minoan Lines/Kommission, C‑121/04 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2005:695, Rn. 30). 52 Diesen Schutz kann ein Verwaltungsunterworfener wie Berlioz gegen einen ihn belastenden Rechtsakt wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Anordnung und Sanktion geltend machen, so dass sich dieser Verwaltungsunterworfene auf ein durch das Recht der Union garantiertes Recht im Sinne von Art. 47 der Charta berufen kann, womit ihm ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zusteht. Zum Gegenstand des Rechts auf einen Rechtsbehelf 53 Da es sich um eine Sanktion handelt, ist zu prüfen, ob ein Recht auf einen Rechtsbehelf gegen diese Maßnahme – wie er in der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung vorgesehen ist – genügt, damit der Verwaltungsunterworfene seine Rechte aus Art. 47 der Charta geltend machen kann, oder ob dieser Artikel verlangt, dass der Verwaltungsunterworfene bei dieser Gelegenheit auch die Rechtmäßigkeit der Anordnung anfechten kann, auf die sich die Sanktion stützt. 54 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der nunmehr in Art. 47 der Charta zum Ausdruck kommt. Mit Art. 47 der Charta wird der sich aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK ergebende Schutz im Unionsrecht gewährleistet. Daher ist lediglich Art. 47 der Charta heranzuziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2012, Otis u. a., C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 46 und 47). 55 Art. 47 Abs. 2 der Charta sieht vor, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verhandelt wird. Die Wahrung dieses Rechts setzt voraus, dass die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, die die Voraussetzungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht selbst erfüllt, einer späteren Kontrolle durch ein Gericht unterliegt, das insbesondere befugt sein muss, sich mit allen relevanten Fragen zu befassen. 56 Um den Anforderungen von Art. 47 der Charta Genüge zu tun, muss das nationale Gericht, bei dem eine Klage gegen die dem Verwaltungsunterworfenen wegen Nichtbefolgung der Anordnung auferlegte Geldbuße anhängig ist – wie der Generalanwalt in Nr. 80 seiner Schlussanträge ausgeführt hat –, folglich die Rechtmäßigkeit der Anordnung prüfen können. 57 Die Kommission hat geltend gemacht, die Bejahung eines Rechts des Verwaltungsunterworfenen auf einen Rechtsbehelf gegen eine solche Anordnung liefe darauf hinaus, ihm mehr Verfahrensrechte zuzuerkennen als einem Steuerpflichtigen. Aus Rn. 40 des Urteils vom 22. Oktober 2013, Sabou (C‑276/12, EU:C:2013:678), ergebe sich, dass das an einen Steuerpflichtigen gerichtete Informationsersuchen, das in die Ermittlungsphase falle, während der Informationen gesammelt würden, nur eine Handlung zur Vorbereitung der abschließenden Entscheidung sei und nicht angefochten werden könne. 58 Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ist jedoch von dem der Rechtssache zu unterscheiden, in der das Urteil vom 22. Oktober 2013, Sabou (C‑276/12, EU:C:2013:678), ergangen ist. In jener Rechtssache ging es nämlich um Informationsersuchen der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats an die Steuerverwaltung eines anderen Mitgliedstaats und insbesondere um das Recht des im ersuchenden Mitgliedstaat einer Steuerprüfung unterzogenen Steuerpflichtigen auf Teilnahme an dem Verfahren, auf das diese Informationsersuchen zurückgehen. An den dort betroffenen Verwaltungsunterworfenen wurde jedoch – anders als dies im Ausgangsverfahren bei Berlioz der Fall ist – kein Auskunftsersuchen gerichtet. Somit hatte der Gerichtshof in der jenem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache darüber zu entscheiden, ob der Steuerpflichtige, hinsichtlich dessen die nationalen Steuerbehörden sich untereinander um Informationen ersuchten, ein Recht auf Anhörung im Rahmen dieses Verfahrens hatte, und nicht – wie vorliegend – über das Bestehen eines Rechts auf einen Rechtsbehelf zugunsten eines Verwaltungsunterworfenen des ersuchten Mitgliedstaats gegen eine Sanktion, die gegen diesen Verwaltungsunterworfenen verhängt wurde, weil er eine Anordnung nicht befolgt hatte, die die ersuchte Behörde nach einem von der ersuchenden Behörde an sie gerichteten Informationsersuchen ihm gegenüber erlassen hatte. 59 Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Verwaltungsunterworfener, gegen den eine Geldbuße verhängt wurde, weil er eine Verwaltungsentscheidung nicht befolgt hatte, mit der im Rahmen eines Austauschs zwischen nationalen Steuerbehörden aufgrund der Richtlinie 2011/16 von ihm die Mitteilung von Informationen verlangt wurde, das Recht hat, die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung anzufechten. Zur vierten Frage 60 Mit seiner vierten Frage, die vor der dritten Frage zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen sind, dass die „voraussichtliche Erheblichkeit“ der von einem Mitgliedstaat bei einem anderen Mitgliedstaat erbetenen Informationen eine Voraussetzung ist, die das Informationsersuchen erfüllen muss, damit der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, ihm zu entsprechen, und dadurch eine Voraussetzung der Rechtmäßigkeit der Anordnung ist, die dieser Mitgliedstaat an einen Verwaltungsunterworfenen gerichtet hat. 61 Nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16, der deren Gegenstand betrifft, arbeiten die Mitgliedstaaten untereinander im Hinblick auf den Austausch von Informationen zusammen, die für die ersuchende Verwaltung angesichts der steuerrechtlichen Vorschriften des Mitgliedstaats, zu dem diese Verwaltung gehört, „voraussichtlich erheblich“ sind. 62 Art. 5 der Richtlinie 2011/16 nimmt auf diese Informationen Bezug, da er vorsieht, dass die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde auf deren Ersuchen alle in Art. 1 Abs. 1 genannten Informationen übermittelt, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat. Somit legt Art. 5 der ersuchten Behörde eine Pflicht auf. 63 Aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen ergibt sich, dass der Ausdruck „voraussichtlich erheblich“ die Qualität bezeichnet, die die erbetenen Informationen aufweisen müssen. Die Pflicht der ersuchten Behörde nach Art. 5 der Richtlinie 2011/16, mit der ersuchenden Behörde zusammenzuarbeiten, erstreckt sich nicht auf die Mitteilung von Informationen, denen diese Qualität fehlt. 64 Daher stellt die Qualität „voraussichtliche Erheblichkeit“ der erbetenen Informationen eine Voraussetzung für ein Ersuchen dar, das diese Informationen betrifft. 65 Es bleibt festzustellen, von wem und wie diese Qualität bewertet wird und ob der Verwaltungsunterworfene, an den sich die ersuchte Behörde wendet, um die von der ersuchenden Behörde erbetenen Informationen zu erhalten, geltend machen kann, dass es an dieser Qualität mangelt. 66 Insoweit ist auf den Wortlaut des neunten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2011/16 hinzuweisen, wonach mit dem Standard der „voraussichtlichen Erheblichkeit“ gewährleistet werden soll, dass ein Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten im größtmöglichen Umfang stattfindet, und zugleich klargestellt werden soll, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, sich an Beweisausforschungen („fishing expeditions“) zu beteiligen oder um Informationen zu ersuchen, bei denen es unwahrscheinlich ist, dass sie für die Steuerangelegenheiten eines bestimmten Steuerpflichtigen erheblich sind. 67 Wie mehrere Regierungen und die Kommission geltend gemacht haben, spiegelt dieser Begriff der voraussichtlichen Erheblichkeit den in Art. 26 des OECD-Musterabkommens verwendeten Begriff wider, sowohl wegen der Ähnlichkeit der verwendeten Konzepte als auch wegen der Bezugnahme auf die OECD-Abkommen in der Begründung des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates KOM(2009) 29 endgültig vom 2. Februar 2009 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung, der zum Erlass der Richtlinie 2011/16 geführt hat. Nach den am 17. Juli 2012 angenommenen Kommentaren des OECD-Rates zu diesem Artikel steht es den Vertragsstaaten nicht frei, „fishing expeditions“ zu unternehmen oder um Auskünfte zu ersuchen, die wahrscheinlich für die Steuerangelegenheiten eines bestimmten Steuerpflichtigen unerheblich sind. Es muss vielmehr vernünftigerweise die Möglichkeit bestehen, dass sich die erbetenen Auskünfte als erheblich erweisen. 68 Der Zweck des Begriffs der voraussichtlichen Erheblichkeit, wie er sich aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 ergibt, besteht somit darin, der ersuchenden Behörde zu ermöglichen, alle Informationen zu erhalten, die ihr für ihre Ermittlung gerechtfertigt erscheinen, ohne ihr jedoch zu gestatten, den Rahmen dieser Ermittlung offenkundig zu überschreiten oder die ersuchte Behörde übermäßig zu belasten. 69 Entscheidend ist nämlich, dass die ersuchende Behörde im Rahmen ihrer Ermittlung die Informationen bestimmen kann, die sie im Hinblick auf ihr nationales Recht für notwendig hält, um im Einklang mit dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 die geschuldeten Steuern ordnungsgemäß festzusetzen. 70 Daher hat diese Behörde, die die dem Informationsersuchen zugrunde liegende Ermittlung führt, anhand der Umstände des Falles zu beurteilen, ob die erbetenen Informationen je nach Verlauf des Verfahrens und gemäß Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 nach Ausschöpfung der üblichen Informationsquellen, die die Behörde genutzt haben könnte, für diese Ermittlung voraussichtlich erheblich sind. 71 Die ersuchende Behörde verfügt insoweit zwar über einen Beurteilungsspielraum, doch kann sie nicht um Informationen ersuchen, die für die betreffende Ermittlung völlig unerheblich sind. 72 Ein solches Ersuchen wäre nämlich nicht mit den Art. 1 und 5 der Richtlinie 2011/16 vereinbar. 73 Hinsichtlich des Verwaltungsunterworfenen folgt aus der Antwort auf die zweite Frage, dass ihm in dem Fall, in dem sich die ersuchte Behörde gleichwohl an ihn wendet und gegebenenfalls eine Anordnung an ihn richtet, um die erbetenen Informationen zu erhalten, das Recht zuerkannt werden muss, vor einem Gericht geltend zu machen, dass dieses Informationsersuchen nicht mit Art. 5 der Richtlinie 2011/16 vereinbar und die sich daraus ergebende Anordnung rechtswidrig ist. 74 Daher ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen sind, dass die „voraussichtliche Erheblichkeit“ der von einem Mitgliedstaat bei einem anderen Mitgliedstaat erbetenen Informationen eine Voraussetzung ist, die das Informationsersuchen erfüllen muss, damit der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, ihm zu entsprechen, und dadurch eine Voraussetzung der Rechtmäßigkeit der von diesem Mitgliedstaat an einen Verwaltungsunterworfenen gerichteten Anordnung und der gegen ihn wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängten Sanktion ist. Zur dritten und zur fünften Frage 75 Mit seiner dritten und seiner fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass das nationale Gericht im Rahmen einer Klage eines Verwaltungsunterworfenen gegen eine Sanktion, die die ersuchte Behörde gegen ihn wegen Nichtbefolgung einer Anordnung verhängt hat, die sie infolge eines von der ersuchenden Behörde aufgrund der Richtlinie 2011/16 an sie gerichteten Informationsersuchens erlassen hatte, eine Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Anordnung hat. Zum anderen möchte es wissen, ob Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die von der ersuchten Behörde vorgenommene Prüfung der Gültigkeit eines Informationsersuchens der ersuchenden Behörde auf die formelle Ordnungsmäßigkeit dieses Ersuchens beschränkt ist, und dass sie dem nationalen Gericht im Rahmen einer solchen Klage vorschreiben, die Beachtung der Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit unter allen ihren Gesichtspunkten – auch im Hinblick auf Art. 17 der Richtlinie 2011/16 – zu prüfen. 76 Was als Erstes die von der ersuchten Behörde ausgeübte Kontrolle anbelangt, ist in den Rn. 70 und 71 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden, dass die ersuchende Behörde bei der Beurteilung der voraussichtlichen Erheblichkeit der von der ersuchten Behörde erbetenen Informationen über einen Beurteilungsspielraum verfügt, so dass der Umfang der Kontrolle durch die ersuchte Behörde umso begrenzter ist. 77 In Anbetracht der mit der Richtlinie 2011/16 eingeführten Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden, die – wie aus den Erwägungsgründen 2, 6 und 8 der Richtlinie hervorgeht – auf Regeln beruht, die das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten bilden sollen und eine effiziente und schnelle Zusammenarbeit ermöglichen, muss die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde nämlich grundsätzlich vertrauen und annehmen, dass das ihr vorgelegte Informationsersuchen sowohl mit dem nationalen Recht der ersuchenden Behörde im Einklang steht als auch für die Bedürfnisse ihrer Ermittlung erforderlich ist. Die ersuchte Behörde hat im Allgemeinen keine gründliche Kenntnis der im ersuchenden Staat bestehenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, und es kann nicht verlangt werden, dass sie eine solche Kenntnis hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. April 2000, W. N., C‑420/98, EU:C:2000:209, Rn. 18). Jedenfalls darf die ersuchte Behörde die von der ersuchenden Behörde vorgenommene Beurteilung des etwaigen Nutzens der erbetenen Informationen nicht durch ihre eigene ersetzen. 78 Gleichwohl aber muss die ersuchte Behörde prüfen, ob den erbetenen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit für die von der ersuchenden Behörde geführte Ermittlung nicht völlig fehlt. 79 Wie aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 hervorgeht, ist insoweit Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie heranzuziehen, in dem die für diese Prüfung erheblichen Gesichtspunkte genannt sind. Diese umfassen zum einen die von der ersuchenden Behörde zu erteilenden Auskünfte, nämlich die Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt, und den steuerlichen Zweck, zu dem um die Informationen ersucht wird, sowie zum anderen gegebenenfalls die Kontaktdaten jeder Person, von der angenommen wird, dass sie über die gewünschten Informationen verfügt, wie auch jede Angabe, welche die Beschaffung von Informationen durch die ersuchte Behörde erleichtern könnte. 80 Um der ersuchten Behörde die in den Rn. 78 und 79 des vorliegenden Urteils genannte Prüfung zu ermöglichen, muss die ersuchende Behörde den Zweck der Informationen angemessen begründen, die im Rahmen des gegen den im Informationsersuchen genannten Steuerpflichtigen geführten Steuerverfahrens erbeten werden. 81 Falls erforderlich, darf die ersuchte Behörde für die Zwecke dieser Prüfung die ersuchende Behörde gemäß der durch die Richtlinie 2011/16 eingeführten Verwaltungszusammenarbeit in Steuersachen um ergänzende Informationen bitten, die notwendig sein können, um aus ihrer Sicht auszuschließen, dass den erbetenen Informationen im Hinblick auf die in den Rn. 78 und 79 des vorliegenden Urteils genannten Gesichtspunkte die voraussichtliche Erheblichkeit offenkundig fehlt. 82 Die Kontrolle durch die ersuchte Behörde beschränkt sich somit nicht auf eine summarische und formelle Prüfung der Ordnungsmäßigkeit des Informationsersuchens im Hinblick auf die genannten Gesichtspunkte, sondern muss es dieser Behörde auch ermöglichen, sich zu vergewissern, dass den erbetenen Informationen unter Berücksichtigung der Identität des betreffenden Steuerpflichtigen und der des Dritten, dem gegebenenfalls Auskunft erteilt wird, sowie der Bedürfnisse der fraglichen Steuerprüfung die voraussichtliche Erheblichkeit nicht völlig fehlt. 83 Was als Zweites die Kontrolle durch das Gericht angeht, bei dem eine Klage eines Verwaltungsunterworfenen gegen die Sanktion anhängig ist, die aufgrund einer Anordnung gegen ihn verhängt wurde, die die ersuchte Behörde erlassen hat, um dem Auskunftsersuchen der ersuchenden Behörde nachzukommen, so kann sie nicht nur die Verhältnismäßigkeit dieser Sanktion betreffen und gegebenenfalls zu deren Änderung führen, sondern auch die Rechtmäßigkeit der Anordnung, wie aus der Antwort auf die zweite Frage hervorgeht. 84 Insoweit ist für die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle erforderlich, dass die Begründung der ersuchenden Behörde das nationale Gericht in die Lage versetzt, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Informationsersuchens auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 53, und vom 23. Oktober 2014, Unitrading, C‑437/13, EU:C:2014:2318, Rn. 20). 85 In Anbetracht der Ausführungen in den Rn. 70 und 71 des vorliegenden Urteils zum Beurteilungsspielraum der ersuchenden Behörde ist festzustellen, dass die Grenzen, die für die Prüfung durch die ersuchte Behörde gelten, ebenso für die Kontrolle durch das Gericht gelten. 86 Daher muss das Gericht nur prüfen, ob sich die Anordnung auf ein hinreichend begründetes Ersuchen der ersuchenden Behörde stützt, das Informationen betrifft, denen im Hinblick zum einen auf den betreffenden Steuerpflichtigen sowie den Dritten, dem gegebenenfalls Auskunft erteilt wird, und zum anderen auf den verfolgten steuerlichen Zweck die voraussichtliche Erheblichkeit nicht offenkundig völlig zu fehlen scheint. 87 Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob das Gericht die Einhaltung der Bestimmungen des Art. 17 der Richtlinie 2011/16 kontrollieren muss, der Beschränkungen für die Übermittlung der von der Behörde eines Mitgliedstaats ersuchten Informationen vorsieht. 88 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmungen, von denen einige bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Informationsersuchens an einen Verwaltungsunterworfenen berücksichtigt werden könnten, bei der Kontrolle der voraussichtlichen Erheblichkeit dieser Informationen jedoch keine Rolle spielen. Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen sowie der schriftlichen und der mündlichen Stellungnahme von Berlioz aber hervorgeht, ist ihre Weigerung, bestimmte der erbetenen Informationen mitzuteilen, nur darauf gestützt, dass diesen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit fehlen soll, und nicht auf Geltendmachung einer „Beschränkung“ im Sinne von Art. 17 der Richtlinie 2011/16. 89 Daher ist auf die dritte und die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen sind, dass sich die Prüfung durch die ersuchte Behörde, die von der ersuchenden Behörde aufgrund dieser Richtlinie mit einem Informationsersuchen befasst wird, nicht auf die formelle Ordnungsmäßigkeit des Ersuchens beschränkt, sondern es der ersuchten Behörde ermöglichen muss, sich zu vergewissern, dass den erbetenen Informationen im Hinblick auf die Identität des betreffenden Steuerpflichtigen und die des Dritten, dem gegebenenfalls Auskunft erteilt wird, sowie auf die Bedürfnisse der fraglichen Steuerprüfung nicht völlig die voraussichtliche Erheblichkeit fehlt. Diese Bestimmungen der Richtlinie 2011/16 und Art. 47 der Charta sind dahin auszulegen, dass das nationale Gericht im Rahmen einer Klage eines Verwaltungsunterworfenen gegen eine Sanktion, die die ersuchte Behörde gegen ihn wegen Nichtbefolgung einer Anordnung verhängt hat, die sie infolge eines von der ersuchenden Behörde nach der Richtlinie 2011/16 an sie gerichteten Informationsersuchens erlassen hatte, außer einer Befugnis zur Abänderung der verhängten Sanktion auch eine Befugnis zur Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Anordnung hat. Die gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Anordnung im Zusammenhang mit der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen ist auf die Prüfung beschränkt, ob diese Erheblichkeit offenkundig fehlt. Zur sechsten Frage 90 Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Gericht des ersuchten Mitgliedstaats im Rahmen der Ausübung seiner gerichtlichen Kontrolle Zugang zu dem Informationsersuchen haben muss, das der ersuchende Mitgliedstaat an den ersuchten Mitgliedstaat richtet, und ob dieses Dokument auch dem betreffenden Verwaltungsunterworfenen im ersuchten Mitgliedstaat übermittelt werden muss, damit seine Sache in einem fairen Verfahren verhandelt werden kann, oder ob ihm dies aus Gründen der Vertraulichkeit verweigert werden kann. 91 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Prüfung, ob den erbetenen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit offenkundig fehlt, anhand des genannten Dokuments vorzunehmen ist. 92 Damit das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann, muss es daher Zugang zu dem vom ersuchenden Mitgliedstaat an den ersuchten Mitgliedstaat übermittelten Informationsersuchen haben können. Insoweit kann dieses Gericht – falls erforderlich – von der ersuchten Behörde die Informationen verlangen, die die von der ersuchenden Behörde erhaltenen ergänzen und erforderlich sind, um seiner Ansicht nach auszuschließen, dass den erbetenen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit offenkundig fehlt. 93 Hinsichtlich der Frage, ob der Verwaltungsunterworfene ein Recht auf Zugang zu dem Informationsersuchen hat, ist zu berücksichtigen, dass dieses Dokument gemäß Art. 16 der Richtlinie 2011/16 geheim ist. 94 Diese Geheimhaltung ist mit der Verschwiegenheit zu erklären, die die ersuchende Behörde im Stadium der Informationsbeschaffung normalerweise zu wahren hat und von der ersuchten Behörde erwarten darf, um der Wirksamkeit ihrer Ermittlung nicht zu schaden. 95 Die Vertraulichkeit des Informationsersuchens kann im Rahmen einer Ermittlung daher jedermann entgegengehalten werden. 96 Im Rahmen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Waffengleichheit, der eine logische Folge aus dem Begriff des fairen Verfahrens ist, gebietet, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen (Urteil vom 6. November 2012, Otis u. a., C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 71). 97 Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass die Frage, ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte einschließlich des Rechts auf Akteneinsicht vorliegt, anhand der besonderen Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen ist, insbesondere der Natur des betreffenden Rechtsakts, des Kontexts seines Erlasses sowie der Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteile vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 102, sowie vom 10. September 2013, G. und R., C‑383/13 PPU, EU:C:2013:533, Rn. 32 und 34). 98 Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob ein Verwaltungsunterworfener wie Berlioz, der der Ansicht ist, dass die von ihm im Wege einer Anordnung verlangten Informationen nicht voraussichtlich erheblich sind, Zugang zu dem von der ersuchenden Behörde an die ersuchte Behörde gerichteten Informationsersuchen haben muss, um seine Sache vor einem Gericht umfassend geltend zu machen. 99 Insoweit ergibt sich aus der Antwort auf die dritte und die fünfte Frage, dass für die Feststellung der Rechtswidrigkeit der auf das Informationsersuchen gestützten Anordnung und der wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängten Sanktion der Nachweis erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass allen oder einem Teil der erbetenen Informationen im Hinblick auf die vorgenommene Ermittlung angesichts der Identität des betreffenden Steuerpflichtigen und des steuerlichen Zwecks der erbetenen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit offenkundig fehlt. 100 Hierzu ist es für den betreffenden Verwaltungsunterworfenen nicht erforderlich, dass er zu dem gesamten Informationsersuchen Zugang hat, damit seine Sache im Hinblick auf die Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit in einem fairen Verfahren verhandelt wird. Es genügt, dass er Zugang zu der in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 genannten Mindestinformation hat, nämlich der Bezeichnung des betreffenden Steuerpflichtigen und des steuerlichen Zwecks, zu dem die Informationen beantragt werden. Wenn das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats jedoch der Ansicht ist, dass diese Mindestinformation insoweit nicht genügt, und es von der ersuchten Behörde ergänzende Informationen in dem in Rn. 92 des vorliegenden Urteils genannten Sinne verlangt, ist es verpflichtet, dem betreffenden Verwaltungsunterworfenen diese ergänzenden Informationen zu übermitteln, wobei die etwaige Vertraulichkeit bestimmter Informationen gebührend zu berücksichtigen ist. 101 Daher ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Gericht des ersuchten Mitgliedstaats im Rahmen der Ausübung seiner gerichtlichen Kontrolle Zugang zu dem vom ersuchenden Mitgliedstaat an den ersuchten Mitgliedstaat gerichteten Informationsersuchen haben muss. Der betreffende Verwaltungsunterworfene hat hingegen kein Recht auf Zugang zu dem gesamten Informationsersuchen, das gemäß Art. 16 der Richtlinie 2011/16 ein geheimes Dokument bleibt. Für eine im Hinblick auf das Fehlen der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen umfassende Verhandlung seiner Sache reicht es grundsätzlich aus, dass er Zugang zu den in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie genannten Informationen hat. Kosten 102 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat im Sinne dieser Vorschrift das Unionsrecht durchführt und daher die Charta der Grundrechte der Europäischen Union anwendbar ist, wenn er in seinen Rechtsvorschriften eine Geldbuße gegen einen Verwaltungsunterworfenen vorsieht, der sich im Rahmen eines u. a. auf die Bestimmungen der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG gestützten Austauschs zwischen Steuerbehörden weigert, Informationen mitzuteilen. 2. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Verwaltungsunterworfener, gegen den eine Geldbuße verhängt wurde, weil er eine Verwaltungsentscheidung nicht befolgt hat, mit der im Rahmen eines Austauschs zwischen nationalen Steuerbehörden aufgrund der Richtlinie 2011/16 von ihm die Mitteilung von Informationen verlangt wurde, das Recht hat, die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung anzufechten. 3. Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 sind dahin auszulegen, dass die „voraussichtliche Erheblichkeit“ der von einem Mitgliedstaat bei einem anderen Mitgliedstaat erbetenen Informationen eine Voraussetzung ist, die das Informationsersuchen erfüllen muss, damit der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, ihm zu entsprechen, und dadurch eine Voraussetzung der Rechtmäßigkeit der von diesem Mitgliedstaat an einen Verwaltungsunterworfenen gerichteten Anordnung und der gegen ihn wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängten Sanktion ist. 4. Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 sind dahin auszulegen, dass sich die Prüfung durch die ersuchte Behörde, die von der ersuchenden Behörde aufgrund dieser Richtlinie mit einem Informationsersuchen befasst wird, nicht auf die formelle Ordnungsmäßigkeit des Ersuchens beschränkt, sondern es der ersuchten Behörde ermöglichen muss, sich zu vergewissern, dass den erbetenen Informationen im Hinblick auf die Identität des betreffenden Steuerpflichtigen und die des Dritten, dem gegebenenfalls Auskunft erteilt wird, sowie auf die Bedürfnisse der fraglichen Steuerprüfung nicht völlig die voraussichtliche Erheblichkeit fehlt. Diese Bestimmungen der Richtlinie 2011/16 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass das nationale Gericht im Rahmen einer Klage eines Verwaltungsunterworfenen gegen eine Sanktion, die die ersuchte Behörde gegen ihn wegen Nichtbefolgung einer Anordnung verhängt hat, die sie infolge eines von der ersuchenden Behörde nach der Richtlinie 2011/16 an sie gerichteten Informationsersuchens erlassen hat, außer einer Befugnis zur Abänderung der verhängten Sanktion auch eine Befugnis zur Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Anordnung hat. Die gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Anordnung im Zusammenhang mit der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen ist auf die Prüfung beschränkt, ob diese Erheblichkeit offenkundig fehlt. 5. Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Gericht des ersuchten Mitgliedstaats im Rahmen der Ausübung seiner gerichtlichen Kontrolle Zugang zu dem vom ersuchenden Mitgliedstaat an den ersuchten Mitgliedstaat gerichteten Informationsersuchen haben muss. Der betreffende Verwaltungsunterworfene hat hingegen kein Recht auf Zugang zu dem gesamten Informationsersuchen, das gemäß Art. 16 der Richtlinie 2011/16 ein geheimes Dokument bleibt. Für eine im Hinblick auf das Fehlen der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen umfassende Verhandlung seiner Sache reicht es grundsätzlich aus, dass er Zugang zu den in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie genannten Informationen hat. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 10. Mai 2017.#Michael Efler u. a. gegen Europäische Kommission.#Institutionelles Recht – Europäische Bürgerinitiative – Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft – Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen – Offenkundiges Fehlen von Befugnissen der Kommission – Vorschlag für einen Rechtsakt zur Anwendung der Verträge – Art. 11 Abs. 4 EUV – Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 – Gleichbehandlung.#Rechtssache T-754/14.
62014TJ0754
ECLI:EU:T:2017:323
2017-05-10T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62014TJ0754 URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer) 10. Mai 2017 (1 ) „Institutionelles Recht — Europäische Bürgerinitiative — Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft — Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen — Offenkundiges Fehlen von Befugnissen der Kommission — Vorschlag für einen Rechtsakt zur Anwendung der Verträge — Art. 11 Abs. 4 EUV — Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 — Gleichbehandlung“ In der Rechtssache T‑754/14 Michael Efler, wohnhaft in Berlin (Deutschland), und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Kläger (2 ), Prozessbevollmächtigter: Prof. Dr. B. Kempen, Kläger, gegen Europäische Kommission, zunächst vertreten durch J. Laitenberger und H. Krämer, dann durch H. Krämer und schließlich durch H. Krämer und F. Erlbacher als Bevollmächtigte, Beklagte, betreffend eine Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C (2014) 6501 final der Kommission vom 10. September 2014, mit dem der Antrag auf Registrierung der Europäischen Bürgerinitiative „Stop TTIP“ abgelehnt wurde, erlässt DAS GERICHT (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten H. Kanninen sowie der Richter E. Buttigieg (Berichterstatter) und L. Calvo‑Sotelo Ibáñez‑Martín, Kanzler: S. Bukšek Tomac, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. September 2016 folgendes Urteil Sachverhalt 1 Der Rat der Europäischen Union ermächtigte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften durch Beschluss vom 27. April 2009 zur Aufnahme von Verhandlungen mit Kanada über den Abschluss eines Freihandelsabkommens, das später die Bezeichnung „Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen“ (Comprehensive Economic and Trade Agreement, im Folgenden: CETA) erhielt. Durch Beschluss vom 14. Juni 2013 ermächtigte der Rat die Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika über den Abschluss eines Freihandelsabkommens, das später die Bezeichnung „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“ (Transatlantic Trade and Investment Partnership, im Folgenden: TTIP) erhielt. 2 Am 15. Juli 2014 übermittelten die Kläger, Herr Michael Efler und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Kläger, in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des zu diesem Zweck gegründeten Bürgerausschusses der Kommission einen Antrag auf Registrierung der geplanten Europäischen Bürgerinitiative (im Folgenden: EBI) „Stop TTIP“ (im Folgenden: geplante Bürgerinitiative). Die geplante Bürgerinitiative gibt als ihren Gegenstand an, „dass die Europäische Kommission dem Rat empfiehlt, das Verhandlungsmandat für das [TTIP] aufzuheben und das [CETA] nicht abzuschließen“. Die geplante Bürgerinitiative nennt als verfolgte Ziele: „TTIP und CETA [zu] verhindern, da sie mehrere kritische Punkte enthalten wie die Beilegung von Investor‑Staat‑Streitigkeiten und Regeln zur Zusammenarbeit in Regulierungsangelegenheiten, die eine Bedrohung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit darstellen[, zu] verhindern, dass Standards in den Bereichen Arbeit, Soziales, Umwelt, Privatsphäre und Verbraucherschutz in intransparenten Verhandlungen gesenkt und öffentliche Dienstleistungen (wie beispielsweise die Wasserversorgung) und Kulturgüter dereguliert werden“, und „eine alternative Handels- und Investitionspolitik der [Europäischen Union]“ zu unterstützen. Die geplante Bürgerinitiative führt die Art. 207 und 218 AEUV als ihre Rechtsgrundlage an. 3 Mit dem Beschluss C (2014) 6501 vom 10. September 2014 (im Folgenden: angefochtener Beschluss) lehnte die Kommission unter Berufung auf Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative (ABl. 2011, L 65, S. 1) die Registrierung der geplanten Bürgerinitiative ab. 4 Es heißt darin im Wesentlichen, dass ein Beschluss des Rates über die Ermächtigung der Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss eines Abkommens mit einem Drittland kein Rechtsakt der Europäischen Union sei und eine hierauf bezogene Empfehlung daher keinen geeigneten Vorschlag im Sinne von Art. 11 Abs. 4 EUV und Art. 2 Nr. l der Verordnung Nr. 211/2011 darstelle, da es sich bei einem solchen Beschluss um eine vorbereitende Maßnahme im Hinblick auf den späteren Beschluss des Rates handele, die Unterzeichnung des Abkommens in der verhandelten Fassung zu genehmigen und abzuschließen. Eine solche vorbereitende Maßnahme entfalte nur zwischen den betreffenden Organen Rechtswirkungen, verändere aber nicht das Unionsrecht, im Gegensatz zu dem Beschluss, ein bestimmtes Abkommen zu unterzeichnen und abzuschließen, der Gegenstand einer EBI sein könnte. Die Kommission schließt daraus, dass die Registrierung der geplanten Bürgerinitiative, soweit sie darauf gerichtet sei, sie aufzufordern, dem Rat eine Empfehlung für einen Beschluss vorzulegen, mit dem die Zustimmung zur Aufnahme von Verhandlungen zum Abschluss von TTIP aufgehoben werde, abzulehnen sei. 5 In dem angefochtenen Beschluss heißt es weiter, soweit die geplante Bürgerinitiative so verstanden werden könne, dass sie die Kommission dazu auffordere, dem Rat keine Vorschläge für Beschlüsse über die Unterzeichnung und den Abschluss von CETA oder TTIP vorzulegen, oder dazu, ihm Vorschläge für Beschlüsse vorzulegen, die Unterzeichnung dieser Abkommen nicht zu genehmigen oder sie nicht abzuschließen, falle eine solche Aufforderung auch nicht in den Anwendungsbereich von Art. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 211/2011, wonach die EBI auf den Erlass von Rechtsakten der Union abziele, deren es bedürfe, um die Verträge umzusetzen, und die selbständige Rechtswirkungen erzeugten. 6 Der angefochtene Beschluss schließt mit dem Ergebnis, dass die geplante Bürgerinitiative daher offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem die Kommission befugt sei, im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Buchst. b in Verbindung mit Art. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 211/2011 einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zu unterbreiten, um die Verträge umzusetzen. Verfahren und Anträge der Parteien 7 Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 10. November 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben. 8 Die Kläger haben mit besonderem Schriftsatz, der am 15. April 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt, der mit Beschluss vom 23. Mai 2016, Efler u. a./Kommission (T‑754/14 R, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:306), zurückgewiesen wurde. Die Kläger haben mit Schriftsatz vom 17. Juli 2016 ein Rechtsmittel gemäß Art. 57 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingelegt, das durch Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 29. September 2016, Efler u. a./Kommission (C‑400/16 P[R], nicht veröffentlicht, EU:C:2016:735), zurückgewiesen wurde. 9 Die Kläger beantragen, — den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären; — der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 10 Die Kommission beantragt, — die Klage abzuweisen; — den Klägern die Kosten aufzuerlegen. Rechtliche Würdigung 11 Zur Stützung ihrer Klage berufen sich die Kläger auf zwei Klagegründe, mit denen sie erstens einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 4 EUV sowie die Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 und zweitens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung geltend machen. 12 Was den ersten Klagegrund angeht, tragen die Kläger erstens vor, soweit die Ablehnung der Registrierung der geplanten Bürgerinitiative darauf beruhe, dass Beschlüsse des Rates, mit denen der Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss einer internationalen Übereinkunft zugestimmt werden solle, vorbereitende Handlungen darstellten, bestritten sie nicht, dass diese Beschlüsse einen vorbereitenden Charakter hätten. Das sei jedoch auch bei Beschlüssen des Rates, mit denen der Unterzeichnung einer internationalen Übereinkunft zugestimmt werde, der Fall. Außerdem betreffe die Verordnung Nr. 211/2011 allgemein jeden Rechtsakt, ohne sich auf Rechtsakte mit endgültiger Wirkung zu beschränken. Weder die Entstehungsgeschichte der betreffenden Normen noch ihr systematischer Zusammenhang böten Anlass für eine enge Auslegung des Begriffs „Rechtsakt“. Schließlich würde ein Beschluss über die Aufhebung des Verhandlungsmandats der Kommission die Verhandlungen beenden, wäre rechtlich verbindlich und hätte demnach endgültigen Charakter. 13 Die Kläger tragen zweitens vor, soweit die Ablehnung der Registrierung der geplanten Bürgerinitiative darauf beruhe, dass Beschlüsse des Rates, mit denen der Aufnahme von Verhandlungen zum Abschluss einer internationalen Übereinkunft zugestimmt werde, nur Wirkungen zwischen den fraglichen Organen entfalteten, verbiete es der weite Begriff des Rechtsakts in den Art. 288 bis 292 AEUV, Beschlüssen der Kommission, die außerhalb eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens ergingen, die Qualität eines Rechtsakts abzusprechen und sie vom Anwendungsbereich der Bestimmungen über die EBI auszunehmen, da diese Beschlüsse rechtlich verbindlich seien. Weder aus dem Wortlaut, aus dem systematischen Zusammenhang noch aus dem Ziel der Verträge ergebe sich, dass der Grundsatz der Demokratie, auf dem die Union beruhe, nur auf von einem Rechtsakt betroffene Personen anwendbar sein solle. Die Kommission gerate auch in einen Widerspruch zu sich selbst, wenn sie im Übrigen anerkenne, dass eine bejahende europäische Akklamations-Bürgerinitiative, die auf die Unterzeichnung und den Abschluss eines thematisch und inhaltlich bereits festgelegen Abkommens gerichtet sei, zulässig sein solle. 14 Die Kläger tragen drittens vor, soweit der angefochtene Beschluss mit einem behaupteten „destruktiven“ Charakter der vorgeschlagenen Rechtsakte begründet werde, mit denen der Kommission das Verhandlungsmandat für den Abschluss von TTIP entzogen und dem Rat der Vorschlag unterbreitet werden solle, die Unterzeichnung von TTIP und CETA nicht zu genehmigen oder sie nicht abzuschließen, stehe solchen Vorschlägen nicht entgegen, dass der intendierte Rechtsakt nach Art. 11 Abs. 4 EUV und Art. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 211/2011 der „Umsetzung der Verträge“ dienen müsse, da die angestrebten Maßnahmen auf eine wie auch immer geartete Operationalisierung der primärrechtlichen Kompetenzgrundlagen hinausliefen. Das allgemeine Recht der Bürger, sich am demokratischen Leben der Union zu beteiligen, schließe die Möglichkeit ein, darauf hinzuwirken, dass geltende Sekundärrechtsakte modifiziert, geändert und ganz oder teilweise aufgehoben würden. Die Registrierung der geplanten Bürgerinitiative führe zu einem deutlichen Mehr an öffentlicher Diskussion, was das primäre Ziel jeder EBI sei. 15 Des Weiteren könne zwar, wie die Kommission erstmals in ihrer Klagebeantwortung geltend gemacht habe, jede Art eines völkerrechtlichen Vertrags, mit dem ein bestehender Vertrag außer Kraft oder ein völlig neuer Vertrag in Kraft gesetzt werden solle, von einer EBI angestoßen werden, jedoch sei es widersprüchlich, dass sie nicht darauf gerichtet sein könne, den Abschluss eines in Verhandlung befindlichen Vertrags zu verhindern. 16 Zudem schließe ein Vorschlag an den Rat, CETA nicht zuzustimmen, nicht aus, dass geänderte Entwürfe transatlantischer Freihandelsabkommen später erarbeitet werden könnten. 17 Schließlich liege die geplante Bürgerinitiative jedenfalls nicht „offenkundig“ außerhalb des Rahmens der Befugnis der Kommission, wie es in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 verlangt sei. 18 Die Kommission bemerkt zunächst, dass die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 11 Abs. 4 EUV ins Leere gehe und dass die auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 AEUV erlassene Verordnung Nr. 211/2011 den Maßstab für die Prüfung der Rechtmäßigkeit von Beschlüssen der Kommission betreffend die Registrierung einer EBI bilde. 19 Die Kommission macht sodann geltend, dass ein Beschluss des Rates, mit dem sie zur Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss einer internationalen Übereinkunft ermächtigt werde, im Gegensatz zu einem Beschluss des Rates, eine solche Übereinkunft zu unterzeichnen, einen lediglich vorbereitenden Charakter habe, da er nur im Verhältnis zwischen den Organen Rechtswirkungen entfalte. Eine systematische und teleologische Auslegung von Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 führe jedoch zu der Schlussfolgerung, dass ein Rechtsakt mit lediglich vorbereitendem Charakter keinen Rechtsakt im Sinne dieser Bestimmungen darstelle. 20 Im Übrigen könnten nur Rechtsakte, die Rechtswirkungen über das Verhältnis zwischen den Unionsorganen hinaus entfalteten, Gegenstand einer EBI sein, da die demokratische Teilnahme, die sie fördern solle, darauf abziele, dass die Bürger an der Entscheidung über Angelegenheiten mitwirkten, die ihre eigene Rechtssphäre zumindest potenziell beträfen. Der Rat und die Kommission verfügten über hinreichende mittelbare demokratische Legitimation, um Rechtsakte zu erlassen, deren Rechtswirkungen sich auf die Organe beschränkten. 21 Des Weiteren werde mit der geplanten Bürgerinitiative die Regel umgangen, wonach die Kommission durch eine EBI nicht aufgefordert werden könne, einen bestimmten Rechtsakt nicht vorzuschlagen oder einen Beschluss vorzuschlagen, einen bestimmten Rechtsakt nicht zu erlassen. Der Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 211/2011 setze nämlich mit der Bezugnahme auf „ihr weiteres Vorgehen“ voraus, dass eine EBI nur dann zulässig sei, wenn sie auf den Erlass eines Rechtsakts bestimmten Inhalts – oder auf die Aufhebung eines bestehenden Rechtsakts – abziele. Würde die Kommission in ihrer Mitteilung gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 211/2011 ankündigen, keinen Vorschlag für einen entsprechenden Rechtsakt vorzulegen, würde dies zu einer nicht hinnehmbaren politischen Beschränkung ihres Initiativrechts führen. Außerdem könne die Funktion der EBI, die darin bestehe, die Kommission zu veranlassen, sich mit dem den Gegenstand der EBI bildenden Thema öffentlich auseinanderzusetzen und auf diese Weise eine politische Debatte in Gang zu setzen, nur durch eine geplante Bürgerinitiative, die auf den Erlass eines Rechtsakts mit bestimmtem Inhalt – oder auf die Aufhebung eines bestehenden Rechtsakts – abziele, in vollem Maße erfüllt werden. Eine EBI, die auf den Nicht-Erlass eines Ratsbeschlusses abziele, könne nicht mehr die Funktion erfüllen, eine solche politische Debatte überhaupt erst in Gang zu setzen, und würde eine unzulässige Einmischung in den Ablauf eines laufenden Gesetzgebungsverfahrens bedeuten. 22 Schließlich habe ein Ratsbeschluss über die Nicht-Annahme von TTIP oder CETA, wie er in der geplanten Bürgerinitiative vorgeschlagen werde, keine eigenständige Bedeutung gegenüber dem bloßen Nicht-Erlass eines Ratsbeschlusses über die Genehmigung des Abschlusses des Abkommens, so dass ein solcher Beschluss rechtlich überflüssig sei. Eine EBI mit einem solchen Ziel sei daher funktional äquivalent zu einer EBI, die auf das Unterlassen eines Vorschlags für einen Rechtsakt abziele, und als solche somit unzulässig. 23 Das Gericht weist darauf hin, dass gemäß Art. 11 Abs. 4 EUV Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss, die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern können, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen. 24 Wie es im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 211/2011 heißt, mit der das Europäische Parlament und der Rat gemäß Art. 24 Abs. 1 AEUV die Bestimmungen über die Verfahren und Bedingungen, die für eine EBI im Sinne des Art. 11 EUV gelten, festgelegt haben, stärkt der EU-Vertrag die Unionsbürgerschaft und führt zu einer weiteren Verbesserung der demokratischen Funktionsweise der Union, indem u. a. festgelegt wird, dass jeder Bürger das Recht hat, sich über eine EBI am demokratischen Leben der Union zu beteiligen (Urteile vom 30. September 2015, Anagnostakis/Kommission, T‑450/12, mit Rechtsmittel angefochten, EU:T:2015:739, Rn. 26, und vom 19. April 2016, Costantini u. a/Kommission, T‑44/14, EU:T:2016:223, Rn. 53 und 73). Weiter heißt es in diesem Erwägungsgrund, dass dieses Verfahren den Bürgern, ähnlich wie dem Parlament gemäß Art. 225 AEUV und dem Rat gemäß Art. 241 AEUV, die Möglichkeit bietet, sich direkt an die Europäische Kommission zu wenden, damit sie einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge unterbreitet. 25 Zu diesem Zweck definiert Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 211/2011 die EBI als eine Initiative, die der Kommission vorgelegt wird und in der die Kommission aufgefordert wird, im Rahmen ihrer Befugnisse „geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht von Bürgern eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen“, und die die Unterstützung von mindestens einer Million teilnahmeberechtigten Unterzeichnern aus mindestens einem Viertel aller Mitgliedstaaten erhalten hat. 26 Gemäß Art. 4 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3 der Verordnung Nr. 211/2011 verweigert die Kommission die Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative, wenn sie offenkundig außerhalb des Rahmens liegt, in dem die Kommission befugt ist, einen „Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen“. 27 Art. 10 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung bestimmt, dass die Kommission, wenn bei ihr eine EBI gemäß Art. 9 der Verordnung eingeht, innerhalb von drei Monaten ihre rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen zur EBI sowie „ihr weiteres Vorgehen bzw. den Verzicht auf ein weiteres Vorgehen und die Gründe hierfür“ darlegt. 28 In Bezug auf die Tragweite der geplanten Bürgerinitiative haben die Kläger auf eine in der mündlichen Verhandlung gestellte Frage klargestellt, dass sie nicht zum Ziel habe, die Kommission dazu aufzufordern, dem Rat keinen Vorschlag für einen Rechtsakt über die Zustimmung zur Unterzeichnung von TTIP und CETA und zum Abschluss dieser Abkommen zu unterbreiten, sondern dass sie darauf gerichtet sei, die Kommission aufzufordern, dem Rat zum einen einen Vorschlag für einen Rechtsakt des Rates zu unterbreiten, mit dem das Verhandlungsmandat für den Abschluss von TTIP aufgehoben werde, und zum anderen einen Vorschlag für einen Rechtsakt des Rates, der der Kommission untersage, TTIP und CETA zu unterzeichnen und diese Übereinkünfte abzuschließen. 29 Des Weiteren betrifft die vorliegende Klage nicht die Zuständigkeit der Union zur Verhandlung von TTIP und CETA, sondern die Kläger beanstanden die Gründe, die im angefochtenen Beschluss für die Weigerung angeführt wurden, die geplante Bürgerinitiative zu registrieren, soweit diese darauf abzielt, das Verhandlungsmandat für den Abschluss von TTIP zu beenden sowie die Unterzeichnung und den Abschluss von CETA und TTIP zu verhindern. 30 In diesem Zusammenhang geht aus dem angefochtenen Beschluss hervor, dass die Kommission der Auffassung ist, der Umstand, dass ein Beschluss des Rates, mit dem sie zur Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss einer internationalen Übereinkunft ermächtigt werde, einen lediglich vorbereitenden Charakter habe und ausschließlich im Verhältnis zwischen den Organen Rechtswirkungen entfalte, verwehre es, diesen Beschluss als Rechtsakt im Sinne der fraglichen Regelungen einzustufen und die geplante Bürgerinitiative zu registrieren, soweit sie auf die Aufhebung eines solchen Beschlusses abziele. Das gelte auch für die geplante Bürgerinitiative, soweit die Kommission mit dieser aufgefordert werde, dem Rat einen Vorschlag über einen Beschluss vorzulegen, der Unterzeichnung der fraglichen Abkommen oder ihrem Abschluss nicht zuzustimmen, da ein solcher Beschluss keine eigenständigen Rechtswirkungen entfalte, wohingegen die EBI gemäß Art. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 211/2011 auf den Erlass von Rechtsakten hinwirken wolle, deren es bedürfe, „um die Verträge umzusetzen“; das sei vorliegend nicht der Fall. 31 Wie bereits ausgeführt verweigert die Kommission die Registrierung geplanter Bürgerinitiativen, die offenkundig außerhalb des Rahmens liegen, in dem sie befugt ist, einen „Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen“. 32 Es steht fest, dass die Kommission dem Rat auf eigene Initiative einen Vorschlag für einen Rechtsakt unterbreiten kann, mit dem ihr das Verhandlungsmandat entzogen wird, durch das sie zur Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss einer internationalen Übereinkunft ermächtigt wurde. Auch ist die Kommission nicht daran gehindert, dem Rat einen Vorschlag für einen Beschluss vorzulegen, mit dem er der Unterzeichnung einer ausgehandelten Übereinkunft letztlich nicht zustimmt oder diese nicht abschließt. 33 Dennoch macht die Kommission geltend, dass solche Rechtsakte nicht Gegenstand einer geplanten EBI sein könnten, und trägt zum einen vor, der Akt, Verhandlungen über den Abschluss einer internationalen Vereinbarung aufzunehmen, habe vorbereitenden Charakter und entfalte keine Rechtswirkungen außerhalb der Organe, und zum anderen bedürfe es dieser Rechtsakte, deren Erlass vorgeschlagen werde, nicht, „um die Verträge umzusetzen“. 34 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Parteien darin einig sind, dass ein Beschluss des Rates, mit dem die Kommission gemäß den Art. 207 und 218 AEUV zur Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss einer internationalen Übereinkunft ermächtigt wird, eine vorbereitende Handlung im Hinblick auf einen späteren Beschluss über die Unterzeichnung und den Abschluss einer solchen Übereinkunft darstellt und dass sie lediglich Rechtswirkungen im Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Organen der Union entfaltet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. September 2014, Kommission/Rat, C‑114/12, EU:C:2014:2151, Rn. 40, und vom 16. Juli 2015, Kommission/Rat, C‑425/13, EU:C:2015:483, Rn. 28). 35 Nach zutreffender Ansicht der Kläger ist der Begriff des Rechtsakts im Sinne von Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 jedoch mangels gegenteiliger Hinweise und entgegen der Auffassung der Kommission nicht dahin zu verstehen, dass er ausschließlich auf endgültige Rechtsakte der Union beschränkt ist, die Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten. 36 Weder der Wortlaut der fraglichen Bestimmungen noch die mit ihnen verfolgten Ziele rechtfertigen insbesondere, dass ein Beschluss, mit dem der Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss eines internationalen Abkommens zugestimmt wird, wie hier von TTIP und CETA, der auf der Grundlage von Art. 207 Abs. 3 und 4 AEUV und Art. 218 AEUV erlassen wurde und der offensichtlich einen Beschluss gemäß Art. 288 Abs. 4 AEUV darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. September 2014, Kommission/Rat, C‑114/12, EU:C:2014:2151, Rn. 40, und vom 16. Juli 2015, Kommission/Rat, C‑425/13, EU:C:2015:483, Rn. 28), für die Zwecke einer EBI nicht unter den Begriff des Rechtsakts fällt. 37 Der Grundsatz der Demokratie, der, wie u. a. in der Präambel des EU‑Vertrags, in Art. 2 EUV sowie in der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgeführt wird, zu den grundlegenden Werten gehört, auf die die Union sich gründet, und das mit dem Instrument der EBI spezifisch verfolgte Ziel, die demokratische Funktionsweise der Union zu verbessern, indem jedem Bürger ein allgemeines Recht auf Beteiligung am demokratischen Leben eingeräumt wird (vgl. oben, Rn. 24), erfordern es vielmehr, eine Auslegung des Begriffs des Rechtsakts zugrunde zu legen, die Rechtsakte wie den Beschluss zur Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss einer internationalen Übereinkunft mit einschließt, die unbestreitbar eine Änderung der Rechtsordnung der Union herbeiführen soll. 38 Die von der Kommission vertretene Auffassung, wonach sie und der Rat über hinreichende mittelbare demokratische Legitimation verfügten, um Rechtsakte zu erlassen, die keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten, hätte nämlich zur Folge, die Inanspruchnahme des Instruments der EBI als Instrument der Beteiligung der Unionsbürger an der Rechtssetzungstätigkeit der Union im Wege des Abschlusses internationaler Übereinkünfte stark einzuschränken. Sofern die im angefochtenen Beschluss angeführte Begründung gegebenenfalls so verstanden werden kann, dass sie die Unionsbürger letzten Endes daran hindert, eine Aufnahme von Verhandlungen über einen neuen zu verhandelnden Vertrag mit Hilfe einer EBI vorzuschlagen, widerspräche dies offensichtlich den mit den Verträgen sowie mit der Verordnung Nr. 211/2011 verfolgten Zielen und wäre demnach nicht zulässig. 39 Die von der Kommission im angefochtenen Beschluss vertretene Auffassung, wonach der Beschluss, die Zustimmung zur Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss von TTIP aufzuheben, für die Zwecke einer geplanten EBI deswegen nicht unter den Begriff des Rechtsakts falle, da diese Zustimmung selbst wegen ihres vorbereitenden Charakters und mangels Außenwirkung nicht unter diesen Begriff falle, ist folglich ebenfalls zurückzuweisen. Wie die Kläger zutreffend ausgeführt haben, gilt das umso mehr, als ein Beschluss, die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss einer internationalen Übereinkunft aufzuheben, nicht als vorbereitende Handlung einzustufen ist, da er diese Verhandlungen beendigt, sondern insoweit endgültigen Charakter hat. 40 Ferner führt die Kommission als weiteres Argument gegen die Registrierung der geplanten Bürgerinitiative an, dass die Rechtsakte des Rates, auf deren Erlass diese Initiative hinwirken wolle, namentlich Beschlüsse des Rates, TTIP und CETA nicht zu unterzeichnen oder nicht abzuschließen, „destruktive“ Rechtsakte seien, die nicht „zur Umsetzung der Verträge“ erfolgten und folglich nicht Gegenstand einer EBI sein könnten. 41 Hierauf ist zu antworten, dass die Regelungen über die EBI keinen Anhaltspunkt dafür enthalten, dass es undenkbar wäre, mit der Bürgerbeteiligung den Erlass eines Rechtsakts zu verhindern. Gewiss muss der intendierte Rechtsakt nach Art. 11 Abs. 4 EUV und Art. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 211/2011 zwar der Umsetzung der Verträge dienen, dies ist jedoch durchaus der Fall bei Rechtsakten, die die Verhinderung des Abschlusses von TTIP und CETA zum Gegenstand haben, mit denen die Rechtsordnung der Union geändert werden soll. 42 Wie die Kläger zu Recht ausgeführt haben, schließt das mit dem Verfahren der EBI verfolgte Ziel der Beteiligung am demokratischen Leben der Union offenkundig die Möglichkeit ein, zu beantragen, dass geltende Rechtsakte ganz oder teilweise geändert oder aufgehoben werden. 43 Somit besteht auch kein Grund, Rechtsakte, die auf die Aufhebung eines Beschlusses abzielen, mit dem der Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss eines internationalen Abkommens zugestimmt wird, wie auch Rechtsakte, mit denen die Unterzeichnung und der Abschluss eines solchen internationalen Abkommens verhindert werden soll, die – entgegen der Auffassung der Kommission – unbestreitbar autonome Rechtswirkungen besitzen und gegebenenfalls eine angekündigte Änderung des Unionsrechts verhindern, von der demokratischen Debatte auszuschließen. 44 Die von der Kommission vertretene Auffassung, wie sie sich aus dem angefochtenen Beschluss zu ergeben scheint, würde letzten Endes bedeuten, dass sich eine EBI nur auf den Beschluss des Rates beziehen könnte, internationale Übereinkünfte abzuschließen oder ihrer Unterzeichnung zuzustimmen, bei denen die Unionsorgane die Initiative ergriffen hätten und die sie zuvor verhandelt hätten. Dagegen wären die Unionsbürger daran gehindert, das Verfahren der EBI in Anspruch zu nehmen, um vorzuschlagen, solche Übereinkünfte zu ändern oder sie aufzugeben. Zwar hat sich die Kommission vor dem Gericht dahin eingelassen, dass eine EBI gegebenenfalls auch den Vorschlag für die Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss einer internationalen Übereinkunft enthalten könne. In diesem Fall besteht jedoch kein Grund, den Organisatoren einer geplanten Bürgerinitiative aufzuerlegen, den Abschluss einer Übereinkunft abzuwarten, um anschließend nur deren Zweckmäßigkeit anfechten zu können. 45 Das Argument der Kommission, dass die Rechtsakte, die sie gemäß der geplanten Bürgerinitiative dem Rat unterbreiten soll, zu einer nicht hinnehmbaren Einmischung in den Ablauf eines laufenden Rechtssetzungsverfahrens führen würden, greift daher nicht durch. Das mit der EBI verfolgte Ziel besteht nämlich darin, den Unionsbürgern zu ermöglichen, ihre Mitwirkung am demokratischen Leben in der Union zu verstärken, und zwar u. a. dadurch, dass sie der Kommission detailliert die durch die EBI aufgeworfenen Fragen darlegen, die Kommission auffordern, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zu unterbreiten, nachdem sie die EBI gegebenenfalls im Rahmen einer öffentlichen Anhörung im Parlament gemäß Art. 11 der Verordnung Nr. 211/2011 vorgestellt und somit eine demokratische Debatte angeregt haben, ohne den Erlass des Rechtsakts abwarten zu müssen, dessen Änderung oder Aufgabe letztlich angestrebt wird. 46 Diese Möglichkeit zuzulassen, verstößt daher auch nicht gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts, der für den organisatorischen Aufbau der Union kennzeichnend ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. April 2015, Rat/Kommission, C‑409/13, EU:C:2015:217, Rn. 64), da es der Kommission obliegt, zu entscheiden, ob sie einer EBI Fortgang gewährt, indem sie gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 211/2011 in einer Mitteilung ihre rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen zu der EBI sowie ihr weiteres Vorgehen bzw. den Verzicht auf ein weiteres Vorgehen und die Gründe hierfür darlegt. 47 Demzufolge ist die geplante Bürgerinitiative, die von einer Einmischung in den Gang eines laufenden Rechtssetzungsverfahrens weit entfernt ist, Ausdruck der wirksamen Beteiligung der Unionsbürger am demokratischen Leben der Union und stellt das von den Verträgen gewollte institutionelle Gleichgewicht nicht in Frage. 48 Schließlich steht nichts dem entgegen, dass das „[weitere] Vorgehen bzw. [der] Verzicht auf ein weiteres Vorgehen“ der Kommission im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 211/2011 darin bestehen kann, dem Rat den Erlass von Rechtsakten vorzuschlagen, auf die die geplante Bürgerinitiative abzielt. Entgegen den Ausführungen der Kommission wären die Unionsorgane in einem solchen Fall durch nichts daran gehindert, neue Entwürfe transatlantischer Freihandelsabkommen zu verhandeln und die Abkommen sodann abzuschließen, nachdem der Rat die Rechtsakte erlassen hat, die Gegenstand der geplanten Bürgerinitiative sind. 49 Nach alledem ist festzustellen, dass die Kommission gegen Art. 11 Abs. 4 EUV und Art. 4 Abs. 2 Buchst. b in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 211/2011 verstoßen hat, indem sie die Registrierung der vorgeschlagenen Bürgerinitiative abgelehnt hat. 50 Folglich ist dem ersten Klagegrund und damit der Klage insgesamt stattzugeben, ohne dass es erforderlich wäre, auf den zweiten Klagegrund einzugehen. Kosten 51 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kläger die Kosten des vorliegenden Verfahrens sowie die Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen. Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Der Beschluss C (2014) 6501 final der Kommission vom 10. September 2014, mit dem der Antrag auf Registrierung der Europäischen Bürgerinitiative „Stop TTIP“ abgelehnt wurde, wird für nichtig erklärt. 2. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten von Herrn Efler und den weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Klägern, einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes. Kanninen Buttigieg Calvo‑Sotelo Ibáñez‑Martín Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. Mai 2017. Der Kanzler E. Coulon Der Präsident M. Prek (1 ) Verfahrenssprache: Deutsch. (2 ) Die Liste der weiteren Kläger ist nur der Fassung beigefügt, die den Parteien mitgeteilt wird.
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 5. April 2017.#HB u. a. gegen Europäische Kommission.#Institutionelles Recht – Europäische Bürgerinitiative – Schutz streunender Tiere – Psychologische Auswirkungen auf Erwachsene und Kinder – Verweigerung der Registrierung – Offenkundiges Fehlen von Befugnissen der Kommission – Art. 4 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 211/2011.#Rechtssache T-361/14.
62014TJ0361
ECLI:EU:T:2017:252
2017-04-05T00:00:00
Gericht
URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer) 5. April 2017(*) „Institutionelles Recht – Europäische Bürgerinitiative – Schutz streunender Tiere – Psychologische Auswirkungen auf Erwachsene und Kinder – Verweigerung der Registrierung – Offenkundiges Fehlen von Befugnissen der Kommission – Art. 4 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 211/2011“ In der Rechtssache T‑361/14 HB, wohnhaft in Linz (Österreich), und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Kläger(1), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwältin C. Kolar, dann Rechtsanwalt F. Moyse, Kläger, gegen Europäische Kommission, vertreten durch H. Krämer und J. Vondung als Bevollmächtigte, Beklagte, betreffend einen auf Art. 263 AEUV gestützten Antrag auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2014) 2119 final der Kommission vom 26. März 2014, mit dem der Antrag auf Registrierung der Bürgerinitiative „Ethics for Animals and Kids“ abgelehnt wurde, erlässt DAS GERICHT (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten H. Kanninen (Berichterstatter), der Richterin I. Pelikánová und des Richters E. Buttigieg, Kanzler: S. Bukšek Tomac, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. September 2016 folgendes Urteil Sachverhalt 1        Auf die Kläger, HB, Herrn H. Richter, Frau C. Arsene, Herrn R. Coates Smith, Frau M. Kuropatwinska, Frau N. Klinge und Herrn C. Yiapanis geht die geplante Bürgerinitiative „Ethics for Animals and Kids“ (im Folgenden: geplante EBI) zurück, die über den zu diesem Zweck geschaffenen Bürgerausschuss an die Europäische Kommission übermittelt wurde und die laut Angaben der Organisatoren die Annahme eines „Ethik-Pakets“ in Form der Statuierung eines Straftatbestands beim Quälen und Töten von Tieren ohne Nutzung und sonstigem Sinn inklusive deren sexuellen Missbrauchs sowie die Schaffung bewusstseinsbildender Programme bei Kindern zum Gegenstand hatte. 2        Als Grundlage für ihre Initiative führten die Kläger Art. 2 EUV, die Art. 11, 13, 21, 45, 49, 151, 156 und 168 ff. AEUV sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union an. 3        Mit dem Beschluss C(2014) 2119 final vom 26. März 2014 (im Folgenden: angefochtener Beschluss) verweigerte die Kommission die Registrierung der geplanten EBI auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative (ABl. 2011, L 65, S. 1) mit der Begründung, dass die geplante EBI offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem sie befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Europäischen Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen. Verfahren und Anträge der Parteien 4        Mit Schriftsatz, der am 30. Mai 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Kläger beim Gericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 beantragt. 5        Mit Klageschrift, die am 23. Juli 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Kläger die vorliegende Klage erhoben. 6        Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 15. September 2014 ist der Antrag auf Prozesskostenhilfe zurückgewiesen worden. 7        Am 3. November 2014 hat die Kommission ihre Klagebeantwortung eingereicht. Am 23. Dezember 2014 haben die Kläger eine Erwiderung und am 10. Februar 2015 hat die Kommission eine Gegenerwiderung eingereicht. 8        Im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 Abs. 3 seiner Verfahrensordnung hat das Gericht die Kommission zur Vorlage bestimmter Dokumente aufgefordert; die Kommission ist dieser Aufforderung fristgerecht nachgekommen. 9        Die Kläger beantragen, –        ihren Antrag auf Registrierung der geplanten EBI für zulässig zu erklären; –        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären; –        der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 10      Die Kommission beantragt, –        die Klage abzuweisen; –        den Klägern die Kosten aufzuerlegen. Rechtliche Würdigung Zur Unzulässigkeitseinrede der Kommission 11      Die Kommission erhebt die Einrede der Unzulässigkeit der Klage, weil mit dem Vorbringen der Kläger nicht klar dargelegt werde, gegen welche Bestimmungen der Verordnung Nr. 211/2011 der angefochtene Beschluss verstoßen solle und welche Fehler bei der Auslegung oder der rechtlichen Qualifikation begangen worden sein sollten. Die Klageschrift bestehe aus Ausführungen zur Bedeutung des Tierschutzes und der „Wechselwirkungen zwischen Mensch und Tier“ ohne irgendeinen spezifizierten Bezug zu dem angefochtenen Beschluss. Es werde lediglich punktuell auf die Art. 11 und 13 AEUV sowie auf das „Protokoll Nr. 10 zum Vertrag von Amsterdam“, das inzwischen obsolet sei, Bezug genommen. Die Klageschrift genüge daher nicht den Anforderungen nach Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991. 12      Die Kläger entgegnen, dass die Klage zulässig sei. Die Kommission hätte nicht davon ausgehen dürfen, dass die geplante EBI nur auf die Unterbreitung eines Vorschlags für einen Rechtsakt zum Schutz von streunenden Tieren abziele. 13      Dass die Kommission in ihrer Klagebeantwortung die Begründetheit der Klage im Hinblick auf die Art. 11, 13, 43, 114, 191, 192 und 156 AEUV analysiert habe, zeige, dass sich die Kläger zwangsläufig auf diese Artikel bezogen hätten, um den angefochtenen Beschluss zu beanstanden. 14      Zu diesem letztgenannten Punkt bringt die Kommission vor, dass sie die Begründetheit der Klage im Hinblick auf die genannten Artikel nur hilfsweise geprüft habe. 15      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 21 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der gemäß Art. 53 Abs. 1 dieser Satzung auf das Gericht anwendbar ist, und nach Art. 44 § 1 Buchst. c der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 die Klageschrift eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten muss. Diese Darstellung muss hinreichend klar und deutlich sein, um dem Beklagten die Vorbereitung seiner Verteidigung und dem Gericht gegebenenfalls ohne weitere Informationen die Entscheidung über die Klage zu ermöglichen. In ihr ist deshalb im Einzelnen darzulegen, worin der Klagegrund besteht, auf den die Klage gestützt wird, so dass seine bloß abstrakte Nennung nicht den Erfordernissen der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und der Verfahrensordnung des Gerichts entspricht (vgl. entsprechend Urteile vom 12. Januar 1995, Viho/Kommission, T‑102/92, EU:T:1995:3, Rn. 68, und vom 27. November 1997, Tremblay u. a./Kommission, T‑224/95, EU:T:1997:187, Rn. 79). Das Gericht ist auch nicht verpflichtet, die Klagegründe, auf die sich die Klage möglicherweise stützen lässt, in den Anlagen zu suchen und zu bestimmen, denn die Anlagen haben eine bloße Beweis- und Hilfsfunktion (vgl. Urteil vom 2. Februar 2012, Griechenland/Kommission, T‑469/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:50, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 16      Aus der Klageschrift geht hervor, dass die Kläger sich ausdrücklich auf die Art. 11 und 13 AEUV berufen haben, um die Zuständigkeit der Union in Bezug auf den Gegenstand der geplanten EBI zu begründen. 17      Außerdem haben die Kläger zwar in der Erwiderung den angefochtenen Beschluss eindeutig dahin gerügt, dass dieser den Gegenstand der geplanten EBI auf den Tierschutz begrenzt habe, doch hatten sie auch bereits in der Klageschrift im Wesentlichen vorgetragen, dass die geplante EBI die Verstärkung des Tierschutzes zum Gegenstand habe und ihr Ziel in Zusammenhang mit den „psychologischen Wechselwirkungen von Mensch und Tier“ stehe. Aus diesen Angaben konnte geschlossen werden, dass die Kläger den angefochtenen Beschluss dahin rügen wollten, dass die Kommission in Bezug auf die Tragweite der geplanten EBI diese Wechselwirkungen von Mensch und Tier nicht berücksichtigt habe. 18      Die Klagebeantwortung zeigt im Übrigen, dass die Kommission die Grundlage der Klageschrift sowie die zur Stützung der Klage erhobenen Rügen verstanden hat, da sie u. a. Argumente zu den Art. 11 und 13 AEUV vorgebracht und festgestellt hat, dass die geplante EBI auf Maßnahmen zur Gewährleistung des Schutzes und Wohlbefindens herrenloser Tiere in der Union abziele. 19      Es ist hinzuzufügen, dass die Kläger sich in ihrer Klageschrift auch ausdrücklich auf das „Protokoll Nr. 10 zum Vertrag von Amsterdam“ berufen haben, das dem Protokoll über den Tierschutz und das Wohlergehen der Tiere im Anhang des EG-Vertrags (ABl. 1997, C 340, S. 110, im Folgenden: Protokoll) entspricht und gleichzeitig mit dem Vertrag von Amsterdam angenommen worden ist. Die Bestimmungen des Protokolls wurden im Wesentlichen als Art. 13 AEUV übernommen. Auch wenn somit die Berufung auf dieses Protokoll, wie die Kommission zu Recht festgestellt hat, freilich keinen wirklichen Nutzen hat, wenn Art. 13 AEUV selbst geltend gemacht wird, kann sie doch als Bestätigung dafür genommen werden, dass die Kläger für die Begründung ihrer Klage auf eine Verletzung der Bestimmungen dieses Protokolls in Verbindung mit denen des Art. 13 AEUV abstellen wollten. 20      Somit ist festzustellen, dass die Kläger die Rügen, auf die sie ihre Klage stützen wollten, trotz einer ungeordneten und nicht sehr klaren Darstellung ihrer Argumentation rechtlich hinreichend dargelegt haben. Die von der Kommission erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist daher zurückzuweisen. Zur Begründetheit 21      Vorab ist daran zu erinnern, dass die Kläger, wie oben in Rn. 16 ausgeführt worden ist, einen Verstoß gegen die Art. 11 und 13 AEUV geltend gemacht haben. In der mündlichen Verhandlung haben sie bestätigt, dass es sich dabei um die beiden einzigen Vorschriften handele, die sie zur Stützung ihrer Klage hätten geltend machen wollen. Somit ist die Begründetheit der Klage nicht im Hinblick auf die anderen in den Schriftsätzen der Kläger angeführten Vorschriften zu prüfen. 22      Diese Klarstellung vorausgeschickt, ist festzustellen, dass die Kläger vortragen, die Kommission habe den Gegenstand der geplanten EBI, die die Auswirkungen von Tierquälerei und Tötungen von Tieren auf den Menschen und seine Gesundheit betreffe, falsch bestimmt. Diese geplante Bürgerinitiative beschränke sich nicht auf den Tierschutz. Die Kommission habe fehlerhaft geschlussfolgert, sie habe keine Rechtsbefugnisse, um Rechtsakte vorzulegen, da die geplante EBI offenkundig außerhalb des Befugnisrahmens der Kommission liege.Die von der Kommission in der Klagebeantwortung angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs betreffe das Wohlergehen der Tiere und sei daher nicht entscheidend. Die geplante EBI gehe nämlich über das Ziel des Wohlergehens der Tiere hinaus, da sie auf die „Wechselwirkung zwischen Mensch und Tier“ abziele. Die Kläger weisen im Wesentlichen darauf hin, dass im Rahmen der in Art. 13 AEUV genannten Politikbereiche mittelbar die psychischen Auswirkungen und die Krankheiten, die bei Menschen aufgrund von Tierquälerei auftreten könnten, zu berücksichtigen seien. 23      Die Kläger stützen sich auf Beispiele von Tötungen von Tieren und Tierquälerei in mehreren Mitgliedstaaten. Sie führen Tierquälerei und Tötungen von Tieren an, bei denen es sich nicht zwangsläufig um streunende Tiere handele, sowie Gewalttaten, die gegenüber bestimmten Tierbesitzern oder Tierärzten in Rumänien verübt worden sein sollen. Sie führen Walschlachtungen oder die Tötung von Zootieren, wie beispielsweise Giraffen, in Dänemark sowie das Fehlen eines Verbots von sexuellem Missbrauch von Tieren in diesem Mitgliedstaat an. Sie machen Misshandlungen von Hunden in Bulgarien, in Spanien, in Griechenland und in Zypern geltend. Ganz allgemein nennen sie Beispiele für Tötungen von Tieren oder das Einschläfern insbesondere von Hunden aufgrund der Tierrasse. 24      Erstens rügen die Kläger eine „willkürliche Selektion der Antragsgegenstände“ der geplanten EBI durch die Kommission. Die mit dieser Bürgerinitiative geforderten Maßnahmen beträfen die Strafbarkeit und die Verfolgung von Tierquälerei auf Europaebene. Die Maßnahmen beträfen Praktiken der „direkten und indirekten“ Tötungen von Tieren in Ost- und Südeuropa sowie in Dänemark, ohne Praktiken zu erfassen, die der Nutzung von Tieren zuzurechnen seien oder durch die Tradition gerechtfertigt seien. Die Kläger tragen vor, dass die Kommission durch die Einschränkung der Problematik auf den bloßen Begriff des Schutzes von Straßentieren einige relevante Aspekte der geplanten EBI ausgeblendet habe. Sie erachten einen ethischen Mindeststandard im Kontext der Union für erforderlich und rechtfertigen deren Zuständigkeit damit, dass Tierquälerei psychologische Auswirkungen auf die Menschen habe. Im Übrigen berufen sie sich auf eine von der Kommission im Jahr 2010 in Auftrag gegebene Studie zum Tierschutz. 25      Zweitens berufen sich die Kläger auf „Volksgesundheit, psychische Integrität und den Bezug zum Tier“. Die geplante EBI stelle sogar im Wesentlichen auf die Gesundheit der Bevölkerung ab. Die Kläger bringen im Grunde vor, dass die Union Zuständigkeiten im Bereich der Gesundheit der Bevölkerung habe und ein gemeinsames Vorgehen zur Ahndung von Tierquälerei, insbesondere der Quälerei von streunenden Tieren, geboten sei, da diese Quälerei verstörende, ja traumatisierende Auswirkungen auf die menschliche und mehr noch auf die kindliche Psyche habe und zu psychiatrischen Störungen bei Menschen führen könne. Zudem bestehe die Gefahr der Übertragung von Krankheiten zwischen Tieren und Menschen. 26      Drittens berufen sich die Kläger auf die „Menschenrechte, Integration und Friedenssicherung“. Im Wesentlichen sind sie der Auffassung, dass eine bessere Behandlung der Tiere die Empathie und den Gerechtigkeitssinn der Menschen untereinander fördern würde. Umgekehrt bringe Tierquälerei den Menschen dazu, gewalttätiger gegenüber anderen Menschen zu sein. 27      Viertens stellen die Kläger im Wesentlichen auf Auswirkungen der Quälerei von streunenden Tieren und des Tötens aufgrund der Tierrasse auf den Binnenmarkt ab. Sie führen Probleme der Versicherungsunternehmen in Rumänien an, die keine Hundehaftpflichtversicherungen anböten. Darüber hinaus sprechen sie von einer Beeinträchtigung der Freizügigkeit von Personen, die aufgrund der Kenntnis oder des Anblicks von Tierquälerei in einigen Mitgliedstaaten einen psychischen Schaden erleiden könnten. Es gebe Auswirkungen auf den Tourismus oder auf die Ausübung bestimmter Berufe wie etwa der Tierarzttätigkeit. Zudem habe die Selektion bestimmter Tiere aufgrund der Rasse Auswirkungen auf bestimmte Personen, die Tiere einer nicht geschützten Art hielten. Die Kläger nehmen auch auf die Verordnung (EG) Nr. 1523/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 über ein Verbot des Inverkehrbringens sowie der Ein- und Ausfuhr von Katzen- und Hundefellen sowie von Produkten, die solche Felle enthalten, in die bzw. aus der Gemeinschaft (ABl. 2007, L 343, S. 1) Bezug, die ein Beleg für die Zuständigkeit der Union sei, wenn es um die „Wechselwirkung zwischen Mensch und Tier“ gehe. 28      Als letzten Punkt führen die Kläger im Wesentlichen aus, dass die Kommission bereits selbst ihre Zuständigkeit im Bereich des Schutzes von Straßentieren ausgeübt habe. Sie machen geltend, dass der Ausschuss für Landwirtschaft des Europäischen Parlaments die Kommission aufgefordert habe, einen Vorschlag für eine Regelung für Straßentiere, die nicht mehr unter die Regelung für freilebende Tiere fallen sollten, zu unterbreiten. Der Wortlaut und der Sinn des Art. 13 AEUV begründeten eine Zuständigkeit für die Entscheidung über das Schicksal der Straßentiere, die als Tiere im Besitz behandelt werden müssten. Das Unionsrecht sehe ab 2018 eine Verpflichtung zur Registrierung von Straßentieren vor, die jedoch nicht gewährleistet sei, und am 15. April 2014 habe es eine Abstimmung im Parlament gegeben. Die Kläger nehmen auf einen Besuch eines Mitglieds des Europäischen Parlaments und dessen Ausschusses für Landwirtschaft in einigen Tierheimen in Rumänien Bezug und berichten, dass dieser dort Spuren von Tiertötungen festgestellt habe. Im Übrigen stellten zahlreiche Parlamentsmitglieder häufig Anfragen zum Tierschutz und zu den Straßentieren. Es sei erforderlich, nach Art. 13 AEUV Mindestnormen aufzustellen. Die Kommission habe eine externe Beratungsfirma mit einem Bericht zur Evaluation der Europäischen Tierschutzpolitik bezüglich landwirtschaftlicher Nutztiere, Versuchstiere, Haustiere und Wildtiere, die in Gefangenschaft gehalten würden oder von Menschen gehandhabt würden, beauftragt. Diese Evaluation sei im Dezember 2010 abgeschlossen worden und werde als Basis für den zukünftigen EU-Aktionsplan dienen. Die Studie umfasse auch Straßentiere, und es sei ihr zu entnehmen, dass die rechtliche Grundlage für einen allgemeinen Tierschutz nicht prinzipiell auszuschließen sei, was belege, dass die geplante EBI nicht offenkundig außerhalb der Befugnisse der Kommission liege. Die Kläger erwähnen auch einen „Tierschutzaktionsplan der Kommission für die Jahre 2006–2010“, der die Einführung eines Tierschutz-Labels auf Produkte, ein einheitliches Tierschutzgesetz ebenso wie die Einschränkung von Tierversuchen vorsehe. 29      Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen. 30      Die Rüge der Kläger, wonach die Kommission den Gegenstand der geplanten EBI zu Unrecht allein auf den Schutz von streunenden Tieren beschränkt habe, ist zu prüfen. Insoweit sind die Informationen zu berücksichtigen, die die Kläger der Kommission im Hinblick auf die Registrierung der geplanten EBI bereitgestellt haben. Dabei handelt es sich im vorliegenden Fall um das Formular für den Antrag auf Registrierung mit den in Anhang II der Verordnung Nr. 211/2011 genannten Angaben und das dem Formular als Anhang beigefügte Konzept des Antrags (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2016, Izsák und Dabis/Kommission, T‑529/13, mit Rechtsmittel angefochten, EU:T:2016:282, Rn. 47 bis 49). 31      Im Formular für den Antrag auf Registrierung haben die Kläger unter der Rubrik „Gegenstand“ angegeben: „Minimum an Ethik im Umgang mit schwächsten Individuen bei volkswirtschaftlichem Vorteil, der unterschiedlichen Religionen und Kulturen gerecht wird, alle Kinder Europas gewaltfrei prägt und aufrichtige Integration ermöglicht“. Unter der Rubrik „Beschreibung“ haben sie hinzugefügt, dass, soweit keine Möglichkeit zur Schaffung eines Rechtsakts insbesondere über Straßentiere in Europa oder ein Verbot des Verzehrs von Katzen und Hunden möglich sei, hilfsweise die Einholung von Studien im Sinne von Art. 156 AEUV humanmedizinischer, tiermedizinischer, psychologischer, volkswirtschaftlicher, rechtswissenschaftlicher und ethischer Natur zur Behandlung der Inhalte des ihrem Antrag beiliegenden Konzepts gefordert werde. Hierzu haben sie in Abschnitt I Nr. 1 dieses Konzepts näher ausgeführt, dass sie „eine … Regelung für herrenlose Tiere … in Form von praktisch bewährtem Populationsmanagement“ forderten. 32      Der Wortlaut dieses Konzepts zeigt, dass die Sorge der Kläger die Behandlung streunender Tiere betraf und dass sie von der Kommission verlangten, Maßnahmen in dieser Hinsicht zu treffen. Das Konzept enthält zwar auch Erwägungen in Bezug auf die Gesundheit von Menschen im Zusammenhang mit der Behandlung von Tieren, aber etwaige andere Gegenstände der geplanten EBI als der des Schutzes und Wohlergehens streunender Tiere sind nicht hinreichend präzise und klar beschrieben, um eine Bestimmung der Vorschläge für Rechtsakte zu erlauben, zu deren Vorlage die Kommission insoweit aufgefordert worden sein sollte. 33      Hiernach ist festzustellen, dass die Kommission zu Recht davon ausgegangen ist, dass der Gegenstand der geplanten EBI die Gewährleistung des Schutzes und des Wohlergehens streunender Tiere in der Union sei. 34      Daher ist zu prüfen, ob die Kommission feststellen durfte, dass die Art. 11 und 13 AEUV offensichtlich keine adäquate Rechtsgrundlage für den Erlass eines Rechtsakts in der Unionsgesetzgebung darstellten, der den Schutz und das Wohlergehen streunender Tiere in der Union zum Gegenstand hat. 35      Nach Art. 13 AEUV „[tragen die Union und die Mitgliedstaaten b]ei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Binnenmarkt, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt … den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung; sie berücksichtigen hierbei die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe“. 36      So hat, wie die Kommission angemerkt hat, der Gerichtshof im Rahmen des EG-Vertrags und des Protokolls bereits entschieden, dass die Gewährleistung des Wohlergehens der Tiere nicht zu den Zielen dieses Vertrags gehört und dass das Protokoll die Verpflichtung, bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Gemeinschaft den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere in vollem Umfang Rechnung zu tragen, auf vier spezifische Bereiche der Tätigkeit der Gemeinschaft beschränkt und die Berücksichtigung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften und der Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 2001, Jippes u. a., C‑189/01, EU:C:2001:420, Rn. 71 und 73). 37      Da die Bestimmungen des Protokolls im Wesentlichen als Art. 13 AEUV übernommen wurden, ist festzustellen, dass nach dieser Vorschrift die Gewährleistung des Wohlergehens der Tiere als solche auch nicht zu den Zielen des AEU-Vertrags gehört. Vielmehr wird diesem Wohlergehen im Rahmen der Festlegung und Durchführung der Politik der Union in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Binnenmarkt, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt sowie unter Berücksichtigung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften und der Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten, kulturelle Traditionen und das regionale Erbe Rechnung getragen. 38      Die Kommission hat somit zutreffend festgestellt, dass sich die Befugnis der Union, den Tierschutz durch Rechtsetzung und ‑durchsetzung zu verbessern, auf die in Art. 13 AEUV aufgezählten Politikbereiche der Union beschränke, und zu Recht das Urteil vom 12. Juli 2001, Jippes u. a. (C‑189/01, EU:C:2001:420), angeführt sowie darauf hingewiesen, dass das Protokoll im Wesentlichen als Art. 13 AEUV übernommen worden sei. 39      Die Kläger haben nicht hinreichend dargetan, dass die geplante EBI auf den Erlass von Maßnahmen gerichtet war, die in einen der in Art. 13 AEUV genannten Bereiche, nämlich Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Binnenmarkt, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt, fallen. 40      Sie haben nämlich den Schwerpunkt auf Beispiele von Misshandlungen von Tieren und auf die „Wechselwirkungen zwischen Mensch und Tier“ gelegt, die nur in sehr entferntem Zusammenhang mit einem der in Art. 13 AEUV genannten Bereiche stehen. 41      Darüber hinaus sind die Ausführungen der Kläger in Bezug auf einen Zusammenhang der geplanten EBI mit der Freizügigkeit und dem Wettbewerb zu unpräzise. So behaupten die Kläger, dass Tierquälereien dem Tourismus schadeten, weil Personen, die für die Belange von Tieren sensibel seien, schockiert werden könnten, wenn sie sich in bestimmte Mitgliedstaaten begäben, in denen Tiere misshandelt würden. Sie machen ferner, ohne ins Detail zu gehen, eine Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den Tierärzten der Union geltend, da Tierärzte, die in Ländern praktizierten, in denen es einen starken Tierschutz gebe, sich in einer anderen Situation befänden als diejenigen, die ihre Tätigkeit in Staaten ausübten, in denen Tiere misshandelt würden. Diese Beispiele beruhen auf unzureichend gestützten Behauptungen; die Kläger bringen keinerlei Anhaltspunkt vor, der die Feststellung zuließe, dass die mit der geplanten EBI angestrebten Maßnahmen in die in Art. 13 AEUV genannten Politikbereiche der Union fallen könnten. 42      Für die Herleitung der Zuständigkeit der Union haben die Kläger außerdem verschiedene Studien oder Rechtsakte der Union angeführt, um im Wesentlichen geltend zu machen, dass die Kommission ihre Zuständigkeit im Bereich des Tierschutzes bereits ausgeübt habe. 43      Wie jedoch im angefochtenen Beschluss zutreffend ausgeführt worden ist, müssen die Regelungen, die auf den Tierschutz als im Allgemeininteresse liegendes Ziel gerichtet sind, in zumindest einen der in Art. 13 AEUV genannten Bereiche fallen. 44      Genauso verhält es sich bei der von den Klägern angeführten Verordnung Nr. 1523/2007. Die Bezugsvermerke dieser Verordnung nennen die Art. 95 und 133 EG (jetzt Art. 114 und 207 AEUV), die den Binnenmarkt betreffen. Aus den Erwägungsgründen dieser Verordnung ergibt sich ferner, dass der Rat (Landwirtschaft und Fischerei) die Notwendigkeit hervorgehoben hat, so bald wie möglich Vorschriften über den Handel mit Katzen- und Hundefellen sowie Produkten, die solche Felle enthalten, zu erlassen. 45      Was das Vorbringen der Kläger zu auf den Tierschutz gerichteten Initiativen der Union betrifft, so ist dieses zu ungenau; es ist nicht Sache des Gerichts, in den Akten die Gesichtspunkte zu suchen und zu bestimmen, auf die sich das Vorbringen der Kläger möglicherweise stützen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. Januar 2007, France Télécom/Kommission, T‑340/03, EU:T:2007:22, Rn. 30, und vom 5. Mai 2015, Skype/HABM – Sky und Sky IP International [SKYPE], T‑184/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:258, Rn. 54). 46      Gemäß Art. 11 AEUV müssen „[d]ie Erfordernisse des Umweltschutzes … bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und ‑maßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden“. 47      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Kläger in ihren Schriftsätzen nichts Konkretes vorgetragen haben, was hätte belegen können, dass die geplante EBI unter diesen Artikel hätte fallen können. In ihrer Erwiderung haben sie sogar behauptet, dass die geplante EBI im Wesentlichen auf die öffentliche Gesundheit abziele. Im Übrigen berühren die von den Klägern in ihren Schriftsätzen angeführten Beispiele den Umweltschutz nur beiläufig und sehr am Rande und zeigen, dass die geplante EBI Maßnahmen des Umweltschutzes als solche nicht zum Gegenstand hat. 48      Die Kommission hat somit keinen Beurteilungsfehler begangen, indem sie festgestellt hat, dass die geplante EBI offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem sie befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen. 49      Nach alledem ist die Klage vollständig abzuweisen. Kosten 50      Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kläger mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen entsprechend dem Antrag der Kommission neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Kommission aufzuerlegen. Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1.      Die Klage wird abgewiesen. 2.      HB und die weiteren im Anhang namentlich aufgeführten Kläger tragen die Kosten. Kanninen Pelikánová Buttigieg Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. April 2017. Der Kanzler Der Präsident E. Coulon H. Kanninen *      Verfahrenssprache: Deutsch. 1      Die Namen der anderen Kläger werden nur im Anhang der den Parteien zugestellten Fassung aufgeführt.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 14. März 2017.#Samira Achbita und Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding gegen G4S Secure Solutions NV.#Vorabentscheidungsersuchen des Hof van Cassatie.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung – Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung – Unternehmensinterne Regelung, die den Arbeitnehmern verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare politische, philosophische oder religiöse Zeichen zu tragen – Unmittelbare Diskriminierung – Fehlen – Mittelbare Diskriminierung – Verbot für eine Arbeitnehmerin, ein islamisches Kopftuch zu tragen.#Rechtssache C-157/15.
62015CJ0157
ECLI:EU:C:2017:203
2017-03-14T00:00:00
Gerichtshof, Kokott
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62015CJ0157 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 14. März 2017 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Sozialpolitik — Richtlinie 2000/78/EG — Gleichbehandlung — Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung — Unternehmensinterne Regelung, die den Arbeitnehmern verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare politische, philosophische oder religiöse Zeichen zu tragen — Unmittelbare Diskriminierung — Fehlen — Mittelbare Diskriminierung — Verbot für eine Arbeitnehmerin, ein islamisches Kopftuch zu tragen“ In der Rechtssache C‑157/15 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien) mit Entscheidung vom 9. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 3. April 2015, in dem Verfahren Samira Achbita, Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding gegen G4S Secure Solutions NV erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin M. Berger, der Kammerpräsidenten M. Vilaras und E. Regan, der Richter A. Rosas, A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits und F. Biltgen (Berichterstatter), der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2016, unter Berücksichtigung der Erklärungen — des Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding, vertreten durch C. Bayart und I. Bosmans, advocaten, — der G4S Secure Solutions NV, vertreten durch S. Raets und I. Verhelst, advocaten, — der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte, — der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte, — der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Kraehling, S. Simmons und C. R. Brodie als Bevollmächtigte im Beistand von A. Bates, Barrister, — der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und D. Martin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 31. Mai 2016 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Samira Achbita sowie dem Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding (Zentrum für Chancengleichheit und Bekämpfung des Rassismus, im Folgenden: Centrum) auf der einen Seite und der G4S Secure Solutions NV (im Folgenden: G4S), einem Unternehmen mit Sitz in Belgien, auf der anderen Seite wegen des von G4S ihren Arbeitnehmern erteilten Verbots, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen oder jeglichen sich daraus ergebenden Ritus zum Ausdruck zu bringen. Rechtlicher Rahmen Richtlinie 2000/78 3 Die Erwägungsgründe 1 und 4 der Richtlinie 2000/78 lauten: „(1) Nach Artikel 6 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union beruht die Europäische Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. … (4) Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Schutz vor Diskriminierung ist ein allgemeines Menschenrecht; dieses Recht wurde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im VN-Übereinkommen zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen, im Internationalen Pakt der VN über bürgerliche und politische Rechte, im Internationalen Pakt der VN über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkannt, die von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet wurden. Das Übereinkommen 111 der Internationalen Arbeitsorganisation untersagt Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf.“ 4 Art. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt: „Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“ 5 Art. 2 dieser Richtlinie sieht vor: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. (2)   Im Sinne des Absatzes 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn: i) [D]iese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich … … (5)   Diese Richtlinie berührt nicht die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.“ 6 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie lautet: „Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf … c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts; …“ Belgisches Recht 7 Die Wet ter bestrijding van discriminatie en tot wijziging van de wet van 15 februari 1993 tot oprichting van een Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding (Gesetz zur Bekämpfung der Diskriminierung und zur Abänderung des Gesetzes vom 15. Februar 1993 zur Schaffung eines Zentrums für Chancengleichheit und Bekämpfung des Rassismus) vom 25. Februar 2003 (Belgisch Staatsblad vom 17. März 2003, S. 12844) dient u. a. zur Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2000/78. 8 Art. 2 § 1 dieses Gesetzes bestimmt: „Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine unterschiedliche Behandlung, die nicht sachlich und angemessen gerechtfertigt wird, unmittelbar auf dem Geschlecht, einer sogenannten Rasse, der Hautfarbe, der Herkunft, der nationalen oder ethnischen Abstammung, der sexuellen Ausrichtung, dem Zivilstand, der Geburt, dem Vermögen, dem Alter, dem Glauben oder der Weltanschauung, dem heutigen oder zukünftigen Gesundheitszustand, einer Behinderung oder einer körperlichen Eigenschaft beruht.“ 9 Art. 2 § 2 des Gesetzes sieht vor: „Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren als solche eine schädliche Auswirkung auf Personen haben, für die einer der in § 1 angeführten Diskriminierungsgründe gilt, es sei denn, diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren werden sachlich und angemessen gerechtfertigt.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 10 G4S ist ein privates Unternehmen, das für Kunden aus dem öffentlichen und privaten Sektor u. a. Rezeptions- und Empfangsdienste erbringt. 11 Am 12. Februar 2003 trat Frau Achbita, die muslimischen Glaubens ist, mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag als Rezeptionistin in den Dienst von G4S. Bei G4S galt zu dieser Zeit eine ungeschriebene Regel, wonach Arbeitnehmer am Arbeitsplatz keine sichtbaren Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen tragen durften. 12 Im April 2006 kündigte Frau Achbita ihren Vorgesetzten an, dass sie beabsichtige, künftig während der Arbeitszeiten das islamische Kopftuch zu tragen. 13 Die Geschäftsleitung von G4S antwortete Frau Achbita auf diese Ankündigung, dass das Tragen eines Kopftuchs nicht geduldet werde, da das sichtbare Tragen politischer, philosophischer oder religiöser Zeichen der von G4S angestrebten Neutralität widerspreche. 14 Nach einer krankheitsbedingten Abwesenheit teilte Frau Achbita ihrem Arbeitgeber am 12. Mai 2006 mit, dass sie am 15. Mai ihre Arbeit wieder aufnehmen und das islamische Kopftuch tragen werde. 15 Der Betriebsrat von G4S billigte am 29. Mai 2006 eine Anpassung der Arbeitsordnung, die am 13. Juni 2006 in Kraft trat und wie folgt lautete: „Es ist den Arbeitnehmern verboten, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen und/oder jeglichen Ritus, der sich daraus ergibt, zum Ausdruck zu bringen.“ 16 Am 12. Juni 2006 wurde Frau Achbita aufgrund ihrer festen Absicht, als Muslima am Arbeitsplatz das islamische Kopftuch zu tragen, entlassen. Sie erhielt eine Entlassungsabfindung in Höhe von drei Monatsgehältern, und ihr wurden die auf der Grundlage des Arbeitsvertrags erworbenen Vergünstigungen ausbezahlt. 17 Nachdem die Klage von Frau Achbita gegen ihre Entlassung von der Arbeidsrechtbank te Antwerpen (Arbeitsgericht Antwerpen, Belgien) abgewiesen worden war, legte sie gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel beim Arbeidshof te Antwerpen (Arbeitsgerichtshof Antwerpen, Belgien) ein. Dieses Rechtsmittel wurde u. a. mit der Begründung zurückgewiesen, die Entlassung sei nicht als ungerechtfertigt anzusehen, da das allgemeine Verbot, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen zu tragen, nicht zu einer unmittelbaren Diskriminierung geführt habe und auch keine mittelbare Diskriminierung oder Verletzung der persönlichen Freiheit oder der Religionsfreiheit ersichtlich sei. 18 Zum Fehlen einer unmittelbaren Diskriminierung führte der Arbeidshof te Antwerpen (Arbeitsgerichtshof Antwerpen) im Einzelnen aus, Frau Achbita sei unstreitig nicht wegen ihres muslimischen Glaubens entlassen worden, sondern deshalb, weil sie die feste Absicht gehabt habe, diesen Glauben während der Arbeitszeit sichtbar durch das Tragen eines islamischen Kopftuchs zu bekennen. Die Bestimmung der Arbeitsordnung, gegen die Frau Achbita verstoßen habe, habe allgemeine Geltung, da sie jedem Arbeitnehmer das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbiete. Nichts deute darauf hin, dass sich G4S gegenüber einem anderen Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Situation, insbesondere gegenüber einem Arbeitnehmer mit anderen religiösen oder philosophischen Überzeugungen, der sich beharrlich geweigert hätte, dieses Verbot einzuhalten, entgegenkommender verhalten hätte. 19 Der Arbeidshof te Antwerpen (Arbeitsgerichtshof Antwerpen) wies das Vorbringen, das bei G4S geltende Verbot, sichtbare Zeichen religiöser oder philosophischer Überzeugungen zu tragen, sei schon für sich genommen eine unmittelbare Diskriminierung von Frau Achbita als Gläubige, mit der Begründung zurück, da dieses Verbot nicht nur das Tragen von Zeichen religiöser Überzeugungen betreffe, sondern auch das Tragen von Zeichen philosophischer Überzeugungen, stehe es im Einklang mit dem Schutzkriterium der Richtlinie 2000/78, in der von „Religion oder Weltanschauung“ die Rede sei. 20 Zur Stützung ihrer Kassationsbeschwerde macht Frau Achbita u. a. geltend, dass der Arbeidshof te Antwerpen (Arbeitsgerichtshof Antwerpen) die Begriffe „unmittelbare Diskriminierung“ und „mittelbare Diskriminierung“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 verkannt habe, indem er davon ausgegangen sei, dass die religiöse Überzeugung, auf die sich das von G4S aufgestellte Verbot gründe, ein neutrales Kriterium sei, und dieses Verbot mit der Begründung, es richte sich nicht gegen eine bestimmte religiöse Überzeugung und treffe alle Arbeitnehmer, nicht als Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, die ein islamisches Kopftuch trügen, und solchen, die keines trügen, angesehen habe. 21 Unter diesen Umständen hat der Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 so auszulegen, dass das Verbot, als Muslima am Arbeitsplatz ein Kopftuch zu tragen, keine unmittelbare Diskriminierung darstellt, wenn die beim Arbeitgeber bestehende Regel es allen Arbeitnehmern verbietet, am Arbeitsplatz äußere Zeichen politischer, philosophischer und religiöser Überzeugungen zu tragen? Zur Vorlagefrage 22 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die allgemein das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, eine durch diese Richtlinie verbotene unmittelbare Diskriminierung darstellt. 23 Erstens besteht nach Art. 1 der Richtlinie 2000/78 ihr Zweck in der Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten. 24 Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 „bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 [dieser Richtlinie] genannten Gründe geben darf“. In Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie heißt es, dass eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne ihres Art. 2 Abs. 1 vorliegt, wenn eine Person wegen eines der in Art. 1 genannten Gründe, darunter die Religion, in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt. 25 Der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 verwendete Begriff der Religion wird in dieser Richtlinie nicht definiert. 26 Im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 hat der Unionsgesetzgeber jedoch auf die Grundrechte Bezug genommen, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) gewährleistet sind. Die EMRK sieht in ihrem Art. 9 vor, dass jede Person das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat, wobei dieses Recht u. a. die Freiheit umfasst, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. 27 Der Unionsgesetzgeber hat im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 außerdem auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts Bezug genommen. Zu den Rechten, die sich aus diesen gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben und die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bekräftigt wurden, gehört das in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit. Es umfasst nach dieser Bestimmung die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. Wie sich aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) ergibt, entspricht das in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Recht dem durch Art. 9 EMRK garantierten Recht, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta hat es die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite wie dieses. 28 Da die EMRK und in der Folge die Charta dem Begriff der Religion eine weite Bedeutung beilegen und darunter auch die Freiheit der Personen, ihre Religion zu bekennen, fassen, ist davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Richtlinie 2000/78 den gleichen Ansatz verfolgen wollte, so dass der Begriff der Religion in Art. 1 der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er sowohl das forum internum, d. h. den Umstand, Überzeugungen zu haben, als auch das forum externum, d. h. die Bekundung des religiösen Glaubens in der Öffentlichkeit, umfasst. 29 Zweitens ist zu klären, ob sich aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden internen Regel eine Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer wegen ihrer Religion oder ihrer Weltanschauung ergibt und – wenn ja – ob diese Ungleichbehandlung eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 darstellt. 30 Im vorliegenden Fall bezieht sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel auf das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen und gilt damit unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen. Daher ist davon auszugehen, dass nach dieser Regel alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleich behandelt werden, indem ihnen allgemein und undifferenziert u. a. vorgeschrieben wird, sich neutral zu kleiden, was das Tragen solcher Zeichen ausschließt. 31 Den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, ist insoweit nicht zu entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel auf Frau Achbita anders angewandt worden wäre als auf jeden anderen Arbeitnehmer. 32 Daher ist im Ergebnis festzustellen, dass eine interne Regel wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine unmittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 begründet. 33 Allerdings hindert nach ständiger Rechtsprechung der Umstand, dass das vorlegende Gericht eine Frage unter Bezugnahme nur auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material und insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. u. a. Urteil vom 12. Februar 2015, Oil Trading Poland, C‑349/13, EU:C:2015:84, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34 Im vorliegenden Fall ist nicht ausgeschlossen, dass das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 begründet, wenn sich erweist – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist –, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden. 35 Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 würde eine solche Ungleichbehandlung jedoch nicht zu einer mittelbaren Diskriminierung im Sinne ihres Art. 2 Abs. 2 Buchst. b führen, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt wäre und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wären. 36 Insoweit ist festzustellen, dass es zwar letztlich Sache des allein für die Beurteilung des Sachverhalts zuständigen nationalen Gerichts ist, darüber zu befinden, ob und inwieweit die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel diesen Anforderungen genügt, doch ist der Gerichtshof, der dem nationalen Richter in sachdienlicher Weise zu antworten hat, befugt, auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der ihm unterbreiteten schriftlichen und mündlichen Erklärungen Hinweise zu geben, die es dem nationalen Richter ermöglichen, über den konkreten bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden. 37 Erstens ist zur Voraussetzung des Vorliegens eines rechtmäßigen Ziels darauf hinzuweisen, dass der Wille, im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, philosophischen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, als rechtmäßig anzusehen ist. 38 Der Wunsch eines Arbeitgebers, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, gehört zur unternehmerischen Freiheit, die in Art. 16 der Charta anerkannt ist, und ist grundsätzlich rechtmäßig, insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber bei der Verfolgung dieses Ziels nur die Arbeitnehmer einbezieht, die mit seinen Kunden in Kontakt treten sollen. 39 Die Auslegung, dass die Verfolgung eines solchen Ziels innerhalb bestimmter Grenzen eine Beschränkung der Religionsfreiheit erlaubt, wird im Übrigen durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 9 EMRK bestätigt (Urteil des EGMR vom 15. Januar 2013, Eweida u. a. gegen Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2013:0115JUD004842010, Rn. 94). 40 Zweitens ist zur Angemessenheit einer internen Regel wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden festzustellen, dass das Verbot für Arbeitnehmer, Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen, zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Anwendung einer Politik der Neutralität geeignet ist, sofern diese Politik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. März 2009, Hartlauer, C‑169/07, EU:C:2009:141, Rn. 55, und vom 12. Januar 2010, Petersen, C‑341/08, EU:C:2010:4, Rn. 53). 41 Insoweit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob G4S vor der Entlassung von Frau Achbita für ihre Beschäftigten mit Kundenkontakt eine allgemeine und undifferenzierte Politik des Verbots eingeführt hatte, Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen sichtbar zu tragen. 42 Drittens ist in Bezug auf die Erforderlichkeit des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verbots zu prüfen, ob es sich auf das unbedingt Erforderliche beschränkt. Im vorliegenden Fall ist zu klären, ob sich das Verbot des sichtbaren Tragens jedes Zeichens oder Kleidungsstücks, das mit einem religiösen Glauben oder einer politischen oder philosophischen Überzeugung in Verbindung gebracht werden kann, nur an die mit Kunden in Kontakt tretenden Arbeitnehmer von G4S richtet. Ist dies der Fall, ist das Verbot als für die Erreichung des verfolgten Ziels unbedingt erforderlich anzusehen. 43 Im vorliegenden Fall ist hinsichtlich der Weigerung einer Arbeitnehmerin wie Frau Achbita, im Rahmen der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit bei Kunden von G4S auf das Tragen des islamischen Kopftuchs zu verzichten, vom vorlegenden Gericht zu prüfen, ob es G4S, unter Berücksichtigung der unternehmensinternen Zwänge und ohne eine zusätzliche Belastung tragen zu müssen, möglich gewesen wäre, ihr in Anbetracht dieser Weigerung einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden anzubieten, statt sie zu entlassen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, in Anbetracht aller Umstände, die sich aus den Akten ergeben, den beiderseitigen Interessen Rechnung zu tragen und die Beschränkungen der in Rede stehenden Freiheiten auf das unbedingt Erforderliche zu begrenzen. 44 Nach alledem ist die Frage des vorlegenden Gerichts wie folgt zu beantworten: — Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne dieser Richtlinie darstellt. — Eine solche interne Regel eines privaten Unternehmens kann hingegen eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 darstellen, wenn sich erweist, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden, es sei denn, sie ist durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und erforderlich; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. Kosten 45 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne dieser Richtlinie darstellt. Eine solche interne Regel eines privaten Unternehmens kann hingegen eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 darstellen, wenn sich erweist, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden, es sei denn, sie ist durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und erforderlich; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. März 2017.#Petya Milkova gegen Izpalnitelen direktor na Agentsiata za privatizatsia i sledprivatizatsionen kontrol.#Vorabentscheidungsersuchen des Varhoven administrativen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – Art. 5 und 27 – Richtlinie 2000/78/EG – Art. 7 – Verstärkter Schutz bei Entlassung von Arbeitnehmern mit Behinderungen – Fehlen eines solchen Schutzes für Beamte mit Behinderungen – Allgemeiner Gleichbehandlungsgrundsatz.#Rechtssache C-406/15.
62015CJ0406
ECLI:EU:C:2017:198
2017-03-09T00:00:00
Gerichtshof, Saugmandsgaard Øe
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62015CJ0406 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 9. März 2017 (1 ) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Sozialpolitik — Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf — Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen — Art. 5 und 27 — Richtlinie 2000/78/EG — Art. 7 — Verstärkter Schutz bei Entlassung von Arbeitnehmern mit Behinderungen — Fehlen eines solchen Schutzes für Beamte mit Behinderungen — Allgemeiner Gleichbehandlungsgrundsatz“ In der Rechtssache C‑406/15 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 16. Juli 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juli 2015, in dem Verfahren Petya Milkova gegen Izpalnitelen direktor na Agentsiata za privatizatsia i sledprivatizatsionen kontrol, Beteiligte: Varhovna administrativna prokuratura, erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin), des Richters A. Rosas, der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas, Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der bulgarischen Regierung, vertreten durch D. Drambozova und E. Petranova als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und D. Roussanov als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Oktober 2016 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 4 und 7 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) sowie von Art. 5 Abs. 2 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (im Folgenden: VN-Übereinkommen), das mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 (ABl. 2010, L 23, S. 35) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde. 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Petya Milkova und dem Izpalnitelen direktor na Agentsiata za privatizatsia i sledprivatizatsionen kontrol (geschäftsführender Direktor der Agentur für Privatisierung und Kontrolle nach der Privatisierung, Bulgarien) (im Folgenden: Agentur) über die Entlassung von Frau Milkova. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 Art. 1 des VN-Übereinkommens lautet: „Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ 4 Nach Art. 5 („Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung“) des VN-Übereinkommens gilt: „(1)   Die Vertragsstaaten anerkennen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben. (2)   Die Vertragsstaaten verbieten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen. (3)   Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten. (4)   Besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens.“ 5 Art. 27 („Arbeit und Beschäftigung“) des VN-Übereinkommens bestimmt: „Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird. Die Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit, einschließlich für Menschen, die während der Beschäftigung eine Behinderung erwerben, durch geeignete Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um unter anderem … h) die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im privaten Sektor durch geeignete Strategien und Maßnahmen zu fördern, wozu auch Programme für positive Maßnahmen, Anreize und andere Maßnahmen gehören können; …“ Unionsrecht 6 Der 27. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 lautet: „Der Rat hat in seiner Empfehlung 86/379/EWG vom 24. Juli 1986 zur Beschäftigung von Behinderten in der Gemeinschaft [(ABl. 1986, L 225, S. 43)] einen Orientierungsrahmen festgelegt, der Beispiele für positive Aktionen für die Beschäftigung und Berufsbildung von Menschen mit Behinderung anführt; in seiner Entschließung vom 17. Juni 1999 betreffend gleiche Beschäftigungschancen für behinderte Menschen [(ABl. 1999, C 186, S. 3)] hat er bekräftigt, dass es wichtig ist, insbesondere der Einstellung, der Aufrechterhaltung des Beschäftigungsverhältnisses sowie der beruflichen Bildung und dem lebensbegleitenden Lernen von Menschen mit Behinderung besondere Aufmerksamkeit zu widmen.“ 7 Zweck der Richtlinie 2000/78 ist gemäß ihrem Art. 1 „die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“ 8 Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung’“) dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. (2)   Im Sinne des Absatzes 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn: i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich, oder ii) der Arbeitgeber oder jede Person oder Organisation, auf die diese Richtlinie Anwendung findet, ist im Falle von Personen mit einer bestimmten Behinderung aufgrund des einzelstaatlichen Rechts verpflichtet, geeignete Maßnahmen entsprechend den in Artikel 5 enthaltenen Grundsätzen vorzusehen, um die sich durch diese Vorschrift, dieses Kriterium oder dieses Verfahren ergebenden Nachteile zu beseitigen. …“ 9 In Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie heißt es: „Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf … c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts; …“ 10 Art. 4 („Berufliche Anforderungen“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1: „Ungeachtet des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“ 11 Art. 7 („Positive und spezifische Maßnahmen“) der Richtlinie 2000/78 lautet: „(1)   Der Gleichbehandlungsgrundsatz hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, zur Gewährleistung der völligen Gleichstellung im Berufsleben spezifische Maßnahmen beizubehalten oder einzuführen, mit denen Benachteiligungen wegen eines in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgrunds verhindert oder ausgeglichen werden. (2)   Im Falle von Menschen mit Behinderung steht der Gleichbehandlungsgrundsatz weder dem Recht der Mitgliedstaaten entgegen, Bestimmungen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz beizubehalten oder zu erlassen, noch steht er Maßnahmen entgegen, mit denen Bestimmungen oder Vorkehrungen eingeführt oder beibehalten werden sollen, die einer Eingliederung von Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt dienen oder diese Eingliederung fördern.“ Bulgarisches Recht 12 Der am 1. Januar 1987 in Kraft getretene Kodeks na truda (Arbeitsgesetzbuch) (DV Nr. 26 vom 1. April 1986 und Nr. 27 vom 4. April 1986) ist gemäß seinem Art. 1 der grundlegende Rechtsetzungsakt, der „die arbeitsrechtlichen Beziehungen zwischen dem Arbeiter oder Angestellten und dem Arbeitgeber sowie weitere Beziehungen regelt, die unmittelbar mit diesen in Verbindung stehen“. 13 Art. 328 des Arbeitsgesetzbuchs, der die Beendigung des Arbeitsvertrags durch den Arbeitgeber im Wege der Kündigung regelt, bestimmt in Abs. 1 Nr. 2: „Der Arbeitgeber kann den Arbeitsvertrag durch schriftliche Kündigung, die an den Arbeiter oder Angestellten gerichtet ist, unter Einhaltung der in Art. 326 Abs. 2 vorgesehenen Fristen in folgenden Fällen beenden: … 2.   bei Schließung eines Teils des Unternehmens oder Stellenabbau; …“ 14 Art. 333 („Kündigungsschutz“) sieht in Abs. 1 Nr. 3 vor: „In den Fällen nach Art. 328 Abs. 1 Nrn. 2, 3, 5 und 11 sowie nach Art. 330 Abs. 2 Nr. 6 kann der Arbeitgeber eine Kündigung nur nach vorheriger Zustimmung der Arbeitsinspektion von Fall zu Fall aussprechen: … 3.   [bei] einem Arbeiter oder Angestellten, der an einer in einer Verordnung des Gesundheitsministers genannten Krankheit leidet; …“ 15 Der am 6. Dezember 1998 in Kraft getretene Zakon za administratsiata (Verwaltungsgesetz) (DV Nr. 130 vom 5. November 1998) regelt den Aufbau der Verwaltung. Art. 12 dieses Gesetzes lautet: „(1) Die Tätigkeit der Verwaltung wird von Beamten und Arbeitnehmern wahrgenommen. (2) Die Einstellung und das Statut der Beamten werden gesetzlich geregelt. (3) Die aufgrund eines Arbeitsvertrags in der Verwaltung Beschäftigten werden gemäß dem Arbeitsgesetzbuch eingestellt.“ 16 Art. 1 des am 27. August 1999 in Kraft getretenen Zakon za darzhavnia sluzhitel (Beamtengesetz) (DV Nr. 67 vom 27. Juli 1999) regelt „den Inhalt und die Beendigung des Dienstverhältnisses zwischen dem Staat und dem Beamten bei und anlässlich der Erfüllung des Staatsdiensts, sofern nicht in einem besonderen Gesetz etwas anderes vorgesehen ist“. 17 Art. 106 des Beamtengesetzes, der die Beendigung des Dienstverhältnisses durch die Anstellungsbehörde im Wege der Kündigung regelt, bestimmt in Abs. 1 Nr. 2: „Die Anstellungsbehörde kann das Dienstverhältnis durch Kündigung mit einer Frist von einem Monat in den folgenden Fällen beenden: … 2.   bei Streichung der Planstelle; …“ 18 Das Beamtengesetz enthält keine Regelung, die Art. 333 Abs. 1 Nr. 3 des Arbeitsgesetzbuchs entspricht. 19 Art. 1 der von dem Ministerium für öffentliche Gesundheit und dem Zentralrat der bulgarischen Gewerkschaften erlassenen Naredba no 5 za bolestite, pri koito rabotnitsite, boleduvashti ot tyah, imat osobena zakrila saglasno chl. 333, al. 1 ot kodeksa na trud (Verordnung Nr. 5 über Erkrankungen, bei denen die Beschäftigten, die an ihnen leiden, besonderen Schutz gemäß Art. 333 Abs. 1 des Arbeitsgesetzbuchs genießen; im Folgenden: Verordnung Nr. 5) (DV Nr. 33 vom 28. April 1987) bestimmt: „Bei teilweiser Liquidation, Stellenabbau oder Einstellung der Arbeit für mehr als 30 Tage kann das Unternehmen erst nach vorheriger Zustimmung der zuständigen Kreisinspektion für Sicherheit am Arbeitsplatz Arbeitnehmer entlassen, die an einer der folgenden Erkrankungen leiden: … 5.   psychische Erkrankung; …“ 20 Der am 1. Januar 2004 in Kraft getretene Zakon za zashtita ot diskriminatsia (Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung) (DV Nr. 86 vom 30. September 2003) ist der nationale Rechtsetzungsakt, der den Schutz vor allen Formen von Diskriminierung regelt, zu deren Verhinderung beiträgt und die Richtlinien im Bereich der Gleichbehandlung umsetzt. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 21 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Frau Milkova ab dem 10. Oktober 2012 die Stelle „Junger Sachverständiger“ in der Abteilung „Kontrolle der Privatisierungsverträge“ der Direktion „Kontrolle nach der Privatisierung“ der Agentur innehatte. Im Aufbau der Agentur ist vorgesehen, dass Stellen teilweise mit Beamten, wie Frau Milkova, teilweise mit Arbeitnehmern besetzt werden. 22 Im Jahr 2014 wurde die Zahl der Planstellen in der Agentur von 105 auf 65 verringert. 23 Frau Milkova wurde ein Kündigungsschreiben zugesandt, dem zufolge ihr Dienstverhältnis nach Ablauf der Frist von einem Monat wegen Streichung der von ihr besetzten Planstelle endete. 24 Mit einer auf Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 des Beamtengesetzes gestützten Verfügung des geschäftsführenden Direktors der Agentur wurde das Dienstverhältnis zwischen Frau Milkova und ihrem Dienstherrn mit Wirkung ab dem 1. März 2014 beendet. 25 Gegen diese Verfügung erhob Frau Milkova beim Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia, Bulgarien) Klage, mit der sie geltend machte, dass ihre Entlassung ohne die in Art. 333 Abs. 1 Nr. 3 des Arbeitsgesetzbuchs vorgeschriebene vorherige Zustimmung der Arbeitsinspektion rechtswidrig sei. Das Gericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass kein Verstoß gegen die maßgeblichen Rechtsvorschriften vorliege. Art. 333 Abs. 1 Nr. 3 des Arbeitsgesetzbuchs sei auf die Beendigung beamtenrechtlicher Dienstverhältnisse nicht anwendbar. Daher sei die im Ausgangsverfahren streitige Beendigung des Dienstverhältnisses rechtmäßig, obwohl die Betroffene an einer psychischen Erkrankung leide, die ihre Arbeitsfähigkeit um 50 % mindere. 26 Im Rahmen ihrer beim Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eingelegten Kassationsbeschwerde hält Frau Milkova an ihrem erstinstanzlichen Vortrag fest und rügt weiterhin, dass die Verfügung, mit der ihr Dienstherr das Dienstverhältnis beendet habe, rechtswidrig sei. 27 Der geschäftsführende Direktor der Agentur vertritt die Auffassung, eine solche Zustimmung sei nicht erforderlich und die angefochtene Verfügung sei rechtmäßig. 28 Das vorlegende Gericht nimmt zwar an, dass die behauptete Ungleichbehandlung nicht auf dem persönlichen Merkmal „Behinderung“ beruhe, sondern auf der unterschiedlichen Natur des Rechtsverhältnisses, auf dessen Grundlage die betroffenen Personen eine Erwerbstätigkeit ausübten. Dennoch sei nicht auszuschließen, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche mit den im Unionsrecht und im VN-Übereinkommen vorgesehenen Anforderungen, mit denen die Gleichbehandlung aller Menschen mit Behinderungen in Beschäftigung und Beruf gewährleistet werden solle, unvereinbar sei. 29 Der allen Menschen mit bestimmten Behinderungen gewährte zusätzliche Schutz, der im Jahr 1987 eingeführt worden sei, sei den Beamten mit dem Erlass des Beamtengesetzes im Jahr 1999 praktisch wieder entzogen worden, ohne dass der Verfasser des Gesetzentwurfs dies ausdrücklich begründet hätte. Der Schutz bestehe jedoch weiterhin für alle Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen, die im öffentlichen Dienst tätig seien. 30 Fraglich sei ferner, inwieweit die von der Republik Bulgarien erlassenen Regelungen, die spezifische Maßnahmen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen darstellten – allerdings nur, soweit diese Arbeitnehmer seien, selbst wenn sie im öffentlichen Dienst tätig seien –, als „positive Maßnahmen“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2000/78 eingestuft werden könnten. 31 Das vorlegende Gericht verweist ausdrücklich auf das Urteil vom 18. März 2014, Z. (C‑363/12, EU:C:2014:159), wonach die Auslegung der Richtlinie 2000/78 im Einklang mit dem VN-Übereinkommen erfolgen müsse. Dieses verlangt nach Ansicht des Gerichts einen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor jeder Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, gleichviel aus welchen Gründen, und zwar nicht nur aufgrund bestimmter schutzwürdiger persönlicher Merkmale, wie sie im Sekundärrecht der Union vorgesehen seien. 32 Unter diesen Umständen hat der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: Zu den Vorlagefragen Zur ersten und zur dritten Frage 33 Mit seiner ersten und seiner dritten Vorlagefrage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen der Richtlinie 2000/78, speziell Art. 7, im Licht des VN-Übereinkommens dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat erlauben, mit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen Arbeitnehmern mit bestimmten Behinderungen einen spezifischen vorherigen Schutz bei Entlassung zu gewähren, ohne einen solchen Schutz auch Beamten mit den gleichen Behinderungen zuzubilligen. 34 Vorab ist festzustellen, dass die Richtlinie 2000/78 nach ihrem Art. 1 die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf aus einem der in diesem Artikel genannten Gründe bezweckt, zu denen die Behinderung zählt. Wie sich insbesondere aus Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie ergibt, gilt der in ihr normierte Gleichbehandlungsgrundsatz für diese in ihrem Art. 1 abschließend aufgezählten Gründe (Urteile vom 7. Juli 2011, Agafiţei u. a., C‑310/10, EU:C:2011:467, Rn. 34, und vom 21. Mai 2015, SCMD, C‑262/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:336, Rn. 29). 35 Folglich ist zu prüfen, ob eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 fällt. 36 Erstens ist der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 so zu verstehen, dass er eine Einschränkung erfasst, die u. a. auf langfristige physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die den Betreffenden in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können (Urteil vom 1. Dezember 2016, Daouidi, C‑395/15, EU:C:2016:917, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 37 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die psychische Erkrankung, an der Frau Milkova leidet, in der Tat eine „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 darstellt. 38 Zweitens gilt diese Richtlinie gemäß ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. c im Rahmen der auf die Union übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen u. a. in Bezug auf die Entlassungsbedingungen. 39 Somit könnte entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 46 seiner Schlussanträge die von Frau Milkovas Dienstherrn bei der Beendigung ihres Dienstverhältnisses angewandte Regelung in den sachlichen Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen. 40 Nach der Vorlageentscheidung erfolgte die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ungleichbehandlung jedoch nicht aus einem der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 aufgezählten Gründe, sondern aufgrund der Natur des Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des nationalen Rechts. 41 Im Rahmen des nationalen Rechts, wie es das vorlegende Gericht dargelegt hat, sieht nämlich Art. 333 Abs. 1 Nr. 3 in Verbindung mit Art. 328 Abs. 1 Nr. 2 des Arbeitsgesetzbuchs vor, dass die zuständige Behörde, d. h. die Arbeitsinspektion, vorab ihre Zustimmung erteilen muss, bevor der Arbeitsvertrag eines Arbeitnehmers, der an einer der in Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 5 genannten Erkrankungen – darunter die hier relevante „psychische Erkrankung“ gemäß Nr. 5 – leidet, wegen Stellenabbaus beendet werden kann. Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, ist diese vorherige Zustimmung hingegen nicht erforderlich, wenn ein beamtenrechtliches Dienstverhältnis gemäß Art. 106 Abs. 1 Nr. 2 des Beamtengesetzes wegen Streichung der Planstelle beendet wird. 42 Somit ist nicht ersichtlich, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung eine unmittelbar auf der Behinderung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 schafft, da sie auf ein Kriterium abstellt, das nicht untrennbar mit der Behinderung verbunden ist (vgl. entsprechend Urteil vom 11. April 2013, HK Danmark, C‑335/11 und C‑337/11, EU:C:2013:222, Rn. 72 bis 74). 43 Ferner enthalten die dem Gerichtshof vorliegenden Akten keine Anhaltspunkte dafür, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung, obwohl sie neutral formuliert ist – d. h. mit Bezug auf andere Kriterien, hier die Natur des Beschäftigungsverhältnisses, die nicht mit dem geschützten Merkmal, hier die Behinderung, zusammenhängen –, zu einer besonderen Benachteiligung von Personen mit diesem Merkmal führt, indem sie eine mittelbare Diskriminierung – im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Begriff – mit sich bringt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. März 2014, Z., C‑363/12, EU:C:2014:159, Rn. 53). 44 Was schließlich Diskriminierungen wegen des Beschäftigungsverhältnisses als solchem angeht, hat der Gerichtshof entschieden, dass eine derartige Diskriminierung nicht in den durch die Richtlinie 2000/78 geschaffenen allgemeinen Rahmen fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2011, Agafiţei u. a., C‑310/10, EU:C:2011:467, Rn. 31 bis 35). 45 Die bulgarische Regierung macht im vorliegenden Fall allerdings geltend, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die zwischen Arbeitnehmern mit und Arbeitnehmern ohne Behinderungen unterscheide, was den spezifischen vorherigen Schutz bei Entlassung betreffe, der nur für die erstgenannten Arbeitnehmer vorgesehen sei, im Kern eine „positive Maßnahme“ im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 darstelle. 46 Diese Vorschrift lässt eine Unterscheidung aufgrund der Behinderung zu, sofern sie Teil von Bestimmungen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz ist, oder Teil von Maßnahmen, mit denen Bestimmungen oder Vorkehrungen eingeführt oder beibehalten werden sollen, die einer Eingliederung von Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt dienen oder diese Eingliederung fördern. Eine solche Unterscheidung zugunsten von Menschen mit Behinderungen trägt zur Verwirklichung des Zwecks der Richtlinie 2000/78 bei, wie er in ihrem Art. 1 genannt ist, d. h. der Bekämpfung der Diskriminierung, hier wegen einer Behinderung, in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung im betreffenden Mitgliedstaat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2008, Coleman, C‑303/06, EU:C:2008:415, Rn. 42). 47 Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 soll nämlich spezifische Maßnahmen erlauben, die effektiv darauf abzielen, etwaige faktische Ungleichheiten, die Menschen mit Behinderungen in ihrem Sozial- und insbesondere Berufsleben beeinträchtigen, zu beseitigen oder zu verringern und dadurch eine materielle und nicht nur formale Gleichheit herzustellen. 48 Diese Auslegung wird durch das VN-Übereinkommen gestützt, das nach ständiger Rechtsprechung zur Auslegung der Richtlinie 2000/78, die nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit dem Übereinkommen auszulegen ist, herangezogen werden kann (Urteil vom 1. Dezember 2016, Daouidi, C‑395/15, EU:C:2016:917, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Denn zum einen sichern und fördern die Vertragsstaaten nach Art. 27 Abs. 1 Buchst. h des VN-Übereinkommens die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit, einschließlich für Menschen, die während der Beschäftigung eine Behinderung erwerben, durch geeignete Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um u. a. die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im privaten Sektor durch geeignete Strategien und Maßnahmen zu fördern, wozu auch Programme für positive Maßnahmen, Anreize und andere Maßnahmen gehören können. Zum anderen erkennen die Vertragsstaaten gemäß Art. 5 Abs. 1 des Übereinkommens an, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben, und Art. 5 Abs. 4 des Übereinkommens ermächtigt ausdrücklich zu besonderen Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind. 50 Daraus folgt, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung in den Geltungsbereich von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 fällt und somit ein unter das Unionsrecht fallendes Ziel verfolgt, entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Feststellung, ob eine nationale Maßnahme die Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. März 2014, Siragusa, C‑206/13, EU:C:2014:126, Rn. 22 und 25 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a., C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 37). 51 Nach gefestigter Rechtsprechung müssen die Mitgliedstaaten, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln, die im Rahmen der Union festgelegten Grundrechte und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts achten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a., C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 33). 52 Der sich aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 ergebende Umstand, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, Maßnahmen im Sinne dieser Vorschrift beizubehalten oder zu erlassen, sondern insoweit über ein Ermessen verfügen, lässt nicht den Schluss zu, dass von den Mitgliedstaaten erlassene Bestimmungen wie die im Ausgangsverfahren fraglichen außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts liegen (vgl. entsprechend Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 64 bis 69, und vom 22. Oktober 2013, Sabou, C‑276/12, EU:C:2013:678, Rn. 26). 53 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, wenn das Unionsrecht ihnen die Wahl zwischen verschiedenen Durchführungsmodalitäten lässt, ihr Ermessen unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts auszuüben haben, zu denen der Grundsatz der Gleichbehandlung gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Juni 2002, Mulligan u. a., C‑313/99, EU:C:2002:386, Rn. 46, und vom 16. Juli 2009, Horvath, C‑428/07, EU:C:2009:458, Rn. 56, sowie Beschluss vom 16. Januar 2014, Dél-Zempléni Nektár Leader Nonprofit, C‑24/13, EU:C:2014:40, Rn. 17). 54 Folglich betrifft die auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbare nationale Regelung die Durchführung des Unionsrechts, so dass im vorliegenden Fall die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, wie insbesondere der Grundsatz der Gleichbehandlung, sowie die Charta gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 2014, Julián Hernández u. a., C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 33). 55 Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist ein nunmehr in den Art. 20 und 21 der Charta verankerter allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteile vom 22. Mai 2014, Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 43, und vom 21. Dezember 2016, Vervloet u. a., C‑76/15, EU:C:2016:975, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung). Eine unterschiedliche Behandlung ist gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, und wenn diese unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht (Urteil vom 22. Mai 2014, Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 56 Das Erfordernis der Vergleichbarkeit der Situationen zur Ermittlung des Vorliegens eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung ist anhand aller diese Situationen kennzeichnenden Merkmale zu beurteilen (vgl. u. a. Urteile vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 25, und vom 1. Oktober 2015, O, C‑432/14, EU:C:2015:643, Rn. 31). 57 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass zum einen die Situationen nicht identisch, sondern nur vergleichbar sein müssen, und zum anderen die Prüfung dieser Vergleichbarkeit nicht allgemein und abstrakt sein darf, sondern spezifisch und konkret unter Berücksichtigung von Gegenstand und Ziel der nationalen Regelung, mit der die fragliche Unterscheidung eingeführt wird, erfolgen muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Mai 2011, Römer, C‑147/08, EU:C:2011:286, Rn. 42, vom 12. Dezember 2013, Hay, C‑267/12, EU:C:2013:823, Rn. 33, vom 15. Mai 2014, Szatmári Malom, C‑135/13, EU:C:2014:327, Rn. 67, und vom 1. Oktober 2015, O, C‑432/14, EU:C:2015:643, Rn. 32). 58 Der Vergleich der Situationen muss also auf einer Prüfung des gesamten nationalen Rechts zur Regelung der Stellung einerseits der Arbeitnehmer mit einer bestimmten Behinderung und andererseits der Beamten mit der gleichen Behinderung beruhen, so wie es sich aus den maßgeblichen nationalen Vorschriften ergibt, die im vorliegenden Fall anwendbar sind, wobei das Ziel des Schutzes vor der im Ausgangsverfahren streitigen Entlassung zu berücksichtigen ist. 59 Das vorlegende Gericht hat unter Betonung der Besonderheit des im bulgarischen Recht vorgesehenen Schutzes ausgeführt, der Sinn dieses Schutzes bestehe darin, dass eine spezialisierte Stelle die Auswirkungen der Entlassung auf den Gesundheitszustand der betroffenen Person beurteile und entscheide, ob sie die Entlassung genehmige. 60 Demnach besteht der Zweck einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen darin, den Arbeitnehmer wegen seines Gesundheitszustands zu schützen und nicht in Abhängigkeit davon, welche Art von rechtlicher Beziehung seinem Arbeitsverhältnis zugrunde liegt. 61 Die mit einer solchen Regelung getroffene Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern mit einer bestimmten Behinderung und Beamten mit der gleichen Behinderung scheint daher im Licht des mit der Regelung verfolgten Ziels nicht angemessen, zumal beide Gruppen von Menschen mit Behinderungen bei derselben Verwaltungsstelle beschäftigt sein können. 62 Es ist Sache des nationalen Gerichts, hinsichtlich der im Ausgangsverfahren gerügten Ungleichbehandlung zu prüfen, ob die anwendbaren Vorschriften des nationalen Rechts den Beamten mit Behinderungen insgesamt ein Schutzniveau gewähren, das demjenigen entspricht, das durch das System der vorherigen Zustimmung der Arbeitsinspektion für im öffentlichen Dienst beschäftigte Arbeitnehmer mit Behinderungen vorgesehen ist. 63 Sollte das vorlegende Gericht eine Ungleichbehandlung dieser in einer vergleichbaren Situation befindlichen Personengruppen für erwiesen erachten, wäre es letztlich die Aufgabe dieses Gerichts – das allein dafür zuständig ist, den Sachverhalt des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu würdigen und die anwendbare nationale Regelung auszulegen –, festzustellen, ob und inwieweit eine Regelung eines Mitgliedstaats wie die im Ausgangsverfahren fragliche im Licht des Gleichbehandlungsgrundsatzes objektiv gerechtfertigt ist. 64 Nach alledem ist auf die erste und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 im Licht des VN-Übereinkommens und in Verbindung mit dem in den Art. 20 und 21 der Charta verankerten allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat erlaubt, mit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen Arbeitnehmern mit bestimmten Behinderungen einen spezifischen vorherigen Schutz bei Entlassung zu gewähren, ohne einen solchen Schutz auch Beamten mit den gleichen Behinderungen zuzubilligen, es sei denn, dass ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz erwiesen ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Bei dieser Prüfung muss der Vergleich der Situationen auf einer Prüfung aller maßgeblichen nationalen Rechtsvorschriften zur Regelung der Stellung einerseits der Arbeitnehmer mit einer bestimmten Behinderung und andererseits der Beamten mit der gleichen Behinderung beruhen, wobei insbesondere das Ziel des Schutzes vor der im Ausgangsverfahren streitigen Entlassung zu berücksichtigen ist. Zur vierten Frage 65 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob bei Verneinung der ersten und der dritten Frage die Pflicht zur Einhaltung des Unionsrechts erfordert, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens der Anwendungsbereich der nationalen Vorschriften, die Arbeitnehmer mit einer bestimmten Behinderung schützen, so ausgeweitet wird, dass diese Schutzvorschriften auch Beamten mit der gleichen Behinderung zugutekommen. 66 Nach ständiger Rechtsprechung kann, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt worden ist und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen worden sind, die Wahrung des Grundsatzes der Gleichbehandlung nur dadurch gewährleistet werden, dass den Angehörigen der benachteiligten Gruppe dieselben Vorteile gewährt werden wie die, die den Angehörigen der privilegierten Gruppe zugutekommen (Urteile vom 26. Januar 1999, Terhoeve, C‑18/95, EU:C:1999:22, Rn. 57, vom 22. Juni 2011, Landtová, C‑399/09, EU:C:2011:415, Rn. 51, und vom 28. Januar 2015, ÖBB Personenverkehr, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 46). Die benachteiligten Personen müssen also in die gleiche Lage versetzt werden wie die Personen, die den Vorteil genießen (Urteil vom 11. April 2013, Soukupová, C‑401/11, EU:C:2013:223, Rn. 35). 67 In einem derartigen Fall ist das nationale Gericht gehalten, eine diskriminierende nationale Bestimmung außer Anwendung zu lassen, ohne dass es ihre vorherige Aufhebung durch den Gesetzgeber beantragen oder abwarten müsste, und auf die Mitglieder der benachteiligten Gruppe eben die Regelung anzuwenden, die für die Mitglieder der anderen Gruppe gilt (Urteile vom 12. Dezember 2002, Rodríguez Caballero, C‑442/00, EU:C:2002:752, Rn. 43, vom 7. September 2006, Cordero Alonso, C‑81/05, EU:C:2006:529, Rn. 46, und vom 21. Juni 2007, Jonkman u. a., C‑231/06 bis C‑233/06, EU:C:2007:373, Rn. 39). Diese Verpflichtung obliegt ihm unabhängig davon, ob das innerstaatliche Recht Bestimmungen enthält, die ihm eine entsprechende Befugnis zuweisen (Urteil vom 7. September 2006, Cordero Alonso, C‑81/05, EU:C:2006:529, Rn. 46). 68 Der Gerichtshof hat insoweit klargestellt, dass diese Lösung nur dann zur Anwendung kommt, wenn es ein gültiges Bezugssystem gibt (Urteile vom 19. Juni 2014, Specht u. a., C‑501/12 bis C‑506/12, C‑540/12 und C‑541/12, EU:C:2014:2005, Rn. 96, und vom 28. Januar 2015, ÖBB Personenverkehr, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 47). Dies ist im Ausgangsverfahren der Fall. 69 Sollte das vorlegende Gericht einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz feststellen, hätte dies zur Folge, dass Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 im Licht des VN-Übereinkommens einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstünde. Das einzig gültige Bezugssystem wäre dann die für Arbeitnehmer mit Behinderungen geltende und diese begünstigende Regelung. Folglich würde die Herstellung der Gleichbehandlung in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens bedeuten, dass den vom geltenden System benachteiligten Beamten mit Behinderungen dieselben Vorteile zu gewähren sind, wie sie den von diesem System begünstigten Arbeitnehmern mit Behinderungen zuteilwerden, insbesondere hinsichtlich des spezifischen vorherigen Schutzes bei Entlassung, der für den Arbeitgeber die Pflicht beinhaltet, vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses die vorherige Zustimmung der Arbeitsinspektion einzuholen (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Januar 2015, ÖBB Personenverkehr, C‑417/13, EU:C:2015:38, Rn. 48). 70 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass, falls Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 im Licht des VN-Übereinkommens und in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen sollte, die Pflicht zur Einhaltung des Unionsrechts erfordern würde, dass der Anwendungsbereich der nationalen Vorschriften, die Arbeitnehmer mit einer bestimmten Behinderung schützen, so ausgeweitet wird, dass diese Schutzvorschriften auch Beamten mit der gleichen Behinderung zugutekommen. Zur zweiten Frage 71 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 und die weiteren Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 eine nationale Regelung gestatten, die nur Arbeitnehmern mit einer bestimmten Behinderung, nicht aber auch Beamten mit der gleichen Behinderung einen spezifischen vorherigen Schutz bei Entlassung gewähren. 72 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens ausdrücklich in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufgeführt, von dem das vorlegende Gericht im Rahmen der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Zusammenarbeit Kenntnis haben sollte und den es sorgfältig zu beachten hat (Urteile vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 19, und vom 10. November 2016, Private Equity Insurance Group, C‑156/15, EU:C:2016:851, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 73 So hat das vorlegende Gericht die genauen Gründe anzugeben, aus denen es Zweifel bezüglich der Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat und ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof für erforderlich hält. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass es unerlässlich ist, dass das nationale Gericht ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang gibt, den es zwischen diesen Vorschriften und der auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Regelung herstellt (Urteile vom 10. März 2016, Safe Interenvíos, C‑235/14, EU:C:2016:154, Rn. 115, und vom 10. November 2016, Private Equity Insurance Group, C‑156/15, EU:C:2016:851, Rn. 62). 74 Die in den Vorlageentscheidungen gemachten Angaben dienen nicht nur dazu, dem Gerichtshof zweckdienliche Antworten auf die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zu ermöglichen, sondern sollen auch die Regierungen der Mitgliedstaaten sowie die sonstigen Betroffenen in die Lage versetzen, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Erklärungen abzugeben (Urteil vom 10. November 2016, Private Equity Insurance Group, C‑156/15, EU:C:2016:851, Rn. 63, in diesem Sinne auch Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 20). 75 Im vorliegenden Fall beschränkt sich das vorlegende Gericht darauf, die zweite Frage zu stellen, ohne sie in der Begründung der Vorlageentscheidung weiter zu erläutern. Es verweist lediglich allgemein auf Art. 4 sowie weitere Bestimmungen der Richtlinie 2000/78, ohne eine Verbindung zwischen diesen Vorschriften und dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Recht herzustellen. 76 Aufgrund dieser Lücken ermöglicht es die Vorlageentscheidung weder den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten und den sonstigen Betroffenen im Sinne von Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, zweckdienliche Erklärungen zur zweiten Frage abzugeben, noch dem Gerichtshof, dem vorlegenden Gericht zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits eine zweckdienliche Antwort auf diese Frage zu geben (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2016, Private Equity Insurance Group, C‑156/15, EU:C:2016:851, Rn. 66). 77 Unter diesen Umständen ist die zweite Frage unzulässig. Kosten 78 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist im Licht des mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigten Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und in Verbindung mit dem in den Art. 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat erlaubt, mit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen Arbeitnehmern mit bestimmten Behinderungen einen spezifischen vorherigen Schutz bei Entlassung zu gewähren, ohne einen solchen Schutz auch Beamten mit den gleichen Behinderungen zuzubilligen, es sei denn, dass ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz erwiesen ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Bei dieser Prüfung muss der Vergleich der Situationen auf einer Prüfung aller maßgeblichen nationalen Rechtsvorschriften zur Regelung der Stellung einerseits der Arbeitnehmer mit einer bestimmten Behinderung und andererseits der Beamten mit der gleichen Behinderung beruhen, wobei insbesondere das Ziel des Schutzes vor der im Ausgangsverfahren streitigen Entlassung zu berücksichtigen ist. 2. Falls Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 im Licht des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen sollte, würde die Pflicht zur Einhaltung des Unionsrechts erfordern, dass der Anwendungsbereich der nationalen Vorschriften, die Arbeitnehmer mit einer bestimmten Behinderung schützen, so ausgeweitet wird, dass diese Schutzvorschriften auch Beamten mit der gleichen Behinderung zugutekommen. Unterschriften (1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 9. Februar 2017.#M. S. gegen P. S.#Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice (England & Wales), Family Division.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EG) Nr. 4/2009 – Art. 41 Abs. 1 – Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und Zusammenarbeit in Unterhaltssachen – Vollstreckung einer Entscheidung in einem Mitgliedstaat – Antragstellung unmittelbar bei der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats – Nationale Rechtsvorschriften, wonach die Zentrale Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zu beteiligen ist.#Rechtssache C-283/16.
62016CJ0283
ECLI:EU:C:2017:104
2017-02-09T00:00:00
Bot, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62016CJ0283 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) 9. Februar 2017 (1 ) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Verordnung (EG) Nr. 4/2009 — Art. 41 Abs. 1 — Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und Zusammenarbeit in Unterhaltssachen — Vollstreckung einer Entscheidung in einem Mitgliedstaat — Antragstellung unmittelbar bei der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats — Nationale Rechtsvorschriften, wonach die Zentrale Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zu beteiligen ist“ In der Rechtssache C‑283/16 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen, Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 11. April 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Mai 2016, in dem Verfahren M. S. gegen P. S. erlässt DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter), Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von M. S., vertreten durch T. Scott, QC, und E. Bennet, Barrister, im Beistand von M. Barnes, Solicitor, — der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato, — der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau M. S., die sich in Deutschland aufhält, und Herrn P. S., der sich im Vereinigten Königreich aufhält, wegen Unterhaltsforderungen. Rechtlicher Rahmen Verordnung Nr. 4/2009 3 In den Erwägungsgründen 9, 27, 31 und 32 der Verordnung Nr. 4/2009 heißt es: „(9) Es sollte einem Unterhaltsberechtigten ohne Umstände möglich sein, in einem Mitgliedstaat eine Entscheidung zu erwirken, die automatisch in einem anderen Mitgliedstaat ohne weitere Formalitäten vollstreckbar ist. … (27) Ferner sollten die Formalitäten für die Vollstreckung, die Kosten zulasten des Unterhaltsberechtigten verursachen, so weit wie möglich reduziert werden. … … (31) Um die grenzüberschreitende Durchsetzung von Unterhaltsforderungen zu erleichtern, sollte ein System der Zusammenarbeit zwischen den von den Mitgliedstaaten benannten Zentralen Behörden eingerichtet werden. Diese Behörden sollten die berechtigten und die verpflichteten Personen darin unterstützen, ihre Rechte in einem anderen Mitgliedstaat geltend zu machen, indem sie die Anerkennung, Vollstreckbarerklärung und Vollstreckung bestehender Entscheidungen, die Änderung solcher Entscheidungen oder die Herbeiführung einer Entscheidung beantragen. Sie sollten ferner erforderlichenfalls Informationen austauschen, um die verpflichteten und die berechtigten Personen ausfindig zu machen und soweit erforderlich deren Einkünfte und Vermögen festzustellen. … (32) … Das Kriterium für das Recht einer Person auf Unterstützung durch eine Zentrale Behörde sollte weniger streng sein als das Anknüpfungskriterium des ‚gewöhnlichen Aufenthalts‘, das sonst in dieser Verordnung verwendet wird. Das Kriterium des ‚Aufenthalts‘ sollte jedoch die bloße Anwesenheit ausschließen.“ 4 Kapitel IV („Anerkennung, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung von Entscheidungen“) der Verordnung umfasst ihre Art. 16 bis 43. 5 Der zu Abschnitt 1 („In einem Mitgliedstaat, der durch das Haager Protokoll von 2007 gebunden ist, ergangene Entscheidungen“) von Kapitel IV der Verordnung gehörende Art. 17 („Abschaffung des Exequaturverfahrens“) sieht in Abs. 1 vor: „Eine in einem Mitgliedstaat, der durch das Haager Protokoll von 2007 gebunden ist, ergangene Entscheidung wird in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann.“ 6 Zu Abschnitt 1 von Kapitel IV gehört auch Art. 20 („Schriftstücke zum Zwecke der Vollstreckung“) der Verordnung. In dessen Abs. 1 sind die Schriftstücke aufgeführt, die der Antragsteller „den zuständigen Vollstreckungsbehörden“ vorlegt. 7 Art. 41 („Vollstreckungsverfahren und Bedingungen für die Vollstreckung“) der Verordnung bestimmt in Abs. 1: „Vorbehaltlich der Bestimmungen dieser Verordnung gilt für das Verfahren zur Vollstreckung der in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats. Eine in einem Mitgliedstaat ergangene Entscheidung, die im Vollstreckungsmitgliedstaat vollstreckbar ist, wird dort unter den gleichen Bedingungen vollstreckt wie eine im Vollstreckungsmitgliedstaat ergangene Entscheidung.“ 8 Kapitel V („Zugang zum Recht“) der Verordnung umfasst ihre Art. 44 bis 47. Art. 45 („Gegenstand der Prozesskostenhilfe“) der Verordnung sieht vor: „Nach diesem Kapitel gewährte Prozesskostenhilfe ist die Unterstützung, die erforderlich ist, damit die Parteien ihre Rechte in Erfahrung bringen und geltend machen können und damit sichergestellt werden kann, dass ihre Anträge, die über die Zentralen Behörden oder direkt an die zuständigen Behörden übermittelt werden, in umfassender und wirksamer Weise bearbeitet werden. … …“ 9 Die Art. 49 bis 63 der Verordnung befinden sich in ihrem Kapitel VII („Zusammenarbeit der Zentralen Behörden“). Art. 49 („Bestimmung der Zentralen Behörden“) der Verordnung sieht in Abs. 1 vor: „Jeder Mitgliedstaat bestimmt eine Zentrale Behörde, welche die ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben wahrnimmt.“ 10 Art. 51 („Besondere Aufgaben der Zentralen Behörden“) der Verordnung sieht in Abs. 1 vor: „Die Zentralen Behörden leisten bei Anträgen nach Artikel 56 Hilfe, indem sie insbesondere a) diese Anträge übermitteln und entgegennehmen; b) Verfahren bezüglich dieser Anträge einleiten oder die Einleitung solcher Verfahren erleichtern.“ 11 Art. 55 („Übermittlung von Anträgen über die Zentralen Behörden“) der Verordnung lautet: „Anträge nach diesem Kapitel sind über die Zentrale Behörde des Mitgliedstaats, in dem der Antragsteller seinen Aufenthalt hat, bei der Zentralen Behörde des ersuchten Mitgliedstaats zu stellen.“ 12 Art. 56 („Zur Verfügung stehende Anträge“) der Verordnung bestimmt: „(1)   Eine berechtigte Person, die Unterhaltsansprüche nach dieser Verordnung geltend machen will, kann Folgendes beantragen: … b) Vollstreckung einer im ersuchten Mitgliedstaat ergangenen oder anerkannten Entscheidung; … (4)   Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, werden Anträge gemäß den Absätzen 1 und 2 nach dem Recht des ersuchten Mitgliedstaats behandelt und unterliegen den in diesem Mitgliedstaat geltenden Zuständigkeitsvorschriften.“ 13 Art. 76 („Inkrafttreten“) der Verordnung sieht vor: „Diese Verordnung tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft. … Diese Verordnung findet, mit Ausnahme der in Unterabsatz 2 genannten Vorschriften, ab dem 18. Juni 2011 Anwendung, sofern das Haager Protokoll von 2007 zu diesem Zeitpunkt in der Gemeinschaft anwendbar ist. Anderenfalls findet diese Verordnung ab dem Tag des Beginns der Anwendbarkeit jenes Protokolls in der Gemeinschaft Anwendung. …“ Recht des Vereinigten Königreichs 14 In Art. 4 von Anhang I der Civil Jurisdiction and Judgments (Maintenance) Regulations 2011 (Verordnung von 2011 über Zivilgerichtsbarkeit und ‑urteile [Unterhaltssachen]) heißt es: „(1)   Vorbehaltlich Subparagraph 2 ist, wenn eine Unterhaltsentscheidung im Vereinigten Königreich nach Abschnitt 1 von Kapitel IV der [Verordnung Nr. 4/2009] vollstreckt werden soll, das Gericht, an das ein Antrag auf Vollstreckung zu richten ist, a) in England und Wales der Family Court … (2)   Ein Antrag auf Vollstreckung ist dem Family Court („Vollstreckungsgericht“) zu übermitteln … a) in England und Wales vom Lord Chancellor … (4)   Für die Zwecke der Vollstreckung einer Unterhaltsentscheidung a) kommt der Entscheidung die gleiche Kraft und Wirkung zu, b) hat das Vollstreckungsgericht hinsichtlich ihrer Vollstreckung die gleichen Befugnisse und c) können Verfahren zu ihrer oder in Bezug auf ihre Vollstreckung eingeleitet werden, wie wenn die Entscheidung ursprünglich vom Vollstreckungsgericht getroffen worden wäre.“ 15 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist die gemäß Art. 49 der Verordnung Nr. 4/2009 für England und Wales bestimmte Zentrale Behörde der Lord Chancellor (Lordkanzler, Vereinigtes Königreich), der seinerseits seine Vollstreckungsaufgabe der Reciprocal Enforcement of Maintenance Orders Unit (Stelle für die gegenseitige Vollstreckung von Unterhaltstiteln, im Folgenden: REMO) übertragen hat. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 16 Herr und Frau S. heirateten 2005 und trennten sich 2012. Sie bekamen zwei Kinder, die neun und fünf Jahre alt waren, als das Vorabentscheidungsersuchen eingereicht wurde. Ihre Scheidung wurde vom Amtsgericht Walsrode (Deutschland) ausgesprochen, das mit Beschluss vom 7. August 2014 (im Folgenden: Beschluss des deutschen Gerichts) Maßnahmen zur Regelung der Unterhaltsansprüche dieser beiden Kinder erließ. 17 Frau S. und ihre Kinder leben seit der Scheidung weiterhin in Deutschland. Herr S. lebt und arbeitet im Vereinigten Königreich. Er verweigert die Zahlung von Unterhalt gemäß dem Beschluss des deutschen Gerichts mit der Begründung, dass Frau S. ihn am Kontakt mit den Kindern hindere. 18 Das vorlegende Gericht, der High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen, Vereinigtes Königreich), wurde mit dem auf die Verordnung Nr. 4/2009 gestützten Antrag von Frau S. auf Vollstreckung des Beschlusses des deutschen Gerichts befasst. 19 Das vorlegende Gericht führt aus, es habe zunächst zu klären, ob ein Antrag auf Vollstreckung eines Beschlusses, mit dem Unterhaltspflichten wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geregelt würden, unmittelbar bei dem für Unterhaltssachen zuständigen Gericht, im vorliegenden Fall beim Family Court (Familiengericht, Vereinigtes Königreich), gestellt werden könne oder ob er zuvor stets der in Art. 49 der Verordnung Nr. 4/2009 genannten Zentralen Behörde, d. h. im vorliegenden Fall dem Lord Chancellor (Lordkanzler), zur Weiterleitung an den Family Court (Familiengericht) durch die REMO vorgelegt werden müsse. 20 Hierzu gebe es voneinander abweichende Ansätze der nationalen Gerichte, wobei zwei Rechtssachen zu nennen seien. In der ersten Rechtssache sei das zuständige Gericht der Ansicht gewesen, dass ein Kläger seinen Antrag auf Vollstreckung einer Entscheidung unmittelbar an den Family Court (Familiengericht) richten könne und dass die nationalen Rechtsvorschriften, wonach die Zentrale Behörde zu beteiligen sei, fehlerhaft seien. In der zweiten Rechtssache, die sich nicht auf die Vollstreckung einer Entscheidung, sondern auf ihre Änderung beziehe, habe das zuständige Gericht Vorbehalte gegenüber dem Urteil in der ersten Rechtssache geäußert und die Auffassung vertreten, dass der Kläger seinen Antrag zwingend über die Zentrale Behörde stellen müsse. Die im Rahmen des Ausgangsverfahrens befragte REMO habe vorgetragen, bei der in den nationalen Rechtsvorschriften vorgeschriebenen Beteiligung der Zentralen Behörde handele es sich nicht um einen Fehler; die in Rede stehenden nationalen Vorschriften seien bewusst so gefasst worden. 21 In Anbetracht sowohl des Wortlauts der Bestimmungen des auf die Bundesrepublik Deutschland anwendbaren Kapitels IV der Verordnung Nr. 4/2009, einschließlich der Vorschriften seines Abschnitts 1, als auch des Zwecks der Verordnung müsse es möglich sein, einen Antrag auf Vollstreckung einer Unterhaltsentscheidung wie im Fall eines rein innerstaatlichen Sachverhalts unmittelbar an den Family Court (Familiengericht) zu richten. 22 Insoweit bestünden jedoch Zweifel, und die Frage stelle sich derzeit im Rahmen zahlreicher Rechtssachen im Vereinigten Königreich. 23 Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen, Vereinigtes Königreich), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Verleiht Kapitel IV der Verordnung Nr. 4/2009 einer Unterhaltsberechtigten, die in einem Mitgliedstaat die Vollstreckung eines in einem anderen Mitgliedstaat erwirkten Titels begehrt, das Recht, einen Antrag auf Vollstreckung unmittelbar bei der zuständigen Stelle des ersuchten Staates zu stellen? 2. Ist Kapitel IV der Verordnung Nr. 4/2009 bejahendenfalls dahin auszulegen, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, ein Verfahren oder einen Mechanismus vorzusehen, der diesem Recht zur Anerkennung verhilft? Verfahren vor dem Gerichtshof 24 In seinem Vorabentscheidungsersuchen hat das vorlegende Gericht die Anwendung des beschleunigten Verfahrens gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt. Dieser Antrag wurde mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 27. Juni 2016, S. (C‑283/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:482), zurückgewiesen. Mit Entscheidung vom 6. Juni 2016 hat der Präsident des Gerichtshofs die vorrangige Behandlung der vorliegenden Rechtssache angeordnet. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 25 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen von Kapitel IV der Verordnung Nr. 4/2009 dahin auszulegen sind, dass ein Unterhaltsberechtigter, der in einem Mitgliedstaat einen Titel erwirkt hat und dessen Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat begehrt, seinen Antrag unmittelbar bei der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats, etwa einem Fachgericht, stellen kann oder ob er verpflichtet werden kann, seinen Antrag über die Zentrale Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats einzureichen. 26 Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es der Auslegung von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009, der sich auf das Vollstreckungsverfahren und die Bedingungen für die Vollstreckung einer in einem Mitgliedstaat ergangenen Unterhaltsentscheidung in einem anderen Mitgliedstaat bezieht. 27 Nach Art. 41 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 4/2009 gilt vorbehaltlich ihrer übrigen Bestimmungen für das Verfahren zur Vollstreckung der in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen „das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats“; gemäß Satz 2 wird eine solche Entscheidung „unter den gleichen Bedingungen“ vollstreckt wie eine im Vollstreckungsmitgliedstaat ergangene Entscheidung. 28 Aufgrund der Verweisung auf die Anwendung des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats könnte Art. 41 Abs. 1 Satz 1 auf den ersten Blick dahin ausgelegt werden, dass ein Vollstreckungsmitgliedstaat in seinen Normen für das Vollstreckungsverfahren die Beteiligung der Zentralen Behörde des ersuchten Staats vorschreiben kann. 29 Dem Wortlaut von Art. 41 Abs. 1 Satz 2, wonach die Entscheidung „unter den gleichen Bedingungen“ zu vollstrecken ist wie eine im Vollstreckungsmitgliedstaat ergangene Entscheidung, könnte jedoch entnommen werden, dass Art. 41 Abs. 1 einer zwingenden Beteiligung der Zentralen Behörde entgegensteht, wenn dies – wie im Mitgliedstaat des vorlegenden Gerichts – bei rein innerstaatlichen Rechtssachen nicht vorgesehen ist. 30 Um zu klären, ob eine nationale Regelung wie Art. 4(4)(a), (b) und (c) von Anhang I der Civil Jurisdiction and Judgments (Maintenance) Regulations 2011 mit Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 im Einklang steht, obwohl ein Unterhaltsberechtigter wie Frau S. im Gegensatz zu einem Unterhaltsberechtigten im Rahmen rein innerstaatlicher Anträge das zuständige Gericht nicht unmittelbar anrufen kann, ist deshalb die Bedeutung des Begriffs „gleiche Bedingungen“ zu prüfen. 31 Dabei sind der Zweck der Verordnung Nr. 4/2009 und das System, in das sich ihr Art. 41 Abs. 1 einfügt, zu berücksichtigen. 32 Zum Zweck dieser Verordnung ergibt sich aus den vorbereitenden Arbeiten und insbesondere aus dem Grünbuch der Kommission vom 15. April 2004 über Unterhaltspflichten (KOM[2004] 254 endg.), dass der Gesetzgeber der Europäischen Union die unterhaltsrechtlichen Vorschriften in der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) durch Vorschriften ersetzen wollte, die das Verfahren vor dem Vollstreckungsgericht angesichts der mit der Regelung von Unterhaltsansprüchen verbundenen besonderen Dringlichkeit erleichtern und damit beschleunigen. 33 Desgleichen hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das mit der Verordnung Nr. 4/2009 verfolgte Ziel darin besteht, die internationale Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen so weit wie möglich zu erleichtern (Urteil vom 18. Dezember 2014, Sanders und Huber, C‑400/13 und C‑408/13, EU:C:2014:2461, Rn. 41). 34 Diese Ziele der Vereinfachung und Beschleunigung ergeben sich auch aus den Erwägungsgründen 9 und 27 der Verordnung Nr. 4/2009. Nach dem neunten Erwägungsgrund sollte es einem Unterhaltsberechtigten ohne Umstände möglich sein, in einem Mitgliedstaat eine Entscheidung zu erwirken, die automatisch in einem anderen Mitgliedstaat ohne weitere Formalitäten vollstreckbar ist. Gemäß dem 27. Erwägungsgrund besteht eines der Ziele der Verordnung Nr. 4/2009 darin, Formalitäten für die Vollstreckung, die Kosten zulasten des Unterhaltsberechtigten verursachen, so weit wie möglich zu reduzieren. 35 Darüber hinaus sind die Erwägungsgründe 31 und 32 der Verordnung Nr. 4/2009 anzuführen. In ihrem 31. Erwägungsgrund wird der Wille des Unionsgesetzgebers hervorgehoben, eine Zusammenarbeit zwischen den Zentralen Behörden einzurichten, um die grenzüberschreitende Durchsetzung von Unterhaltsforderungen zu erleichtern und die berechtigten Personen darin zu unterstützen, ihr Recht in einem anderen Mitgliedstaat geltend zu machen. Im 32. Erwägungsgrund der Verordnung wird die Inanspruchnahme dieser Unterstützung als „Recht“ bezeichnet. 36 Das System, in das sich Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 einfügt, spiegelt die genannten Ziele der Vereinfachung und Beschleunigung in Kapitel IV der Verordnung wider, und nach ihrem Kapitel VII kann die Unterstützung der Zentralen Behörden in Anspruch genommen werden. 37 So sieht keine Vorschrift des Kapitels IV („Anerkennung, Vollstreckbarkeit und Vollstreckung von Entscheidungen“), zu dem Art. 41 Abs. 1 gehört, ein besonderes, zu den im Rahmen rein innerstaatlicher Anträge anwendbaren Verfahren hinzukommendes Verfahren und insbesondere eine zwingende Beteiligung der Zentralen Behörden der Mitgliedstaaten vor. 38 In Bezug auf Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind, der wie die Bundesrepublik Deutschland durch das am 23. November 2007 in Den Haag abgeschlossene Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht gebunden ist, wird nochmals hervorgehoben, dass die Zentralen Behörden nicht beteiligt werden müssen. In Abs. 1 des zu Kapitel IV gehörenden Art. 17 („Abschaffung des Exequaturverfahrens“) der Verordnung Nr. 4/2009 heißt es, dass solche Entscheidungen in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt werden, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf. In Art. 20 Abs. 1 der Verordnung, der ebenfalls zu Kapitel IV gehört, sind die Schriftstücke aufgeführt, die der Antragsteller „den zuständigen Vollstreckungsbehörden“ vorlegt; dieser Wortlaut deutet darauf hin, dass die Aushändigung der Schriftstücke unmittelbar an die zuständigen Behörden erfolgt. 39 Die Befassung der Zentralen Behörden ist in dem ihre Zusammenarbeit betreffenden Kapitel VII der Verordnung Nr. 4/2009 vorgesehen. Gemäß Art. 51 Abs. 1 der Verordnung leisten sie bei Anträgen nach Art. 56 Hilfe, indem sie insbesondere diese Anträge übermitteln. Nach Art. 56 „kann“ eine berechtigte Person, die Unterhaltsansprüche geltend machen will, insbesondere die Vollstreckung einer im ersuchten Mitgliedstaat ergangenen oder anerkannten Entscheidung beantragen. In diesem Fall wendet sie sich gemäß Art. 55 der Verordnung an die Zentrale Behörde des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Aufenthalt hat; diese hat den Antrag an die Zentrale Behörde des ersuchten Mitgliedstaats weiterzuleiten. 40 Aus den Art. 51 und 56 der Verordnung Nr. 4/2009 geht im Licht ihrer Erwägungsgründe 31 und 32 hervor, dass das Ersuchen um Unterstützung bei den Zentralen Behörden gemäß den Bestimmungen von Kapitel VII der Verordnung ein Recht und keine Verpflichtung ist. Es ist mithin fakultativ und findet nur Anwendung, wenn der Unterhaltsberechtigte es in Anspruch nehmen möchte, etwa um besondere Schwierigkeiten wie die Lokalisierung des Unterhaltsverpflichteten zu überwinden. 41 Die Verordnung Nr. 4/2009 sieht somit zwei verschiedene Arten der Anrufung der zuständigen Gerichte vor: unmittelbar, nach den Bestimmungen von Kapitel IV der Verordnung, oder über die Zentralen Behörden, wenn der Unterhaltsberechtigte um die Unterstützung der Zentralen Behörde seines Aufenthaltsmitgliedstaats ersucht, nach den Bestimmungen von Kapitel VII der Verordnung. 42 Diese Analyse wird durch den Wortlaut von Art. 45 der Verordnung Nr. 4/2009, der zu ihrem Kapitel V gehört, bestätigt. In dieser Bestimmung über die Prozesskostenhilfe werden ausdrücklich zwei verschiedene Wege unterschieden: Der Unterhaltsberechtigte kann einen Vollstreckungsantrag über die Zentralen Behörden „oder“ direkt an die zuständigen Behörden übermitteln. 43 Unter diesen Umständen verstößt eine Verpflichtung zur Beteiligung der Zentralen Behörde des ersuchten Mitgliedstaats, die dem Unterhaltsberechtigten, der sich auf der Grundlage des Kapitels IV der Verordnung unmittelbar an die zuständigen Behörden wenden möchte, durch eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende auferlegt wird und nach den Angaben des vorlegenden Gerichts mit zeitlichen Verzögerungen verbunden ist, im Licht des Zwecks der Verordnung Nr. 4/2009 und des Systems, in das sich ihr Art. 41 Abs. 1 einfügt, gegen diese Bestimmung. 44 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Bestimmungen von Kapitel IV der Verordnung Nr. 4/2009 und insbesondere ihr Art. 41 Abs. 1 dahin auszulegen sind, dass ein Unterhaltsberechtigter, der in einem Mitgliedstaat einen Titel erwirkt hat und dessen Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat begehrt, seinen Antrag unmittelbar bei der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats, etwa einem Fachgericht, stellen und nicht verpflichtet werden kann, seinen Antrag über die Zentrale Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats einzureichen. Zur zweiten Frage 45 Die zweite Frage betrifft die Konsequenzen einer Bejahung der ersten Frage für den Vollstreckungsmitgliedstaat und geht insbesondere dahin, ob eine Verpflichtung besteht, ein Verfahren oder einen Mechanismus für die unmittelbare Anrufung der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats vorzusehen. 46 Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist nicht nur festzustellen, ob die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, ein solches Verfahren oder einen solchen Mechanismus vorzusehen, sondern auch die dem nationalen Gericht in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens obliegende Verpflichtung näher zu erläutern. 47 Zur Umsetzung einer Verordnung ist darauf hinzuweisen, dass sie nach Art. 288 Abs. 2 AEUV in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt. 48 Die unmittelbare Anwendbarkeit einer Verordnung setzt voraus, dass sie in Kraft getreten ist und zugunsten oder zulasten der Rechtssubjekte Anwendung findet, ohne dass es irgendwelcher Maßnahmen zur Umwandlung in nationales Recht bedarf, sofern die betreffende Verordnung es nicht den Mitgliedstaaten überlässt, selbst die erforderlichen Rechts-, Verwaltungs- und Finanzvorschriften zu erlassen, damit die Bestimmungen der Verordnung wirksam durchgeführt werden können (Urteil vom 14. Juni 2012, Association nationale d’assistance aux frontières pour les étrangers, C‑606/10, EU:C:2012:348, Rn. 72). 49 Im vorliegenden Fall sieht Art. 76 der Verordnung Nr. 4/2009, die ab dem 18. Juni 2011 Anwendung fand, eine gegenüber dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens am 20. Januar 2009 verzögerte Anwendung ihrer Vorschriften vor. In der Zwischenzeit oblag es den Mitgliedstaaten, gegebenenfalls ihr nationales Recht durch Anpassung ihrer Verfahrensvorschriften zu ändern, um jede Unvereinbarkeit mit der Verordnung Nr. 4/2009 zu verhindern und insbesondere Unterhaltsberechtigten wie Frau S. die Möglichkeit zu geben, ihr in der Verordnung vorgesehenes Recht auszuüben, sich unmittelbar an die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zu wenden. 50 Jedenfalls ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 21 und 24, vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 43, und vom 4. Juni 2015, Kernkraftwerke Lippe-Ems, C‑5/14, EU:C:2015:354, Rn. 32). 51 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Mitgliedstaaten gehalten sind, für die volle Wirksamkeit des in Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 vorgesehenen Rechts Sorge zu tragen, indem sie gegebenenfalls ihre Verfahrensvorschriften anpassen. Das nationale Gericht hat jedenfalls die Bestimmungen von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung anzuwenden, indem es erforderlichenfalls entgegenstehende Vorschriften des nationalen Rechts unangewandt lässt, und muss somit einem Unterhaltsberechtigten die Möglichkeit geben, seinen Antrag unmittelbar bei der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zu stellen, auch wenn dies im nationalen Recht nicht vorgesehen ist. Kosten 52 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Bestimmungen von Kapitel IV der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen und insbesondere ihr Art. 41 Abs. 1 sind dahin auszulegen, dass ein Unterhaltsberechtigter, der in einem Mitgliedstaat einen Titel erwirkt hat und dessen Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat begehrt, seinen Antrag unmittelbar bei der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats, etwa einem Fachgericht, stellen und nicht verpflichtet werden kann, seinen Antrag über die Zentrale Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats einzureichen. 2. Die Mitgliedstaaten sind gehalten, für die volle Wirksamkeit des in Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 vorgesehenen Rechts Sorge zu tragen, indem sie gegebenenfalls ihre Verfahrensvorschriften anpassen. Das nationale Gericht hat jedenfalls die Bestimmungen von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung anzuwenden, indem es erforderlichenfalls entgegenstehende Vorschriften des nationalen Rechts unangewandt lässt, und muss somit einem Unterhaltsberechtigten die Möglichkeit geben, seinen Antrag unmittelbar bei der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zu stellen, auch wenn dies im nationalen Recht nicht vorgesehen ist. Unterschriften (1 ) Verfahrenssprache: Englisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 17. November 2016.#Stadt Wiener Neustadt gegen Niederösterreichische Landesregierung.#Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten – Richtlinie 85/337/EWG – Richtlinie 2011/92/EU – Geltungsbereich – Begriff ‚besonderer einzelstaatlicher Gesetzgebungsakt‘ – Unterbleiben einer Umweltverträglichkeitsprüfung – Bestandskräftige Genehmigung – Nachträgliche gesetzliche Heilung des Unterbleibens einer Umweltverträglichkeitsprüfung – Grundsatz der Zusammenarbeit – Art. 4 EUV.#Rechtssache C-348/15.
62015CJ0348
ECLI:EU:C:2016:882
2016-11-17T00:00:00
Kokott, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62015CJ0348 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 17. November 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten — Richtlinie 85/337/EWG — Richtlinie 2011/92/EU — Geltungsbereich — Begriff ‚besonderer einzelstaatlicher Gesetzgebungsakt‘ — Unterbleiben einer Umweltverträglichkeitsprüfung — Bestandskräftige Genehmigung — Nachträgliche gesetzliche Heilung des Unterbleibens einer Umweltverträglichkeitsprüfung — Grundsatz der Zusammenarbeit — Art. 4 EUV“ In der Rechtssache C‑348/15 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 25. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Juli 2015, in dem Verfahren Stadt Wiener Neustadt gegen Niederösterreichische Landesregierung, Beteiligte: .A.S.A. Abfall Service AG, erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Regan, J.‑C. Bonichot (Berichterstatter), A. Arabadjiev und S. Rodin, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der Stadt Wiener Neustadt, vertreten durch Rechtsanwalt E. Allinger, — der .A.S.A. Abfall Service AG, vertreten durch Rechtsanwalt H. Kraemmer, — der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Pignataro-Nolin und C. Hermes als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. September 2016 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 1985, L 175, S. 40) in der durch die Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 (ABl. 1997, L 73, S. 5) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 85/337), von Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S. 1) sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Stadt Wiener Neustadt (Österreich) und der Niederösterreichischen Landesregierung über die Rechtmäßigkeit des Bescheids, mit dem die Landesregierung feststellte, dass der Betrieb einer Ersatzbrennstoffaufbereitungsanlage durch die .A.S.A. Abfall Service AG als genehmigt gelte. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 85/337, dessen Inhalt in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92 übernommen wurde, lautet: „Gegenstand dieser Richtlinie ist die Umweltverträglichkeitsprüfung bei öffentlichen und privaten Projekten, die möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben.“ 4 Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 85/337, dessen Inhalt im Wesentlichen in Art. 1 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2011/92 übernommen wurde, bestimmt: „Im Sinne dieser Richtlinie sind: … Genehmigung: Entscheidung der zuständigen Behörde oder der zuständigen Behörden, aufgrund deren der Projektträger das Recht zur Durchführung des Projekts erhält.“ 5 Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337, dessen Inhalt im Wesentlichen in Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2011/92 übernommen wurde, lautet: „Diese Richtlinie gilt nicht für Projekte, die im Einzelnen durch einen besonderen einzelstaatlichen Gesetzgebungsakt genehmigt werden, da die mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele einschließlich des Ziels der Bereitstellung von Informationen im Wege des Gesetzgebungsverfahrens erreicht werden.“ 6 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337 lautet: „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vor Erteilung der Genehmigung die Projekte, bei denen unter anderem aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Genehmigungspflicht unterworfen und einer Prüfung in Bezug auf ihre Auswirkungen unterzogen werden. Diese Projekte sind in Artikel 4 definiert.“ Österreichisches Recht 7 § 3 Abs. 6 des Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetzes (UVP‑G 2000) (BGBl. 697/1993) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: UVP‑G 2000) sieht vor: „Vor Abschluss der Umweltverträglichkeitsprüfung oder der Einzelfallprüfung dürfen für Vorhaben, die einer Prüfung gemäß Abs. 1, 2 oder 4 unterliegen, Genehmigungen nicht erteilt werden und kommt nach Verwaltungsvorschriften getroffenen Anzeigen vor Abschluss der Umweltverträglichkeitsprüfung keine rechtliche Wirkung zu. Entgegen dieser Bestimmung erteilte Genehmigungen können von der gemäß § 39 Abs. 3 zuständigen Behörde innerhalb einer Frist von drei Jahren als nichtig erklärt werden.“ 8 § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000 bestimmt: „Für das Inkrafttreten durch das Bundesgesetz BGBl. I Nr. 87/2009 neu gefasster oder eingefügter Bestimmungen sowie für den Übergang zur neuen Rechtslage gilt Folgendes: … 4. Vorhaben, deren Genehmigung zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 87/2009 nicht mehr der Nichtigkeitsdrohung des § 3 Abs. 6 unterliegt, gelten als gemäß diesem Bundesgesetz genehmigt.“ 9 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass die in Rn. 8 des vorliegenden Urteils angeführte Fassung des § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000 auf das am 19. August 2009 in Kraft getretene Bundesgesetz zurückgeht, mit dem das Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000 geändert wird (UVP‑G-Novelle 2009) (BGBl. I 87/2009). Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefrage 10 Die .A.S.A. Abfall Service AG betreibt im Gebiet der Stadt Wiener Neustadt eine Ersatzbrennstoffaufbereitungsanlage, in der im Wesentlichen Kunststoffabfälle zerkleinert werden, bis ein industriell einsetzbarer Ersatzbrennstoff vorliegt, der vornehmlich in der Zementindustrie abgesetzt wird. In dieser Anlage wird eine physikalische Behandlung von nicht gefährlichen Abfällen vorgenommen. 11 In den Jahren 1986 und 1993 erteilte der Bürgermeister der Stadt Wiener Neustadt Betriebsanlagengenehmigungen für die Behandlung einer Kapazität von 9990 Tonnen pro Jahr. 12 Mit Bescheid des Landeshauptmanns von Niederösterreich vom 10. Dezember 2002 wurde die Steigerung der maximalen Verarbeitungskapazität auf 34000 Tonnen pro Jahr abfallwirtschaftsrechtlich bewilligt. Diese Kapazitätssteigerung sollte durch einen Ausbau der bestehenden Verarbeitungslinie sowie die Errichtung einer zweiten Verarbeitungslinie erreicht werden. 13 Die Bewilligung wurde erteilt, ohne dass das Erweiterungsvorhaben einer Umweltverträglichkeitsprüfung nach dem UVP‑G 2000 unterzogen worden wäre. 14 Der Niederösterreichische Umweltanwalt beantragte mit Schreiben vom 30. April 2014, die Niederösterreichische Landesregierung möge feststellen, ob diese Anlage einer Umweltverträglichkeitsprüfung nach dem UVP‑G 2000 zu unterziehen sei. 15 Mit Bescheid vom 27. Juni 2014 verneinte die Niederösterreichische Landesregierung dies und vertrat die Ansicht, dass die Anlage gemäß § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000 als genehmigt zu gelten habe. 16 Dagegen erhob die Stadt Wiener Neustadt beim Bundesverwaltungsgericht (Österreich) eine auf die Nichtigerklärung des Bescheids gerichtete Beschwerde. 17 Mit Erkenntnis vom 12. September 2014 wies das Bundesverwaltungsgericht diese Beschwerde als unbegründet ab. 18 Es führte aus, dass nicht zu prüfen sei, ob die mit Bescheid vom 10. Dezember 2002 genehmigte Erweiterung der Verarbeitungskapazität zuvor einer Umweltverträglichkeitsprüfung nach dem UVP‑G 2000 hätte unterzogen werden müssen, da § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000 die Annahme zulasse, dass eine solche Genehmigung als für den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Betrieb rechtmäßig erteilt gegolten habe. Diese Vorschrift stehe auch nicht im Widerspruch zum Unionsrecht. 19 Die Stadt Wiener Neustadt legte gegen dieses Erkenntnis beim Verwaltungsgerichtshof (Österreich) Revision ein. Sie macht geltend, § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000 sei unionsrechtswidrig. Insbesondere seien die Voraussetzungen dafür, dass ein Projekt durch nationales Recht vom Geltungsbereich der Richtlinie 85/337 oder der Richtlinie 2011/92 ausgeschlossen werden könne, im Ausgangsverfahren nicht erfüllt. 20 Vor diesem Hintergrund hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Steht das Unionsrecht, insbesondere die Richtlinie 2011/92, insbesondere deren Art. 1 Abs. 4, bzw. die Richtlinie 85/337, insbesondere deren Art. 1 Abs. 5, einer nationalen Vorschrift entgegen, nach der Vorhaben, die UVP-pflichtig waren, aber keine Genehmigung nach dem UVP‑G 2000, sondern nur über Genehmigungen nach einzelnen Materiengesetzen (z. B. Abfallwirtschaftsgesetz) verfügten, die am 19. August 2009 wegen Verstreichens einer im nationalen Recht (§ 3 Abs. 6 UVP‑G 2000) vorgesehenen Dreijahresfrist nicht mehr nichtig erklärt werden konnten, als gemäß dem UVP‑G 2000 genehmigt gelten, oder entspricht eine solche Regelung den im Unionsrecht verankerten Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes? Zur Vorlagefrage 21 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Vorhaben zur Steigerung der Verarbeitungskapazität der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anlage, da es am 10. Dezember 2002 abfallwirtschaftsrechtlich genehmigt wurde, unter das Unionsrecht fallen und somit Gegenstand einer Umweltverträglichkeitsprüfung sein konnte. Bei den Betriebsanlagengenehmigungen, die in den Jahren 1986 und 1993, mithin vor dem Beitritt der Republik Österreich zur Union, erteilt wurden, ist dies hingegen nicht der Fall. 22 Ferner ist klarzustellen, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, zu beurteilen, ob ein solches Projekt nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337 einer Umweltverträglichkeitsprüfung hätte unterzogen werden müssen und, wenn ja, ob die mit Bescheid vom 10. Dezember 2002 erteilte abfallwirtschaftsrechtliche sektorielle Bewilligung, wie der Betreiber geltend macht, in der Praxis die Einhaltung der in der Richtlinie vorgesehenen Umweltanforderungen ermöglichte. 23 Schließlich ist hervorzuheben, dass angesichts des Zeitpunkts, zu dem die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheide ergangen sind, nicht die Richtlinie 2011/92 heranzuziehen ist. 24 Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage in erster Linie wissen möchte, ob Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337 dahin auszulegen ist, dass er eine Rechtsvorschrift wie § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000, nach der ein Vorhaben, das Gegenstand eines unter Verletzung der Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung ergangenen Bescheids war, in Bezug auf den die Frist für die Nichtigerklärung verstrichen ist, als rechtmäßig genehmigt gilt, vom Geltungsbereich der Richtlinie ausnimmt. 25 Allgemeiner möchte das vorlegende Gericht in zweiter Linie auch wissen, ob eine solche Rechtsvorschrift im Unionsrecht durch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gerechtfertigt werden kann. 26 Zum ersten Aspekt der Vorlagefrage ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337 den Ausschluss eines Projekts vom Geltungsbereich der Richtlinie von zwei Voraussetzungen abhängig macht. Erstens muss das Projekt im Einzelnen durch einen besonderen Gesetzgebungsakt genehmigt werden. Zweitens müssen die Ziele der Richtlinie einschließlich des Ziels der Bereitstellung von Informationen im Wege des Gesetzgebungsverfahrens erreicht werden (Urteile vom 16. September 1999, WWF u. a.,C‑435/97, EU:C:1999:418, Rn. 57, und vom 18. Oktober 2011, Boxus u. a.,C‑128/09 bis C‑131/09, C‑134/09 und C‑135/09, EU:C:2011:667, Rn. 37). 27 Die erste Voraussetzung impliziert, dass der Gesetzgebungsakt die gleichen Merkmale wie eine Genehmigung im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 aufweist. Insbesondere muss er dem Projektträger das Recht zur Durchführung des Projekts verleihen und wie eine Genehmigung alle für die Umweltverträglichkeitsprüfung erheblichen, vom Gesetzgeber berücksichtigten Punkte des Projekts umfassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. September 1999, WWF u. a.,C‑435/97, EU:C:1999:418, Rn. 58 und 59, sowie vom 18. Oktober 2011, Boxus u. a.,C‑128/09 bis C‑131/09, C‑134/09 und C‑135/09, EU:C:2011:667, Rn. 38 und 39). Der Gesetzgebungsakt muss dabei erkennen lassen, dass die Zwecke der Richtlinie 85/337 bei dem betreffenden Projekt erreicht wurden (Urteil vom 18. Oktober 2011, Boxus u. a.,C‑128/09 bis C‑131/09, C‑134/09 und C‑135/09, EU:C:2011:667, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 28 Dies ist nicht der Fall, wenn der Gesetzgebungsakt nicht die zur Prüfung der Auswirkungen der Genehmigung des Projekts auf die Umwelt erforderlichen Angaben enthält (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. September 1999, WWF u. a.,C‑435/97, EU:C:1999:418, Rn. 62, und vom 18. Oktober 2011, Boxus u. a.,C‑128/09 bis C‑131/09, C‑134/09 und C‑135/09, EU:C:2011:667, Rn. 40). 29 Die zweite Voraussetzung impliziert, dass die Ziele der Richtlinie 85/337 im Wege des Gesetzgebungsverfahrens erreicht werden. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie ist nämlich zu entnehmen, dass ihr wesentliches Ziel darin besteht, zu gewährleisten, dass Projekte, bei denen insbesondere aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standorts mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, „vor Erteilung der Genehmigung“ einer Prüfung in Bezug auf ihre Umweltauswirkungen unterzogen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2011, Boxus u. a.,C‑128/09 bis C‑131/09, C‑134/09 und C‑135/09, EU:C:2011:667, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Folglich muss der Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Genehmigung des Projekts über ausreichende Angaben verfügen. Dabei umfassen die Angaben, die der Projektträger mindestens vorzulegen hat, eine Beschreibung des Projekts nach Standort, Art und Umfang, eine Beschreibung der Maßnahmen, mit denen bedeutende nachteilige Auswirkungen vermieden, eingeschränkt und soweit möglich ausgeglichen werden sollen, sowie die notwendigen Angaben zur Feststellung und Beurteilung der Hauptwirkungen, die das Projekt voraussichtlich für die Umwelt haben wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2011, Boxus u. a.,C‑128/09 bis C‑131/09, C‑134/09 und C‑135/09, EU:C:2011:667, Rn. 43). 31 Es ist zwar Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung sowohl des Inhalts des erlassenen Gesetzgebungsakts als auch des gesamten Gesetzgebungsverfahrens, das zu seinem Erlass geführt hat, und insbesondere der vorbereitenden Arbeiten und der parlamentarischen Debatten festzustellen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 18. Oktober 2011, Boxus u. a.,C‑128/09 bis C‑131/09, C‑134/09 und C‑135/09, EU:C:2011:667, Rn. 47), doch genügt eine Rechtsvorschrift wie § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000 diesen Anforderungen wohl nicht. 32 Der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ist nämlich zu entnehmen, dass diese Vorschrift für die von ihr erfassten Vorhaben nicht die gleichen Merkmale wie eine Genehmigung im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 85/337 aufweist. 33 Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Ziele der Richtlinie im Wege des § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000 erreicht werden könnten, da der nationale Gesetzgeber, als er diese Vorschrift erließ, nicht über Angaben zu den Umweltauswirkungen der Vorhaben, die sie betreffen kann, verfügte und da die Vorschrift jedenfalls auf bereits durchgeführte Vorhaben Anwendung finden soll. 34 Folglich erfüllt eine Rechtsvorschrift wie § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000 anscheinend nicht die in Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337 aufgestellten Voraussetzungen, so dass sie nicht zum Ausschluss der von ihr erfassten Vorgänge vom Geltungsbereich der Richtlinie führen konnte. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, diese Vorschrift anhand sämtlicher Merkmale des nationalen Rechts und der genauen Tragweite, die ihr beizumessen ist, zu prüfen. 35 Der zweite, die Möglichkeit, eine Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsverfahren fragliche unionsrechtlich mittels der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu rechtfertigen, betreffende Aspekt der Vorlagefrage bedarf folgender Erläuterungen. 36 Das Unionsrecht steht nationalen Vorschriften nicht entgegen, die in bestimmten Fällen die Legalisierung unionsrechtswidriger Vorgänge oder Handlungen zulassen. Eine solche Möglichkeit darf jedoch nur eingeräumt werden, wenn sie den Betroffenen keine Gelegenheit bietet, die Vorschriften des Unionsrechts zu umgehen oder sie nicht anzuwenden, und somit die Ausnahme bleibt (Urteil vom 3. Juli 2008, Kommission/Irland,C‑215/06, EU:C:2008:380, Rn. 57). 37 Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass Rechtsvorschriften, die einer Genehmigung zur Legalisierung eines Projekts, die sogar unabhängig vom Vorliegen außergewöhnlicher Umstände erteilt werden kann, die gleichen Wirkungen verleiht wie einer Baugenehmigung, gegen die Anforderungen der Richtlinie 85/337 verstößt. Projekte, für die eine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich ist, müssen nämlich nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt und vor Erteilung der Genehmigung – und somit notwendigerweise vor ihrer Durchführung – einem Genehmigungsverfahren und der Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden (Urteil vom 3. Juli 2008, Kommission/Irland,C‑215/06, EU:C:2008:380, Rn. 61). 38 Dasselbe gilt für eine gesetzgeberische Maßnahme wie § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000, die, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, zuzulassen scheint – ohne eine spätere Prüfung vorzuschreiben und unabhängig vom Vorliegen besonderer außergewöhnlicher Umstände –, dass bei einem Vorhaben, das einer Umweltverträglichkeitsprüfung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337 hätte unterzogen werden müssen, eine solche Prüfung als durchgeführt gilt. 39 Zwar erfasst die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vorschrift nur „Vorhaben, deren Genehmigung … nicht mehr der Nichtigkeitsdrohung … unterliegt“, weil die in § 3 Abs. 6 UVP‑G 2000 vorgesehene Frist von drei Jahren für die Geltendmachung der Nichtigkeit verstrichen ist. 40 Allein dieser Umstand kann jedoch an dem vorstehenden Ergebnis nichts ändern. Zwar ist es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs mangels einer einschlägigen unionsrechtlichen Regelung Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte und die Verfahrensmodalitäten der Klagen zu bestimmen, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei diese Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als bei entsprechenden auf das innerstaatliche Recht gestützten Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz). 41 Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass die Festsetzung angemessener Fristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den betroffenen Einzelnen und die betroffene Behörde schützt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Insbesondere sieht er solche Fristen nicht als geeignet an, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. April 2010, Barth,C‑542/08, EU:C:2010:193, Rn. 28, und vom 16. Januar 2014, Pohl,C‑429/12, EU:C:2014:12, Rn. 29). 42 Daher hindert das Unionsrecht, das keine Regeln hinsichtlich der Fristen für die Anfechtung von Genehmigungen vorsieht, die unter Verletzung der in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337 aufgestellten Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung erteilt wurden, grundsätzlich – vorbehaltlich der Beachtung des Äquivalenzgrundsatzes – den betreffenden Mitgliedstaat nicht daran, eine dreijährige Anfechtungsfrist festzulegen, wie sie in § 3 Abs. 6 UVP‑G 2000 vorgesehen ist, auf den § 46 Abs. 20 Z 4 UVP‑G 2000 verweist. 43 Nicht mit der Richtlinie vereinbar wäre hingegen eine nationale Vorschrift, aus der sich ergäbe – was das vorlegende Gericht zu prüfen hat –, dass Vorhaben, deren Genehmigung nicht mehr unmittelbar anfechtbar ist, weil die im nationalen Recht dafür vorgesehene Frist verstrichen ist, ohne Weiteres als im Hinblick auf die Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung rechtmäßig genehmigt gelten. 44 Wie die Generalanwältin in den Nrn. 42 bis 44 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, steht bereits die Richtlinie 85/337 als solche einer derartigen Vorschrift entgegen, und sei es nur, weil ihre rechtliche Wirkung darin besteht, die zuständigen Behörden von der Pflicht zur Berücksichtigung des Umstands zu befreien, dass ein Projekt im Sinne der Richtlinie ohne Umweltverträglichkeitsprüfung verwirklicht wurde, und dafür zu sorgen, dass eine derartige Prüfung durchgeführt wird, wenn Arbeiten oder materielle Eingriffe im Zusammenhang mit diesem Projekt später eine Genehmigung erfordern sollten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2011, Brussels Hoofdstedelijk Gewest u. a.,C‑275/09, EU:C:2011:154, Rn. 37). 45 Zudem sind nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle durch das Unterbleiben einer Umweltverträglichkeitsprüfung entstandenen Schäden zu ersetzen (Urteil vom 7. Januar 2004, Wells,C‑201/02, EU:C:2004:12, Rn. 66). 46 Zu diesem Zweck müssen die zuständigen nationalen Behörden alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen ergreifen, um dem Unterbleiben einer solchen Prüfung abzuhelfen (Urteil vom 7. Januar 2004, Wells,C‑201/02, EU:C:2004:12, Rn. 68). 47 Dem ist hinzuzufügen, dass für die Voraussetzungen einer solchen Schadenersatzklage, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob jede Rechtswidrigkeit als schuldhaft anzusehen ist und wann ein Kausalzusammenhang besteht, zwar mangels unionsrechtlicher Vorschriften das nationale Recht maßgebend ist und dass für die Erhebung einer solchen Klage nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs – vorbehaltlich der Beachtung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes – eine bestimmte Frist vorgesehen werden kann, doch muss diese Klage nach dem Effektivitätsgrundsatz unter angemessenen Bedingungen erhoben werden können. 48 Nach alledem wäre eine nationale Vorschrift, wenn sie nach Ablauf einer bestimmten Frist jede Klage auf Ersatz des durch die Verletzung der in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337 aufgestellten Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung entstandenen Schadens verhindert, obwohl die im nationalen Recht für die Erhebung einer Schadenersatzklage vorgesehene Frist noch nicht verstrichen ist, auch aus diesem Grund mit dem Unionsrecht unvereinbar. 49 Daher ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337 dahin auszulegen ist, dass er ein Vorhaben, das unter eine Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsverfahren fragliche fällt, nach der ein Vorhaben, das Gegenstand eines unter Verletzung der Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung ergangenen Bescheids war, in Bezug auf den die Frist für die Nichtigerklärung verstrichen ist, als rechtmäßig genehmigt gilt, nicht vom Geltungsbereich der Richtlinie ausnimmt. Das Unionsrecht steht einer solchen Rechtsvorschrift entgegen, wenn sie vorsieht, dass bei einem solchen Vorhaben eine vorherige Umweltverträglichkeitsprüfung als durchgeführt gilt. Kosten 50 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Art. 1 Abs. 5 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten in der durch die Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er ein Vorhaben, das unter eine Rechtsvorschrift wie die im Ausgangsverfahren fragliche fällt, nach der ein Vorhaben, das Gegenstand eines unter Verletzung der Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung ergangenen Bescheids war, in Bezug auf den die Frist für die Nichtigerklärung verstrichen ist, als rechtmäßig genehmigt gilt, nicht vom Geltungsbereich der Richtlinie ausnimmt. Das Unionsrecht steht einer solchen Rechtsvorschrift entgegen, wenn sie vorsieht, dass bei einem solchen Vorhaben eine vorherige Umweltverträglichkeitsprüfung als durchgeführt gilt. Silva de Lapuerta Regan Bonichot Arabadjiev Rodin Verkündet in Luxemburg in öffentlicher Sitzung am 17. November 2016. Der Kanzler A. Calot Escobar Die Präsidentin der Ersten Kammer R. Silva de Lapuerta (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 18. Oktober 2016.#Republik Griechenland gegen Grigorios Nikiforidis.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesarbeitsgerichts.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Auf einen Arbeitsvertrag anwendbares Recht – Verordnung (EG) Nr. 593/2008 – Art. 28 – Zeitlicher Anwendungsbereich – Art. 9 – Begriff ‚Eingriffsnormen‘ – Anwendung von Eingriffsnormen anderer Mitgliedstaaten als des Staates des angerufenen Gerichts – Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die wegen einer Haushaltskrise eine Kürzung der Gehälter im öffentlichen Sektor vorsehen – Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit.#Rechtssache C-135/15.
62015CJ0135
ECLI:EU:C:2016:774
2016-10-18T00:00:00
Szpunar, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62015CJ0135 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 18. Oktober 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Auf einen Arbeitsvertrag anwendbares Recht — Verordnung (EG) Nr. 593/2008 — Art. 28 — Zeitlicher Anwendungsbereich — Art. 9 — Begriff ‚Eingriffsnormen‘ — Anwendung von Eingriffsnormen anderer Mitgliedstaaten als des Staates des angerufenen Gerichts — Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die wegen einer Haushaltskrise eine Kürzung der Gehälter im öffentlichen Sektor vorsehen — Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit“ In der Rechtssache C‑135/15 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 25. Februar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2015, in dem Verfahren Republik Griechenland gegen Grigorios Nikiforidis erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen und T. von Danwitz sowie der Richter A. Borg Barthet, A. Arabadjiev, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund, C. Vajda, S. Rodin, F. Biltgen und C. Lycourgos (Berichterstatter), Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Februar 2016, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Herrn Nikiforidis, vertreten durch Rechtsanwalt G. Zeug, — der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Kemper und J. Mentgen als Bevollmächtigte, — der griechischen Regierung, vertreten durch S. Charitaki und A. Magrippi als Bevollmächtigte, — der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Kraehling als Bevollmächtigte und M. Gray, Barrister, — der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. April 2016 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV sowie von Art. 9 Abs. 3 und Art. 28 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. 2008, L 177, S. 6, Berichtigung in ABl. 2009, L 309, S. 87, im Folgenden: Rom‑I-Verordnung), die nach ihrem Art. 24 in den Mitgliedstaaten an die Stelle des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom (ABl. 1980, L 266, S. 1, im Folgenden: Übereinkommen von Rom), getreten ist. 2 Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Republik Griechenland und Herrn Grigorios Nikiforidis, einem griechischen Staatsangehörigen, der als Lehrer an der Griechischen Volksschule in Nürnberg (Deutschland) angestellt ist. Gegenstand dieses Rechtsstreits ist insbesondere die Kürzung des Bruttogehalts von Herrn Nikiforidis nach dem Erlass zweier Gesetze durch die Republik Griechenland, mit denen eine Reduzierung des Haushaltsdefizits erreicht werden soll. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Rom‑I-Verordnung 3 Die Erwägungsgründe 6, 7, 16 und 37 der Rom‑I-Verordnung lauten: „(6) Um den Ausgang von Rechtsstreitigkeiten vorhersehbarer zu machen und die Sicherheit in Bezug auf das anzuwendende Recht sowie den freien Verkehr gerichtlicher Entscheidungen zu fördern, müssen die in den Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsnormen im Interesse eines reibungslos funktionierenden Binnenmarkts unabhängig von dem Staat, in dem sich das Gericht befindet, bei dem der Anspruch geltend gemacht wird, dasselbe Recht bestimmen. (7) Der materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung sollten mit der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen [(ABl. 2001, L 12, S. 1)] (‚Brüssel I‘) und der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (‚Rom II‘) [(ABl. 2007, L 199, S. 40)] im Einklang stehen. … (16) Die Kollisionsnormen sollten ein hohes Maß an Berechenbarkeit aufweisen, um zum allgemeinen Ziel dieser Verordnung, nämlich zur Rechtssicherheit im europäischen Rechtsraum, beizutragen. Dennoch sollten die Gerichte über ein gewisses Ermessen verfügen, um das Recht bestimmen zu können, das zu dem Sachverhalt die engste Verbindung aufweist. … (37) Gründe des öffentlichen Interesses rechtfertigen es, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten unter außergewöhnlichen Umständen die Vorbehaltsklausel (‚ordre public‘) und Eingriffsnormen anwenden können. Der Begriff ‚Eingriffsnormen‘ sollte von dem Begriff ‚Bestimmungen, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann‘, unterschieden und enger ausgelegt werden.“ 4 Art. 3 der Rom‑I-Verordnung bestimmt: „(1)   Der Vertrag unterliegt dem von den Parteien gewählten Recht. Die Rechtswahl muss ausdrücklich erfolgen oder sich eindeutig aus den Bestimmungen des Vertrags oder aus den Umständen des Falles ergeben. Die Parteien können die Rechtswahl für ihren ganzen Vertrag oder nur für einen Teil desselben treffen. (2)   Die Parteien können jederzeit vereinbaren, dass der Vertrag nach einem anderen Recht zu beurteilen ist als dem, das zuvor entweder aufgrund einer früheren Rechtswahl nach diesem Artikel oder aufgrund anderer Vorschriften dieser Verordnung für ihn maßgebend war. Die Formgültigkeit des Vertrags im Sinne des Artikels 11 und Rechte Dritter werden durch eine nach Vertragsschluss erfolgende Änderung der Bestimmung des anzuwendenden Rechts nicht berührt. (3)   Sind alle anderen Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt der Rechtswahl in einem anderen als demjenigen Staat belegen, dessen Recht gewählt wurde, so berührt die Rechtswahl der Parteien nicht die Anwendung derjenigen Bestimmungen des Rechts dieses anderen Staates, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann. (4)   Sind alle anderen Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt der Rechtswahl in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen, so berührt die Wahl des Rechts eines Drittstaats durch die Parteien nicht die Anwendung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts – gegebenenfalls in der von dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts umgesetzten Form –, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden kann. (5)   Auf das Zustandekommen und die Wirksamkeit der Einigung der Parteien über das anzuwendende Recht finden die Artikel 10, 11 und 13 Anwendung.“ 5 Art. 8 („Individualarbeitsverträge“) der Rom‑I-Verordnung sieht vor: „(1)   Individualarbeitsverträge unterliegen dem von den Parteien nach Artikel 3 gewählten Recht. Die Rechtswahl der Parteien darf jedoch nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach den Absätzen 2, 3 und 4 des vorliegenden Artikels mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf. (2)   Soweit das auf den Arbeitsvertrag anzuwendende Recht nicht durch Rechtswahl bestimmt ist, unterliegt der Arbeitsvertrag dem Recht des Staates, in dem oder andernfalls von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Der Staat, in dem die Arbeit gewöhnlich verrichtet wird, wechselt nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtet. (3)   Kann das anzuwendende Recht nicht nach Absatz 2 bestimmt werden, so unterliegt der Vertrag dem Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat. (4)   Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Vertrag eine engere Verbindung zu einem anderen als dem in Absatz 2 oder 3 bezeichneten Staat aufweist, ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden.“ 6 Art. 9 („Eingriffsnormen“) der Rom‑I-Verordnung bestimmt: „(1)   Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. (2)   Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts. (3)   Den Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, kann Wirkung verliehen werden, soweit diese Eingriffsnormen die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden lassen. Bei der Entscheidung, ob diesen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, werden Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen berücksichtigt, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben würden.“ 7 Art. 10 („Einigung und materielle Wirksamkeit“) dieser Verordnung bestimmt: „(1)   Das Zustandekommen und die Wirksamkeit des Vertrags oder einer seiner Bestimmungen beurteilen sich nach dem Recht, das nach dieser Verordnung anzuwenden wäre, wenn der Vertrag oder die Bestimmung wirksam wäre. (2)   Ergibt sich jedoch aus den Umständen, dass es nicht gerechtfertigt wäre, die Wirkung des Verhaltens einer Partei nach dem in Absatz 1 bezeichneten Recht zu bestimmen, so kann sich diese Partei für die Behauptung, sie habe dem Vertrag nicht zugestimmt, auf das Recht des Staates ihres gewöhnlichen Aufenthalts berufen.“ 8 Art. 28 („Zeitliche Anwendbarkeit“) der Rom‑I-Verordnung bestimmt: „Diese Verordnung wird auf Verträge angewandt, die ab dem 17. Dezember 2009 geschlossen werden.“ Beschluss 2010/320/EU 9 Am 10. Mai 2010 erließ der Rat den Beschluss 2010/320/EU, gerichtet an Griechenland zwecks Ausweitung und Intensivierung der haushaltspolitischen Überwachung und zur Inverzugsetzung Griechenlands mit der Maßgabe, die zur Beendigung des übermäßigen Defizits als notwendig erachteten Maßnahmen zu treffen (ABl. 2010, L 145, S. 6, und Berichtigung in ABl. 2011, L 209, S. 63). 10 Art. 2 des Beschlusses 2010/320 verpflichtete Griechenland u. a., im Lauf der Jahre 2010 und 2011 eine Reform seiner Lohngesetzgebung für den öffentlichen Sektor zu erlassen, die insbesondere die Festlegung einheitlicher Grundsätze und eines einheitlichen Zeitplans für die Straffung und Vereinheitlichung der Tarifstruktur im öffentlichen Sektor beinhalten sollte, wobei sich die Vergütung an der Produktivität und den Aufgaben orientieren sollte. 11 Der Beschluss 2010/320 wurde durch den Beschluss 2011/734/EU des Rates vom 12. Juli 2011, gerichtet an Griechenland zwecks Ausweitung und Intensivierung der haushaltspolitischen Überwachung und zur Inverzugsetzung Griechenlands mit der Maßgabe, die zur Beendigung des übermäßigen Defizits als notwendig erachteten Maßnahmen zu treffen (Neufassung) (ABl. 2011, L 296, S. 38), aufgehoben. Übereinkommen von Rom 12 Art. 7 („Zwingende Vorschriften“) des Übereinkommens von Rom lautet: „(1)   Bei Anwendung des Rechts eines bestimmten Staates aufgrund dieses Übereinkommens kann den zwingenden Bestimmungen des Rechts eines anderen Staates, mit dem der Sachverhalt eine enge Verbindung aufweist, Wirkung verliehen werden, soweit diese Bestimmungen nach dem Recht des letztgenannten Staates ohne Rücksicht darauf anzuwenden sind, welchem Recht der Vertrag unterliegt. Bei der Entscheidung, ob diesen zwingenden Bestimmungen Wirkung zu verleihen ist, sind ihre Natur und ihr Gegenstand sowie die Folgen zu berücksichtigen, die sich aus ihrer Anwendung oder ihrer Nichtanwendung ergeben würden. (2)   Dieses Übereinkommen berührt nicht die Anwendung der nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichts geltenden Bestimmungen, die ohne Rücksicht auf das auf den Vertrag anzuwendende Recht den Sachverhalt zwingend regeln.“ 13 Art. 17 dieses Übereinkommens bestimmt: „Dieses Übereinkommen ist in einem Vertragsstaat auf Verträge anzuwenden, die geschlossen worden sind, nachdem das Übereinkommen für diesen Staat in Kraft getreten ist.“ Nationales Recht Deutsches Recht 14 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das deutsche internationale Privatrecht in Bezug auf vertragliche Schuldverhältnisse bis zum Inkrafttreten der Rom‑I-Verordnung in den Art. 27 ff. des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) geregelt war. Dem vorlegenden Gericht zufolge schloss Art. 34 EGBGB nicht aus, dass drittstaatliche Eingriffsnormen zumindest als tatsächliche Umstände im Rahmen „ausfüllungsbedürftiger“ materieller Rechtsnormen berücksichtigt werden konnten. Griechisches Recht 15 Im Zuge der Krise der Finanzierung der griechischen Staatsschulden erließ die Republik Griechenland das Gesetz Nr. 3833/2010 über dringende Maßnahmen zur Bewältigung der Krise der Staatsfinanzen (FEK A’ 40/15.03.2010, im Folgenden: Gesetz Nr. 3833/2010). Art. 1 dieses Gesetzes, der am 1. Januar 2010 in Kraft trat, sieht eine Kürzung der Zulagen jeder Art, der Entschädigungen und Entgelte der Amtsträger und Angestellten der öffentlichen Hand um 12 % vor. Diese Kürzung gilt auch für das Personal, das in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis zu einer öffentlichen Stelle steht, und hat Vorrang vor jeder Bestimmung eines Tarifvertrags, eines Schiedsspruchs oder eines Individualarbeitsvertrags. 16 Außerdem erließ die Republik Griechenland das Gesetz Nr. 3845/2010 „über Maßnahmen für die Anwendung des Stützungsmechanismus für die griechische Wirtschaft von Seiten der Mitgliedsländer der Eurozone und des Internationalen Währungsfonds“ (FEK A’ 65/6.05.2010, im Folgenden: Gesetz Nr. 3845/2010). Art. 3 dieses Gesetzes, der am 1. Juni 2010 in Kraft trat, sieht für die in Art. 1 des Gesetzes Nr. 3833/2010 genannten Angestellten eine weitere Kürzung der Vergütungen um 3 % vor. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 17 Herr Nikiforidis ist seit 1996 als Lehrer an einer von der Republik Griechenland getragenen Grundschule in Nürnberg beschäftigt. Zwischen Oktober 2010 und Dezember 2012 kürzte die Republik Griechenland die Bruttovergütung von Herrn Nikiforidis, die sich zuvor nach deutschem Tarifrecht gerichtet hatte, aufgrund der vom griechischen Gesetzgeber erlassenen Gesetze Nr. 3833/2010 und Nr. 3845/2010 um 20262,32 Euro. Mit diesen Gesetzen sollten die Vereinbarungen, die die Republik Griechenland mit der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds (UNO) getroffen hatte, sowie der Beschluss 2010/320 umgesetzt werden. 18 Herr Nikiforidis erhob in Deutschland Klage und forderte weitere Vergütung für den Zeitraum Oktober 2010 bis Dezember 2012 sowie Lohnabrechnungen. 19 Das Bundesarbeitsgericht (Deutschland) wies die von der Republik Griechenland erhobene Einrede der Staatenimmunität zurück, da es sich im Ausgangsverfahren um ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis handele. Zudem sähen die Gesetze Nr. 3833/2010 und Nr. 3845/2010 die Kürzung der Gehälter aller Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes der Republik Griechenland vor, unabhängig davon, ob diese ihre Tätigkeit in Griechenland oder im Ausland ausübten. Die maßgeblichen Bestimmungen dieser Gesetze erfüllten die Definition der Eingriffsnormen im Sinne des internationalen Privatrechts. 20 Für das Bundesarbeitsgericht ist im Ausgangsverfahren streitentscheidend, ob die Gesetze Nr. 3833/2010 und Nr. 3845/2010 unmittelbar oder mittelbar auf ein in Deutschland zu erfüllendes und deutschem Recht unterliegendes Arbeitsverhältnis Anwendung finden. Das deutsche Recht lasse Entgeltkürzungen, wie sie die Republik Griechenland vorgenommen habe, ohne Änderungsvertrag oder Änderungskündigung nicht zu. Gelte die Rom‑I-Verordnung im Ausgangsfall nicht, erlaube ihm Art. 34 EGBGB, die Eingriffsnormen eines anderen Staates zu berücksichtigen. 21 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kommen für den Zeitpunkt, zu dem ein Arbeitsvertrag im Sinne von Art. 28 dieser Verordnung geschlossen wurde, insbesondere im Hinblick auf langfristige Arbeitsverhältnisse unterschiedliche Auslegungen in Betracht. Deshalb sei zu klären, ob diese Bestimmung allein an den erstmaligen Vertragsschluss anknüpfe oder ob sie auch bestimmte Änderungen des Arbeitsverhältnisses wie die vertragliche Änderung der Bruttovergütung oder der Arbeitspflicht oder auch die Fortsetzung der Arbeitsleistung nach einem Vertragsbruch oder einer anderen Unterbrechung der Vertragserfüllung erfasse. Im vorliegenden Fall sei die letzte schriftliche Änderung des Arbeitsvertrags 2008 vereinbart worden. 22 Außerdem fragt sich das vorlegende Gericht, ob Art. 9 Abs. 3 der Rom‑I-Verordnung eng auszulegen ist, in dem Sinne, dass nur die Eingriffsnormen des Staates des angerufenen Gerichts oder des Staates der Vertragserfüllung geltend gemacht werden können, oder ob weiterhin Eingriffsnormen eines anderen Mitgliedstaats mittelbar berücksichtigt werden dürfen. 23 Schließlich fragt sich das Bundesarbeitsgericht sowohl für den Fall, dass die alten Bestimmungen des deutschen internationalen Privatrechts Anwendung finden, als auch für den Fall, dass Art. 9 Abs. 3 der Rom‑I-Verordnung anzuwenden ist, unabhängig davon, ob die letztgenannte Bestimmung einer Berücksichtigung der Eingriffsnormen eines anderen Mitgliedstaats als des Staates des angerufenen Gerichts oder des Staates der Vertragserfüllung entgegenstehen, nach den Konsequenzen der Erfüllung der in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits. Aus diesem Erfordernis könnte sich nach seiner Auffassung die Pflicht ergeben, die Republik Griechenland bei der Umsetzung der von ihr mit der Kommission, dem Internationalen Währungsfonds (UNO) und der Europäischen Zentralbank geschlossenen Vereinbarungen sowie des Beschlusses 2010/320 dadurch zu unterstützen, dass die Gesetze Nr. 3833/2010 und Nr. 3845/2010 im Ausgangsverfahren berücksichtigt werden. 24 Vor diesem Hintergrund hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 25 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 28 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen ist, dass die Bestimmungen dieser Verordnung nur auf Arbeitsverhältnisse Anwendung finden, die durch einen nach dem 16. Dezember 2009 vereinbarten Arbeitsvertrag begründet wurden, oder dahin, dass sie auch auf Arbeitsverhältnisse Anwendung finden, die spätestens bis zu diesem Zeitpunkt begründet wurden und nach dem Konsens der Vertragsparteien nach diesem Zeitpunkt verändert oder unverändert fortgesetzt werden sollen. 26 Nach Art. 28 der Rom‑I-Verordnung wird diese auf Verträge angewandt, die ab dem 17. Dezember 2009 geschlossen werden. Dabei wird nicht nach den verschiedenen Arten von Verträgen unterschieden, die in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen. Somit werden auch die in der ersten Frage besonders angesprochenen Arbeitsverhältnisse von dieser Vorschrift erfasst. 27 Im vorliegenden Fall wurde der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Arbeitsvertrag nach Angaben des vorlegenden Gerichts ursprünglich im Jahr 1996 geschlossen, d. h. bevor die Rom‑I-Verordnung anwendbar geworden ist. 28 Nach dieser Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt, dass die Begriffe einer Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 2008, Kozłowski, C‑66/08, EU:C:2008:437, Rn. 42, und vom 24. Mai 2016, Dworzecki, C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 28). 29 Da Art. 28 der Rom‑I-Verordnung nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, ist er somit autonom und einheitlich auszulegen. 30 Diese Schlussfolgerung wird nicht durch Art. 10 der Rom‑I-Verordnung in Frage gestellt, wonach sich das Zustandekommen und die Wirksamkeit des Vertrags oder einer seiner Bestimmungen nach dem Recht beurteilen, das nach dieser Verordnung anzuwenden wäre, wenn der Vertrag oder die Bestimmung wirksam wäre. Diese Bestimmung, die nicht den zeitlichen Anwendungsbereich der Rom‑I-Verordnung betrifft, ist für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage nicht relevant. 31 Im Einklang mit Art. 28 der Rom‑I-Verordnung soll diese nur auf Vertragsverhältnisse Anwendung finden, die durch gegenseitiges Einvernehmen der Vertragsparteien begründet wurden, das sich ab dem 17. Dezember 2009 manifestiert hat. 32 Zur Beantwortung der ersten Frage ist somit zu prüfen, ob eine zwischen den Parteien eines vor dem 17. Dezember 2009 geschlossenen Arbeitsvertrags ab diesem Zeitpunkt vereinbarte Änderung dieses Vertrags die Annahme begründen kann, dass zwischen diesen Parteien ab diesem Zeitpunkt ein neuer Arbeitsvertrag im Sinne von Art. 28 der Rom‑I-Verordnung geschlossen wurde, so dass dieser neue Vertrag vom zeitlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung erfasst ist. 33 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber eine unmittelbare Anwendbarkeit der Rom‑I-Verordnung, bei der die künftigen Wirkungen vor dem 17. Dezember 2009 geschlossener Verträge in ihren Anwendungsbereich fielen, ausgeschlossen hat. 34 Während nämlich der Vorschlag KOM(2005) 650 endg. der Kommission vom 15. Dezember 2005 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) vorsah, dass diese Verordnung „für nach ihrer Anwendbarkeit entstandene vertragliche Schuldverhältnisse“ gelten sollte, wurde die Bezugnahme auf diese vertraglichen Schuldverhältnisse in Art. 28 der Rom‑I-Verordnung durch eine Bezugnahme auf „Verträge“, die ab dem 17. Dezember 2009 geschlossen werden, ersetzt. Die von der Kommission vorgeschlagene Bezugnahme auf nach der Anwendbarkeit dieser Verordnung entstandene Schuldverhältnisse erfasste neben den nach der Anwendbarkeit der Verordnung geschlossenen Verträgen auch die künftigen Wirkungen von vor ihrer Anwendbarkeit geschlossenen Verträgen, d. h. Schuldverhältnisse, die nach der Anwendbarkeit der Verordnung aus diesen Verträgen entstanden sind, wohingegen nach Art. 28 der Rom‑I-Verordnung ausschließlich Verträge erfasst sind, die ab dem 17. Dezember 2009 geschlossen wurden, dem Zeitpunkt, ab dem die Verordnung gemäß ihrem Art. 29 anwendbar wurde. Folglich kann entgegen der vom vorlegenden Gericht in Betracht gezogenen Auslegung nicht jede nach dem 16. Dezember 2009 erfolgte Vereinbarung der Vertragsparteien, die Durchführung eines vorher geschlossenen Vertrags fortzusetzen, zu einer Anwendbarkeit der Rom‑I-Verordnung auf dieses Vertragsverhältnis führen, ohne dass damit gegen den klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Unionsgesetzgebers verstoßen würde. 35 Diese Entscheidung würde in Frage gestellt, wenn jede – selbst geringfügige – von den Vertragsparteien ab dem 17. Dezember 2009 vereinbarte Änderung eines ursprünglich vor diesem Zeitpunkt geschlossenen Vertrags ausreichen würde, um diesen Vertrag in den Anwendungsbereich dieser Verordnung einzubeziehen. 36 Außerdem liefe es dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider und wäre insbesondere nachteilig für die Vorhersehbarkeit des Ausgangs von Rechtsstreitigkeiten und die Sicherheit in Bezug auf das anzuwendende Recht, die nach dem sechsten Erwägungsgrund der Rom‑I-Verordnung Ziel dieser Verordnung sind, wenn davon ausgegangen würde, dass jede ab dem 17. Dezember 2009 vorgenommene einvernehmliche Änderung des ursprünglichen Vertrags bewirkte, den Vertrag in den Anwendungsbereich dieser Verordnung einzubeziehen und ihn letztlich anderen Kollisionsnormen als den zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltenden zu unterwerfen. 37 Dagegen ist, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, nicht ausgeschlossen, dass ein vor dem 17. Dezember 2009 geschlossener Vertrag ab diesem Zeitpunkt durch eine Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien in einem solchen Umfang geändert wird, dass diese Änderung keine bloße Aktualisierung oder Anpassung dieses Vertrags, sondern die Entstehung einer neuen Rechtsbeziehung zwischen den Vertragsparteien bewirkt und daher davon auszugehen ist, dass der ursprüngliche Vertrag durch einen im Sinne von Art. 28 der Rom‑I-Verordnung ab dem betreffenden Zeitpunkt geschlossenen neuen Vertrag ersetzt wurde. 38 Es ist Aufgabe des vorlegenden Gerichts, zu bestimmen, ob im vorliegenden Fall der zwischen Herrn Nikiforidis und seinem Arbeitgeber geschlossene Vertrag seit dem 17. Dezember 2009 durch eine Vereinbarung der Parteien in einem solchen Umfang geändert wurde. Ist dies nicht der Fall, ist die Rom‑I-Verordnung im Ausgangsverfahren nicht anwendbar. 39 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 28 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen ist, dass ein vor dem 17. Dezember 2009 begründetes vertragliches Arbeitsverhältnis nur dann in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, wenn es durch gegenseitiges Einvernehmen der Vertragsparteien, das sich ab diesem Zeitpunkt manifestiert hat, in einem solchen Umfang geändert wurde, dass davon auszugehen ist, dass ab diesem Zeitpunkt ein neuer Arbeitsvertrag geschlossen wurde, was zu prüfen Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist. Zur zweiten und zur dritten Frage 40 Mit der zweiten und der dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob Art. 9 Abs. 3 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen ist, dass er es ausschließt, dass das angerufene Gericht andere Eingriffsnormen als die des Staates des angerufenen Gerichts oder des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht unmittelbar oder mittelbar berücksichtigen kann, und zum anderen, welche Anforderungen sich gegebenenfalls aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV für die unmittelbare oder mittelbare Berücksichtigung dieser anderen Eingriffsnormen durch das angerufene Gericht ergeben. 41 Nach Art. 9 Abs. 1 dieser Verordnung ist eine Eingriffsnorm eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Nach Art. 9 Abs. 2 der Rom‑I-Verordnung steht diese Verordnung der Anwendung der Eingriffsnormen des Staates des angerufenen Gerichts nicht entgegen. Nach Art. 9 Abs. 3 kann das angerufene Gericht den Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, Wirkung verleihen, soweit diese Eingriffsnormen die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden lassen. Des Weiteren berücksichtigt das angerufene Gericht nach Art. 9 Abs. 3 vor seiner Entscheidung, ob diesen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben würden. 42 Zur genauen Bestimmung des Regelungsgehalts von Art. 9 der Rom‑I-Verordnung ist darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 3 Abs. 1 und – insbesondere in Bezug auf Arbeitsverträge – aus Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung ergibt, dass die Vertragsautonomie der Parteien bei der Wahl des anwendbaren Rechts als allgemeiner Grundsatz in der Rom‑I-Verordnung verankert ist. 43 Art. 9 der Rom‑I-Verordnung weicht von diesem Grundsatz der freien Wahl des anwendbaren Rechts durch die Parteien ab. Diese Ausnahme bezweckt, wie im 37. Erwägungsgrund dieser Verordnung ausgeführt wird, dem angerufenen Gericht unter außergewöhnlichen Umständen zu erlauben, Gründe des öffentlichen Interesses zu berücksichtigen. 44 Als Ausnahmeregelung ist Art. 9 der Rom‑I-Verordnung eng auszulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Oktober 2013, Unamar, C‑184/12, EU:C:2013:663, Rn. 49). 45 Im Übrigen geht aus den vorbereitenden Arbeiten zu dieser Verordnung hervor, dass der Unionsgesetzgeber Beeinträchtigungen des Systems der Kollisionsnormen, die durch die Anwendung anderer Eingriffsnormen als des Staates des angerufenen Gerichts verursacht werden, beschränken wollte. Während in dem Vorschlag KOM(2005) 650 endg. der Kommission die nach dem Übereinkommen von Rom vorgesehene Möglichkeit, Eingriffsnormen eines Staates Wirkung zu verleihen, der eine enge Verbindung zum betreffenden Vertrag aufweist, aufgegriffen wurde, hat der Unionsgesetzgeber diese Möglichkeit entfallen lassen (vgl. Entwurf eines Berichts des Europäischen Parlaments über einen Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht [Rom I], 2005/0261[COD], S. 16). 46 Dürfte das angerufene Gericht Eingriffsnormen der Rechtsordnung anderer Mitgliedstaaten als derjenigen, auf die in Art. 9 Abs. 2 und 3 der Rom‑I-Verordnung ausdrücklich Bezug genommen wird, anwenden, könnte zudem die vollständige Verwirklichung des allgemeinen Ziels dieser Verordnung, das nach ihrem 16. Erwägungsgrund in der Rechtssicherheit im europäischen Rechtsraum besteht, gefährdet werden. 47 Dem angerufenen Gericht eine solche Möglichkeit einzuräumen, würde nämlich die Zahl der abweichend von der nach Art. 3 Abs. 1 und – insbesondere in Bezug auf Arbeitsverträge – Art. 8 Abs. 1 der Rom‑I-Verordnung vorgesehenen allgemeinen Regel anwendbaren Eingriffsnormen erhöhen und könnte damit die Vorhersehbarkeit der auf den Vertrag anwendbaren materiellen Vorschriften beeinträchtigen. 48 Würde dem angerufenen Gericht die Möglichkeit eingeräumt, nach dem auf den Vertrag anwendbaren Recht andere als die in Art. 9 der Rom‑I-Verordnung genannten Eingriffsnormen anzuwenden, könnte schließlich das mit Art. 8 dieser Verordnung angestrebte Ziel gefährdet werden, die Einhaltung der Bestimmungen zum Schutz des Arbeitnehmers, die das Recht des Staates vorsieht, in dem der Arbeitnehmer seine berufliche Tätigkeit ausübt, so weit wie möglich zu gewährleisten (vgl. entsprechend Urteil vom 15. März 2011, Koelzsch, C‑29/10, EU:C:2011:151, Rn. 42). 49 Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass die Aufzählung der Eingriffsnormen, denen das angerufene Gericht Wirkung verleihen kann, in Art. 9 der Rom‑I-Verordnung abschließend ist. 50 Daraus folgt, dass Art. 9 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen ist, dass das angerufene Gericht andere Eingriffsnormen als die des Staates des angerufenen Gerichts oder des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, nicht als Rechtsvorschriften anwenden darf. Da der Arbeitsvertrag von Herrn Nikiforidis dem vorlegenden Gericht zufolge in Deutschland erfüllt worden ist und das vorlegende Gericht ein deutsches Gericht ist, kann dieses im vorliegenden Fall die griechischen Eingriffsnormen, die es im Vorabentscheidungsersuchen angeführt hat, nicht unmittelbar oder mittelbar anwenden. 51 Art. 9 dieser Verordnung verbietet es jedoch nicht, Eingriffsnormen eines anderen Staates als des Staates des angerufenen Gerichts oder des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, als tatsächliche Umstände zu berücksichtigen, soweit eine materielle Vorschrift des nach den Bestimmungen dieser Verordnung auf den Vertrag anwendbaren Rechts dies vorsieht. 52 Die Rom‑I-Verordnung harmonisiert nämlich die Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse und nicht die materiellen Vorschriften des Vertragsrechts. Soweit Letztere vorsehen, dass das angerufene Gericht eine Eingriffsnorm der Rechtsordnung eines anderen Staates als des Staates des angerufenen Gerichts oder des Staates der Vertragserfüllung als tatsächlichen Umstand berücksichtigt, kann Art. 9 dieser Verordnung der Berücksichtigung dieses tatsächlichen Umstands durch das angerufene Gericht nicht entgegenstehen. 53 Daher ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Gesetze Nr. 3833/2010 und Nr. 3845/2010 bei der Würdigung des maßgeblichen Sachverhalts anhand des auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitsvertrag anwendbaren Rechts berücksichtigt werden können. 54 Die Prüfung des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit kann zu keinem anderen Ergebnis führen. Dieser Grundsatz erlaubt es einem Mitgliedstaat nämlich nicht, die ihm durch das Unionsrecht auferlegten Verpflichtungen zu umgehen, und gestattet es dem vorlegenden Gericht daher nicht, den abschließenden Charakter der in Art. 9 der Rom‑I-Verordnung enthaltenen Aufzählung der Eingriffsnormen, denen Wirkung verliehen werden kann, außer Acht zu lassen, um den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden griechischen Eingriffsnormen als Rechtsvorschriften Wirkung zu verleihen (vgl. entsprechend Urteil vom 23. Januar 2014, Manzi und Compagnia Naviera Orchestra, C‑537/11, EU:C:2014:19, Rn. 40). 55 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 3 der Rom‑I-Verordnung dahin auszulegen ist, dass er es dem angerufenen Gericht nicht erlaubt, andere Eingriffsnormen als die des Staates des angerufenen Gerichts oder des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, als Rechtsvorschriften anzuwenden, ihm jedoch nicht verbietet, solche anderen Eingriffsnormen als tatsächliche Umstände zu berücksichtigen, soweit das nach den Bestimmungen dieser Verordnung auf den Vertrag anwendbare nationale Recht dies vorsieht. Diese Auslegung wird durch den in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nicht in Frage gestellt. Kosten 56 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 28 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) ist dahin auszulegen, dass ein vor dem 17. Dezember 2009 begründetes vertragliches Arbeitsverhältnis nur dann in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, wenn es durch gegenseitiges Einvernehmen der Vertragsparteien, das sich ab diesem Zeitpunkt manifestiert hat, in einem solchen Umfang geändert wurde, dass davon auszugehen ist, dass ab diesem Zeitpunkt ein neuer Arbeitsvertrag geschlossen wurde, was zu prüfen Aufgabe des vorlegenden Gerichts ist. 2. Art. 9 Abs. 3 der Verordnung Nr. 593/2008 ist dahin auszulegen, dass er es dem angerufenen Gericht nicht erlaubt, andere Eingriffsnormen als die des Staates des angerufenen Gerichts oder des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, als Rechtsvorschriften anzuwenden, ihm jedoch nicht verbietet, solche anderen Eingriffsnormen als tatsächliche Umstände zu berücksichtigen, soweit das nach den Bestimmungen dieser Verordnung auf den Vertrag anwendbare nationale Recht dies vorsieht. Diese Auslegung wird durch den in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nicht in Frage gestellt. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 30. Juni 2016.#Secretary of State for the Home Department gegen NA.#Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 20 und 21 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c – Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 – Art. 12 – Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines Unionsbürgers – Ehe zwischen einem Unionsbürger und einem Drittstaatsangehörigen – Gewalttaten in der Ehe – Scheidung nach dem Wegzug des Unionsbürgers – Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts des das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder, die Unionsbürger sind, wahrnehmenden Drittstaatsangehörigen.#Rechtssache C-115/15.
62015CJ0115
ECLI:EU:C:2016:487
2016-06-30T00:00:00
Wathelet, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62015CJ0115 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 30. Juni 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 20 und 21 AEUV — Richtlinie 2004/38/EG — Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c — Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 — Art. 12 — Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines Unionsbürgers — Ehe zwischen einem Unionsbürger und einem Drittstaatsangehörigen — Gewalttaten in der Ehe — Scheidung nach dem Wegzug des Unionsbürgers — Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts des das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder, die Unionsbürger sind, wahrnehmenden Drittstaatsangehörigen“ In der Rechtssache C‑115/15 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Rechtsmittelgerichtshof [England & Wales] [Zivilabteilung], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 25. Februar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 6. März 2015, in dem Verfahren Secretary of State for the Home Department gegen NA, Beteiligter: Aire Centre, erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Arabadjiev, J.‑C. Bonichot, C. G. Fernlund und S. Rodin, Generalanwalt: M. Wathelet, Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Februar 2016, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von NA, vertreten durch A. Gonzalez, Solicitor, B. Asanovic, Barrister, und T. de la Mare, QC, — des Aire Centre, vertreten durch T. Buley, Barrister, und R. Drabble, QC, beauftragt von L. Barratt, Solicitor, — der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Kaye und M. Holt als Bevollmächtigte im Beistand von B. Kennelly und B. Lask, Barristers, — der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning und M. S. Wolff als Bevollmächtigte, — der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und C. Schillemans als Bevollmächtigte, — der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, — der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer, M. Wilderspin, E. Montaguti und C. Tufvesson als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. April 2016 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 und 21 AEUV, von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35) und von Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. 1968, L 257, S. 2). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Secretary of State for the Home Department (Innenminister) und NA, einer pakistanischen Staatsangehörigen, über deren Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2004/38 3 Der 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 lautet: „Ferner bedarf es eines rechtlichen Schutzes für die Familienangehörigen, wenn der Unionsbürger verstirbt, die Ehe geschieden oder aufgehoben oder die eingetragene Partnerschaft beendet wird. Daher sollten Maßnahmen getroffen werden, damit unter Achtung des Familienlebens und der menschlichen Würde, aber unter bestimmten Voraussetzungen zum Schutz vor Missbrauch sichergestellt ist, dass in solchen Fällen Familienangehörigen, die sich bereits im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, das Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage erhalten bleibt.“ 4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck 1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt; 2. ‚Familienangehöriger‘ a) den Ehegatten; … 3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“ 5 Art. 3 („Berechtigte“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor: „Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“ 6 Die Abs. 1 und 2 von Art. 7 („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) der Richtlinie lauten: „(1)   Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er a) Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder c) — bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und — über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder d) ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht. (2)   Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.“ 7 Art. 12 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers“) der Richtlinie lautet: „(1)   Unbeschadet von Unterabsatz 2 berührt der Tod des Unionsbürgers oder sein Wegzug aus dem Aufnahmemitgliedstaat nicht das Aufenthaltsrecht seiner Familienangehörigen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen. Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, müssen sie die Voraussetzungen des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe a), b), c) oder d) erfüllen. (2)   Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt der Tod des Unionsbürgers für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige vor dem Tod des Unionsbürgers mindestens ein Jahr lang aufgehalten haben, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts. Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. Als ausreichende Existenzmittel gelten die in Artikel 8 Absatz 4 vorgesehenen Beträge. Die betreffenden Familienangehörigen behalten ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage. (3)   Der Wegzug des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat oder sein Tod führt weder für seine Kinder noch für den Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, bis zum Abschluss der Ausbildung zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn sich die Kinder im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten und in einer Bildungseinrichtung zu Ausbildungszwecken eingeschrieben sind.“ 8 Art. 13 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 2: „Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt die Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b) für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn a) die Ehe oder die eingetragene Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b) bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungs- oder Aufhebungsverfahrens oder bis zur Beendigung der eingetragenen Partnerschaft mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Aufnahmemitgliedstaat, oder b) dem Ehegatten oder dem Lebenspartner im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b), der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, aufgrund einer Vereinbarung der Ehegatten oder der Lebenspartner oder durch gerichtliche Entscheidung das Sorgerecht für die Kinder des Unionsbürgers übertragen wird oder c) es aufgrund besonders schwieriger Umstände erforderlich ist, wie etwa bei Opfern von Gewalt im häuslichen Bereich während der Ehe oder der eingetragenen Partnerschaft, oder d) dem Ehegatten oder dem Lebenspartner im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b), der nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, aufgrund einer Vereinbarung der Ehegatten oder der Lebenspartner oder durch gerichtliche Entscheidung das Recht zum persönlichen Umgang mit dem minderjährigen Kind zugesprochen wird, sofern das Gericht zu der Auffassung gelangt ist, dass der Umgang – solange er für nötig erachtet wird – ausschließlich im Aufnahmemitgliedstaat erfolgen darf. Bevor die Betroffenen das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, bleibt ihr Aufenthaltsrecht an die Voraussetzung geknüpft, dass sie nachweisen können, dass sie Arbeitnehmer oder Selbständige sind oder für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und dass sie über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder dass sie bereits im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige einer Person gelten, die diese Voraussetzungen erfüllt. Als ausreichende Existenzmittel gelten die in Artikel 8 Absatz 4 vorgesehenen Beträge. Die betreffenden Familienangehörigen behalten ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich auf persönlicher Grundlage.“ 9 Art. 14 („Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts“) der Richtlinie sieht in Abs. 2 vor: „Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen. …“ Verordnung Nr. 1612/68 10 Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1612/68 bestimmt: „Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.“ Nationales Recht 11 Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 durch Regulation 10 der Immigration (European Economic Area) Regulations 2006 (Verordnung von 2006 über die Zuwanderung aus dem Europäischen Wirtschaftsraum, im Folgenden: Verordnung von 2006) in nationales Recht umgesetzt wurde. 12 Insbesondere muss der Betroffene nach Regulation 10(5) der Verordnung von 2006, damit sein Aufenthaltsrecht bei einer Scheidung aufrechterhalten bleibt, bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Er darf u. a. kein Familienangehöriger einer anspruchsberechtigten Person oder eines Staatsangehörigen des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), der zum Zeitpunkt der Scheidung über ein Daueraufenthaltsrecht verfügte, mehr sein. 13 Nach der Verordnung von 2006 ist unter einer „anspruchsberechtigten Person“ ein EWR-Staatsangehöriger zu verstehen, der sich als Arbeitsuchender, Arbeitnehmer, Selbständiger, wirtschaftlich unabhängige Person oder Student im Vereinigten Königreich aufhält. 14 In der Vorlageentscheidung wird ferner ausgeführt, dass sich das abgeleitete Aufenthaltsrecht des Elternteils eines unter Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 fallenden Kindes im nationalen Recht aus Regulation 15A der Verordnung von 2006 ergibt, die im Wesentlichen vorsieht: „(1)   Eine Person (im Folgenden: P), die nicht freigestellt ist und die Kriterien in Paragraph (2), (3), (4), (4A) oder (5) dieser Verordnung erfüllt, hat ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich, solange P die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt. … (3)   P erfüllt die Kriterien in diesem Paragraph, wenn (a) P das Kind eines EWR-Staatsangehörigen (im Folgenden: Elternteil mit EWR-Staatsangehörigkeit) ist, (b) P sich im Vereinigten Königreich aufhielt, als sich der Elternteil mit EWR-Staatsangehörigkeit als Erwerbstätiger im Vereinigten Königreich aufhielt, und (c) P sich im Vereinigten Königreich in der Ausbildung befindet und sich dort in der Ausbildung befand, als sich der Elternteil mit EWR-Staatsangehörigkeit im Vereinigten Königreich aufhielt. (4)   P erfüllt die Kriterien in diesem Paragraph, wenn (a) P die elterliche Sorge für eine Person wahrnimmt, die die Kriterien in Paragraph (3) erfüllt (im Folgenden: betroffene Person), und (b) die betroffene Person nicht in der Lage wäre, ihre Ausbildung im Vereinigten Königreich fortzuführen, wenn P das Land verlassen müsste. …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 15 NA ist eine pakistanische Staatsangehörige, die im September 2003 die Ehe mit dem deutschen Staatsangehörigen KA schloss. Im März 2004 zog das Ehepaar in das Vereinigte Königreich. 16 Die Beziehung der Eheleute verschlechterte sich in der Folgezeit. NA war mehrfach Gewalttaten im häuslichen Bereich ausgesetzt. 17 KA zog im Oktober 2006 aus der ehelichen Wohnung aus und verließ im Dezember 2006 das Vereinigte Königreich. 18 Während seines Aufenthalts im Vereinigten Königreich war KA als Arbeitnehmer oder als Selbständiger erwerbstätig. 19 Die Eheleute haben zwei Töchter, MA und IA, die am 14. November 2005 und am 3. Februar 2007 im Vereinigten Königreich geboren wurden und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. 20 KA erklärte sich durch eine in Karatschi (Pakistan) geäußerte talaq vom 13. März 2007 als von NA geschieden. Im September 2008 reichte NA eine Scheidungsklage im Vereinigten Königreich ein. Die Scheidung wurde am 4. August 2009 rechtskräftig. NA wurde das alleinige Sorgerecht für die beiden Kinder zugesprochen. 21 MA wurde im Januar 2009, IA im September 2010 im Vereinigten Königreich eingeschult. 22 Im Rahmen der Prüfung eines Antrags von NA auf Erteilung eines Daueraufenthaltsrechts im Vereinigten Königreich entschied der Innenminister als die für Aufenthaltsfragen zuständige Behörde, dass NA kein Recht zum Aufenthalt im Vereinigten Königreich zustehe. 23 Die von NA gegen diese Entscheidung erhobene Klage wurde abgewiesen. 24 NA rief das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Kammer für Einwanderung und Asyl], Vereinigtes Königreich) an, das die drei von NA zur Stützung ihres Antrags auf ein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs vorgetragenen Rechtsgrundlagen prüfte. 25 Dieses Gericht entschied erstens, dass NA keinen Anspruch auf Aufrechterhaltung ihres Aufenthaltsrechts im Vereinigten Königreich nach Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 habe, da KA seine Rechte aus den Verträgen dort zum Zeitpunkt der Scheidung nicht mehr ausgeübt habe. Diese Voraussetzung ergebe sich aus der genannten Bestimmung und aus dem Urteil vom 13. Februar 1985, Diatta (267/83, EU:C:1985:67). 26 Da NA eine solche Voraussetzung für einen Anspruch auf Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts nach Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 als nicht gegeben ansah, hat sie insoweit gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht eingelegt. 27 Zweitens entschied das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Kammer für Einwanderung und Asyl]), dass NA jedoch ein aus dem Unionsrecht abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich zustehe, und zwar aus Art. 20 AEUV in der Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), und aus Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68. 28 Der Innenminister hat gegen das Urteil des Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Kammer für Einwanderung und Asyl]) in Bezug auf diesen Aspekt ein Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht eingelegt. Er ist nämlich, gestützt auf das Urteil vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou (C‑86/12, EU:C:2013:645), der Auffassung, dass MA und IA als Unionsbürgerinnen zwar die Rechte aus den Art. 20 und 21 AEUV zustünden, doch würden diese Rechte nur verletzt, wenn sich MA und IA „de facto gezwungen sähen, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen“. Dies sei hier nicht der Fall, da die Kinder im Mitgliedstaat ihrer Staatsangehörigkeit, der Bundesrepublik Deutschland, ein Aufenthaltsrecht hätten. Was das auf Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 gestützte Aufenthaltsrecht angehe, so verlange diese Bestimmung, dass sich der Elternteil mit Unionsbürgerschaft zum Zeitpunkt des Beginns der Ausbildung des Kindes im Aufnahmemitgliedstaat befinde. Auch dies sei hier nicht der Fall. 29 Drittens schließlich gab das Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Kammer für Einwanderung und Asyl]) der Klage von NA auf der Grundlage von Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten mit der Begründung statt, dass die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für NA im Vereinigten Königreich ihre Kinder MA und IA zwingen würde, diesen Mitgliedstaat mit ihrer Mutter zu verlassen, da ihr das alleinige Sorgerecht übertragen worden sei. Außerdem würde eine Abschiebung der Kinder deren Rechte aus Art. 8 verletzen. Gegen diesen Teil der Entscheidung hat der Innenminister kein Rechtsmittel eingelegt. 30 Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Rechtsmittelgerichtshof [England und Wales] [Zivilabteilung], Vereinigtes Königreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen vorzulegen: 1. Muss ein Drittstaatsangehöriger, der mit einem Unionsbürger verheiratet war, als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 nachweisen, dass der Unionsbürger zum Zeitpunkt der Scheidung im Aufnahmemitgliedstaat Rechte aus dem Vertrag wahrgenommen hat? 2. Hat ein Unionsbürger in einem Aufnahmemitgliedstaat ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht aus den Art. 20 und 21 AEUV, wenn der einzige Staat in der Union, in dem der Unionsbürger aufenthaltsberechtigt ist, der Staat seiner Staatsangehörigkeit ist, ein zuständiges Gericht jedoch als Tatsache festgestellt hat, dass seine Abschiebung aus dem Aufnahmemitgliedstaat in den Staat seiner Staatsangehörigkeit eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 8 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bzw. Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union darstellen würde? 3. Wenn es sich bei dem in der zweiten Frage bezeichneten Unionsbürger um ein Kind handelt, hat dann der Elternteil, der das Sorgerecht für das Kind allein wahrnimmt, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat, wenn das Kind im Fall der Abschiebung des Elternteils aus dem Aufnahmemitgliedstaat den Elternteil begleiten müsste? 4. Hat ein Kind nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 (jetzt Art. 10 der Verordnung [EU] Nr. 492/2011) ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat, wenn sich der Elternteil des Kindes, der Unionsbürger ist und im Aufnahmemitgliedstaat erwerbstätig war, zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind die Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat beginnt, nicht mehr dort aufhält? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 31 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der von einem Unionsbürger geschieden wurde, dessen Gewalttaten im häuslichen Bereich er während der Ehe ausgesetzt war, auf der Grundlage dieser Bestimmung einen Anspruch auf Aufrechterhaltung seines Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat haben kann, wenn die Scheidung nach dem Wegzug des Ehegatten mit Unionsbürgerschaft aus diesem Mitgliedstaat erfolgt ist. 32 Nach Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 führt die Scheidung für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn „es aufgrund besonders schwieriger Umstände erforderlich ist, wie etwa bei Opfern von Gewalt im häuslichen Bereich während der Ehe oder der eingetragenen Partnerschaft“. 33 Es ist zu prüfen, welche Anwendungsvoraussetzungen diese Bestimmung hat. Insbesondere bedarf in einem Fall, in dem ein Drittstaatsangehöriger wie im Ausgangsverfahren während seiner Ehe Opfer von Gewalttaten im häuslichen Bereich wurde, die von einem Unionsbürger begangen wurden, von dem er geschieden ist, der Klärung, ob sich der Drittstaatsangehörige nur dann auf Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 berufen kann, wenn sich der Unionsbürger nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie bis zur Scheidung im Aufnahmemitgliedstaat aufhält. 34 Insoweit hat der Gerichtshof zu Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 bereits entschieden, dass das abgeleitete Aufenthaltsrecht des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, wenn der Ehegatte mit Unionsbürgerschaft vor der Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens den Aufnahmemitgliedstaat verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittstaat niederzulassen, mit dem Wegzug des Ehegatten mit Unionsbürgerschaft endet und somit nicht mehr auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie aufrechterhalten werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a.,C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 62). 35 Unter solchen Umständen ist das Aufenthaltsrecht des im Aufnahmemitgliedstaat zurückbleibenden, einem Drittstaat angehörenden Ehegatten nämlich bereits mit dem Wegzug des Unionsbürgers erloschen. Ein späterer Scheidungsantrag kann nicht zum Wiederaufleben dieses Rechts führen, da Art. 13 der Richtlinie 2004/38 nur von der „Aufrechterhaltung“ eines bestehenden Aufenthaltsrechts spricht (vgl. Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a., C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 67). 36 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass sich der mit einem Drittstaatsangehörigen verheiratete Unionsbürger bis zum Zeitpunkt der Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten muss, damit der Drittstaatsangehörige auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie eine Aufrechterhaltung seines Rechts auf Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat beanspruchen kann (Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a., C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 66). 37 Diese Erwägungen sind bei der Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 auf die Umstände des Ausgangsverfahrens übertragbar. 38 Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass diese Bestimmung zu Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 gehört, so dass sie nicht autonom, sondern im Licht von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 selbst auszulegen ist. 39 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass bei der Bestimmung der Tragweite einer Vorschrift des Unionsrechts sowohl ihr Wortlaut als auch ihr Kontext und ihre Ziele zu berücksichtigen sind (Urteil vom 10. Oktober 2013, Spedition Welter, C‑306/12, EU:C:2013:650, Rn. 17). 40 Zunächst ergibt sich sowohl aus der Überschrift als auch aus dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, dass die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts, das den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nach dieser Bestimmung zusteht, u. a. für den Fall der Scheidung vorgesehen ist und dass daher eine Scheidung, wenn die in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen erfüllt sind, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts führt. 41 Sodann ist zum Kontext dieser Bestimmung festzustellen, dass Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 eine Ausnahme von dem in ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Grundsatz darstellt, dass sich nicht für alle Drittstaatsangehörigen aus der Richtlinie 2004/38 das Recht ergibt, in einen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, sondern nur für diejenigen, die im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie „Familienangehörige“ eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat (vgl. u. a. Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a., C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 51). 42 Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 betrifft nämlich die Ausnahmefälle, in denen die Scheidung nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts der betreffenden Drittstaatsangehörigen nach der Richtlinie 2004/38 führt, obwohl bei ihnen im Anschluss an ihre Scheidung die Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie und insbesondere die Eigenschaft als „Familienangehöriger“ eines Unionsbürgers im Sinne von Art. 2 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie nicht mehr vorliegen. 43 Hinzuzufügen ist, dass Art. 12 der Richtlinie 2004/38, der speziell die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers betrifft, zum einen die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts seiner Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nur für den Fall des Todes des Unionsbürgers vorsieht, nicht aber für den Fall seines Wegzugs aus dem Aufnahmemitgliedstaat. 44 Zum anderen ist somit festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass dieser Richtlinie davon abgesehen hat, für den Fall des Wegzugs des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat einen speziellen Schutz – z. B. wegen der besonders schwierigen Lage seiner Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen – vorzusehen, der dem in Art. 13 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Schutz entspräche. 45 Schließlich ist zur Zielsetzung von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 festzustellen, dass diese Bestimmung dem in ihrem 15. Erwägungsgrund genannten Zweck entspricht, für die Familienangehörigen, wenn die Ehe geschieden oder aufgehoben oder die eingetragene Partnerschaft beendet wird, einen rechtlichen Schutz vorzusehen, indem Maßnahmen getroffen werden, um sicherzustellen, dass in solchen Fällen Familienangehörigen, die sich bereits im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhalten, das Aufenthaltsrecht auf persönlicher Grundlage erhalten bleibt. 46 Aus der Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2004/38, insbesondere aus der Begründung des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (KOM[2001] 257 endg.), ergibt sich insoweit, dass dem geschiedenen Ehegatten nach dem vor der Richtlinie 2004/38 geltenden Unionsrecht das Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat versagt werden konnte. 47 Hierzu heißt es im Richtlinienvorschlag, das Ziel der vorgeschlagenen Bestimmung, des späteren Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, sei es, Drittstaatsangehörigen einen gewissen Rechtsschutz zu bieten, da ihr Aufenthaltsrecht von der durch die Ehe ausgedrückten familiären Bindung abhängig sei, und sie daher mit einer Scheidungsandrohung unter Druck gesetzt werden könnten; ein solcher Schutz sei nur erforderlich, wenn ein rechtskräftiges Scheidungsurteil vorliege, da das Aufenthaltsrecht des einem Drittstaat angehörenden Ehegatten nicht berührt werde, wenn die Ehegatten getrennt lebten. 48 Aus dem Vorstehenden folgt, dass nach dem Wortlaut, dem Kontext und der Zielsetzung von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 die Durchführung dieser Bestimmung einschließlich des Rechts aus Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c von der Scheidung der Betroffenen abhängt. 49 Daraus folgt ferner, dass eine Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38, nach der sich ein Drittstaatsangehöriger auf das Recht aus dieser Bestimmung berufen kann, wenn sich sein Ehegatte mit Unionsbürgerschaft nicht bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, sondern längstens bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Gewalttaten im häuslichen Bereich stattgefunden haben, im Widerspruch zur wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung von Art. 13 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 steht. 50 Ist ein Drittstaatsangehöriger, wie im Ausgangsverfahren, während seiner Ehe Opfer von Gewalttaten im häuslichen Bereich geworden, die von einem Unionsbürger begangen wurden, von dem er geschieden ist, muss sich der Unionsbürger somit bis zur Einleitung des Scheidungsverfahrens nach Maßgabe von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten, damit sich der Drittstaatsangehörige auf Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie berufen kann. 51 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der von einem Unionsbürger geschieden wurde, dessen Gewalttaten im häuslichen Bereich er während der Ehe ausgesetzt war, auf der Grundlage dieser Bestimmung keinen Anspruch auf Aufrechterhaltung seines Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat hat, wenn das gerichtliche Scheidungsverfahren erst nach dem Wegzug des Ehegatten mit Unionsbürgerschaft aus diesem Mitgliedstaat eingeleitet wurde. Zur vierten Frage 52 Mit seiner vierten Frage, die als Zweites zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 dahin auszulegen ist, dass ein Kind und dessen das alleinige Sorgerecht wahrnehmender, einem Drittstaat angehörender Elternteil aufgrund dieser Bestimmung ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, wenn der andere Elternteil wie im Ausgangsverfahren Unionsbürger ist und im Aufnahmemitgliedstaat erwerbstätig war, diesen aber verlassen hat, bevor das Kind dort eingeschult wurde. 53 Nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. 54 Das nach dieser Bestimmung bestehende Recht der Kinder von Wandererwerbstätigen auf Zugang zur Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat hängt davon ab, dass das betreffende Kind zuvor seinen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat hatte, so dass sich Kinder, die dort als Familienangehörige eines Wandererwerbstätigen ihren Wohnsitz genommen haben, sowie Kinder eines Wandererwerbstätigen, die seit ihrer Geburt in dem Mitgliedstaat wohnen, in dem ihr Vater oder ihre Mutter beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, in diesem Staat auf ein solches Recht berufen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Februar 2010, Teixeira, C‑480/08, EU:C:2010:83, Rn. 45). 55 Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 soll insbesondere sicherstellen, dass die Kinder eines Arbeitnehmers, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, auch dann, wenn er nicht mehr im Aufnahmemitgliedstaat als Arbeitnehmer beschäftigt ist, dort ihre schulische Ausbildung absolvieren und gegebenenfalls abschließen können (Urteil vom 23. Februar 2010, Teixeira, C‑480/08, EU:C:2010:83, Rn. 51). 56 Wie nämlich schon aus dem Wortlaut von Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 hervorgeht, ist dieses Recht nicht auf die Kinder von aktiven Wandererwerbstätigen beschränkt, sondern gilt auch für die Kinder ehemaliger Wandererwerbstätiger. Somit hängt das Recht der Kinder auf Gleichbehandlung in Bezug auf den Zugang zur Ausbildung nicht davon ab, dass ihr Vater oder ihre Mutter im Aufnahmemitgliedstaat weiterhin die Eigenschaft eines Wandererwerbstätigen besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Februar 2010, Teixeira, C‑480/08, EU:C:2010:83, Rn. 50). 57 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass das den Kindern nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zustehende Recht nicht vom Recht ihrer Eltern auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat abhängt, da Art. 12 nur verlangt, dass das Kind mit seinen Eltern oder einem Elternteil in einem Mitgliedstaat lebte, als dort zumindest ein Elternteil als Erwerbstätiger wohnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Februar 2010, Ibrahim und Secretary of State for the Home Department, C‑310/08, EU:C:2010:80, Rn. 40). 58 Insoweit ist die den Kindern ehemaliger Wandererwerbstätiger zuerkannte Möglichkeit, ihre Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat fortzusetzen, obwohl ihre Eltern dort nicht mehr wohnen, gleichbedeutend damit, dass ihnen ein Aufenthaltsrecht zuerkannt wird, das von demjenigen ihrer Eltern unabhängig ist und auf Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 beruht (Urteil vom 23. Februar 2010, Ibrahim und Secretary of State for the Home Department, C‑310/08, EU:C:2010:80, Rn. 41). 59 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich demnach, dass Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 das in dieser Bestimmung vorgesehene Recht eines Kindes nicht davon abhängig macht, dass der Elternteil, der ehemaliger Wandererwerbstätiger ist, zu dem Zeitpunkt, zu dem das Kind seine schulische oder universitäre Ausbildung beginnt, noch im Aufnahmemitgliedstaat wohnt oder dass er während der Schul- oder Studienzeit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verbleibt. 60 Im vorliegenden Fall ist der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass sich KA, der Ehemann der Klägerin des Ausgangsverfahrens, von der Ankunft der Eheleute im Vereinigten Königreich an bis zu seinem Wegzug aus diesem Mitgliedstaat, d. h. von März 2004 bis Dezember 2006, dort als Arbeitnehmer oder Selbständiger aufhielt. 61 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich außerdem, dass MA und IA, die gemeinsamen Töchter, im Vereinigten Königreich geboren wurden und dort seit ihrer Geburt leben. 62 Daher erfüllen MA und IA als Kinder eines ehemaligen Wandererwerbstätigen, die seit ihrer Geburt in dem Mitgliedstaat wohnen, in dem ihr Vater beschäftigt war, die Voraussetzungen dafür, sich auf Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zu berufen. 63 Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens hat deshalb das Kind eines ehemaligen Wandererwerbstätigen, das seit seiner Geburt im Aufnahmemitgliedstaat wohnt, nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 das Recht, in diesem Mitgliedstaat eine Ausbildung zu beginnen oder fortzuführen, und infolgedessen auch ein auf dieser Bestimmung beruhendes Aufenthaltsrecht. Ob sich der ehemalige Wandererwerbstätige zum Zeitpunkt der Einschulung des Kindes noch in diesem Mitgliedstaat aufhält oder nicht, ist insoweit unerheblich. 64 Schließlich ist festzustellen, dass das Recht auf Zugang zur Ausbildung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des Kindes eines Wandererwerbstätigen oder ehemaligen Wandererwerbstätigen impliziert, wenn es seine Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat fortsetzen möchte, sowie ein entsprechendes Aufenthaltsrecht des Elternteils, der die elterliche Sorge für dieses Kind tatsächlich wahrnimmt (Urteil vom 13. Juni 2013, Hadj Ahmed, C‑45/12, EU:C:2013:390, Rn. 46). 65 Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen die Kinder nach Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zur Fortsetzung ihrer schulischen Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat berechtigt sind, während der Elternteil, der die elterliche Sorge für sie wahrnimmt, sein Aufenthaltsrecht zu verlieren droht, könnte den Kindern nämlich das ihnen vom Unionsgesetzgeber zuerkannte Recht genommen werden, wenn diesem Elternteil die Möglichkeit versagt würde, während der schulischen Ausbildung seiner Kinder im Aufnahmemitgliedstaat zu bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2002, Baumbast und R, C‑413/99, EU:C:2002:493, Rn. 71). 66 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass NA das alleinige Sorgerecht für ihre Kinder übertragen wurde. 67 Daher steht auch NA als dem die elterliche Sorge für MA und IA tatsächlich wahrnehmenden Elternteil ein Aufenthaltsrecht aus Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 zu. 68 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 dahin auszulegen ist, dass ein Kind und dessen das alleinige Sorgerecht wahrnehmender, einem Drittstaat angehörender Elternteil aufgrund dieser Bestimmung ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, wenn der andere Elternteil wie im Ausgangsverfahren Unionsbürger ist und im Aufnahmemitgliedstaat erwerbstätig war, diesen aber verlassen hat, bevor das Kind dort eingeschult wurde. Zur zweiten und zur dritten Frage 69 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 und/oder Art. 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie sowohl einem minderjährigen Unionsbürger, der sich seit seiner Geburt im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, als auch dem einem Drittstaat angehörenden Elternteil, der das alleinige Sorgerecht für den Minderjährigen hat, ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verleihen, wenn den Betroffenen in diesem Mitgliedstaat nach nationalem oder internationalem Recht ein Aufenthaltsrecht zusteht. 70 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verleiht Art. 20 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31, und vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 71 Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird (Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, EU:C:2011:124, Rn. 42). 72 Dem Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, kommt insofern ein ganz besonderer Charakter zu, als es Sachverhalte betrifft, in denen – obwohl das das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen betreffende abgeleitete Recht nicht anwendbar ist – einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft der letztgenannten Person ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sie sich infolge einer solchen Weigerung de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihr dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihr dieser Status verleiht, verwehrt würde (vgl. Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 66 und 67). 73 In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ist zunächst zu berücksichtigen, dass sowohl die Klägerin des Ausgangsverfahrens als auch ihre Töchter – wie in Rn. 68 des vorliegenden Urteils festgestellt – ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich aus Art. 12 der Verordnung Nr. 1612/68 haben. 74 Im vorliegenden Fall fehlt es somit an der ersten Voraussetzung für einen Anspruch auf ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat aus Art. 20 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C‑34/09, EU:C:2011:124), die darin besteht, dass der Betroffene in diesem Mitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht aus abgeleitetem Unionsrecht hat. 75 Zu Art. 21 AEUV ist darauf hinzuweisen, dass das von dieser Bestimmung verliehene Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufzuhalten, jedem Unionsbürger „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ gewährt wird. 76 Bei diesen Beschränkungen und Bedingungen handelt es sich insbesondere um die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genannten; zu ihnen gehören nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b ausreichende Existenzmittel, um während des Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen zu müssen, und ein umfassender Krankenversicherungsschutz. 77 Der Gerichtshof hat insoweit bereits entschieden, dass die in dieser Bestimmung enthaltene Formulierung „über die erforderlichen Mittel verfügen“ dahin auszulegen ist, dass es ausreicht, wenn dem Unionsbürger diese Mittel zur Verfügung stehen, ohne dass die Bestimmung Anforderungen an die Herkunft der Mittel stellt, so dass diese auch von einem Drittstaatsangehörigen stammen können (Urteil vom 16. Juli 2015, Singh u. a., C‑218/14, EU:C:2015:476, Rn. 74). 78 Daraus folgt, dass MA und IA, sofern sie die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 und insbesondere ihres Art. 7 Abs. 1 entweder selbst oder über ihre Mutter erfüllen, was zu klären Sache des vorlegenden Gerichts ist, als deutschen Staatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich aus Art. 21 AEUV und der Richtlinie zustehen kann. 79 Schließlich hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38, wenn sie einem Kleinkind, das Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verleihen, es dem die elterliche Sorge für dieses Kind tatsächlich wahrnehmenden Elternteil erlauben, sich mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten (vgl. Urteil vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 29). 80 Wie der Gerichtshof festgestellt hat, würde nämlich, wenn dem Elternteil, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats oder eines Drittstaats ist und für einen minderjährigen Unionsbürger, dem Art. 21 AEUV und die Richtlinie 2004/38 ein Aufenthaltsrecht verleihen, tatsächlich sorgt, nicht erlaubt würde, sich mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, dem Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers jede praktische Wirksamkeit genommen, da der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein Kleinkind notwendigerweise voraussetzt, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei ihm aufhalten darf und dass es ihr demgemäß ermöglicht wird, während dieses Aufenthalts mit dem Kind zusammen im Aufnahmemitgliedstaat zu wohnen (vgl. Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 45, und vom 10. Oktober 2013, Alokpa und Moudoulou, C‑86/12, EU:C:2013:645, Rn. 28). 81 Nach alledem sind die zweite und die dritte Frage wie folgt zu beantworten: — Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er weder einem minderjährigen Unionsbürger, der sich seit seiner Geburt im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, noch dem einem Drittstaat angehörenden Elternteil, der das alleinige Sorgerecht für diesen Minderjährigen hat, ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verleiht, wenn ihnen nach einer Bestimmung des abgeleiteten Unionsrechts ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat zusteht. — Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einem minderjährigen Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verleiht, sofern er die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt; dies zu klären ist Sache des vorlegenden Gerichts. Ist das der Fall, erlaubt es diese Bestimmung dem die elterliche Sorge für den Unionsbürger tatsächlich wahrnehmenden Elternteil, sich mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten. Kosten 82 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der von einem Unionsbürger geschieden wurde, dessen Gewalttaten im häuslichen Bereich er während der Ehe ausgesetzt war, auf der Grundlage dieser Bestimmung keinen Anspruch auf Aufrechterhaltung seines Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat hat, wenn das gerichtliche Scheidungsverfahren erst nach dem Wegzug des Ehegatten mit Unionsbürgerschaft aus diesem Mitgliedstaat eingeleitet wurde. 2. Art. 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ist dahin auszulegen, dass ein Kind und dessen das alleinige Sorgerecht wahrnehmender, einem Drittstaat angehörender Elternteil aufgrund dieser Bestimmung ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben, wenn der andere Elternteil wie im Ausgangsverfahren Unionsbürger ist und im Aufnahmemitgliedstaat erwerbstätig war, diesen aber verlassen hat, bevor das Kind dort eingeschult wurde. 3. Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er weder einem minderjährigen Unionsbürger, der sich seit seiner Geburt im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, noch dem einem Drittstaat angehörenden Elternteil, der das alleinige Sorgerecht für diesen Minderjährigen hat, ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verleiht, wenn ihnen nach einer Bestimmung des abgeleiteten Unionsrechts ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat zusteht. Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einem minderjährigen Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat verleiht, sofern er die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt; dies zu klären ist Sache des vorlegenden Gerichts. Ist das der Fall, erlaubt es diese Bestimmung dem die elterliche Sorge für den Unionsbürger tatsächlich wahrnehmenden Elternteil, sich mit ihm im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Englisch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 30. Juni 2016.#Silvia Georgiana Câmpean gegen Administrația Finanțelor Publice a Municipiului Mediaș und Administrația Fondului pentru Mediu.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Nationale Regelung, die Modalitäten für die Erstattung zu Unrecht erhobener Steuern mit Zinsen festlegt – Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen über solche Ansprüche auf Erstattung, die sich aus der Unionsrechtsordnung herleiten – Ratenweise Erstattung über fünf Jahre – Erstattung unter der Bedingung, dass Mittel aus einer Steuererhebung vorhanden sind – Keine Möglichkeit der Zwangsvollstreckung.#Rechtssache C-200/14.
62014CJ0200
ECLI:EU:C:2016:494
2016-06-30T00:00:00
Szpunar, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62014CJ0200 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 30. Juni 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit — Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität — Nationale Regelung, die Modalitäten für die Erstattung zu Unrecht erhobener Steuern mit Zinsen festlegt — Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen über solche Ansprüche auf Erstattung, die sich aus der Unionsrechtsordnung herleiten — Ratenweise Erstattung über fünf Jahre — Erstattung unter der Bedingung, dass Mittel aus einer Steuererhebung vorhanden sind — Keine Möglichkeit der Zwangsvollstreckung“ In der Rechtssache C‑200/14 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Sibiu (Landgericht Sibiu, Rumänien) mit Entscheidung vom 20. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 22. April 2014, in dem Verfahren Silvia Georgiana Câmpean gegen Administrația Finanțelor Publice a Municipiului Mediaș, jetzt Serviciul Fiscal Municipal Mediaş, Administrația Fondului pentru Mediu erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), der Richterin C. Toader, des Richters A. Rosas, der Richterin A. Prechal und des Richters E. Jarašiūnas, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Oktober 2015, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Frau Câmpean, vertreten durch D. Târşia, avocat, — der rumänischen Regierung, vertreten durch R. H. Radu als Bevollmächtigten im Beistand von V. Angelescu und D. M. Bulancea, Berater, — der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal, G.‑D. Balan und M. Wasmeier als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Februar 2016 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 EUV, der Grundsätze, denen die Erstattung nationaler, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobener Steuern genügen muss, sowie der Art. 17, 20, 21 Abs. 1 und Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Silvia Georgiana Câmpean auf der einen sowie der Administraţia Finanţelor Publice a Municipiului Mediaş (Öffentliche Steuerverwaltung der Gemeinde Mediaş, Rumänien) und der Administraţia Fondului pentru Mediu (Umweltfonds-Amt, Rumänien) auf der anderen Seite über die Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer, die Frau Câmpean bei der Zulassung eines aus einem anderen Mitgliedstaat stammenden Kraftfahrzeugs zu entrichten hatte, sowie auf die Zahlung der dazugehörigen Zinsen. Der rumänische Rechtsrahmen 3 Die Legea nr. 9 privind taxa pentru emisiile poluante provenite de la autovehicule (Gesetz Nr. 9 betreffend die Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen) vom 6. Januar 2012 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 17 vom 10. Januar 2012, im Folgenden: Gesetz Nr. 9/2012) führte eine Schadstoffsteuer für Fahrzeuge der Klassen M1 bis M3 und N1 bis N3 ein. Nach Art. 4 Abs. 1 dieses Gesetzes entstand die Pflicht zur Entrichtung dieser Steuer u. a. bei der erstmaligen Zulassung eines Kraftfahrzeugs in Rumänien. 4 Art. XV der Ordonanţa de urgenţă a Guvernului nr. 8 pentru modificarea și completarea unor acte normative și alte măsuri fiscal-bugetare (Dringlichkeitsverordnung Nr. 8 der Regierung zur Änderung und Ergänzung einiger Rechtsakte sowie anderer steuerlich-haushaltlicher Maßnahmen) vom 26. Februar 2014 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 151 vom 28. Februar 2014, im Folgenden: OUG Nr. 8/2014) sieht vor: „(1)   Die Zahlung der Beträge, die durch eine gerichtliche Entscheidung über die Erstattung der Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge und der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen, über die Zinsen bis zur vollständigen Zahlung und über die Prozesskosten festgesetzt werden, sowie aller sonstigen von den Gerichten festgesetzten Beträge, die bis zum 31. Dezember 2015 vollstreckbar werden, erfolgt innerhalb von fünf Kalenderjahren durch eine jährliche Zahlung von 20 % dieses Wertes. (2)   Die in Abs. 1 vorgesehenen Anträge der Steuerpflichtigen auf Erstattung werden nach den Bestimmungen der [Ordonanţa Guvernului nr. 92 privind Codul de procedură fiscală (Regierungsverordnung Nr. 92 über die Steuerverfahrensordnung) vom 24. Dezember 2003 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 941 vom 29. Dezember 2003, im Folgenden: OG Nr. 92/2003)], mit späteren Änderungen und Ergänzungen, innerhalb von 45 Tagen nach der Einreichung bearbeitet, und die Zahlung der Jahrestranchen erfolgt gemäß dem vom Umweltfonds-Amt festgelegten Plan. (3)   Die in Abs. 1 vorgesehene Frist läuft ab dem Zeitpunkt, an dem die in Abs. 2 genannte Frist abläuft. (4)   Solange die in Abs. 1 vorgesehene Frist läuft, wird jedes Zwangsvollstreckungsverfahren von Rechts wegen ausgesetzt. (5)   Die in Abs. 1 vorgesehenen Beträge, die aufgrund der vorliegenden Dringlichkeitsverordnung gezahlt werden, werden anhand des vom Nationalen Statistikinstitut bekannt gemachten Verbraucherpreisindexes aktualisiert. (6)   Das bei der Zahlung auf Vollstreckungstitel anzuwendende Verfahren wird durch gemeinsamen Erlass des Ministers für Umwelt und Klimawandel und des Ministers für öffentliche Finanzen unter Beachtung der in Abs. 1 vorgesehenen Frist festgelegt. (7)   Zahlungen auf ausstehende Beträge aus bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der vorliegenden Dringlichkeitsverordnung erteilten Vollstreckungstiteln, aus denen die Zwangsvollstreckung noch nicht eingeleitet worden ist, werden nach Maßgabe der Bestimmungen der Abs. 1 bis 6 vorgenommen.“ 5 In der Begründung der OUG Nr. 8/2014 wurde deren Erlass u. a. gerechtfertigt mit den „bisherigen Schwierigkeiten in Bezug auf die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen über die Erstattung der Umweltsteuer und der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen angesichts der negativen Auswirkungen der Zwangsvollstreckung von Vollstreckungstiteln nach den allgemeinen Rechtsvorschriften sowohl auf den Haushalt des Umweltfonds-Amts als auch auf den allgemeinen konsolidierten Haushalt unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, Sonderregelungen mit zeitlich begrenzter Anwendbarkeit über die Zwangsvollstreckung gerichtlicher Entscheidungen zu schaffen, mit denen die Erstattung der Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge und der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen angeordnet worden ist. Das Fehlen solcher Bestimmungen hätte nämlich die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung eines ausgeglichenen Haushalts zur Folge und gleichzeitig sowohl die Nichteinhaltung der vom Umweltfonds-Amt übernommenen nationalen Verpflichtungen als auch die Nichteinhaltung der Rumänien als Mitgliedstaat der Europäischen Union obliegenden Verpflichtungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes“. 6 Der Ordinul nr. 365/741 al ministrului mediului şi schimbărilor climatice şi al ministrului finanţelor publice privind aprobarea Procedurii de efectuare a plăţilor sumelor prevăzute prin hotărâri judecătoreşti având ca obiect restituirea taxei pe poluare pentru autovehicule şi a taxei pentru emisiile poluante provenite de la autovehicule şi a modelului şi conţinutului unor formulare şi pentru modificarea anexei nr. 4 la Ordinul ministrului mediului şi schimbărilor climatice şi al viceprim-ministrului, ministrul finanţelor publice, nr. 490/407/2013 pentru aprobarea Procedurii de restituire a sumelor prevăzute la art. 7, 9 şi 12 din Ordonanţa de urgenţă a Guvernului nr. 9/2013 privind timbrul de mediu pentru autovehicule, precum şi a sumelor stabilite de instanţele de judecată prin hotărâri definitive şi irevocabile (Erlass Nr. 365/741 des Ministers für Umwelt und Klimawandel und des Ministers für öffentliche Finanzen zur Annahme des Verfahrens für die Zahlung der Beträge, die durch gerichtliche Entscheidung über die Erstattung der Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge und der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen festgesetzt werden, zur Annahme der Art und des Inhalts bestimmter Formulare und zur Änderung des Erlasses Nr. 490/407/2013 des Ministers für Umwelt und Klimawandel und des Vizepremierministers, des Ministers für öffentliche Finanzen, zur Annahme des Verfahrens zur Erstattung der in den Art. 7, 9 und 12 der Dringlichkeitsverordnung Nr. 9/2013 der Regierung über die Umweltgebühr für Kraftfahrzeuge sowie der von den gerichtlichen Instanzen in endgültigen und unwiderruflichen Entscheidungen festgesetzten Beträge) vom 19. März 2014 (im Folgenden: Erlass Nr. 365/741/2014) wurde nach Art. XV Abs. 6 der OUG Nr. 8/2014 erlassen und sieht Anwendungsvorschriften für diesen Art. XV vor. 7 Art. 1 Abs. 2 und 3 dieses Erlasses bestimmt: „(2)   Die Zahlung der Beträge, die durch eine gerichtliche Entscheidung über die Erstattung der Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge und der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen, über die Zinsen bis zur vollständigen Zahlung und über die Prozesskosten festgesetzt werden, sowie aller sonstigen von den Gerichten festgesetzten Beträge, die bis zum 31. Dezember 2015 vollstreckbar werden, erfolgt nach Art. XV der [OUG Nr. 8/2014] innerhalb von fünf Kalenderjahren durch eine jährliche Zahlung von 20 % dieses Wertes. (3)   Die von den Steuerpflichtigen gestellten Anträge auf Erstattung der in Abs. 2 genannten Beträge werden nach den Bestimmungen der [OG Nr. 92/2003] innerhalb von 45 Tagen nach der Einreichung bearbeitet, und die Zahlung der Jahrestranchen erfolgt gemäß dem hierfür genehmigten Jahrestranchen-Plan …“ 8 Art. 3 dieses Erlasses sieht vor: „Die in Art. 1 Abs. 2 genannten Beträge einschließlich aller sich aus der Aktualisierung zum Zeitpunkt der Zahlung ergebenden Ausgleichsbeträge werden durch Mittel gedeckt, die von der [Umweltsteuer] aus dem Haushalt des Umweltfonds beglichen werden.“ 9 Anhang 1 des Erlasses Nr. 365/741/2014 legt in seinem Kapitel I das Verfahren fest, das auf die Zahlung der in Art. XV Abs. 1 der OUG Nr. 8/2014 genannten Beträge, die durch gerichtliche Entscheidung über die Erstattung der Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge und der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen festgesetzt werden, anwendbar ist. 10 Nach diesem Anhang 1 Kapitel I Nrn. 7 und 19 gilt: „7. Dem Antrag auf Erstattung sind zur Prüfung folgende Unterlagen beizufügen: a) eine beglaubigte Abschrift des vollstreckbaren Urteils; b) das Ausweisdokument der natürlichen Person oder des Vertreters der juristischen Person nebst einer Abschrift der ihr übertragenen Vollmacht; … 19. Bei Zahlung der einzelnen Jahrestranchen gemäß dem in Nr. 11 festgelegten Zahlungsplan der aktualisierten Beträge und Zinsen bearbeitet die zuständige Steuerbehörde eventuelle Erstattungen und zahlt sie unter Berücksichtigung aller im Namen des Zahlungsempfängers zum Fälligkeitszeitpunkt jeder Tranche bestehenden Steuerschulden aus …“ 11 In Art. 1 der Ordonanţa Guvernului nr. 22 privind executarea obligaţiilor de plată ale instituţiilor publice, stabilite prin titluri executorii (Regierungsverordnung Nr. 22 über die Vollstreckung von durch einen Vollstreckungstitel festgestellten Forderungen gegenüber öffentlichen Einrichtungen) vom 30. Januar 2002 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 81 vom 1. Februar 2002) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: OG Nr. 22/2002) heißt es: „(1)   Durch einen Vollstreckungstitel festgestellte Forderungen gegen öffentliche Einrichtungen und Behörden werden mit Beträgen beglichen, die zu diesem Zweck in deren Haushalten oder, je nach Fall, in den Kostentiteln, in die die jeweilige Zahlungspflicht einzuordnen ist, bewilligt wurden. (2)   Durch einen Vollstreckungstitel festgestellte Forderungen gegen öffentliche Einrichtungen und Behörden dürfen nicht mit Beträgen beglichen werden, die im Haushalt zur Deckung der Kosten der laufenden Verwaltung einschließlich der Personalkosten zu dem Zweck bewilligt worden sind, die gesetzlichen Aufgaben und Ziele zu erfüllen, für die sie veranschlagt worden sind.“ 12 Art. 2 dieser Verordnung bestimmt: „Beginnt die Vollstreckung einer durch einen Vollstreckungstitel festgestellten Forderung wegen fehlender Mittel nicht oder wird sie aus diesem Grund nicht fortgesetzt, so ist die schuldnerische Einrichtung verpflichtet, innerhalb von 6 Monaten diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, damit sie ihrer Zahlungspflicht nachkommen kann. Diese Frist beginnt in dem Zeitpunkt, in dem der Schuldner auf Antrag des Gläubigers eine vom zuständigen Vollstreckungsorgan übermittelte Mahnung erhalten hat.“ 13 In Art. 3 der OG Nr. 22/2002 heißt es: „Kommt die öffentliche Einrichtung ihrer Zahlungspflicht innerhalb der Frist nach Abs. 2 nicht nach, so kann der Gläubiger die Zwangsvollstreckung nach der Zivilprozessordnung und/oder anderen auf diesem Gebiet anwendbaren Rechtsvorschriften betreiben.“ 14 Art. 101 des Ordinul ministrului finanţelor publice nr. 2336 pentru aprobarea Procedurii de punere în aplicare a titlurilor executorii în baza cărora se solicită înfiinţarea popririi conturilor autorităţilor şi instituţiilor publice deschise la nivelul unităţilor Trezoreriei Statului (Erlass Nr. 2336 des Finanzministers zur Annahme der Verfahren zur Durchsetzung von Vollstreckungstiteln, auf deren Grundlage die Pfändung von bei der Staatskasse eröffneten Konten staatlicher Behörden und Einrichtungen eingerichtet wird) vom 19. Juli 2011 mit späteren Änderungen und Ergänzungen (im Folgenden: Erlass Nr. 2336/2011) sieht vor: „(1)   Genehmigt der Richter die Pfändungsmaßnahme, so unterliegen der Vollstreckung nur die gepfändeten Beträge, über die der Schuldner verfügt oder die ihm ein Drittschuldner schuldet, aus denen die gegen die öffentlichen Einrichtungen und Behörden festgestellten Forderungen beglichen werden können, unbeschadet der Beschränkungen nach Art. 1 Abs. 2 der [OG] Nr. 22/2002 – genehmigt und ergänzt durch das Gesetz Nr. 288/2002 – mit späteren Änderungen und Ergänzungen. (2)   Für die Fälle nach Abs. 1 gilt das Verfahren zur Durchsetzung von Vollstreckungstiteln nach den Art. 1 bis 10 entsprechend.“ 15 Das Steuerverfahren wurde durch die OG Nr. 92/2003 eingeführt. 16 Art. 116 („Verrechnung“) bestimmt in seinen Abs. 1, 2, 4 und 6: „(1)   Forderungen des Staates sowie territorialer Verwaltungseinheiten und deren Untereinheiten, die Abgaben, Steuern, Beiträge oder andere gegenüber dem konsolidierten allgemeinen Haushalt geschuldete Beträge darstellen, erlöschen durch Verrechnung mit Forderungen des Schuldners, die zurückzuzahlende, zu erstattende oder aus dem Haushalt zu zahlende Beträge darstellen, und zwar bis zur Höhe der jeweils kleineren Beträge, wenn beide Parteien gegenseitig sowohl die Gläubiger- wie auch die Schuldnereigenschaft besitzen, vorausgesetzt, die betreffenden Forderungen werden von derselben öffentlichen Behörde, einschließlich deren untergeordneter Einheiten, verwaltet. (2)   Steuerforderungen des Schuldners werden mit gegenüber demselben Haushalt bestehen Verbindlichkeiten verrechnet; der verbleibende Betrag wird anschließend unter Beachtung der Bestimmungen von Abs. 1 anteilsmäßig mit den gegenüber anderen Haushalten bestehenden Verbindlichkeiten verrechnet. … (4)   Wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt, erfolgt die Verrechnung von Rechts wegen in dem Zeitpunkt, in dem die Forderungen gleichzeitig bestehen sowie einredefrei, bezifferbar und fällig sind. … (6)   Die Verrechnung wird von der Steuerbehörde auf Antrag des Schuldners oder von Amts wegen festgestellt …“ 17 Art. 24 („Durchführungspflicht“) Abs. 1 der Legea contenciosului administrativ nr. 554 (Gesetz Nr. 554 über Verwaltungsstreitsachen) vom 2. Dezember 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 1154 vom 7. Dezember 2004) in geänderter Fassung sieht vor: „Ist die staatliche Behörde aufgrund einer erfolgreichen Klage verpflichtet, einen Verwaltungsakt zu erlassen, zu ersetzen oder abzuändern, ein anderes Schriftstück zu erstellen oder bestimmte Verwaltungshandlungen vorzunehmen, erfolgt die Durchführung rechtskräftiger Entscheidungen freiwillig innerhalb der darin vorgesehenen Frist oder, wenn eine solche Frist nicht angegeben ist, innerhalb von längstens 30 Tagen von dem Zeitpunkt an, in dem die Entscheidung rechtskräftig geworden ist.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 18 Frau Câmpean ließ in Rumänien ein in Deutschland erworbenes Gebrauchtfahrzeug zu. Zum Zweck dieser Zulassung zahlte Frau Câmpean am 18. Januar 2012 einen Betrag von 2737 rumänischen Lei (RON) (ungefähr 615 Euro) nach der durch das Gesetz Nr. 9/2012 vorgesehenen Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen. 19 Mit einer am 21. Februar 2012 beim Tribunal Sibiu (Landgericht Sibiu, Rumänien) erhobenen Klage beantragte Frau Câmpean mit der Begründung, dass diese Steuer mit dem Unionsrecht unvereinbar sei, die Erstattung dieses Betrags sowie die Zahlung der dazugehörigen, bis zum tatsächlichen Zeitpunkt der Erstattung berechneten Zinsen. 20 Da das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Steuer mit dem Unionsrecht hatte, beschloss es mit Entscheidung vom 15. November 2012, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen. 21 Mit Beschluss vom 3. Februar 2014, Câmpean und Ciocoiu (C‑97/13 und C‑214/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:229) hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass Art. 110 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Steuer wie der vom Gesetz Nr. 9/2012 vorgesehenen Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen entgegensteht. Der Gerichtshof hat die Wirkungen seiner Entscheidung nicht zeitlich begrenzt. 22 Das vorlegende Gericht hat im Rahmen desselben Rechtsstreits ferner Zweifel im Hinblick auf die Vereinbarkeit der nach Erlass dieses Beschlusses des Gerichtshofs erlassenen nationalen Regelung über die Modalitäten für die Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuern, insbesondere des Art. XV der OUG Nr. 8/2014, mit dem Unionsrecht sowie mit bestimmten vom Europarat verabschiedeten Rechtsinstrumenten. 23 Diese Regelung sieht u. a. eine ratenweise Erstattung des zu Unrecht erhaltenen Betrags mit jährlichen Raten von 20 % der verlangten Gesamtsumme sowie der Zinsen und Gerichtskosten über einen Zeitraum von fünf Jahren vor. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts verstößt eine solche Regelung, da sie keine Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen innerhalb einer angemessenen Frist erlaube, u. a. gegen das Recht auf effektive Erstattung unrechtmäßig erhobener Steuern, gegen das Eigentumsrecht sowie gegen das Recht auf einen fairen Prozess. 24 Unter diesen Umständen hat das Tribunal Sibiu (Landgericht Sibiu) am 22. April 2014 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof eine erste Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. 25 In der Folge hat das vorlegende Gericht in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit das mündliche Verfahren wiedereröffnet. Bei dieser Gelegenheit machte die Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend, dass zum einen in Anbetracht des Inkrafttretens von Rechtsakten zur Umsetzung von Art. XV der OUG Nr. 8/2014 und zum anderen von Rechtsakten, die auf das Zwangsvollstreckungsverfahren gegen den Staat anwendbar seien, wenn dieser Art. XV nicht eingreife, eine Ergänzung des Vorabentscheidungsersuchens durch das vorlegende Gericht erforderlich sei. In der Erwägung, dass diese Rechtsakte eine Verzögerung der Erstattung zu Unrecht erhobener Steuern an die Einzelnen zur Folge hätten, ohne dass diese im Gegenzug die Möglichkeit hätten, eine Zwangsvollstreckung der Entscheidungen zu betreiben, mit denen ihre Forderungen festgestellt würden, hat das vorlegende Gericht seine erste Vorlagefrage um fünf weitere Fragen ergänzt. 26 Daher ist der Gerichtshof vom Tribunal Sibiu (Landgericht Sibiu) mit den folgenden Vorlagefragen befasst: 1. Können Art. 6 EUV, die Art. 17, 20 und 21 Abs. 1 sowie Art. 47 der Charta, der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellte Grundsatz der Erstattung der nach dem Unionsrecht verbotenen Abgaben, die Empfehlung Rec(2003)16 des Ministerkomitees des Europarats und die Entschließung 1787 (2011) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats dahin ausgelegt werden, dass sie einer Rechtsvorschrift wie Art. XV der OUG Nr. 8/2014 entgegenstehen? 2. Können die Vorschriften des Unionsrechts, die in der ersten Vorlagefrage angeführt sind sowie die Empfehlung Rec(2003)16 des Ministerkomitees des Europarats, die Entschließung 1787 (2011) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und die Empfehlung Nr. R (80) 2 des Ministerkomitees dahin ausgelegt werden, dass sie Rechtsvorschriften wie dem Erlass Nr. 365/741/2014, den Art. 1, 2 und 3 der OG Nr. 22/2002 und dem Erlass Nr. 2336/2011 entgegenstehen? 3. Können die genannten Vorschriften des Unionsrechts und die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom 22. Juni 1989, Costanzo, 103/88, EU:C:1989:256) dahin ausgelegt werden, dass die nationalen Verwaltungsstellen (im vorliegenden Fall der Steuer- und der Umweltverwaltung) auf dem Gebiet der Steuerverwaltung ergangene gerichtliche Entscheidungen von Amts wegen und unverzüglich durchführen müssen, ohne dass der Erstattungsberechtigte die Zwangsvollstreckung betreiben oder zusätzliche, vom schuldnerischen Beklagten vorgeschriebene Formalitäten beachten müsste? 4. Innerhalb welchen Zeitraums müssen die nationalen Verwaltungsstellen gerichtliche Entscheidungen auf dem Gebiet der Steuerverwaltung durchführen oder Forderungen von Erstattungsberechtigten mit anderen gegenseitigen Verbindlichkeiten, die Letztere gegenüber dem Staat haben, verrechnen, damit dies nach dem Unionsrecht „unverzüglich“ geschieht? 5. Kann das Unionsrecht dahin ausgelegt werden, dass Sanktionen wie die in Kapitel II Nr. 1 Buchst. b der Empfehlung Rec(2003)16 des Ministerkomitees des Europarats vorgesehenen (namentlich die Geldbuße nach Art. 24 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 554/2004 über Verwaltungsstreitsachen) auch im Fall der Nichterfüllung finanzieller Verpflichtungen der Verwaltung verhängt werden können, die durch gerichtliche Entscheidung festgestellt worden sind? 6. Welche Vermögensgegenstände können bei einer Zwangsvollstreckung aus gegen die öffentliche Verwaltung ergangenen gerichtlichen Entscheidungen der Pfändung nach Kapitel II Nr. 2 Buchst. d der Empfehlung Rec(2003)16 des Ministerkomitees des Europarats unterworfen werden? Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens 27 Die rumänische Regierung macht die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens insgesamt geltend, da die Beantwortung der Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nutzlos sei. Sie geht davon aus, dass sich diese Fragen auf die Modalitäten der Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung bezögen, die das vorlegende Gericht in diesem Rechtsstreit, dessen Gegenstand allein die Klage eines Einzelnen auf Erstattung einer vom Staat zu Unrecht erhobenen Steuer sei, erst zu treffen habe. Da das streitige Verfahren noch nicht beendet sei und mangels Darlegung, dass Frau Câmpean beim vorlegenden Gericht Sicherungsmaßnahmen im Hinblick auf die Vollstreckung der von ihm zu erlassenden Entscheidung beantragt habe, gebe es für dieses Gericht keine Veranlassung, die Frage nach den Modalitäten der Vollstreckung dieser Entscheidung aufzuwerfen. 28 Hilfsweise beruft sich die rumänische Regierung auf die teilweise Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, soweit sich bestimmte Vorlagefragen auf Instrumente des Europarats bezögen, die nicht zum Unionsrecht gehörten. 29 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Insbesondere ist es nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Systems der justiziellen Zusammenarbeit die Richtigkeit der Auslegung des nationalen Rechts durch das nationale Gericht zu überprüfen oder in Frage zu stellen, da diese Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit dieses Gerichts fällt. Der Gerichtshof hat demnach, wenn ihm ein nationales Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, von der Auslegung des nationalen Rechts auszugehen, die ihm dieses Gericht vorgetragen hat (vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 12 und 13 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Im Übrigen darf der Gerichtshof die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 21. Mai 2015, Verder LabTec, C‑657/13, EU:C:2015:331, Rn. 29, und vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Dem Vorbringen der rumänischen Regierung zu folgen, dass das vorlegende Gericht im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits nicht über die Modalitäten der Vollstreckung der Entscheidung befinden könnte, die es im Hinblick auf die von Frau Câmpean erhobene Klage auf Erstattung treffen werde, liefe im vorliegenden Fall auf eine Auslegung des nationalen Rechts hinaus, die in die ausschließliche Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt. 32 Aus der Vorlageentscheidung und ihrer Ergänzung ergibt sich nämlich eindeutig, dass das vorlegende Gericht von seiner Zuständigkeit für die Anwendung der Regelung über die Modalitäten der Vollstreckung der Sachentscheidung, die es zu treffen hat, in dem Verfahrensstadium ausgeht, in dem sich der bei ihm anhängige Rechtsstreit befindet. Ferner verweist Frau Câmpean in ihren Erklärungen darauf, dass sie bei diesem Gericht einen Antrag auf sofortige und unbedingte Vollstreckbarkeit der zu erlassenden Sachentscheidung und auf Nichtanwendung von Art. XV der OUG Nr. 8/2014 auf deren Vollstreckung gestellt habe. 33 Unter diesen Umständen und mangels anderer Gesichtspunkte, die die Annahme erlauben würden, dass die Antworten des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht zweckdienlich wären, kann die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit dieser Fragen, auf die in Rn. 29 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, im vorliegenden Fall nicht widerlegt werden. 34 Als Zweites ist zu dem Vorbringen, mit dem die rumänische Regierung die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens insoweit geltend macht, als es sich auf die Auslegung der in den Vorlagefragen genannten Rechtsinstrumente des Europarats bezieht, darauf hinzuweisen, dass sich die Befugnis des Gerichtshofs, im Wege der Vorabentscheidung Auslegungen vorzunehmen, wie sie sich aus Art. 267 AEUV ergibt, lediglich auf Rechtsvorschriften bezieht, die zum Unionsrecht gehören (Urteil vom 4. Mai 2010, TNT Express Nederland, C‑533/08, EU:C:2010:243, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung), was bei den Rechtsinstrumenten des Europarats, auf die sich das vorlegende Gericht in der ersten, der zweiten, der fünften und der sechsten Vorlagefrage bezieht, nicht der Fall ist. Der Gerichtshof ist daher für eine Entscheidung über diese Fragen nicht zuständig, soweit sie sich unmittelbar auf die Auslegung dieser Rechtsinstrumente beziehen. 35 Unter dem Vorbehalt der in der vorstehenden Randnummer vorgenommenen Klarstellung ist davon auszugehen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen zuständig ist, und das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig zu erklären. Zu den Vorlagefragen 36 Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung zur Erstattung von unionsrechtswidrig erhobenen Steuern zuzüglich Zinsen, deren Betrag durch vollstreckbare gerichtliche Entscheidungen festgestellt wurde, wie der Regelung in Art. XV der OUG Nr. 8/2014 und im Erlass Nr. 365/741/2014 oder, subsidiär, in den Art. 1 bis 3 der OG Nr. 22/2002 und in Art. 101 des Erlasses Nr. 2336/2011 entgegensteht. 37 Insoweit stellt der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Vorschriften des Unionsrechts erhoben hat, nach ständiger Rechtsprechung eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die dem Einzelnen aus den diesen Abgaben entgegenstehenden Bestimmungen des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben mit den dazugehörigen Zinsen zu erstatten (vgl. Urteil vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 24 und 25 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 38 In Ermangelung einer Unionsregelung zur Erstattung zu Unrecht erhobener nationaler Steuern ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache jedes Mitgliedstaats, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der den Steuerpflichtigen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen (vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, dürfen jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass ein Mitgliedstaat nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit keine Bestimmungen erlassen darf, die die Erstattung einer Abgabe, die durch ein Urteil des Gerichtshofs für unionsrechtswidrig erklärt worden ist oder deren Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht sich aus einem solchen Urteil ergibt, Voraussetzungen unterwerfen, die speziell diese Abgabe betreffen und die ungünstiger sind als diejenigen, die auf eine solche Erstattung anwendbar wären, wenn diese Bestimmung nicht erlassen worden wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. September 2002, Prisco und CASER, C‑216/99 und C‑222/99, EU:C:2002:472, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 2. Oktober 2003, Weber’s Wine World u. a., C‑147/01, EU:C:2003:533, Rn. 87). 41 Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind im Licht dieser Grundsätze zu prüfen. Zum Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit 42 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass Art. XV der OUG Nr. 8/2014 und der Erlass Nr. 365/741/2014, der Durchführungsbestimmungen für diesen Art. XV vorsieht, aus der Zeit nach dem Beschluss vom 3. Februar 2014, Câmpean und Ciocoiu (C‑97/13 und C‑214/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:229), stammen, in dem der Gerichtshof für Recht erkannt hat, dass Art. 110 AEUV einer Steuer wie der Steuer auf Schadstoffemissionen von Kraftfahrzeugen entgegensteht. Weiterhin ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass diese Regelung u. a. aufgrund der Schwierigkeiten erlassen wurde, die bei der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen über die Erstattung der Beträge der somit zu Unrecht erhobenen Steuer auftraten. Die Regelung bezweckt insoweit die Einführung spezieller Verfahrensmodalitäten für die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen mit einem solchen Verfahrensgegenstand. 43 Unter diesen Umständen und in Anbetracht der in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung obliegt dem vorlegenden Gericht die Prüfung, ob diese Verfahrensmodalitäten ungünstiger sind als diejenigen, die auf eine Erstattung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anwendbar wären, wenn diese Regelung nicht erlassen worden wäre. 44 Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ist daher dahin auszulegen, dass er dem Erlass von Bestimmungen durch einen Mitgliedstaat entgegensteht, die die Erstattung einer Abgabe, die durch ein Urteil des Gerichtshofs für unionsrechtswidrig erklärt wurde oder deren Unvereinbarkeit mit diesem Recht sich aus einem solchen Urteil ergibt, an Bedingungen knüpfen, die speziell diese Abgabe betreffen und die ungünstiger sind als diejenigen, die auf eine solche Erstattung anwendbar wären, wenn diese Bestimmungen nicht erlassen worden wären, was hier vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird. Zum Grundsatz der Äquivalenz 45 Nach ständiger Rechtsprechung umfasst der Grundsatz der Äquivalenz, dass die Mitgliedstaaten für Klagen auf Erstattung einer Steuer, mit denen ein Verstoß gegen das Unionsrecht gerügt wird, keine ungünstigeren Verfahrensmodalitäten vorsehen als diejenigen, die für in Anbetracht ihres Verfahrensgegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Gesichtspunkte entsprechende Klagen gelten, mit denen ein Verstoß gegen innerstaatliches Recht gerügt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Grundsätzlich ist es Sache des nationalen Richters, der eine unmittelbare Kenntnis der Verfahrensmodalitäten besitzt, die im innerstaatlichen Recht den Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, zu prüfen, ob diese Verfahrensmodalitäten dem Grundsatz der Äquivalenz entsprechen. Im Hinblick auf die vom nationalen Gericht vorzunehmende Beurteilung kann der Gerichtshof diesem jedoch Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben (vgl. Urteile vom 1. Dezember 1998, Levez, C‑326/96, EU:C:1998:577, Rn. 39 und 40, sowie vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a., C‑591/10, EU:C:2012:478, Rn. 31). 47 Aus Art. XV Abs. 1 der OUG Nr. 8/2014 ergibt sich, dass diese Bestimmung die Zahlungsmodalitäten für durch gerichtliche Entscheidungen festgesetzte Beträge über die Erstattung zu Unrecht erhobener Steuern, über die bis zum Zeitpunkt der vollständigen Zahlung berechneten Zinsen und über die Prozesskosten sowie für alle sonstigen von den Gerichten festgesetzten Beträge regeln soll. Dieser Art. XV sieht in seinen Abs. 1 bis 4 vor, dass die Zahlung dieser Beträge ratenweise über einen Zeitraum von fünf Jahren durch eine jährliche Zahlung von 20 % ihres Gesamtbetrags erfolgt, dass die Anträge auf Erstattung innerhalb von 45 Tagen nach ihrer Einreichung bearbeitet werden und dass alle Zwangsvollstreckungsverfahren während der in Art. XV Abs. 1 genannten Fünfjahresfrist ausgesetzt werden. 48 Nach Art. 3 des Erlasses Nr. 365/741/2014 werden die geschuldeten Beträge durch Mittel gedeckt, die von der Umweltsteuer aus dem Haushalt des Umweltfonds beglichen werden. Ferner sind den Erstattungsanträgen nach Anhang 1 Nr. 7 des Erlasses Nr. 365/741/2014 zum Zwecke der Prüfung bestimmte Unterlagen wie eine beglaubigte Abschrift des vollstreckbaren Urteils und das Ausweisdokument der natürlichen Person beizufügen. Anhang 1 Nr. 19 dieses Erlasses sieht vor, dass die zuständige Steuerbehörde bei der Zahlung jeder jährlichen Tranche eventuelle Erstattungen bearbeitet und sie unter Berücksichtigung aller im Namen des Zahlungsempfängers zum Fälligkeitszeitpunkt jeder Tranche bestehenden Steuerschulden auszahlt. 49 In ihren schriftlichen Erklärungen hat die rumänische Regierung zur Darlegung, dass diese Verfahrensmodalitäten denen entsprechen, die für gleichartige, auf einen Verstoß gegen nationales Recht gestützte Klagen gelten, das System der über fünf Jahre laufenden Ratenzahlung von Gehaltsansprüchen erläutert, die den Einzelnen nach innerstaatlichem Recht von der öffentlichen Verwaltung geschuldet werden. 50 Sie hat ferner geltend gemacht, dass die Frist von 45 Tagen, innerhalb deren ein Antrag auf Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung über die Erstattung zu Unrecht erhobener Steuern zu bearbeiten sei, der für die Bearbeitung von Anträgen auf Erstattung von Beträgen, die aus nationalen Haushaltsmitteln beglichen werden, allgemein anwendbaren Frist von 45 Tagen entspreche. 51 Für die Feststellung, ob die Anforderungen des Grundsatzes der Äquivalenz im Ausgangsverfahren gewahrt sind, obliegt dem vorlegenden Gericht in einem ersten Schritt die Prüfung, ob die Klagen, auf die diejenigen Verfahrensmodalitäten anwendbar sind, die nach Ansicht der rumänischen Regierung den in Art. XV der OUG Nr. 8/2014 und im Erlass Nr. 365/741/2014 vorgesehenen entsprechen, im Hinblick auf ihren Verfahrensgegenstand, ihren Rechtsgrund und ihre wesentlichen Gesichtspunkte einer Klage wie der des Ausgangsverfahrens, mit der ein Verstoß gegen Unionsrecht gerügt wird, entsprechen. 52 Dies scheint – wie auch der Generalanwalt in Nr. 34 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat – bei Klagen auf Erstattung von Gehaltsrückständen, die von der öffentlichen Verwaltung geschuldet werden, nicht der Fall zu sein, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird. 53 Nachdem es die nationale(n) Klage(n) bestimmt hat, die der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Klage, mit der ein Verstoß gegen Unionsrecht gerügt wird entspricht bzw. entsprechen, wird das vorlegende Gericht in einem zweiten Schritt festzustellen haben, ob die für solche nationalen Klagen geltenden Verfahrensmodalitäten nicht tatsächlich günstiger sind als die im Ausgangsverfahren nach Art. XV der OUG Nr. 8/2014 und dem Erlass Nr. 365/741/2014 anwendbaren. 54 Was schließlich die nationale Regelung betrifft, die nach Auffassung des vorlegenden Gerichts auf die bei ihm anhängige Rechtssache anwendbar wäre, wenn es davon auszugehen hätte, dass der Äquivalenzgrundsatz Art. XV der OUG Nr. 8/2014 und dem Erlass Nr. 365/741/2014, d. h. Art. 1 bis 3 der OG Nr. 22/2002 und Art. 101 des Erlasses Nr. 2336/2011, entgegensteht, ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte kein Anhaltspunkt für die Annahme, dass diese Regelung auf Rechtsstreitigkeiten, die sich auf das Unionsrecht stützen, in anderer Weise angewandt würde als auf entsprechende, auf nationales Recht gestützte Rechtsstreitigkeiten, so dass diese Regelung offenbar eine allgemein auf Verwaltungsstreitsachen anwendbare Regelung darstellt, was in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin des Ausgangsverfahrens auch bestätigt wurde. 55 In Anbetracht einiger von der Klägerin des Ausgangsverfahrens in ihren schriftlichen Erklärungen vorgebrachter Argumente, die in dem Sinne verstanden werden könnten, dass die Modalitäten der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen über aus der Unionsrechtsordnung hergeleitete Ansprüche unabhängig von der Art der Streitsache identisch sein müssten, ist im Übrigen zu betonen, dass die Beachtung des Grundsatzes der Äquivalenz eine Gleichbehandlung von Rechtbehelfen, mit denen ein Verstoß gegen nationales Recht gerügt wird, und entsprechenden Rechtsbehelfen, mit denen ein Verstoß gegen Unionsrecht gerügt wird, verlangt und nicht die Äquivalenz nationaler Verfahrensvorschriften, die für Rechtsstreitigkeiten unterschiedlicher Art oder aus unterschiedlichen Rechtsgebieten gelten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2015, Orizzonte Salute, C‑61/14, EU:C:2015:655, Rn. 67, sowie vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 56 Der Äquivalenzgrundsatz ist daher dahin auszulegen, dass er von einem Mitgliedstaat vorgesehenen Verfahrensmodalitäten entgegensteht, die für Klagen auf Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Abgabe weniger günstig ausgestaltet sind als die für entsprechende Klagen, mit denen ein Verstoß gegen innerstaatliches Recht gerügt wird. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, die erforderlichen Prüfungen durchzuführen, um im Hinblick auf die im bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwendbare Regelung die Beachtung dieses Grundsatzes zu gewährleisten. Zum Grundsatz der Effektivität 57 Zu den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes ist als Erstes zu prüfen, ob eine Regelung zur Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Steuer wie die in Art. XV der OUG Nr. 8/2014 und im Erlass Nr. 365/741/2014 vorgesehene die Ausübung der aus dem Unionsrecht hergeleiteten Rechte übermäßig erschwert oder praktisch unmöglich macht, wobei die Stellung der betreffenden Vorschriften im gesamten Verfahren, der Ablauf dieses Verfahrens und die Besonderheiten dieser Vorschriften vor den nationalen Stellen zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 48, sowie vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 36 und 37). 58 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Bürger, dem durch eine gerichtliche Entscheidung ein Anspruch auf Erstattung der streitigen Steuer zugesprochen wurde, sich in Anwendung dieser Regelung an die zuständige Behörde wenden muss, um einen Antrag auf Erstattung des nach dieser Steuer entrichteten Betrags zu stellen, dem die für die Ausführung der dieser Behörde nach dem Vollstreckungstitel obliegenden Verpflichtungen erforderlichen Unterlagen beizufügen sind. Entgegen dem, wovon die Klägerin des Ausgangsverfahrens offenbar ausgeht, scheint eine solche Anforderung als solche und in Ermangelung von Anhaltspunkten insbesondere zum Vorliegen möglicher Hindernisse, wie beispielsweise exorbitanter Kosten eines solchen Verfahrens, die Erstattung dieser Steuern nicht übermäßig zu erschweren, wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 44 und 45 seiner Schlussanträge ausgeführt hat. 59 Anders verhält es sich, wenn einem Bürger, der nach Abschluss eines Gerichtsverfahrens einen solchen Vollstreckungstitel erstritten hat und vor der zuständigen Behörde dessen Vollstreckung verlangt, in Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung eine Frist von fünf Jahren entgegengehalten wird, bevor er die vollständige Erstattung der geschuldeten Beträge erhält, was zur Folge hat, dass die rechtswidrige Situation aufrechterhalten wird, anstatt ihr schnellstmöglich abzuhelfen. 60 Im Übrigen hängt die Erstattung der geschuldeten Beträge nach Art. 3 des Erlasses Nr. 365/741/2014 und den Ausführungen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung von der Verfügbarkeit der aus einer Steuer auf Kraftfahrzeuge, nämlich der Umweltsteuer, eingenommenen Mittel ab. Da eine Zwangsvollstreckung nach allgemeinem Recht in Anwendung dieser Regelung während dieser Fünfjahresfrist ausgeschlossen ist, verfügt der Bürger insoweit über keinerlei Mittel, die zuständige Behörde zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu zwingen, wenn diese ihnen nicht mehr freiwillig nachkommt. 61 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass eine solche Regelung zur Erstattung von unionsrechtswidrig erhobenen Beträgen, mit den dazugehörigen Zinsen, deren Höhe durch vollstreckbare gerichtliche Entscheidung festgestellt wurde, den Bürger bei einer Gesamtbetrachtung in eine Situation der anhaltenden Ungewissheit über den Zeitpunkt bringt, zu dem er eine vollständige Erstattung der ohne Rechtsgrund entrichteten Steuer erhalten wird, ohne dass er über Mittel verfügte, die es ihm erlaubten, die Behörde zu zwingen, ihrer Verpflichtung nachzukommen, wenn sie diese – sei es wegen unzureichender Mittel, sei es aus anderen Gründen – nicht freiwillig erfüllt. 62 Daher erschwert eine Regelung zur Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Steuern wie die in Art. XV der OUG Nr. 8/2014 und im Erlass Nr. 365/741/2014 vorgesehene die Ausübung der aus der Unionsrechtsordnung hergeleiteten Rechte übermäßig und genügt nicht der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die volle Wirksamkeit solcher Rechte sicherzustellen. 63 Die rumänische Regierung beschränkt sich darauf, die Einführung dieser Regelung im Wesentlichen mit dem Vorliegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten und der institutionellen Blockade bei der unverzüglichen Durchsetzung vollstreckbarer gerichtlicher Entscheidungen über unionsrechtswidrig erhobene Steuern zu rechtfertigen. 64 Hierzu genügt jedoch der Hinweis, dass die Mitgliedstaaten, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht Steuern erhoben haben, nach der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung verpflichtet sind, diese zuzüglich Zinsen zurückzuzahlen. Insoweit kann, wie auch der Generalanwalt in Nr. 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht gestattet werden, dass sich ein Mitgliedstaat in seiner Eigenschaft als Schuldner in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens auf unzureichende Mittel berufen kann, um die Unmöglichkeit der Durchführung einer gerichtlichen Entscheidung zu rechtfertigen, die einem Bürger ein aus der Unionsrechtsordnung hergeleitetes Recht zuspricht. 65 Ebenso wenig kann die den Mitgliedstaaten zuerkannte Verfahrensautonomie hinsichtlich des Erlasses der Modalitäten des Verfahrens zur Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Steuern mit den dazugehörigen Zinsen so weit gehen, dass ihnen gestattet würde, die Ausübung solcher Rechte aus Gründen, die mit Schwierigkeiten der Umsetzung zusammenhängen, oder aus rein wirtschaftlichen Gründen praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. 66 Daraus folgt, dass der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung zur Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Steuern zuzüglich Zinsen, deren Höhe durch vollstreckbare gerichtliche Entscheidungen festgestellt wurde, wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die für die Erstattung dieser Steuern eine Ratenzahlung über fünf Jahre vorsieht und die Vollstreckung solcher Entscheidungen von der Verfügbarkeit der aus einer anderen Steuer eingenommenen Mittel abhängig macht, ohne dass der Bürger über eine Möglichkeit verfügt, die Behörden zu zwingen, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, wenn sie ihnen nicht freiwillig nachkommen. 67 Was als Zweites die Art. 1 bis 3 der OG Nr. 22/2002 und Art. 101 des Erlasses Nr. 2336/2011 betrifft, d. h. die Regelung, die nach Angaben des vorlegenden Gerichts auf die bei ihm anhängige Rechtssache anwendbar wäre, falls Art. XV der OUG Nr. 8/2014 und der Erlass Nr. 365/741/2014 nicht anwendbar wären, führt dieses Gericht ohne nähere Erläuterung aus, dass die Anwendung dieser Regelung die tatsächliche Erstattung der von der öffentlichen Verwaltung geschuldeten Beträge verzögern oder behindern würde. 68 Es steht jedoch fest, dass eine der öffentlichen Verwaltung für die freiwillige Erfüllung ihrer sich aus einem vollstreckbaren Titel ergebenden Verpflichtungen zugestandene Frist von sechs Monaten wie die in den Art. 2 und 3 der OG Nr. 22/2002 vorgesehene für sich allein genommen die Ausübung der den Bürgern aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte nicht übermäßig erschwert. Im Übrigen steht es den Bürgern frei, nach Ablauf dieser Frist ein Zwangsvollstreckungsverfahren gegen die schuldnerische Behörde einzuleiten, wenn diese ihren Verpflichtungen nicht innerhalb der für die freiwillige Erfüllung vorgeschriebenen Frist nachkommt. 69 Wenn eine nationale Regelung wie die Art. 1 bis 3 der OG Nr. 22/2002 und Art. 101 des Erlasses Nr. 2336/2011 allerdings – wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend gemacht hat – die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung über aus der Unionsrechtsordnung hergeleitete Ansprüche über die in den Art. 2 und 3 der OG Nr. 22/2002 vorgesehene Frist von sechs Monaten hinaus verlängert, und zwar schlicht deshalb, weil es in dem für die Erstattung solcher Beträge vorgesehenen Haushaltsposten an Mitteln fehlt, ohne dass der Bürger über eine Möglichkeit verfügt, die Behörden zu zwingen, ihren Verpflichtungen nachzukommen, sei es durch einen Antrag auf Pfändungsmaßnahmen oder durch andere, von der nationalen Rechtsordnung vorgesehene Mittel, um sicherzustellen, dass die Behörden ihren Verpflichtungen nachkommen, so kann eine solche Regelung den Anforderungen des Grundsatzes der Effektivität nicht genügen, da sie die Erstattung übermäßig erschweren oder praktisch unmöglich machen würde. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies im Ausgangsverfahren der Fall ist. 70 Ungeachtet der Anwendbarkeit der Bestimmungen der Charta auf eine Rechtslage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, da die Erstattung einer unter Verstoß gegen Art. 110 AEUV erhobenen Steuer den Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits bildet und die Mitgliedstaaten nach der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung verpflichtet sind, eine solche Steuer und die dazugehörigen Zinsen zu erstatten, sind die Fragen des vorlegenden Gerichts zu den Bestimmungen der Charta nicht zu prüfen, da die vorstehenden Gesichtspunkte diesem Gericht ermöglichen, den Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden. 71 Nach alledem ergibt sich Folgendes: — Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ist dahin auszulegen, dass er dem Erlass von Bestimmungen durch einen Mitgliedstaat entgegensteht, die die Erstattung einer Abgabe, die durch ein Urteil des Gerichtshofs für unionsrechtswidrig erklärt wurde oder deren Unvereinbarkeit mit diesem Recht sich aus einem solchen Urteil ergibt, an Bedingungen knüpft, die speziell diese Abgabe betreffen und die ungünstiger sind als diejenigen, die auf eine solche Erstattung anwendbar wären, wenn diese Bestimmungen nicht erlassen worden wären. Die Beachtung dieses Grundsatzes ist im vorliegenden Fall vom vorlegenden Gericht zu prüfen. — Der Äquivalenzgrundsatz ist dahin auszulegen, dass er von einem Mitgliedstaat vorgesehenen Verfahrensmodalitäten entgegensteht, die für Klagen auf Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Abgabe weniger günstig ausgestaltet sind als die für entsprechende Klagen, mit denen ein Verstoß gegen innerstaatliches Recht gerügt wird. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, die erforderlichen Prüfungen durchzuführen, um im Hinblick auf die im bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwendbare Regelung die Beachtung dieses Grundsatzes zu gewährleisten. — Der Effektivitätsgrundsatz ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung zur Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Steuern zuzüglich Zinsen, deren Höhe durch vollstreckbare gerichtliche Entscheidungen festgestellt wurde, wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die für die Erstattung dieser Steuern eine Ratenzahlung über fünf Jahre vorsieht und die Vollstreckung solcher Entscheidungen von der Verfügbarkeit der aus einer anderen Steuer eingenommenen Mittel abhängig macht, ohne dass der Bürger über eine Möglichkeit verfügt, die Behörden zu zwingen, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, wenn sie ihnen nicht freiwillig nachkommen. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob eine Regelung wie diejenige, die im Ausgangsverfahren bei Fehlen einer solchen Erstattungsregelung anwendbar wäre, den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes entspricht. Kosten 72 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ist dahin auszulegen, dass er dem Erlass von Bestimmungen durch einen Mitgliedstaat entgegensteht, die die Erstattung einer Abgabe, die durch ein Urteil des Gerichtshofs für unionsrechtswidrig erklärt wurde oder deren Unvereinbarkeit mit diesem Recht sich aus einem solchen Urteil ergibt, an Bedingungen knüpfen, die speziell diese Abgabe betreffen und die ungünstiger sind als diejenigen, die auf eine solche Erstattung anwendbar wären, wenn diese Bestimmungen nicht erlassen worden wären. Die Beachtung dieses Grundsatzes ist im vorliegenden Fall vom vorlegenden Gericht zu prüfen. Der Äquivalenzgrundsatz ist dahin auszulegen, dass er von einem Mitgliedstaat vorgesehenen Verfahrensmodalitäten entgegensteht, die für Klagen auf Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Abgabe weniger günstig ausgestaltet sind als die für entsprechende Klagen, mit denen ein Verstoß gegen innerstaatliches Recht gerügt wird. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, die erforderlichen Prüfungen durchzuführen, um im Hinblick auf die im bei ihm anhängigen Rechtsstreit anwendbare Regelung die Beachtung dieses Grundsatzes zu gewährleisten. Der Effektivitätsgrundsatz ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung zur Erstattung unionsrechtswidrig erhobener Steuern zuzüglich Zinsen, deren Höhe durch vollstreckbare gerichtliche Entscheidungen festgestellt wurde, wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die für die Erstattung dieser Steuern eine Ratenzahlung über fünf Jahre vorsieht und die Vollstreckung solcher Entscheidungen von der Verfügbarkeit der aus einer anderen Steuer eingenommenen Mittel abhängig macht, ohne dass der Bürger über eine Möglichkeit verfügt, die Behörden zu zwingen, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, wenn sie ihnen nicht freiwillig nachkommen. Es obliegt dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob eine Regelung wie diejenige, die im Ausgangsverfahren bei Fehlen einer solchen Erstattungsregelung anwendbar wäre, den Anforderungen des Effektivitätsgrundsatzes entspricht. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
Urteil des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 2. Juni 2016.#ROZ-ŚWIT Zakład Produkcyjno-Handlowo-Usługowy Henryk Ciurko, Adam Pawłowski spółka jawna gegen Dyrektor Izby Celnej we Wrocławiu.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbrauchsteuern – Richtlinie 2003/96/EG – Gestaffelte Verbrauchsteuersätze für Kraftstoffe und Heizstoffe – Voraussetzung für die Anwendung des Steuersatzes für Heizstoffe – Vorlegung einer monatlichen Zusammenstellung der Erklärungen, denen zufolge die erworbenen Erzeugnisse für Heizzwecke bestimmt sind – Anwendung des Verbrauchsteuersatzes für Kraftstoffe bei Nichtvorlegung dieser Zusammenstellung – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-418/14.
62014CJ0418
ECLI:EU:C:2016:400
2016-06-02T00:00:00
Mengozzi, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62014CJ0418 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer) 2. Juni 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Verbrauchsteuern — Richtlinie 2003/96/EG — Gestaffelte Verbrauchsteuersätze für Kraftstoffe und Heizstoffe — Voraussetzung für die Anwendung des Steuersatzes für Heizstoffe — Vorlegung einer monatlichen Zusammenstellung der Erklärungen, denen zufolge die erworbenen Erzeugnisse für Heizzwecke bestimmt sind — Anwendung des Verbrauchsteuersatzes für Kraftstoffe bei Nichtvorlegung dieser Zusammenstellung — Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ In der Rechtssache C‑418/14 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Breslau, Polen) mit Entscheidung vom 4. Juni 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 5. September 2014, in dem Verfahren ROZ-ŚWIT Zakład Produkcyjno-Handlowo-Usługowy Henryk Ciurko, Adam Pawłowski spółka jawna gegen Dyrektor Izby Celnej we Wrocławiu erlässt DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter E. Juhász und C. Vajda (Berichterstatter), Generalanwalt: P. Mengozzi, Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Oktober 2015, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der ROZ-ŚWIT Zakład Produkcyjno-Handlowo-Usługowy Henryk Ciurko, Adam Pawłowski spółka jawna, vertreten durch K. Kocowski und S. Bogdański, adwokaci, — des Dyrektor Izby Celnej we Wrocławiu, vertreten durch W. Bronicki, E. Białas-Giejbatow und D. Kowalik als Bevollmächtigte im Beistand von J. Kaute, radca prawny, — der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und K. Maćkowska als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Owsiany-Hornung und F. Tomat als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 3, Art. 5 und Art. 21 Abs. 4 der Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom (ABl. 2003, L 283, S. 51) in der durch die Richtlinie 2004/75/EG des Rates vom 29. April 2004 (ABl. 2004, L 195, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2003/96) sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der ROZ‑ŚWIT Zakład Produkcyjno-Handlowo-Usługowy Henryk Ciurko, Adam Pawłowski spółka jawna (im Folgenden: ROZ‑ŚWIT) und dem Dyrektor Izby Celnej we Wrocławiu (Direktor der Zollkammer Breslau) wegen dessen Weigerung, ROZ‑ŚWIT bei nicht fristgerechter Vorlegung der monatlichen Zusammenstellung der Erklärungen, denen zufolge die erworbenen Erzeugnisse für Heizzwecke bestimmt sind (im Folgenden: Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber), den auf Heizstoffe anwendbaren Verbrauchsteuersatz zu gewähren. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Die Erwägungsgründe 3, 4, 9, 17 und 18 der Richtlinie 2003/96 lauten: „(3) Das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes und die Erreichung der Ziele der anderen Gemeinschaftspolitiken erfordern die Festsetzung von gemeinschaftlichen Mindeststeuerbeträgen für die meisten Energieerzeugnisse einschließlich elektrischen Stroms, Erdgas und Kohle. (4) Erhebliche Abweichungen zwischen den von den einzelnen Mitgliedstaaten vorgeschriebenen nationalen Energiesteuerbeträgen könnten sich als abträglich für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes erweisen. … (9) Den Mitgliedstaaten sollte die nötige Flexibilität für die Festlegung und die Durchführung von auf den jeweiligen nationalen Kontext abgestimmten politischen Maßnahmen eingeräumt werden. … (17) Je nach Verwendung der Energieerzeugnisse und des elektrischen Stroms sind unterschiedliche gemeinschaftliche Mindeststeuerbeträge festzusetzen. (18) Die zu bestimmten industriellen und gewerblichen Zwecken sowie als Heizstoff verwendeten Energieerzeugnisse werden in der Regel niedriger besteuert als die als Kraftstoff verwendeten Energieerzeugnisse.“ 4 Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 dieser Richtlinie sieht vor: „Zum Verbrauch als Heiz‑ oder Kraftstoff bestimmte oder als solche zum Verkauf angebotene bzw. verwendete andere Energieerzeugnisse als diejenigen, für die in dieser Richtlinie ein Steuerbetrag festgelegt wurde, werden je nach Verwendung zu dem für einen gleichwertigen Heiz‑ oder Kraftstoff erhobenen Steuersatz besteuert.“ 5 Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet wie folgt: „Die Steuerbeträge, die die Mitgliedstaaten für Energieerzeugnisse und elektrischen Strom nach Artikel 2 vorschreiben, dürfen die in dieser Richtlinie vorgesehenen Mindeststeuerbeträge nicht unterschreiten.“ 6 Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten können unter Steueraufsicht gestaffelte Steuersätze anwenden, soweit diese die in dieser Richtlinie vorgesehenen Mindeststeuerbeträge nicht unterschreiten und mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind, und zwar in den folgenden Fällen: — Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den gestaffelten Steuersätzen und der Qualität der Erzeugnisse; — die gestaffelten Steuersätze richten sich nach dem Verbrauch an elektrischem Strom und sonstigen Energieerzeugnissen, die als Heizstoff verwendet werden; — die Steuersätze gelten für den öffentlichen Personennahverkehr (einschließlich Taxis), die Müllabfuhr, die Streitkräfte und öffentliche Verwaltung, Menschen mit Behinderung oder Krankenwagen[;] — es wird bei den in den Artikeln 9 und 10 genannten Energieerzeugnissen bzw. dem elektrischen Strom zwischen betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung unterschieden.“ 7 Die Art. 7 bis 9 der Richtlinie 2003/96 sehen vor, dass für Kraftstoffe, für die Erzeugnisse, die als Kraftstoff zu industriellen und gewerblichen Zwecken verwendet werden, sowie für Heizstoffe die in Anhang I Tabellen A bis C dieser Richtlinie festgelegten Mindeststeuerbeträge gelten. 8 In den Art. 14 bis 19 dieser Richtlinie werden die uneingeschränkten oder eingeschränkten Steuerbefreiungen oder Steuerermäßigungen genannt, die die Mitgliedstaaten oder einige von ihnen unter den dort aufgestellten Voraussetzungen anwenden können oder müssen. 9 Art. 21 Abs. 4 dieser Richtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten können ferner vorsehen, dass die Steuer auf Energieerzeugnisse und elektrischen Strom entsteht, wenn festgestellt wird, dass eine Voraussetzung für den Endverbrauch, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften für die Gewährung eines ermäßigten Steuersatzes oder einer Steuerbefreiung vorgesehen ist, nicht oder nicht mehr erfüllt wird.“ Polnisches Recht 10 Art. 89 Abs. 1, 4, 5 und 14 bis 16 des Ustawa o podatku akcyzowym (Verbrauchsteuergesetz) vom 6. Dezember 2008 in geänderter Fassung (Dz. U. 2009, Nr. 3, Pos. 11, im Folgenden: Verbrauchsteuergesetz) bestimmt: „(1)   Die Verbrauchsteuersätze für Energieerzeugnisse betragen: … 10. für Heizöle mit den KN-Codes von 2710 19 51 bis 2710 19 69: a) bei deren Destillation 30 RHT oder mehr bei einer Temperatur von 350 Grad Celsius übergehen oder deren Dichte bei der Temperatur von 15 Grad Celsius unter 890 Kilogramm/Kubikmeter liegt und die gemäß den besonderen Vorschriften rot gefärbt und gekennzeichnet sind – 232,00 [polnische Zloty (PLN)]/1 000 Liter, b) die zu sonstigen Heizölen gehören und nicht gemäß den besonderen Vorschriften der Pflicht zur Färbung und Kennzeichnung unterliegen – 64,00 PLN/1 000 Kilogramm; … (4)   Im Falle: 1. der Verwendung der in Abs. 1 Nr. … 10 … genannten Erzeugnisse für den Antrieb von Verbrennungsmotoren, ihrer Verwendung, wenn sie die in besonderen Vorschriften bestimmten Bedingungen im Bereich einer ordnungsgemäßen Kennzeichnung und Färbung nicht erfüllen, sowie ihres Besitzes in einem Behälter, der an einen Kraftstoffmesser angeschlossen ist oder ihres Verkaufs aus einem solchen Behälter gilt entsprechend der Satz von 1822,00 PLN/1 000 Liter, und wenn ihre Dichte bei der Temperatur von 15 Grad Celsius gleich oder höher als 890 Kilogramm/Kubikmeter ist – der Satz von 2047,00 PLN/1 000 Kilogramm; … (5)   Der Verkäufer der in Abs. 1 Nr. … 10 … genannten verbrauchsteuerpflichtigen Waren, die nicht aufgrund ihrer Zweckbestimmung von der Verbrauchsteuer befreit sind, ist verpflichtet, bei ihrem Verkauf: 1. an juristische Personen, Organisationseinheiten ohne Rechtspersönlichkeit und natürliche Personen, die eine Wirtschaftstätigkeit ausüben, vom Erwerber eine Erklärung zu erlangen, dass die erworbenen Waren für Heizzwecke bestimmt sind oder als für Heizzwecke bestimmte Waren verkauft werden, wobei die Bestimmung für Heizzwecke zur Anwendung der in Abs. 1 Nr. … 10 … genannten Verbrauchsteuersätze berechtigt; 2. an natürliche Personen, die keine Wirtschaftstätigkeit ausüben, vom Erwerber eine Erklärung zu erlangen, dass die erworbenen Waren für Heizzwecke bestimmt sind, die zur Anwendung der in Abs. 1 Nr. … 10 … genannten Verbrauchsteuersätze berechtigt; diese Erklärung ist der Kopie des Kassenbons oder der Kopie eines anderen Verkaufsdokuments, das für den Erwerber ausgestellt worden ist, beizufügen, und falls dies nicht möglich ist, ist der Verkäufer verpflichtet, die Nummer und das Ausstellungsdatum des Dokuments, das diesen Verkauf bestätigt, in der Erklärung anzugeben. … (14)   Der Verkäufer der in Abs. 1 Nr. … 10 … genannten verbrauchsteuerpflichtigen Waren hat eine monatliche Zusammenstellung der in Abs. 5 genannten Erklärungen zu erstellen und diese dem zuständigen Leiter der Zollstelle bis zum 25. Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Verkauf erfolgt ist, zu übergeben; die Originalerklärungen hat der Verkäufer über einen Zeitraum von 5 Jahren, gerechnet ab Ende des Kalenderjahres, in dem sie erstellt worden sind, aufzubewahren und zwecks einer Kontrolle zur Verfügung zu stellen. (15)   Die monatliche Zusammenstellung der Erklärungen hat folgende Angaben zu enthalten: 1. bei dem in Abs. 14 genannten Verkäufer: a) den Vor- und Nachnamen oder den Firmennamen sowie die Anschrift des Sitzes oder des Wohnsitzes des Rechtssubjekts, das die Zusammenstellung übergibt, b) die Menge und die Art sowie die Zweckbestimmung der Waren, die die Erklärung betrifft, c) das Datum der Abgabe der Erklärung, d) das Datum und den Ort der Erstellung der Zusammenstellung sowie eine leserliche Unterschrift der die Zusammenstellung erstellenden Person, e) die Bestimmung der Anzahl der Heizgeräte, die im Besitz der Erwerber sind und deren Anzahl sich aus den von ihnen abgegebenen Erklärungen ergibt, f) den Ort (die Adresse), an dem sich die in den Erklärungen genannten Heizgeräte befinden, … (16)   Bei Nichterfüllung der in Abs. 5 bis 15 genannten Bedingungen wird der in Abs. 4 Nr. 1 genannte Verbrauchsteuersatz angewandt.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 11 Mit Entscheidung vom 23. Februar 2011 erließ der Naczelnik Urzędu Celnego we Wrocławiu (Leiter des Zollamts Breslau, Polen) einen Nachforderungsbescheid über eine Steuerschuld der ROZ‑ŚWIT im Bereich der Verbrauchsteuer. 12 Aus dieser Entscheidung geht hervor, dass in dem von den Steuerbehörden eingeleiteten Verfahren festgestellt wurde, dass ROZ‑ŚWIT im Zeitraum vom 1. März 2009 bis 31. Dezember 2009 eine Reihe von Verkäufen von Heizstoffen bestehend aus Leichtöl durchgeführt hatte. Es wurde festgestellt, dass diese Verkäufe überprüft worden waren und außer Zweifel stand, dass die Erwerber den Erwerb und den Verbrauch dieses Heizstoffs für Heizzwecke bestätigt hatten. ROZ‑ŚWIT hatte jedoch die Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber nach Art. 89 Abs. 14 des Verbrauchsteuergesetzes nicht fristgerecht vorgelegt. Daher wurde gemäß Art. 89 Abs. 16 der in Art. 89 Abs. 4 Nr. 1 dieses Gesetzes vorgesehene Verbrauchsteuersatz für Kraftstoffe angewandt. 13 ROZ-ŚWIT erhob beim Direktor der Zollkammer Breslau Einspruch gegen diese Entscheidung und machte geltend, die Unterlassung der Vorlegung der Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber sei nur ein formeller Fehler, während an der tatsächlichen Bestimmung des fraglichen Heizstoffs für Heizzwecke keine Zweifel bestünden. 14 Nach der Zurückweisung dieses Einspruchs erhob ROZ‑ŚWIT Klage beim Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Breslau, Polen). 15 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob, wenn ein Mitgliedstaat von dem in der Richtlinie 2003/96 vorgesehenen Recht Gebrauch gemacht hat, die Verbrauchsteuern für die Waren zu staffeln, die gemäß ihrer Verwendung in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, die Bestimmung in Art. 89 Abs. 16 des Verbrauchsteuergesetzes gegen diese Richtlinie verstoße, soweit sie aufgrund der Unterlassung der Vorlegung der Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber dazu führe, dass die Verbrauchsteuer für Kraftstoffe auf ein als Heizstoff verwendetes Erzeugnis angewandt werde. 16 Zudem hat das vorlegende Gericht Zweifel daran, dass die Pflicht zur Erstellung und Vorlegung einer solchen Zusammenstellung im Hinblick auf das verfolgte Ziel, nämlich die Verhinderung von Steuerhinterziehung und ‑vermeidung, verhältnismäßig sei. Es ist der Ansicht, dass diese Verpflichtung formeller und untergeordneter Art sei, da sie nur eine Vorabprüfung der Bestimmung der betreffenden Erzeugnisse zulasse. In diesem Zusammenhang führt es die Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der Mehrwertsteuer an. Danach muss zum einen der Vorsteuerabzug gewährt werden, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat (vgl. Urteil vom 12. Juli 2012, EMS-Bulgaria Transport, C‑284/11, EU:C:2012:458, Rn. 61 und 62); zum anderen geht das nationale Recht, das die Steuerbefreiung bei der Ausfuhr von der Einhaltung einer Frist für das Verlassen des Hoheitsgebiets abhängig macht, ohne die Erstattung der wegen Nichtbeachtung dieser Frist bereits entrichteten Mehrwertsteuer zu gestatten, obwohl der Steuerpflichtige den Beweis erbracht hat, dass die Ware das Zollgebiet der Union verlassen hat, über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und ‑vermeidung notwendig ist (vgl. Urteil vom 19. Dezember 2013, BDV Hungary Trading, C‑563/12, EU:C:2013:854, Rn. 39). 17 Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob die in Art. 89 Abs. 16 des Verbrauchsteuergesetzes vorgesehene Sanktion, wonach der Kraftstoffen vorbehaltene Verbrauchsteuersatz anzuwenden ist, wenn die Verpflichtung, fristgerecht eine Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber zu vorzulegen, nicht eingehalten wird, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Insbesondere zur Schwere des Verstoßes ist das Gericht der Ansicht, dass diese Sanktion nicht die Verhinderung von Steuerhinterziehungen zum Ziel habe, sondern allein die Nichteinhaltung dieser Verpflichtung erfasse und im Übrigen einen nicht unerheblichen Betrag darstelle. 18 Vor diesem Hintergrund hat der Wojewódzki Sąd Administracyjny we Wrocławiu (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Breslau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: Zu den Vorlagefragen 19 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2003/96 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer innerstaatlichen Regelung entgegenstehen, wonach zum einen die Verkäufer von Heizstoffen verpflichtet sind, fristgerecht eine monatliche Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber vorzulegen, denen zufolge die erworbenen Erzeugnisse für Heizzwecke bestimmt sind, und zum anderen bei nicht fristgerechter Vorlegung einer solchen Zusammenstellung der Verbrauchsteuersatz für Kraftstoffe auf den verkauften Heizstoff angewandt wird, obwohl festgestellt wurde, dass an der Bestimmung dieses Erzeugnisses für Heizzwecke keine Zweifel bestehen. 20 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze, zu denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zählt, Teil der Unionsrechtsordnung sind. Sie müssen daher von den Unionsorganen, aber auch von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Unionsrichtlinien übertragen, beachtet werden (vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteile vom 21. Februar 2008, Netto Supermarkt, C‑271/06, EU:C:2008:105, Rn. 18, und vom 10. September 2009, Plantanol, C‑201/08, EU:C:2009:539, Rn. 43). 21 Folglich muss eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit der insbesondere die Bestimmungen der Richtlinie 2003/96 in die Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats umgesetzt werden sollen, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Zur Verpflichtung, eine Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber vorzulegen 22 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber, deren Erstellung und Übergabe an die Zollstelle in Art. 89 Abs. 14 und 15 des Verbrauchsteuergesetzes vorgesehen ist, ein Instrument der Kontrolle darstellt, das die Verhinderung von Steuerhinterziehung und ‑vermeidung zum Ziel hat. 23 Da die Richtlinie 2003/96 weder einen bestimmten Mechanismus zur Kontrolle der Verwendung von Heizstoffen noch Maßnahmen zur Bekämpfung der mit dem Verkauf von Heizstoffen verbundenen Steuerhinterziehung näher erläutert, obliegt es den Mitgliedstaaten, unter Beachtung des Unionsrechts in ihrem nationalen Recht solche Mechanismen und Maßnahmen vorzusehen. Insoweit geht aus dem neunten Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervor, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung und der Durchführung von auf den jeweiligen nationalen Kontext abgestimmten politischen Maßnahmen über einen Gestaltungsspielraum verfügen. 24 Was die Verhältnismäßigkeit der Verpflichtung angeht, eine Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber vorzulegen, verweist das vorlegende Gericht auf Entscheidungen des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) sowie bestimmter polnischer Verwaltungsgerichte, wonach eine solche Zusammenstellung die Steuerbehörde über die Durchführung eines begünstigten Verkaufs von Heizstoffen sowie den Ort und die vorgesehene Art der Verwendung informiert. Mit der Zusammenstellung können zudem die in ihr enthaltenen Angaben vorab geprüft und daher Steuerhinterziehungen identifiziert und ermittelt werden. 25 Unter Berücksichtigung des Ermessensspielraums, über den die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die zu erlassenden Maßnahmen und Mechanismen zur Verhinderung der mit dem Verkauf des Heizstoffs verbundenen Steuerhinterziehung und ‑vermeidung verfügen, und da eine Verpflichtung zur Vorlegung einer Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber bei den zuständigen Behörden nicht offensichtlich unverhältnismäßig ist, ist davon auszugehen, dass eine solche Verpflichtung eine geeignete Maßnahme zur Erreichung dieses Ziels ist und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. 26 Die Richtlinie 2003/96 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind daher dahin auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Regelung nicht entgegenstehen, wonach die Verkäufer von Heizstoffen verpflichtet sind, fristgerecht eine monatliche Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber vorzulegen, denen zufolge die erworbenen Erzeugnisse für Heizzwecke bestimmt sind. Zur Anwendung des Verbrauchsteuersatzes für Kraftstoffe im Fall der Nichteinhaltung der Verpflichtung, eine Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber vorzulegen 27 Gemäß Art. 89 Abs. 16 des Verbrauchsteuergesetzes führt die Nichteinhaltung der Verpflichtung, fristgerecht eine Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber zu erstellen und zu übergeben, zur Anwendung des Verbrauchsteuersatzes für Kraftstoffe auf den verkauften Heizstoff, unabhängig von dessen tatsächlicher Verwendung. 28 Was erstens die Vereinbarkeit einer solchen Folge mit der Richtlinie 2003/96 angeht, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die vom vorlegenden Gericht in seiner ersten Frage genannten Bestimmungen dieser Richtlinie für das Ausgangsverfahren nicht unmittelbar relevant sind. Zunächst betrifft Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 dieser Richtlinie nämlich „andere Energieerzeugnisse als diejenigen, für die in dieser Richtlinie ein Steuerbetrag festgelegt wurde“, während sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, dass der Steuerbetrag des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Erzeugnisses in der Richtlinie 2003/96 klargestellt wird. 29 Sodann sieht Art. 5 dieser Richtlinie gestaffelte Steuersätze in bestimmten Fällen vor, die in diesem Artikel abschließend aufgezählt werden, nämlich wenn ein Zusammenhang mit der Qualität der Erzeugnisse besteht, wenn sie sich nach dem Verbrauch richten, wenn die Erzeugnisse in bestimmten öffentlichen Bereichen verwendet werden oder auch wenn diese Steuersätze zwischen betrieblicher und nicht betrieblicher Verwendung unterscheiden. Dieser Artikel betrifft daher nicht die unterschiedliche Verwendung von Kraftstoff und Heizstoff. 30 Art. 21 Abs. 4 der Richtlinie 2003/96 betrifft schließlich die Voraussetzungen, die mit der Anwendung von Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen im Sinne der Art. 14 bis 19 dieser Richtlinie verbunden sind. 31 Hingegen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die allgemeine Systematik der Richtlinie 2003/96 auf einer klaren Unterscheidung zwischen Kraft‑ und Heizstoffen insbesondere nach dem Kriterium der Verwendung beruht. Die mit den Erwägungsgründen 17 und 18 dieser Richtlinie eingeführte Unterscheidung zwischen Kraft- und Heizstoffen wird u. a. durch die Art. 7 bis 9 der Richtlinie umgesetzt, die die Modalitäten für die Festlegung der Mindeststeuerbeträge für Heizstoffe auf der einen und für Erzeugnisse, die zu industriellen oder gewerblichen Zwecken als Kraftstoff verwendet werden, auf der anderen Seite betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. April 2014, Kronos Titan und Rhein-Ruhr Beschichtungs-Service, C‑43/13 und C‑44/13, EU:C:2014:216, Rn. 28). 32 Weiterhin erfordert den Erwägungsgründen 3 und 4 dieser Richtlinie zufolge das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts die Festsetzung von Mindeststeuerbeträgen der Union für die meisten Energieerzeugnisse, und erhebliche Abweichungen zwischen den von den einzelnen Mitgliedstaaten vorgeschriebenen nationalen Energiesteuerbeträgen könnten sich als abträglich für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erweisen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Festlegung von Mindeststeuerbeträgen für Erzeugnisse nach ihrer Verwendung als Kraftstoff oder als Heizstoff zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beiträgt, indem sie es ermöglicht, etwaige Verzerrungen des Wettbewerbs zwischen Erzeugnissen mit demselben Verwendungszweck zu vermeiden. 33 Daraus folgt, dass sowohl die Systematik als auch der Zweck der Richtlinie 2003/96 auf dem Grundsatz beruhen, wonach die Energieerzeugnisse nach ihrer tatsächlichen Verwendung besteuert werden. 34 Folglich läuft eine nationale Rechtsvorschrift wie Art. 89 Abs. 16 des Verbrauchsteuergesetzes, der zufolge bei nicht fristgerechter Vorlegung einer Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber auf Heizstoffe automatisch der Verbrauchsteuersatz für Kraftstoffe angewandt wird, selbst wenn, wie im Ausgangsverfahren festgestellt wurde, die Heizstoffe als solche verwendet werden, der Systematik und dem Zweck der Richtlinie 2003/96 zuwider. 35 Zweitens verstößt eine solche automatische Anwendung des Verbrauchsteuersatzes für Kraftstoffe im Fall der Nichteinhaltung der Verpflichtung zur Vorlegung dieser Zusammenstellung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 36 Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass im Ausgangsverfahren festgestellt wurde, dass die von ROZ‑ŚWIT durchgeführten Verkäufe von Heizstoff überprüft wurden und außer Zweifel steht, dass die Erwerber den Erwerb und den Verbrauch dieses Heizstoffs für Heizzwecke bestätigt hatten. Zudem enthalten die Akten keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese Verkäufe mit dem Ziel durchgeführt wurden, den ermäßigten Verbrauchsteuersatz für zu Heizzwecken bestimmte Heizstoffe in betrügerischer Absicht in Anspruch zu nehmen. 37 Trotz dieser Feststellung haben die zuständigen Behörden jedoch den Verbrauchsteuersatz für Kraftstoffe gemäß Art. 89 Abs. 16 des Verbrauchsteuergesetzes auf die verkauften Heizstoffe angewandt. 38 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich insoweit, dass der auf Kraftstoffe anwendbare Verbrauchsteuersatz in Polen mehr als das Achtfache des Verbrauchsteuersatzes für Heizstoffe betragen kann. 39 Unter diesen Umständen geht die Anwendung des Verbrauchsteuersatzes für Kraftstoffe auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Heizstoffe aufgrund einer Verletzung der im nationalen Recht vorgeschriebenen Verpflichtung, fristgerecht eine Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber vorzulegen, wenn festgestellt wurde, dass im Hinblick auf die Bestimmung dieser Erzeugnisse zu Heizzwecken keine Zweifel bestehen, über das hinaus, was erforderlich ist, um Steuerhinterziehung und ‑vermeidung zu verhindern (vgl. entsprechend Urteil vom 27. September 2007, Collée, C‑146/05, EU:C:2007:549, Rn. 29). 40 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass einen Mitgliedstaat nichts daran hindert, für die Verletzung einer Verpflichtung wie der, den zuständigen Behörden eine Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber des verkauften Heizstoffs vorzulegen, die Verhängung einer Geldbuße vorzusehen. Die Befugnis eines Mitgliedstaats zur Verhängung einer solchen Sanktion muss unter Beachtung des Unionsrechts und seiner allgemeinen Grundsätze, einschließlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, ausgeübt werden. Bei der Beurteilung, ob diese Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, ist es Sache der nationalen Gerichte, u. a. die Art und die Schwere des Verstoßes, der mit dieser Sanktion bestraft werden soll, sowie die Methoden für die Bestimmung der Höhe dieser Sanktion zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Juli 2012, Rēdlihs, C‑263/11, EU:C:2012:497, Rn. 44 bis 47). 41 Folglich sind die Richtlinie 2003/96 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Regelung entgegenstehen, wonach bei nicht fristgerechter Vorlegung einer monatlichen Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber der Verbrauchsteuersatz für Kraftstoffe auf den verkauften Heizstoff angewandt wird, obwohl festgestellt wurde, dass an der Bestimmung dieses Erzeugnisses für Heizzwecke keine Zweifel bestehen. 42 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Richtlinie 2003/96 und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass — sie einer innerstaatlichen Regelung nicht entgegenstehen, wonach die Verkäufer von Heizstoffen verpflichtet sind, fristgerecht eine monatliche Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber vorzulegen, denen zufolge die erworbenen Erzeugnisse für Heizzwecke bestimmt sind, und — sie einer innerstaatlichen Regelung entgegenstehen, wonach bei nicht fristgerechter Vorlegung einer solchen Zusammenstellung der Verbrauchsteuersatz für Kraftstoffe auf den verkauften Heizstoff angewandt wird, obwohl festgestellt wurde, dass an der Bestimmung dieses Erzeugnisses für Heizzwecke keine Zweifel bestehen. Kosten 43 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt: Die Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27. Oktober 2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom in der durch die Richtlinie 2004/75/EG des Rates vom 29. April 2004 geänderten Fassung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass — sie einer innerstaatlichen Regelung nicht entgegenstehen, wonach die Verkäufer von Heizstoffen verpflichtet sind, fristgerecht eine monatliche Zusammenstellung der Erklärungen der Erwerber vorzulegen, denen zufolge die erworbenen Erzeugnisse für Heizzwecke bestimmt sind, und — sie einer innerstaatlichen Regelung entgegenstehen, wonach bei nicht fristgerechter Vorlegung einer solchen Zusammenstellung der Verbrauchsteuersatz für Kraftstoffe auf den verkauften Heizstoff angewandt wird, obwohl festgestellt wurde, dass an der Bestimmung dieses Erzeugnisses für Heizzwecke keine Zweifel bestehen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 2. Juni 2016.#Kapnoviomichania Karelia AE gegen Ypourgos Oikonomikon.#Vorabentscheidungsersuchen des Symvoulio tis Epikrateias.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Verbrauchsteuern – Richtlinie 92/12/EWG – Tabakwaren, die unter Steueraussetzung befördert werden – Haftung des zugelassenen Lagerinhabers – Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, den zugelassenen Lagerinhaber gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Beträge haftbar zu machen, die den gegen Schmuggler verhängten finanziellen Sanktionen entsprechen – Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit.#Rechtssache C-81/15.
62015CJ0081
ECLI:EU:C:2016:398
2016-06-02T00:00:00
Gerichtshof, Bot
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62015CJ0081 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) 2. Juni 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Steuerwesen — Verbrauchsteuern — Richtlinie 92/12/EWG — Tabakwaren, die unter Steueraussetzung befördert werden — Haftung des zugelassenen Lagerinhabers — Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, den zugelassenen Lagerinhaber gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Beträge haftbar zu machen, die den gegen Schmuggler verhängten finanziellen Sanktionen entsprechen — Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit“ In der Rechtssache C‑81/15 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat, Griechenland), mit Entscheidung vom 21. Januar 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Februar 2015, in dem Verfahren Kapnoviomichania Karelia AE gegen Ypourgos Oikonomikon erlässt DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter C. G. Fernlund (Berichterstatter) und S. Rodin, Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der Kapnoviomichania Karelia AE, vertreten durch V. Antonopoulos, dikigoros, — der griechischen Regierung, vertreten durch K. Paraskevopoulou, K. Nasopoulou und S. Lekkou als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Tomat und D. Triantafyllou als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Januar 2016 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. 1992, L 76, S. 1) in der durch die Richtlinie 92/108/EWG des Rates vom 14. Dezember 1992 (ABl. 1992, L 390, S. 124) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 92/12). 2 Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Kapnoviomichania Karelia AE (im Folgenden: Karelia) und dem Ypourgos Oikonomikon (Finanzministerium, Griechenland) über einen Abgabenbescheid, mit dem Karelia wegen eines Schmuggels als Gesamtschuldnerin für Steuern und Abgaben haftbar gemacht wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Die Art. 1 und 3 der Richtlinie 92/12 bestimmten, dass diese Richtlinie „die Verbrauchsteuern und die anderen indirekten Steuern, die unmittelbar oder mittelbar auf den Verbrauch von Waren erhoben werden, mit Ausnahme der Mehrwertsteuer und der von der Gemeinschaft festgelegten Abgaben“ regelt und „auf Gemeinschaftsebene Anwendung auf … Tabakwaren“ findet. 4 In Art. 4 dieser Richtlinie war der Begriff „zugelassener Lagerinhaber“ definiert als „die natürliche oder juristische Person, die von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats ermächtigt wurde, in Ausübung ihres Berufs unter Steueraussetzung verbrauchsteuerpflichtige Waren in einem Steuerlager herzustellen, zu bearbeiten, zu lagern, zu empfangen und zu versenden“. 5 Nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie galten verbrauchsteuerpflichtige Waren als unter Steueraussetzung stehend, wenn ihr Herkunfts- oder Bestimmungsort in einem Drittland lag und sie sich in einem anderen gemeinschaftlichen Zollverfahren als dem der Abfertigung zum freien Verkehr befanden. 6 Gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie entstand die „Verbrauchsteuer … mit der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr“, wozu „jede – auch unrechtmäßige – Entnahme der Ware aus dem Verfahren der Steueraussetzung“ gehörte. 7 Nach Art. 13 der Richtlinie 92/12 musste der zugelassene Lagerinhaber u. a. „eine Sicherheit in Bezug auf die Beförderung nach näherer Bestimmung der Steuerbehörden des Mitgliedstaats, in dem er zugelassen worden ist, sowie gegebenenfalls eine Sicherheit in Bezug auf die Herstellung, die Verarbeitung und die Lagerung leisten“. 8 Art. 15 Abs. 3 und 4 dieser Richtlinie bestimmte: „(3)   Die mit der innergemeinschaftlichen Warenbeförderung verbundenen Risiken werden von der Sicherheitsleistung gemäß Artikel 13, die der zugelassene Lagerinhaber als Versender gestellt hat, und gegebenenfalls durch eine gesamtschuldnerische Sicherheitsleistung des Versenders und des Beförderers gedeckt. Die Mitgliedstaaten können gegebenenfalls vom Empfänger eine Sicherheitsleistung verlangen. Die Einzelheiten der Sicherheitsleistung werden von den Mitgliedstaaten geregelt. Die Sicherheitsleistung muss für die gesamte Gemeinschaft gültig sein. (4)   Unbeschadet des Artikels 20 können der zugelassene Lagerinhaber als Versender und gegebenenfalls der Beförderer erst dann aus ihrer Verantwortung entlassen werden, wenn der Nachweis dafür vorliegt, dass der Empfänger die Waren übernommen hat, insbesondere mittels des … Begleitdokuments …“. 9 In Art. 20 Abs. 1 und 3 der Richtlinie hieß es: „(1)   Wurde während des Verfahrens der Steueraussetzung eine Zuwiderhandlung oder Unregelmäßigkeit begangen, aufgrund derer eine Verbrauchsteuer entsteht, so wird die Verbrauchsteuer in dem Mitgliedstaat, in dem die Unregelmäßigkeit oder die Zuwiderhandlung begangen wurde, ungeachtet einer etwaigen Strafverfolgung von der natürlichen oder juristischen Person geschuldet, die gemäß Artikel 15 Absatz 3 eine Sicherheit für die Zahlung der Verbrauchsteuern geleistet hat. … (3)   … Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um Zuwiderhandlungen oder Unregelmäßigkeiten zu begegnen und wirksame Sanktionen zu verhängen.“ Griechisches Recht 10 Die Richtlinie 92/12 wurde mit dem Gesetz 2127/1993 über die Harmonisierung der Steuerregelung für Mineralöle, Alkohol und alkoholische Getränke, Tabakwaren und anderer Bestimmungen mit dem Gemeinschaftsrecht (FEK A’ 48) in das griechische Recht umgesetzt. In diesem Gesetz waren zum im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt neben dem Verbrauchsteuersystem und dem Zeitpunkt der Entstehung des Steueranspruchs auch die Fragen zum Nichterhebungsverfahren des Steuerlagers und zum zugelassenen Lagerinhaber geregelt. 11 Nach Art. 11 Abs. 3 dieses Gesetzes haftet der zugelassene Lagerinhaber „dem Staat gegenüber für die Steuern auf die Waren“ und „auch für Handlungen, die die zuständige Behörde gegebenenfalls den Lageristen in [seinen] Lagern vorwirft“. 12 Nach Art. 67 Abs. 5 des Gesetzes werden „[j]ede Umgehung oder versuchte Umgehung der Zahlung der geschuldeten Verbrauchsteuern und sonstigen Abgaben sowie die Nichteinhaltung der gesetzlich vorgesehenen Förmlichkeiten mit dem Ziel, die genannten Verbrauchsteuern und sonstigen Abgaben nicht zu zahlen, … als Schmuggel im Sinne der Vorschriften der Art. 89 ff. des Gesetzes 1165/1918 über das Zollgesetzbuch (im Folgenden: Zollgesetzbuch) angesehen; diese Handlungen werden mit einer in diesen Vorschriften vorgesehenen erhöhten Abgabe belegt, auch wenn die zuständige Behörde feststellt, dass die Merkmale des Straftatbestands des Schmuggels nicht erfüllt sind“. 13 Art. 97 Abs. 3 des Zollgesetzbuchs sieht vor, dass „zulasten derjenigen, die an dem Zollvergehen im Sinne von Art. 89 Abs. 2 dieses Gesetzbuchs beteiligt waren, … im Verhältnis zum Grad ihrer jeweiligen Beteiligung und unabhängig von der strafrechtlichen Verfolgung, der sie unterliegen, gesamtschuldnerisch eine erhöhte Abgabe in doppelter bis zehnfacher Höhe der auf den Gegenstand des Vergehens erhobenen Verbrauchsteuern und sonstigen Abgaben erhoben“ wird. Gemäß Art. 97 Abs. 5 des Zollgesetzbuchs „erstellt und erlässt der … Direktor der zuständigen Zollstelle so schnell wie möglich einen mit Gründen versehenen Akt, mit dem er die nach dem Zollgesetzbuch Verantwortlichen entlastet bzw. benennt, bestimmt den Grad der Verantwortlichkeit jedes Einzelnen sowie die hinsichtlich der Schmuggelware geschuldeten oder entgangenen Zölle und anderen Abgaben und zieht die erhöhte Abgabe im Sinne dieses Artikels und die gegebenenfalls entgangenen Zölle und anderen Abgaben ein“. 14 Art. 99 Abs. 2 des Zollgesetzbuchs bestimmt, dass die „fehlende Kenntnis der zivilrechtlich mitverantwortlichen Personen von der Absicht der Haupttäter, das Vergehen zu begehen, diese Personen nicht von ihrer Haftung befreit“. 15 Art. 108 des Zollgesetzbuchs sieht vor: „Das Strafgericht, das über die Anklage wegen Schmuggels befindet, kann in seinem Strafurteil feststellen, dass der Eigentümer oder der Empfänger der Schmuggelware mit dem Verurteilten zivilrechtlich als Gesamtschuldner für die Zahlung der verhängten Geldbuße, der Kosten und des Betrags, der dem als Nebenkläger auftretenden Staat auf dessen Antrag zugesprochen wurde, haftet; dies gilt auch dann, wenn gegen den Mitverantwortlichen kein Strafverfahren durchgeführt wird, sofern der Verurteilte über die Schmuggelware als Bevollmächtigter, Verwalter oder Vertreter des Eigentümers oder des Empfängers verfügt hat, unabhängig davon, wie der Auftrag rechtlich gestaltet ist oder verschleiert wird; es kommt demnach nicht darauf an, ob der Auftragnehmer in eigenem Namen handelt …, ob er sich als Eigentümer der Waren oder als in einer sonstigen rechtlichen Beziehung zu diesen Waren stehend ausgibt oder ob es sich bei der tatsächlichen Vertretung des Eigentümers um eine besondere oder allgemeine Vertretung handelt, es sei denn, es wird nachgewiesen, dass die vorgenannten Personen nicht wissen konnten, dass möglicherweise Schmuggel begangen würde.“ 16 Art. 109 des Zollgesetzbuchs bestimmt: „Das Strafgericht kann auch feststellen, dass außer dem Eigentümer und dem Empfänger der Schmuggelware im Sinne des vorstehenden Artikels die Eigentümer von Schiffen, Booten, Kraftwagen und Karren, die Land‑, See‑ und Luftverkehrsunternehmen sowie die Vermittler und Vertreter – unabhängig von ihrer Eigenschaft oder Bezeichnung – dieser Unternehmen oder der Eigentümer von Schiffen, Booten, Kraftwagen, Karren und Flugzeugen sowie die Leiter von Hotels, Gasthäusern, Cafés und sonstigen öffentlich zugänglichen Geschäftsräumen, auch wenn sie für den Schmuggel nicht strafrechtlich verantwortlich sind, zivilrechtlich als Gesamtschuldner für die Zahlung der verhängten Geldbuße, der Kosten und des Betrags, der dem als Nebenkläger auftretenden Staat auf dessen Antrag zugesprochen wurde, haften, wenn der Schmuggel in oder mit diesen Beförderungsmitteln oder in diesen Geschäftsräumen oder durch deren Nutzung zur Begehung des Schmuggels oder als Versteck für die Schmuggelware begangen wurde, es sei denn, es wird nachgewiesen, dass die vorgenannten Personen nicht wissen konnten, dass möglicherweise Schmuggel begangen würde.“ Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage 17 Karelia ist eine griechische Gesellschaft, die in der Produktion von Tabakwaren tätig und als Lagerinhaberin zugelassen ist. Zu dem im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt beabsichtigte sie, Tabakwaren, die sich in einem Nichterhebungsverfahren befanden, nach Bulgarien auszuführen, das damals noch nicht Mitglied der Europäischen Union war. 18 Den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen zufolge reichte Karelia am 9. Juni 1994, nachdem sie von der Bulgakommerz Ltd eine Bestellung über 760 Kartons Zigaretten erhalten hatte, bei der zuständigen Zollstelle eine Ausfuhranmeldung ein. 19 Diese Ladung gelangte jedoch nie an ihren Bestimmungsort. Die von der Zollbehörde durchgeführte Untersuchung ergab, dass der für den Transport der Ladung bestimmte Lastkraftwagen leer nach Bulgarien gefahren und die Ladung in einen anderen Lastkraftwagen umgeladen worden war. Im Lauf der Untersuchung erklärte der Exportabteilungsleiter von Karelia, dass er nach der Bestellung einen dem Warenwert entsprechenden Betrag erhalten habe, den er auf ein Bankkonto der Karelia in Griechenland eingezahlt habe. Der Generaldirektor von Karelia gab an, dass er nicht wisse, ob Bulgakommerz tatsächlich existiere, und jeder Versuch einer Identifizierung dieses Unternehmens in Bulgarien vergeblich gewesen wäre. 20 Da der Nachweis der Ausfuhr der im Ausgangsverfahren fraglichen Ladung nicht erbracht worden war, wurde die Bankgarantie, die Karelia zur Deckung der Verbrauchsteuern geleistet hatte, nämlich 114726750 griechische Drachmen (GRD) (336688,92 Euro), einbehalten. 21 Anschließend erließen die Zollbehörden einen Abgabenbescheid hinsichtlich des Schmuggels der 760 Kartons Zigaretten, mit dem sie u. a. die Personen, die im Namen von Bulgakommerz die Bestellung der Zigaretten beim Exportabteilungsleiter von Karelia aufgegeben hatten, zu gemeinschaftlichen Tätern des Schmuggels erklärten. Diesen Tätern wurden die erhöhte Abgabe von insgesamt 573633750 GRD (1683444,60 Euro) und die erhöhte Verbrauchsteuer von 9880000 GRD (28994,86 Euro) auferlegt. In demselben Bescheid wurde festgestellt, dass Karelia zivilrechtlich als Gesamtschuldnerin für diese Beträge hafte. 22 Der von Karelia gegen den Abgabenbescheid erhobenen Klage gab das Dioikitiko Protodikeio Peiraia (erstinstanzliches Verwaltungsgericht Piräus, Griechenland) mit der Begründung statt, dass weder ein Auftrag noch eine Vertretung, noch ein anderes Rechtsverhältnis nachgewiesen worden sei, mit dem ein Auftrag zwischen Karelia und den als Schmuggler eingestuften Personen verschleiert werde. 23 Der Berufung des Finanzministeriums gegen dieses Urteil gab das Dioikitiko Efeteio Peiraia (Berufungsgericht in Verwaltungssachen Piräus, Griechenland) statt, setzte den Betrag der erhöhten Abgabe aber auf 344180250 GRD (336688,91 Euro) herab. Unter Hinweis darauf, dass sich die Zigaretten im Verfahren der Steueraussetzung befunden hätten, entschied das Gericht, dass die Schmuggler als Bevollmächtigte von Karelia gehandelt hätten, die als zugelassene Lagerinhaberin die Besitzerin der Waren gewesen sei und die alleinige Verantwortung für die Beförderung der Waren bis zu ihrer Ausfuhr getragen habe, und zwar unabhängig von der Eigenschaft, in der die Schmuggler vorgeblich gehandelt hätten, nämlich als Fahrer, Zwischenhändler, Empfänger, Käufer usw. 24 Karelia legte gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat, Griechenland) ein. 25 In der Vorlageentscheidung hat dieses Gericht festgestellt, dass nach Art. 99 Abs. 2, Art. 108 und Art. 109 des Zollgesetzbuchs die Eigentümer der Waren, deren Empfänger und die Beförderer sowie ihre Vermittler und Vertreter u. a. für die finanziellen Folgen von Schmuggel, zu denen die Entrichtung der entgangenen Zölle und Abgaben sowie der entsprechenden Geldbußen gehöre, gesamtschuldnerisch hafteten, wenn diese Unregelmäßigkeiten zu einer Zeit, als sich die betreffenden Waren in ihrem beruflichen Verantwortungsbereich befänden, von Personen begangen würden, mit denen zusammenzuarbeiten sie sich entschieden hätten. Die Mithaftenden seien nur dann von ihrer Haftung befreit, wenn sie den Nachweis erbrächten, dass sie nicht – auch nicht leicht – fahrlässig gehandelt hätten, wobei auf die im Rahmen ihrer Tätigkeit und ihres Berufs aufzuwendende Sorgfalt abzustellen sei. Diese zivilrechtliche Haftung, die nach griechischem Recht keine Verwaltungsstrafe darstelle, ziele nicht nur auf die Erhebung der entgangenen Zölle und Abgaben, sondern auch darauf ab, so weit wie möglich die Zahlung und somit die Wirksamkeit der verhängten Geldbußen zu gewährleisten. Der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass die genannten Wirtschaftsbeteiligten, die aus der wirtschaftlichen Tätigkeit, in deren Rahmen der Schmuggel begangen werde, Gewinn zögen, alle geeigneten Maßnahmen ergreifen müssten, um sicherzustellen, dass sie nicht durch Personen, zu denen sie Geschäftsbeziehungen unterhielten, an einem Schmuggel beteiligt würden. 26 Nach dieser nationalen Regelung in ihrer Auslegung im Licht der Bestimmungen der Richtlinie 92/12 könne der zugelassene Lagerinhaber zusammen mit den Schmugglern von Waren, die im Verfahren der Steueraussetzung in das Lager befördert und unrechtmäßig aus diesem Verfahren entnommen worden seien, zivilrechtlich als Gesamtschuldner haftbar gemacht werden. 27 Nach der Mehrheitsansicht dieses Gerichts erstreckt sich die gesamtschuldnerische Haftung des zugelassenen Lagerinhabers nicht nur auf die Verbrauchsteuern gemäß der Richtlinie 92/12, sondern auch auf die sonstigen wirtschaftlichen Folgen des Schmuggels, insbesondere die gegen die Schmuggler verhängten finanziellen Sanktionen. Dies gelte unabhängig von etwaigen besonderen Vereinbarungen zwischen dem Lagerinhaber und dem Erwerber, wonach das Eigentum an den unter Steueraussetzung stehenden Waren mit ihrer Übergabe auf den Erwerber übergehe, der ihre Beförderung übernehme. Diese verschärfte Haftung des zugelassenen Lagerinhabers diene dem Ziel der Verhinderung von Steuerhinterziehung, weil ein starker Anreiz für ihn geschaffen werde, die ordnungsgemäße Durchführung des Ausfuhrverfahrens zu gewährleisten, indem er im Rahmen seiner Vertragsbeziehungen die geeigneten Maßnahmen ergreife, um sich vor der Gefahr zu schützen, als Gesamtschuldner zur Tragung sämtlicher finanziellen Folgen von Schmuggel verurteilt zu werden. Diese Haftung verstoße nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da der zugelassene Lagerinhaber sich ihr entziehen könne, indem er nachweise, dass er gutgläubig gehandelt und alle möglichen geeigneten Maßnahmen ergriffen habe und dabei die von einem umsichtigen Berufsangehörigen zu erwartende Sorgfalt aufgewandt habe. 28 Im Gegensatz hierzu ist die Minderheitsansicht des vorlegenden Gerichts der Auffassung, dass der zugelassene Lagerinhaber nur für die Verbrauchsteuern gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden dürfe, nicht aber für die gegen die Schmuggler verhängten finanziellen Sanktionen. Weder aus den griechischen Rechtsvorschriften noch aus der Richtlinie 92/12 gehe hervor, dass der zugelassene Lagerinhaber so lange als Eigentümer der gelagerten Waren, die sein Steuerlager verließen und unter Steueraussetzung in ein Drittland befördert würden, gelte, bis sie ihre rechtmäßige Bestimmung erreicht oder das Gebiet der Europäischen Union verlassen hätten. Aus diesen Vorschriften und der Richtlinie ergebe sich auch keine gesetzliche Vermutung dafür, dass die natürlichen Personen, die in irgendeiner Weise an der Beförderung dieser Waren beteiligt seien, bis zu deren Entnahme aus dem Steueraussetzungsverfahren als Bevollmächtigte oder Vertreter des zugelassenen Lagerinhabers handelten. Die von der Mehrheit befürwortete verschärfte Haftung sei nicht erforderlich, um die effektive Anwendung der Richtlinie zu gewährleisten, und verstoße gegen verschiedene unionsrechtliche Grundsätze. Zum einen widerspreche sie dem Grundsatz der Rechtssicherheit, insbesondere dem Grundsatz der Klarheit und der Vorhersehbarkeit der Grenzen der Unternehmensfreiheit und dem Eigentumsrecht des zugelassenen Lagerinhabers. Zum anderen verletze sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da es offensichtlich unverhältnismäßig sei, dem zugelassenen Lagerinhaber die Verpflichtung aufzubürden, Verwaltungsstrafen – die sich nach dem Gesetz auf mindestens das Doppelte der geschuldeten Abgaben beliefen, und zwar unabhängig von deren Höhe – für Verstöße zu zahlen, die sich aus dem betrügerischen Verhalten von Dritten ergäben, die keine der in Art. 108 des Zollgesetzbuchs genannten Eigenschaften aufwiesen und auf die dieser Lagerinhaber, der die angemessene Sorgfalt aufgewandt habe, keinen Einfluss habe. 29 Unter diesen Umständen hat der Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist die Richtlinie 92/12 im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts wie der Grundsätze der Effektivität, der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie in einem Fall wie dem vorliegenden der Anwendung einer gesetzlichen Bestimmung eines Mitgliedstaats wie jener des Art. 108 des griechischen Zollgesetzbuchs entgegensteht, wonach der zugelassene Lagerinhaber in Bezug auf Waren, die unter Steueraussetzung aus seinem Steuerlager verbracht und diesem Verfahren aufgrund eines Schmuggels unrechtmäßig entnommen wurden, für die Zahlung der Verwaltungssanktionen wegen Schmuggels gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden kann, und zwar unabhängig davon, ob er zur Tatzeit nach den privatrechtlichen Vorschriften Eigentümer der Waren war, und auch unabhängig davon, ob die an der Beförderung beteiligten Täter mit dem zugelassenen Lagerinhaber in einem bestimmten Vertragsverhältnis standen, aus dem sich ergibt, dass sie als seine Bevollmächtigten gehandelt haben? Zur Vorlagefrage 30 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 92/12 im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung – wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der u. a. die Eigentümer von Waren unter Steueraussetzung für die Zahlung der Beträge, die den wegen einer Zuwiderhandlung bei der Beförderung dieser Waren verhängten finanziellen Sanktionen entsprechen, haftbar gemacht werden können, wenn sie in einer Vertragsbeziehung zu den Zuwiderhandelnden stehen, die diese zu ihren Bevollmächtigten macht – entgegensteht, wonach der zugelassene Lagerinhaber für gesamtschuldnerisch für die Zahlung dieser Beträge haftbar erklärt wird, auch wenn er nach nationalem Recht weder Eigentümer dieser Waren war, als die Zuwiderhandlung begangen wurde, noch in einer Vertragsbeziehung zu den Zuwiderhandelnden stand, die diese zu seinen Bevollmächtigten machte. 31 Zur Beantwortung dieser Frage ist vorab darauf hinzuweisen, dass sich aus der Systematik der Richtlinie 92/12, insbesondere von Art. 13, Art. 15 Abs. 3 und 4 sowie Art. 20 Abs. 1, ergibt, dass der Gesetzgeber dem zugelassenen Lagerinhaber eine zentrale Rolle im Rahmen des Verfahrens der Beförderung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren unter Steueraussetzung zugedacht hat. 32 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 34 bis 36 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, führt die Richtlinie 92/12 zulasten des zugelassenen Lagerinhabers eine Haftungsregelung für alle mit der Beförderung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren unter Steueraussetzung verbundenen Risiken ein, so dass dieser Lagerinhaber für die Zahlung der Verbrauchsteuern haftet, wenn es bei der Beförderung dieser Waren zu einer Unregelmäßigkeit oder einer Zuwiderhandlung kommt, die zur Entstehung des Steueranspruchs führt. Dabei handelt es sich also um eine objektive Haftung, die nicht auf dem nachgewiesenen oder vermuteten Verschulden des Lagerinhabers, sondern auf seiner Beteiligung an einer wirtschaftlichen Tätigkeit beruht. 33 Im vorliegenden Fall wird die objektive Haftung eines zugelassenen Lagerinhabers wie Karelia für die Zahlung der Verbrauchsteuern nicht bestritten. 34 Hingegen ist zu prüfen, ob die Richtlinie 92/12 es den Mitgliedstaaten erlaubt, den zugelassenen Lagerinhaber als Gesamtschuldner auch für die Zahlung der Beträge in Anspruch zu nehmen, die den gegen die Schmuggler verhängten finanziellen Sanktionen entsprechen. 35 Nach Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 92/12 haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen oder Unregelmäßigkeiten zu begegnen und wirksame Sanktionen zu verhängen. 36 Nach Ansicht der griechischen Regierung ergibt sich aus dieser Bestimmung eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, eine zusätzliche strafrechtliche Haftung des zugelassenen Lagerinhabers für Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren vorzusehen. 37 Zwar ist der Zigarettenmarkt, wie der Gerichtshof bereits wiederholt festgestellt hat, für die Entwicklung eines illegalen Handels besonders anfällig (Urteil vom 13. Dezember 2007, BATIG, C‑374/06, EU:C:2007:788, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die sich aus Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 92/12 ergebende Verpflichtung, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen oder Unregelmäßigkeiten zu begegnen und wirksame Sanktionen zu verhängen, ist im Licht dieser Feststellung auszulegen. 38 Hieraus folgt jedoch nicht, dass die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung verpflichtet wären, eine zusätzliche strafrechtliche Haftung des zugelassenen Lagerinhabers für Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Waren vorzusehen. 39 Erstens ist nämlich in dieser Bestimmung weder festgelegt, welche Sanktionen geeignet sind, noch, welche Kategorien von Personen dafür in Anspruch zu nehmen sind. 40 Zweitens ist die in der Richtlinie 92/12 vorgesehene Risikohaftungsregelung, wie der Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, auf die Übernahme der Zahlung der Verbrauchsteuern beschränkt. Diese Richtlinie schreibt daher keine Gesamtschuldregelung vor, die den zugelassenen Lagerinhaber für die Beträge haftbar macht, die den gegen die Schmuggler verhängten finanziellen Sanktionen entsprechen. 41 Wenn die Richtlinie 92/12 die Mitgliedstaaten auch nicht verpflichtet, eine gesamtschuldnerische Haftung des zugelassenen Lagerinhabers für die Zahlung der den verhängten finanziellen Sanktionen entsprechenden Beträge vorzusehen, so ist zu prüfen, ob sie dies verbietet. 42 Nach ständiger Rechtsprechung verstößt es nicht gegen das Unionsrecht, wenn von einem Wirtschaftsteilnehmer gefordert wird, dass er alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt (Urteil vom 21. Februar 2008, Netto Supermarkt, C‑271/06, EU:C:2008:105, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Es ist daher festzustellen, dass die Richtlinie 92/12, wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, es den Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht verwehrt, die Haftung des zugelassenen Lagerinhabers dadurch zu verschärfen, dass sie ihn für die finanziellen Folgen der Zuwiderhandlungen, die bei der Beförderung der Waren unter Steueraussetzung festgestellt wurden, gesamtschuldnerisch haften lassen. 44 Es ist jedoch zu prüfen, ob eine verschärfte Haftung wie die im Ausgangsverfahren fragliche den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit entspricht. 45 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten den Grundsatz der Rechtssicherheit wahren müssen, wenn sie ihre Zuständigkeiten ausüben, um im Rahmen der Umsetzung einer Richtlinie die geeigneten Sanktionen zu wählen. Die Rechtsakte der Union müssen nämlich eindeutig sein, und ihre Anwendung muss für die Betroffenen vorhersehbar sein, wobei dieses Gebot der Rechtssicherheit in besonderem Maß gilt, wenn es sich um eine Regelung handelt, die sich finanziell belastend auswirken kann, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen (Urteil vom 16. September 2008, Isle of Wight Council u. a., C‑288/07, EU:C:2008:505, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens ist jedoch festzustellen, dass die verschärfte Haftung des zugelassenen Lagerinhabers, der nicht Eigentümer der von der Zuwiderhandlung betroffenen Waren geblieben ist und nicht in einer Vertragsbeziehung zu den Zuwiderhandelnden steht, die diese zu seinen Bevollmächtigten macht, weder in der Richtlinie 92/12 noch in den nationalen Rechtsvorschriften ausdrücklich vorgesehen ist. 47 Unter diesen Umständen erscheinen die Sanktionen, die gegen einen solchen zugelassenen Lagerinhaber nach diesen Rechtsvorschriften verhängt werden können, in Anbetracht insbesondere der unterschiedlichen Auslegungen, die innerhalb des vorlegenden Gerichts vertreten werden, nicht so eindeutig und für die Betroffenen vorhersehbar, dass sie als den Erfordernissen der Rechtssicherheit genügend angesehen werden könnten, was allerdings von diesem Gericht zu überprüfen ist. 48 Was zweitens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betrifft, so können die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, die Sanktionen wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten (vgl. insbesondere Urteil vom 29. Juli 2010, Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski, C‑188/09, EU:C:2010:454, Rn. 29). 49 Zu Maßnahmen, die der Steuerhinterziehung vorbeugen sollen, hat der Gerichtshof im Bereich der Mehrwertsteuer entschieden, dass die Verteilung des Risikos aufgrund eines von einem Dritten begangenen Betrugs dann nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, wenn ein Steuersystem dem Lieferer unabhängig davon, ob er an dem vom Abnehmer begangenen Betrug beteiligt war, die gesamte Verantwortung für die Zahlung der Mehrwertsteuer auferlegt (Urteil vom 21. Februar 2008, Netto Supermarkt, C‑271/06, EU:C:2008:105, Rn. 22 und 23). 50 Der Gerichtshof hat außerdem bereits festgestellt, dass nationale Maßnahmen, die de facto ein System der unbedingten gesamtschuldnerischen Haftung einführen, über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Ansprüche der Staatskasse zu schützen. Er hat daher entschieden, dass es als unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anzusehen ist, die Haftung für die Mehrwertsteuer einer anderen Person als dem Steuerschuldner aufzuerlegen – auch wenn es sich bei dieser Person um den zugelassenen Inhaber eines Steuerlagers handelt, dem die spezifischen Verpflichtungen nach der Richtlinie 92/12 obliegen –, ohne es dieser Person zu ermöglichen, sich der Haftung zu entziehen, indem sie den Beweis erbringt, dass sie mit den Machenschaften des Steuerschuldners nichts zu tun hat, und weiter ausgeführt, dass es offenkundig unverhältnismäßig wäre, dieser Person bedingungslos den Verlust von Steuereinnahmen anzulasten, der durch das Tun eines Dritten verursacht worden ist, auf das sie keinen Einfluss hat (Urteil vom 21. Dezember 2011, Vlaamse Oliemaatschappij, C‑499/10, EU:C:2011:871, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Die Einhaltung dieser Anforderungen ist auch bei einer Maßnahme wie der Zuweisung der Haftung für finanzielle Folgen von Schmuggel an den zugelassenen Lagerinhaber geboten. 52 Wie das vorlegende Gericht ausführt, ist Art. 108 des Zollgesetzbuchs nach Auffassung der Mehrheit seiner Mitglieder dahin auszulegen, dass ein zugelassener Lagerinhaber, der alle vernünftigerweise von ihm zu erwartenden Maßnahmen ergriffen hat, um sich zu vergewissern, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt, sich nur dann dieser Haftung entziehen kann, wenn er nachweisen kann, dass er nicht wissen konnte, dass möglicherweise Schmuggel begangen würde. Ist dies der Fall – was das vorlegende Gericht zu überprüfen hat –, bedeutet diese verschärfte Haftung des zugelassenen Lagerinhabers, dass er als Gesamtschuldner für die Zahlung der den verhängten finanziellen Sanktionen entsprechenden Beträge haftbar gemacht werden kann, auch wenn der Schmuggel von Personen begangen wird, mit denen zusammenzuarbeiten er sich nicht entschieden hat, und dass damit de facto ein System der unbedingten gesamtschuldnerischen Haftung eingeführt wird, das als unverhältnismäßig anzusehen ist. 53 Nach alledem kann eine Regelung der verschärften Haftung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende nur dann den sich aus den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit ergebenden Erfordernissen genügen, wenn sie eindeutig und ausdrücklich im nationalen Recht vorgesehen ist und dem zugelassenen Lagerinhaber eine wirksame Möglichkeit vorbehält, sich von seiner Haftung zu befreien. 54 Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass die Richtlinie 92/12 im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung – wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der u. a. die Eigentümer von Waren unter Steueraussetzung für die Zahlung der Beträge, die den wegen einer Zuwiderhandlung bei der Beförderung dieser Waren verhängten finanziellen Sanktionen entsprechen, haftbar gemacht werden können, wenn sie in einer Vertragsbeziehung zu den Zuwiderhandelnden stehen, die diese zu ihren Bevollmächtigten macht – entgegensteht, wonach der zugelassene Lagerinhaber für gesamtschuldnerisch für die Zahlung dieser Beträge haftbar erklärt wird, auch wenn er nach nationalem Recht weder Eigentümer dieser Waren war, als die Zuwiderhandlung begangen wurde, noch in einer Vertragsbeziehung zu den Zuwiderhandelnden stand, die diese zu seinen Bevollmächtigten machte, ohne dass er sich dieser Haftung entziehen könnte, indem er den Beweis erbringt, dass er mit den Machenschaften der Zuwiderhandelnden nichts zu tun hat. Kosten 55 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren in der durch die Richtlinie 92/108/EWG des Rates vom 14. Dezember 1992 geänderten Fassung ist im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit, dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung – wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, nach der u. a. die Eigentümer von Waren für die Zahlung der Beträge, die den wegen einer bei der Beförderung der Waren unter Steueraussetzung begangenen Zuwiderhandlung verhängten finanziellen Sanktionen entsprechen, haftbar gemacht werden können, wenn sie in einer Vertragsbeziehung zu den Zuwiderhandelnden stehen, die diese zu ihren Bevollmächtigten macht – entgegensteht, wonach der zugelassene Lagerinhaber für gesamtschuldnerisch für die Zahlung dieser Beträge haftbar erklärt wird, auch wenn er nach nationalem Recht weder Eigentümer dieser Waren war, als die Zuwiderhandlung begangen wurde, noch in einer Vertragsbeziehung zu den Zuwiderhandelnden stand, die diese zu seinen Bevollmächtigten machte, ohne dass er sich dieser Haftung entziehen könnte, indem er den Beweis erbringt, dass er mit den Machenschaften der Zuwiderhandelnden nichts zu tun hat. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Griechisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 2. Juni 2016.#Verfahren auf Betreiben von C.#Vorabentscheidungsersuchen des Korkein hallinto-oikeus.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Grundsatz der Gleichbehandlung und Verbot der Diskriminierung wegen des Alters – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Art. 2, 3 und 6 – Ungleichbehandlung wegen des Alters – Nationale Regelung, die in bestimmten Fällen für Einkünfte aus Altersrenten eine höhere Besteuerung vorsieht als für Einkünfte aus Erwerbstätigkeit – Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 – Zuständigkeit der Europäischen Union im Bereich der direkten Steuern.#Rechtssache C-122/15.
62015CJ0122
ECLI:EU:C:2016:391
2016-06-02T00:00:00
Kokott, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62015CJ0122 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 2. Juni 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Sozialpolitik — Grundsatz der Gleichbehandlung und Verbot der Diskriminierung wegen des Alters — Richtlinie 2000/78/EG — Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf — Art. 2, 3 und 6 — Ungleichbehandlung wegen des Alters — Nationale Regelung, die in bestimmten Fällen für Einkünfte aus Altersrenten eine höhere Besteuerung vorsieht als für Einkünfte aus Erwerbstätigkeit — Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 — Zuständigkeit der Europäischen Union im Bereich der direkten Steuern“ In der Rechtssache C‑122/15 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht, Finnland) mit Entscheidung vom 6. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 10. März 2015, in dem Verfahren auf Antrag von C erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter), J.‑C. Bonichot, C. G. Fernlund und S. Rodin, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Dezember 2015, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von C, vertreten durch K. Suominen und A. Kukkonen, asianajaja, — der finnischen Regierung, vertreten durch S. Hartikainen als Bevollmächtigten, — von Irland, vertreten durch J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte, — der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, C. Freire und M. Conceição Queirós als Bevollmächtigte, — der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, U. Persson, N. Otte Widgren, C. Meyer-Seitz, E. Karlsson und L. Swedenborg als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und I. Koskinen als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. Januar 2016 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters, von Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) sowie von Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen einer Klage von C gegen die Entscheidung der finnischen Steuerverwaltung, ihm gegenüber eine Zusatzsteuer von 6 % auf den Anteil der Einkünfte aus Altersrenten (im Folgenden auch: Renteneinkünfte), der nach Abzug des Rentenfreibetrags 45000 Euro pro Jahr übersteigt, festzusetzen. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Nach dem 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/78 findet diese „[keine] Anwendung auf die Sozialversicherungs- und Sozialschutzsysteme, deren Leistungen nicht einem Arbeitsentgelt in dem Sinne gleichgestellt werden, der diesem Begriff für die Anwendung des Artikels [157 AEUV] gegeben wurde“. 4 Nach Art. 1 dieser Richtlinie ist deren Zweck „die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“. 5 Art. 2 der Richtlinie bestimmt: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. (2)   Im Sinne des Absatzes 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn: i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich … …“ 6 Art. 3 („Geltungsbereich“) der Richtlinie sieht vor: „(1)   Im Rahmen der auf die [Europäische Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf … c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts; … (3)   Diese Richtlinie gilt nicht für Leistungen jeder Art seitens der staatlichen Systeme oder der damit gleichgestellten Systeme einschließlich der staatlichen Systeme der sozialen Sicherheit oder des sozialen Schutzes. …“ 7 In Art. 6 der Richtlinie heißt es: „(1)   Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen: a) die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen; b) die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile; … (2)   Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit die Festsetzung von Altersgrenzen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität einschließlich der Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen im Rahmen dieser Systeme für bestimmte Beschäftigte oder Gruppen bzw. Kategorien von Beschäftigten und die Verwendung im Rahmen dieser Systeme von Alterskriterien für versicherungsmathematische Berechnungen keine Diskriminierung wegen des Alters darstellt, solange dies nicht zu Diskriminierungen wegen des Geschlechts führt.“ Finnisches Recht 8 In § 124 Abs. 1 und 4 des Tuloverolaki (1992/1535) (Gesetz 1992/1535 über die Einkommensteuer) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung heißt es: „Natürliche Personen … müssen an den Staat eine Steuer auf steuerbare, auf Erwerbstätigkeit beruhende Einkünfte gemäß dem progressiven Einkommensteuertarif sowie eine Steuer auf steuerbare Kapitaleinkünfte gemäß dem Einkommensteuersatz entrichten. Natürliche Personen müssen außerdem nach Maßgabe von Abs. 4 eine Zusatzsteuer auf ihre Einkünfte aus Altersrenten an den Staat entrichten. Andere Steuerpflichtige müssen Einkommensteuer auf ihr steuerbares Einkommen gemäß dem Einkommensteuersatz entrichten. … Natürliche Personen müssen eine Zusatzsteuer von 6 % auf den Anteil der Einkünfte aus Altersrenten entrichten, der nach Abzug des Rentenfreibetrags 45000 Euro übersteigt. Die Zusatzsteuer auf Einkünfte aus Altersrenten unterliegt den in diesem oder einem anderen Gesetz enthaltenen Bestimmungen über die an den Staat zu entrichtende Einkommensteuer auf Einkünfte, die auf Erwerbstätigkeit beruhen.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 9 C ist 1948 geboren, besitzt die finnische Staatsangehörigkeit und wohnt in Finnland. Die Steuerverwaltung setzte ihm gegenüber einen Quellensteuersatz fest, der für die Einkommensteuervorauszahlung für das Steuerjahr 2013 gelten sollte. Auf den Anteil seiner Renteneinkünfte, der nach Abzug des Rentenfreibetrags 45000 Euro überstieg, setzte die Verwaltung hierbei gemäß § 124 Abs. 1 und 4 des Gesetzes 1992/1535 über die Einkommensteuer eine Zusatzsteuer von 6 % fest. 10 Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, bezog C im Steuerjahr 2013 in Finnland eine Altersrente in Höhe von insgesamt 461900,88 Euro, wovon 251351,10 Euro als Einkommensteuervorauszahlung einbehalten wurden. Zusätzlich zu seiner Altersrente bezog C auch Einkünfte aus Erwerbstätigkeit für eine in Finnland geleistete Arbeit. 11 Mit Bescheid vom 11. März 2013 wies die Steuerverwaltung den Einspruch zurück, den C gegen die Festsetzung des Quellensteuersatzes, der für die Einkommensteuervorauszahlung für das Steuerjahr 2013 gelten sollte, eingelegt hatte. 12 C focht diesen Bescheid vor dem Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki, Finnland) an und machte geltend, dass die in § 124 Abs. 1 und 4 des Gesetzes 1992/1535 über die Einkommensteuer enthaltenen Bestimmungen über die Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte nicht angewandt werden dürften, um den für seine Renteneinkünfte geltenden Quellensteuersatz zu bestimmen. 13 Das Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki) wies die Klage ab, gestützt auf die Feststellung, dass der Zweck dieser Bestimmungen, der gemäß den Gesetzesmaterialien darin bestehe, Steuerpflichtige mit hohen Renteneinkünften stärker zu besteuern, im öffentlichen Interesse liege und grundsätzlich zulässig und mit den allgemeinen Zielen des Steuerrechts vereinbar sei. Das Gericht stellte außerdem fest, dass das Unionsrecht – und somit auch die Charta – auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar sei, da es in diesem Rechtsstreit um eine direkte Steuer gehe, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle. 14 C stellte beim Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht, Finnland) einen Antrag auf Zulassung eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung des Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki). Das vorlegende Gericht neigt zu der Auffassung, dass die steuerrechtlichen Bestimmungen, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78 betreffen und, allgemeiner betrachtet, nicht als eine in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallende Maßnahme angesehen werden können. Insbesondere legen sie nach Ansicht des Gerichts kein Kriterium für die Bemessung des Arbeitsentgelts fest. Daher scheine es, anders als in dem Fall, der dem Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105), zugrunde gelegen habe, keine Verbindung zwischen diesen Bestimmungen und dem materiellen Unionsrecht zu geben. 15 Dem Vorlagebeschluss zufolge bestehen die Ziele der im Ausgangsverfahren streitigen Regelung darin, Steuereinnahmen von leistungsfähigen Beziehern von Renteneinkünften zu erzielen, den Unterschied zwischen der steuerlichen Belastung von Renteneinkünften und von Einkünften aus Erwerbstätigkeit zu verringern und die Anreize für ältere Menschen, weiter im Arbeitsleben aktiv zu bleiben, zu verbessern. 16 Das vorlegende Gericht ist sich nicht sicher, ob diese gesetzlichen Bestimmungen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, insbesondere in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78, wie er in deren Art. 3 definiert ist, und ob diese Bestimmungen gegebenenfalls eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen des Alters im Sinne von Art. 2 dieser Richtlinie darstellen. 17 Unter diesen Umständen hat das Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die Bestimmungen des § 124 Abs. 1 und 4 des Gesetzes 1992/1535 über die Einkommensteuer, die eine Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte betreffen, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt und damit das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters im Sinne von Art. 21 Abs. 1 der Charta auf diesen Fall Anwendung findet? Die Fragen 2 und 3 werden nur für den Fall gestellt, dass der Gerichtshof die Frage 1 dahin beantwortet, dass dieser Fall in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. 2. Falls die erste Frage bejaht wird: Sind Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a oder b der Richtlinie 2000/78 und Art. 21 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie § 124 Abs. 1 und 4 des Gesetzes 1992/1535 über die Einkommensteuer, der eine Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte betrifft, entgegenstehen, wonach auf die Renteneinkünfte einer natürlichen Person, deren Bezug zumindest mittelbar an das Alter der Person anknüpft, in bestimmten Situationen höhere Einkommensteuer erhoben wird als auf entsprechend hohe Einkünfte aus Erwerbstätigkeit erhoben würde? 3. Falls die genannten Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 und der Charta einer nationalen Regelung wie der Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte entgegenstehen, bleibt im vorliegenden Fall zu prüfen, ob Art. 6 Abs. 1 der genannten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine nationale Regelung wie die Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte gleichwohl im Sinne dieser Vorschrift als objektiv und angemessen sowie durch ein legitimes Ziel, insbesondere ein rechtmäßiges Ziel aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung gerechtfertigt angesehen werden kann, da mit der Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte, wie aus den Vorarbeiten zum Gesetz 1992/1535 über die Einkommensteuer hervorgeht, bezweckt wird, Steuereinnahmen von leistungsfähigen Beziehern von Renteneinkünften zu erzielen, den Unterschied zwischen der steuerlichen Belastung von Renteneinkünften und von Einkünften aus Erwerbstätigkeit zu verringern und die Anreize für ältere Menschen, weiter im Arbeitsleben aktiv zu bleiben, zu verbessern? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 18 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die eine Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte betrifft, in den materiellen Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt und damit das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters im Sinne von Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf den Ausgangsrechtsstreit Anwendung findet. 19 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sowohl aus dem Titel und den Erwägungsgründen als auch aus dem Inhalt und der Zielsetzung der Richtlinie 2000/78 ergibt, dass diese einen allgemeinen Rahmen schaffen soll, der gewährleistet, dass jeder „in Beschäftigung und Beruf“ gleichbehandelt wird, indem dem Betroffenen ein wirksamer Schutz vor Diskriminierungen aus einem der in ihrem Art. 1 genannten Gründe – darunter das Alter – geboten wird (Urteil vom 26. September 2013, Dansk Jurist- og Økonomforbund, C‑546/11, EU:C:2013:603, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). 20 Der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 erstreckt sich im Licht ihres Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 unter Berücksichtigung ihres 13. Erwägungsgrundes nicht auf die Systeme der Sozialversicherung und des sozialen Schutzes, deren Leistungen nicht einem Arbeitsentgelt in dem Sinne gleichgestellt werden, der diesem Begriff für die Anwendung von Art. 157 Abs. 2 AEUV gegeben wurde (Urteil vom 21. Januar 2015, Felber, C‑529/13, EU:C:2015:20, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung). 21 Zwar ist der Begriff „Arbeitsentgelt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78 weit auszulegen. Dementsprechend hat der Gerichtshof festgestellt, dass dieser Begriff insbesondere alle gegenwärtigen oder künftigen in bar oder in Sachleistungen gewährten Vergütungen umfasst, vorausgesetzt, dass der Arbeitgeber sie dem Arbeitnehmer wenigstens mittelbar aufgrund des Arbeitsverhältnisses gewährt, sei es aufgrund eines Arbeitsvertrags, aufgrund von Rechtsvorschriften oder freiwillig (Urteil vom 12. Dezember 2013, Hay, C‑267/12, EU:C:2013:823, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem schließt der Umstand, dass bestimmte Leistungen nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses gewährt werden, nicht aus, dass sie den Charakter eines Entgelts im Sinne der oben genannten Vorschriften haben können (Urteil vom 9. Dezember 2004, Hlozek, C‑19/02, EU:C:2004:779, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 22 Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass zu den als Entgelt qualifizierten Vergütungen gerade diejenigen vom Arbeitgeber aufgrund bestehender Arbeitsverhältnisse gezahlten Vergünstigungen gehören, die den Arbeitnehmern ein Einkommen sichern sollen, selbst wenn sie in besonderen Fällen keine in ihrem Arbeitsvertrag vorgesehene Tätigkeit ausüben. Außerdem kann der Entgeltcharakter derartiger Leistungen nicht schon deswegen in Zweifel gezogen werden, weil diese Leistungen auch sozialpolitischen Erwägungen Rechnung tragen (Urteil vom 9. Dezember 2004, Hlozek, C‑19/02, EU:C:2004:779, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 23 Dementsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass Leistungen eines Versorgungssystems, das im Wesentlichen von der früheren Beschäftigung des Betroffenen abhängt, zu dessen früherem Entgelt gehören und unter Art. 157 Abs. 2 AEUV fallen (Urteil vom 7. Januar 2004, K. B., C‑117/01, EU:C:2004:7, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). 24 Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass eine nationale Regelung über den Steuersatz für Renteneinkünfte in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 fällt. 25 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es im Ausgangsrechtsstreit nicht darum geht, nach welchen Modalitäten oder Voraussetzungen die Höhe der Bezüge, die dem Arbeitnehmer aufgrund seines Dienstverhältnisses mit seinem früheren Arbeitgeber gezahlt werden, zu bestimmen ist (Urteil vom 1. April 2008, Maruko, C‑267/06, EU:C:2008:179, Rn. 46), sondern um den Steuersatz für Renteneinkünfte. Eine solche Besteuerung gehört aber nicht zum Bereich des Dienstverhältnisses und somit auch nicht zu der in dessen Rahmen – auf den sich die Richtlinie 2000/78 ausschließlich bezieht – vorgenommenen Bemessung des „Entgelts“ im Sinne dieser Richtlinie und von Art. 157 Abs. 2 AEUV. 26 Eine Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte wie die im Ausgangsverfahren streitige, die keinerlei Bezug zum Arbeitsvertrag hat, beruht unmittelbar und ausschließlich auf einer nationalen steuerrechtlichen Regelung, die für natürliche Personen gilt, deren Renteneinkünfte nach Abzug des Rentenfreibetrags 45000 Euro übersteigen, wie unmittelbar aus dem Wortlaut von § 124 Abs. 1 und 4 des Gesetzes 1992/1535 über die Einkommensteuer hervorgeht. 27 Somit fällt eine nationale gesetzliche Regelung über eine Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78. 28 Was schließlich die Bestimmungen der Charta betrifft, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, genügt der Hinweis, dass die Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. 29 Es steht aber fest, dass mit dem Einkommensteuergesetz keine Vorschrift des Unionsrechts durchgeführt wird und dass keine steuerrechtliche Richtlinie ersichtlich ist, die auf die Situation im Ausgangsrechtsstreit anwendbar sein könnte. Zudem fällt der Ausgangsrechtsstreit, wie aus Rn. 27 des vorliegenden Urteils hervorgeht, auch nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78. Somit können die Bestimmungen der Charta, nach deren Auslegung mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen gefragt wird, im Rahmen dieses Rechtsstreits nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. 30 In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende, die eine Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte vorsieht, nicht in den materiellen Geltungsbereich dieser Richtlinie und folglich auch nicht in den von Art. 21 Abs. 1 der Charta fällt. Zur zweiten und zur dritten Frage 31 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage nicht zu beantworten. Kosten 32 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die eine Zusatzsteuer auf Renteneinkünfte vorsieht, nicht in den materiellen Geltungsbereich dieser Richtlinie und folglich auch nicht in den von Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union fällt. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Finnisch.
Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 26. Mai 2016.#ZS "Ezernieki" gegen Lauku atbalsta dienests.#Vorabentscheidungsersuchen der Augstākās tiesas Administratīvo lietu departaments.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Europäischer Ausrichtungs‑ und Garantiefonds für die Landwirtschaft – Verordnungen (EG) Nrn. 1257/1999 und 817/2004 – Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums – Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge – Vergrößerung der angemeldeten Fläche während des fünfjährigen Verpflichtungszeitraums über den vorgesehenen Schwellenwert hinaus – Ersetzung der ursprünglichen Verpflichtung durch eine neue Verpflichtung – Verstoß des Begünstigten gegen die Pflicht zur Einreichung eines jährlichen Zahlungsantrags für die Beihilfe – Nationale Regelung, mit der die Rückzahlung sämtlicher für mehrere Jahre gezahlter Beihilfen verlangt wird – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Art. 17 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-273/15.
62015CJ0273
ECLI:EU:C:2016:364
2016-05-26T00:00:00
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62015CJ0273 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer) 26. Mai 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Landwirtschaft — Europäischer Ausrichtungs‑ und Garantiefonds für die Landwirtschaft — Verordnungen (EG) Nrn. 1257/1999 und 817/2004 — Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums — Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge — Vergrößerung der angemeldeten Fläche während des fünfjährigen Verpflichtungszeitraums über den vorgesehenen Schwellenwert hinaus — Ersetzung der ursprünglichen Verpflichtung durch eine neue Verpflichtung — Verstoß des Begünstigten gegen die Pflicht zur Einreichung eines jährlichen Zahlungsantrags für die Beihilfe — Nationale Regelung, mit der die Rückzahlung sämtlicher für mehrere Jahre gezahlter Beihilfen verlangt wird — Grundsatz der Verhältnismäßigkeit — Art. 17 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ In der Rechtssache C‑273/15 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Augstākās tiesas Administratīvo lietu departaments (Oberster Gerichtshof, Senat für Verwaltungsstreitsachen, Lettland) mit Entscheidung vom 3. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 2015, in dem Verfahren ZS „Ezernieki“ gegen Lauku atbalsta dienests erlässt DER GERICHTSHOF (Achte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Šváby sowie der Richter J. Malenovský und M. Vilaras (Berichterstatter), Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen — des ZS „Ezernieki“, vertreten durch A. Martuzāns, — der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš und G. Bambāne als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Sauka und J. Aquilina als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1257/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) und zur Änderung bzw. Aufhebung bestimmter Verordnungen (ABl. 1999, L 160, S. 80) in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1783/2003 des Rates vom 29. September 2003 (ABl. 2003, L 270, S. 70) (im Folgenden: Verordnung Nr. 1257/1999), der Verordnung (EG) Nr. 817/2004 der Kommission vom 29. April 2004 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 1257/1999 (ABl. 2004, L 153, S. 30, berichtigt im ABl. 2004, L 231, S. 24), der Verordnung (EG) Nr. 796/2004 der Kommission vom 21. April 2004 mit Durchführungsbestimmungen zur Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, zur Modulation und zum Integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem nach der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 des Rates vom 29. September 2003 mit gemeinsamen Regeln für Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik und mit bestimmten Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe (ABl. 2004, L 141, S. 18) sowie der Art. 17 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem landwirtschaftlichen Betrieb ZS „Ezernieki“ (im Folgenden: Ezernieki), und dem Lauku atbalsta dienests (Agrarstützdienst, Lettland) über die wegen Nichterfüllung sämtlicher Beihilfevoraussetzungen geforderte Rückzahlung der gesamten Agrarumweltbeihilfen, die diesem Betrieb während des fünfjährigen Verpflichtungszeitraums von den lettischen Behörden gewährt worden waren. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Verordnung Nr. 1257/1999 3 Die Verordnung Nr. 1257/1999 legt gemäß ihrem Art. 1 den Rahmen für die gemeinschaftliche Förderung einer nachhaltigen Entwicklung des ländlichen Raums fest. In Titel II Kapitel VI („Agrarumweltmaßnahmen und Tierschutz“) der Verordnung heißt es in Art. 22: „Die Beihilfen für landwirtschaftliche Produktionsverfahren, die auf den Schutz der Umwelt und die Erhaltung des ländlichen Lebensraums (Agrarumweltmaßnahmen) oder auf einen verbesserten Tierschutz ausgerichtet sind, tragen zur Verwirklichung der Ziele der Gemeinschaft in Bezug auf die Landwirtschaft, die Umwelt und den Schutz von Nutztieren bei. …“ 4 Art. 23 der Verordnung Nr. 1257/1999 bestimmt: „(1)   Die Beihilfen werden Landwirten gewährt, die sich für mindestens fünf Jahre verpflichten, Agrarumwelt- oder Tierschutzmaßnahmen durchzuführen. Sofern erforderlich, wird für bestimmte Arten von Verpflichtungen im Interesse ihrer Wirkungen auf die Umwelt und den Tierschutz ein längerer Zeitraum festgelegt. (2)   Die Verpflichtungen bezüglich der Agrarumweltmaßnahmen und des Tierschutzes gehen über die Anwendung der guten landwirtschaftlichen Praxis einschließlich der guten Tierhaltungspraxis im üblichen Sinne hinaus. Sie betreffen Dienstleistungen, die im Rahmen anderer Fördermaßnahmen wie Marktstützungsmaßnahmen oder Ausgleichszulagen nicht vorgesehen sind.“ 5 Art. 24 der Verordnung Nr. 1257/1999 lautet: „(1)   Die Beihilfen für die Agrarumwelt- oder Tierschutzverpflichtungen werden jährlich gewährt und anhand folgender Kriterien berechnet: a) Einkommensverluste, b) zusätzliche Kosten infolge der eingegangenen Verpflichtung und c) die Notwendigkeit, einen Anreiz zu bieten. Investitionskosten werden bei der Berechnung der jährlichen Beihilfe nicht berücksichtigt. Kosten für nichtproduktive Investitionen, die zur Einhaltung einer Verpflichtung erforderlich sind, dürfen bei der Berechnung der Höhe der jährlichen Beihilfe berücksichtigt werden. (2)   Die für eine Gemeinschaftsbeihilfe in Betracht kommenden Höchstbeträge sind im Anhang festgesetzt. Wird die Beihilfe anhand der Fläche berechnet, so richten sich diese Beträge nach der Fläche des Betriebs, für die die Agrarumweltverpflichtungen gelten.“ 6 Art. 37 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1257/1999 sieht vor: „Die Mitgliedstaaten können für die Gewährung der Gemeinschaftsbeihilfen für Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums zusätzliche oder restriktivere Bedingungen festlegen, sofern diese den Zielsetzungen und Anforderungen dieser Verordnung entsprechen.“ 7 Gemäß Art. 93 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates vom 20. September 2005 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) (ABl. 2005, L 277, S. 1) wird die Verordnung Nr. 1257/1999 mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben, sie gilt aber weiterhin für Aktionen, die von der Europäischen Kommission auf der Grundlage dieser Verordnung vor dem 1. Januar 2007 genehmigt werden. Verordnung Nr. 817/2004 8 In Kapitel I („Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums“) Abschnitt 11 der Verordnung Nr. 817/2004 heißt es in Art. 37: „1.   Vergrößert ein Begünstigter während der Laufzeit der als Voraussetzung für die Gewährung der Beihilfe eingegangenen Verpflichtung seine Betriebsfläche, so kann der Mitgliedstaat vorsehen, dass nach Absatz 2 die zusätzliche Fläche für den restlichen Verpflichtungszeitraum in die Verpflichtung einbezogen oder dass nach Absatz 3 die ursprüngliche Verpflichtung des Begünstigten durch eine neue Verpflichtung ersetzt wird. Diese Ersetzung ist auch in Fällen möglich, in denen die in eine Verpflichtung einbezogenen Flächen innerhalb des Betriebs vergrößert werden. 2.   Die Einbeziehung gemäß Absatz 1 ist nur unter folgenden Voraussetzungen möglich: a) sie bringt unzweifelhafte Vorteile für die betreffende Maßnahme mit sich; b) sie ist gerechtfertigt durch die Art der Verpflichtung, die Länge des restlichen Zeitraums und die Größe der zusätzlichen Fläche; c) sie beeinträchtigt nicht die wirksame Überprüfung der Einhaltung der Gewährungsvoraussetzungen. Die in Unterabsatz 1 Buchstabe b genannte zusätzliche Fläche muss deutlich geringer als die ursprüngliche Fläche sein oder darf nicht mehr als 2 ha betragen. 3.   Die neue Verpflichtung nach Absatz 1 wird für die gesamte Fläche eingegangen und umfasst Bedingungen, die mindestens genauso strikt sind wie die der ursprünglichen Verpflichtung.“ 9 In Kapitel II Abschnitt 6 („Anträge, Kontrollen und Sanktionen“) der Verordnung Nr. 817/2004 sieht Art. 66 vor: „1.   Bei Flächen oder Tiere betreffenden Anträgen auf Beihilfen für die Entwicklung des ländlichen Raums, die getrennt von den Beihilfeanträgen gemäß Artikel 6 der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 [der Kommission vom 11. Dezember 2001 mit Durchführungsbestimmungen zum mit der Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 des Rates eingeführten integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl. 2001, L 327, S. 11)] eingereicht werden, sind alle Flächen und Tiere des Betriebs anzugeben, die von der Kontrolle der Anwendung der betreffenden Maßnahme betroffen sind, einschließlich der Flächen und Tiere, für die keine Beihilfe beantragt wird. 2.   Flächenbezogene Fördermaßnahmen für die Entwicklung des ländlichen Raums beziehen sich auf einzeln ausgewiesene Parzellen. Während der Laufzeit einer Verpflichtung können Parzellen, für die Beihilfen gewährt werden, nur in den Fällen ausgetauscht werden, die im Programmplanungsdokument ausdrücklich vorgesehen sind. 3.   Für den Fall, dass der Zahlungsantrag Teil eines Beihilfeantrags für Flächen im Rahmen des Integrierten Kontrollsystems ist, trägt der Mitgliedstaat dafür Sorge, dass Parzellen, für die eine Beihilfe im Rahmen der Fördermaßnahmen für die Entwicklung des ländlichen Raums beantragt wird, in dem Beihilfeantrag für Flächen des Integrierten Kontrollsystems gesondert ausgewiesen werden. 4.   Die Identifizierung der Flächen und Tiere erfolgt gemäß Artikel 18 und 20 der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003. 5.   Bei Beihilfen, deren Gewährung über mehrere Jahre erfolgt, werden nach der Zahlung im ersten Jahr der Antragstellung die darauf folgenden Zahlungen auf der Grundlage eines jährlichen Zahlungsantrags für die Beihilfe geleistet, es sei denn, der Mitgliedstaat sieht ein anderes Verfahren vor, das eine wirksame jährliche Überprüfung gemäß Artikel 67 Absatz 1 dieser Verordnung ermöglicht.“ 10 Art. 67 der Verordnung Nr. 817/2004 bestimmt: „1.   Die Kontrollen der Erstanträge auf Inanspruchnahme einer Beihilferegelung und der folgenden Zahlungsanträge werden so durchgeführt, dass zuverlässig geprüft werden kann, ob die Beihilfevoraussetzungen erfüllt sind. Je nach Art der Fördermaßnahme bestimmen die Mitgliedstaaten die für die Kontrollen erforderlichen Methoden und Mittel ebenso wie die zu kontrollierenden Personen. Die Mitgliedstaaten greifen in allen geeigneten Fällen auf das mit der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 eingeführte Integrierte Verwaltungs- und Kontrollsystem zurück. 2.   Es werden Verwaltungskontrollen und Kontrollen vor Ort durchgeführt.“ 11 Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 817/2004 lautet: „Im Fall von zu Unrecht gezahlten Beträgen ist der betreffende Einzelbegünstigte einer Maßnahme zur Entwicklung des ländlichen Raums verpflichtet, diese Beträge gemäß den Bestimmungen von Artikel 49 der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 zurückzuzahlen.“ 12 Gemäß Art. 64 der Verordnung (EG) Nr. 1974/2006 der Kommission vom 15. Dezember 2006 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 des Rates über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) (ABl. 2006, L 368, S. 15) wird die Verordnung Nr. 817/2004 mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben, sie gilt aber weiterhin für Maßnahmen, die vor dem 1. Januar 2007 gemäß der Verordnung Nr. 1257/1999 genehmigt wurden. Verordnung Nr. 796/2004 13 Die Verordnung Nr. 796/2004 hob die Verordnung Nr. 2419/2001 auf. Die Verordnung Nr. 796/2004 gilt nach ihrem Wortlaut für Beihilfeanträge, die sich auf ab dem 1. Januar 2005 beginnende Wirtschaftsjahre oder Prämienzeiträume beziehen, und Bezugnahmen auf die Verordnung Nr. 2419/2001 gelten als Bezugnahmen auf die Verordnung Nr. 796/2004. 14 Da nach der Übereinstimmungstabelle in Anhang III der Verordnung Nr. 796/2004 der Art. 49 der Verordnung Nr. 2419/2001 dem Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 entspricht, gilt die Bezugnahme in Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 817/2004 nunmehr dem Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004. 15 In Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 heißt es: „1.   Bei zu Unrecht gezahlten Beträgen ist der Betriebsinhaber zur Rückzahlung dieser Beträge zuzüglich der gemäß Absatz 3 berechneten Zinsen verpflichtet. … 3.   Die Zinsen werden für den Zeitraum zwischen der Übermittlung des Rückforderungsbescheids an den Betriebsinhaber und der tatsächlichen Rückzahlung bzw. dem Abzug berechnet. Der anzuwendende Zinssatz wird nach Maßgabe der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften festgesetzt, darf jedoch nicht niedriger sein als der bei der Rückforderung von Beträgen nach einzelstaatlichen Vorschriften geltende Zinssatz. 4.   Die Verpflichtung zur Rückzahlung gemäß Absatz 1 gilt nicht, wenn die Zahlung auf einen Irrtum der zuständigen Behörde oder einer anderen Behörde zurückzuführen ist, der vom Betriebsinhaber billigerweise nicht erkannt werden konnte. Bezieht sich der Irrtum auf Tatsachen, die für die Berechnung der betreffenden Zahlung relevant sind, so gilt Unterabsatz 1 nur, wenn der Rückforderungsbescheid nicht innerhalb von zwölf Monaten nach der Zahlung übermittelt worden ist. 5.   Die Verpflichtung zur Rückzahlung gemäß Absatz 1 gilt nicht, wenn zwischen dem Tag der Zahlung der Beihilfe und dem Tag, an dem der Begünstigte von der zuständigen Behörde erfahren hat, dass die Beihilfe zu Unrecht gewährt wurde, mehr als zehn Jahre vergangen sind. Der in Unterabsatz 1 genannte Zeitraum wird jedoch auf vier Jahre verkürzt, wenn der Begünstigte in gutem Glauben gehandelt hat. …“ Lettisches Recht 16 Art. 53 des Ministru kabineta noteikumi Nr. 221 „Kārtība, kādā tiek piešķirts valsts un Eiropas Savienibas atbalsts lauksaimniecībai un lauku attīstibai“ (Dekret Nr. 221 des Ministerrats über das Verfahren für die Gewährung von Beihilfen des Staates und der Europäischen Union für die Landwirtschaft und zur Entwicklung des ländlichen Raums) vom 21. März 2006, das bis zum 28. April 2007 in Kraft war (im Folgenden: Dekret Nr. 221), bestimmt, dass bei einer Beantragung der in diesem Dekret genannten Zahlungen einer Agrarumweltbeihilfe die Verpflichtungen an dem Tag in Kraft treten, an dem der Landwirt den Antrag beim Agrarstützdienst einreicht. Art. 24 des Dekrets Nr. 221 bestimmt, dass der Landwirt den Antrag auf Zahlung einer Agrarumweltbeihilfe zusammen mit der vom Agrarstützdienst erstellten Karte der landwirtschaftlich genutzten Flächen, in der die landwirtschaftlich genutzten Flächen verzeichnet sind, bis zum 9. Juni des laufenden Jahres beim Agrarstützdienst einreicht. 17 Art. 55 des Dekrets Nr. 221 sieht vor, dass neue Verpflichtungen für fünf Jahre begründet werden, wenn sich bei Stellung eines Antrags auf Agrarumweltbeihilfe die Verpflichtungen erweitern. Erweitern sich die Verpflichtungen während ihrer gesamten Dauer um bis zu 20 %, aber um nicht mehr als 2 ha gegenüber den ursprünglichen Verpflichtungen, werden die bereits bestehenden Verpflichtungen erweitert. 18 Art. 58 des Dekrets Nr. 221 sieht vor, dass sich der Landwirt bei einem Antrag auf Zahlung der Agrarumweltbeihilfe für den gesamten fünfjährigen Verpflichtungszeitraum verpflichtet, jährlich einen Beihilfeantrag für die angemeldeten Maßnahmen beim Agrarstützdienst einzureichen sowie die angemeldete Fläche nicht zu verkleinern und ihre Lage nicht zu verändern. 19 Am 31. März 2010 trat das Ministru kabineta noteikumi Nr. 295 „Noteikumi par valsts un Eiropas Savienības lauku attīstības atbalsta piešķiršanu, administrēšanu un uzraudzību vides un lauku ainavas uzlabošanai“ (Dekret Nr. 295 des Ministerrats über die Gewährung, Verwaltung und Überwachung von Agrarentwicklungsbeihilfen des Staates und der Europäischen Union zur Verbesserung der Agrar‑ und der natürlichen Landschaft) vom 23. März 2010 (in Kraft bis zum 20. April 2015, im Folgenden: Dekret Nr. 295) in Kraft. Dieses Dekret und das Dekret Nr. 221 sind auf nach der Verordnung Nr. 1257/1999 durchgeführte „Agrarumweltmaßnahmen“ anwendbar. Gemäß Art. 74 des Dekrets Nr. 295 „bestehen die Verpflichtungen in Bezug auf Flächen oder Tiere im Rahmen der in Art. 3 genannten Maßnahmen bis zum Ende des Verpflichtungszeitraums entsprechend dem Dekret Nr. 1002 des Ministerrats vom 30. November 2004 über das Programmdokument ‚Plan für die Entwicklung des ländlichen Raums in Lettland im Hinblick auf die Umsetzung des Programms zur Entwicklung des ländlichen Raums für die Jahre 2004 bis 2006‘ fort“. 20 Art. 76 des Dekrets Nr. 295 bestimmt, dass der Antragsteller bei einer Beantragung von Agrarumweltbeihilfe während des fünfjährigen Verpflichtungszeitraums jedes Jahr beim Agrarstützdienst einen Antrag einreicht. Er darf weder die Lage der der Verpflichtung unterliegenden Fläche verändern, noch diese Fläche verkleinern oder die Anzahl der Tiere verringern. 21 Art. 84 des Dekrets Nr. 295 sieht vor, dass der Beihilfebegünstigte die für die betreffende Fläche empfangene Beihilfe zurückzuzahlen hat, wenn die Verpflichtungen enden, wenn der für die Zahlung der Beihilfe jährlich zu stellende Antrag nicht gestellt wurde, wenn die Lage der der Verpflichtung unterliegenden Fläche geändert wurde oder wenn diese Fläche verkleinert oder nicht zum Zweck der Beihilfe angemeldet wurde. Wenn bei den im Dekret Nr. 295 genannten Untermaßnahmen die der Verpflichtung unterliegende Fläche verkleinert wird, wird der durchschnittliche Beihilfesatz des betreffenden Jahres im Hinblick auf die verkleinerte Fläche angepasst, indem der im Rahmen der betreffenden Untermaßnahme empfangene Beihilfebetrag durch die der Verpflichtung unterliegende Fläche geteilt wird. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 22 2005 meldete der Landwirtschaftsbetrieb Ezernieki 10,2 ha landwirtschaftlich genutzte Fläche an, um eine Beihilfe zur Entwicklung der ökologischen Landwirtschaft im Rahmen der von der Verordnung Nr. 1257/1999 vorgesehenen Agrarumweltmaßnahme zu erhalten. 2006 meldete er zum Erhalt derselben Beihilfe eine um 2,3 ha vergrößerte Fläche an, d. h. 12,5 ha. Diese Vergrößerung hatte zur Folge, dass ein neuer fünfjähriger Verpflichtungszeitraum begann. 2010 reichte er einen Antrag auf Zahlung nach Fläche ein. Er stellte jedoch keinen Antrag auf Gewährung der Agrarumweltbeihilfe, da seiner Ansicht nach der fünfjährige Verpflichtungszeitraum abgelaufen war. 23 Der Agrarstützdienst traf am 9. August 2011 eine Entscheidung, mit der von Ezernieki die Rückzahlung der gesamten gezahlten Agrarumweltbeihilfe in Höhe von 3390,04 lettischer Lats (LVL) (ungefähr 4800 Euro) verlangt wurde. Diese Entscheidung beruhte darauf, dass die ursprüngliche Verpflichtung wegen der im Jahr 2006 erfolgten Anmeldung einer vergrößerten Fläche zur Gewährung von Agrarumweltbeihilfe durch eine neue Verpflichtung mit einer Laufzeit von 2006 bis 2010 ersetzt worden sei. Da Ezernieki 2010 keinen Antrag auf Zahlung der Beihilfe gestellt habe, habe der Betrieb den Verpflichtungszeitraum beendet, so dass er die zuvor erhaltenen Beihilfen zurückzahlen müsse. 24 Ezernieki erhob Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung beim Administratīvā rajona tiesa (regionales Verwaltungsgericht, Lettland), das ihr stattgab. 25 Die mit der Berufung des Agrarstützdiensts befasste Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsberufungsgericht, Lettland) wies hingegen die Klage von Ezernieki ab. Das Berufungsgericht war nämlich zum einen der Ansicht, dass Ezernieki durch die im Jahr 2006 vorgenommene Vergrößerung um 2,30 ha der zu Beihilfezwecken angemeldeten Fläche gemäß Art. 55 des Dekrets Nr. 221 neue Verpflichtungen bezüglich der gesamten Fläche für einen Zeitraum von fünf Jahren entstanden waren. Zum anderen entschied es, dass die im Jahr 2010 unterbliebene Einreichung des jährlichen Beihilfeantrags dazu geführt habe, dass die Verpflichtungen geendet hätten, was wiederum zu der Pflicht geführt habe, die für die betreffende Fläche erhaltenen Beihilfen zurückzuzahlen. 26 Ezernieki legte beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde gegen das Urteil der Administratīvā apgabaltiesa (regionales Verwaltungsberufungsgericht) ein. 27 Das vorlegende Gericht zweifelt an der unionsrechtlichen Zulässigkeit der von der nationalen Regelung vorgesehenen Pflicht zur Rückzahlung der erhaltenen Beihilfen, wie sie im Ausgangsverfahren in Frage steht. Im Wesentlichen ist es der Ansicht, dass die Pflicht des Begünstigten zur Rückzahlung der gesamten erhaltenen Beihilfen unverhältnismäßig sein könne, da er bezüglich des Großteils der Fläche die eingegangenen Verpflichtungen erfüllt habe und bloß wegen einer Unaufmerksamkeit die veränderte Fläche nicht angemeldet habe. Die anhängige Rechtssache weise folgende Besonderheiten auf: Die Fläche sei bereits im zweiten Jahr der ursprünglichen Verpflichtungen vergrößert worden, die Vergrößerung überschreite nur um 0,3 ha den erlaubten Grenzwert von 2 ha, und die Verpflichtungen seien für die ursprünglich angemeldete Fläche von 10,2 ha während des Fünfjahreszeitraums erfüllt worden. 28 Da der Augstākās tiesas Administratīvo lietu departaments (Oberster Gerichtshof, Senat für Verwaltungsstreitsachen, Lettland) der Ansicht ist, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung der Verordnungen Nrn. 1257/1999, 817/2004 und 796/2004 sowie der Art. 17 und 52 der Charta abhängt, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist die Anwendung der in Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 817/2004 vorgesehenen Rechtsfolgen in Bezug auf eine Agrarumweltbeihilfe, die für einen anfänglich gemeldeten Teil einer Fläche gewährt wurde, für den während fünf Jahren die Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt wurden, mit dem Ziel der Verordnungen Nrn. 1257/1999 und 817/2004 und mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar? 2. Ist Art. 17 der Charta in Verbindung mit Art. 52 der Charta dahin auszulegen, dass die Anwendung der in Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 817/2004 vorgesehenen Rechtsfolgen in Bezug auf eine Agrarumweltbeihilfe, die für einen Teil einer Fläche gewährt wurde, für den während fünf Jahren die Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt wurden, mit diesen Bestimmungen vereinbar ist? 3. Ist Art. 52 der Charta dahin auszulegen, dass von der Anwendung der Rechtsfolgen abgewichen werden kann, die nach einer Verordnung und nach den von einem Mitgliedstaat im Einklang mit dieser Verordnung erlassenen Vorschriften zwingend sind, wenn in einem bestimmten Fall besondere Umstände vorliegen, unter denen die betreffende Einschränkung unverhältnismäßig wäre? 4. Ist das mit der Rechtssache befasste Gericht angesichts des Ziels der Verordnungen Nrn. 1257/1999 und 817/2004 und der Grenzen, die diese Verordnungen dem Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten setzen, berechtigt, Art. 84 des Dekrets Nr. 295, der die Rückzahlung der Beihilfe betrifft, nicht in vollem Umfang anzuwenden, wenn seine Anwendung unter den besonderen Umständen des Falles dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seiner Auslegung in der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats zuwiderläuft? Zu den Vorlagefragen 29 Mit seinen vier Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 817/2004 im Hinblick auf das Ziel der Verordnungen Nrn. 1257/1999 und 817/2004, auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und auf die Art. 17 und 52 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach der Empfänger einer Beihilfe, die ihm im Gegenzug zu seinen mehrjährigen Agrarumweltverpflichtungen gewährt wird, verpflichtet ist, die gesamte bereits ausgezahlte Beihilfe zurückzuzahlen, weil er für das letzte Jahr des fünfjährigen Zeitraums seiner Verpflichtungen keinen jährlichen Antrag auf Zahlung der Beihilfe gestellt hat, wenn dieser fünfjährige Zeitraum aufgrund der Vergrößerung der Betriebsfläche des Empfängers einen früheren Zeitraum ersetzt und der Empfänger vor der Vergrößerung seine Verpflichtungen in Bezug auf die Bewirtschaftung der angemeldeten Fläche ununterbrochen erfüllt hat. 30 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Art. 22 bis 24 der Verordnung Nr. 1257/1999 die allgemeinen Voraussetzungen für die Gewährung von Beihilfen für landwirtschaftliche Produktionsverfahren festlegen, die insbesondere auf die Erhaltung des ländlichen Lebensraums ausgerichtet sind. Wie sich aus diesen Bestimmungen ergibt, sind Agrarumweltbeihilfen dadurch gekennzeichnet, dass sich die betreffenden Landwirte für fünf Jahre verpflichten, eine umweltfreundliche Landwirtschaft zu betreiben. Im Gegenzug zu den Agrarumweltverpflichtungen wird von den Staaten jährlich nach Maßgabe der erlittenen Einkommensverluste oder der daraus entstehenden zusätzlichen Kosten eine Beihilfe gewährt (Urteile vom 4. Juni 2009, JK Otsa Talu, C‑241/07, EU:C:2009:337, Rn. 36, vom 24. Mai 2012, Hehenberger, C‑188/11, EU:C:2012:312, Rn. 30, und vom 7. Februar 2013, Pusts, C‑454/11, EU:C:2013:64, Rn. 30). 31 Im Übrigen sieht Art. 66 Abs. 5 der Verordnung Nr. 817/2004 vor, dass bei Beihilfen, deren Gewährung über mehrere Jahre erfolgt, nach der Zahlung im ersten Jahr der Antragstellung die darauffolgenden Zahlungen auf der Grundlage eines jährlichen Zahlungsantrags für die Beihilfe geleistet werden, es sei denn, der Mitgliedstaat sieht ein anderes Verfahren vor, das eine wirksame jährliche Überprüfung gemäß Art. 67 Abs. 1 dieser Verordnung ermöglicht. Diesem Art. 66 Abs. 5 ist zu entnehmen, dass die Landwirte ohne ein solches nationales Verfahren keine Zahlungen erhalten, wenn sie keinen jährlichen Zahlungsantrag stellen. Die jährliche Antragstellung ist also eine Voraussetzung für die Gewährung von Agrarumweltbeihilfen nach den Art. 22 bis 24 der Verordnung Nr. 1257/1999 (Urteil vom 7. Februar 2013, Pusts, C‑454/11, EU:C:2013:64, Rn. 32). 32 Die Bedeutung, die der Stellung eines jährlichen Zahlungsantrags für Agrarumweltbeihilfen zukommt, wird auch durch Art. 67 Abs. 1 der Verordnung Nr. 817/2004 bestätigt, der für das Kontrollsystem der mehrjährigen Agrarumweltbeihilfe für Produktionsverfahren bestimmt, dass die Kontrollen der Erstanträge auf Inanspruchnahme einer Beihilferegelung und der folgenden Zahlungsanträge so durchgeführt werden, dass zuverlässig geprüft werden kann, ob die Beihilfevoraussetzungen erfüllt sind. Eine solche jährliche Antragstellung ermöglicht es also, die Einhaltung der eingegangenen Agrarumweltverpflichtungen zu überprüfen. Indem sich die Zahlstelle auf diesen jährlichen Antrag stützt, ist sie in der Lage, jedes Jahr wirksam zu überprüfen, ob die mehrjährigen Verpflichtungen fortdauernd eingehalten werden, und die Beihilfen gegebenenfalls auszuzahlen (Urteil vom 7. Februar 2013, Pusts, C‑454/11, EU:C:2013:64, Rn. 33). 33 Des Weiteren sieht Art. 37 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 817/2004 vor, dass in Fällen, in denen der Begünstigte der Agrarumweltbeihilfen während der Laufzeit der als Voraussetzung für die Gewährung der Beihilfe eingegangenen Verpflichtung seine Betriebsfläche um mehr als 2 ha gegenüber der ursprünglichen Fläche vergrößert, die ursprüngliche Verpflichtung des Begünstigten durch eine neue fünfjährige Verpflichtung ersetzt wird. Art. 37 Abs. 3 der Verordnung bestimmt weiter, dass diese neue Verpflichtung für die gesamte Fläche eingegangen wird und ihre Bedingungen mindestens genauso strikt sind wie die der ursprünglichen Verpflichtung. 34 Folglich ist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, soweit sie zum einen als eine der Voraussetzungen für die Gewährung der Agrarumweltbeihilfen verlangt, dass der Antragsteller während des gesamten fünfjährigen Verpflichtungszeitraums verpflichtet ist, jährlich einen Zahlungsantrag zu stellen, und zum anderen vorsieht, dass im Fall einer erheblichen Vergrößerung der Betriebsfläche, die um 2 ha über die ursprüngliche Verpflichtung hinausgeht, ein neuer fünfjähriger Verpflichtungszeitraum beginnt, mit den oben genannten Bestimmungen des Unionsrechts vereinbar. 35 Im Ausgangsverfahren hat der Begünstigte unstreitig keinen Beihilfeantrag für das letzte Jahr des fünfjährigen Verpflichtungszeitraums gestellt, der ab der Flächenvergrößerung begann, die um 2 ha über die ursprüngliche Fläche hinausging. Diese Vergrößerung erfüllte hinsichtlich der ursprünglich angemeldeten Fläche von 10,2 ha zweifellos sämtliche Beihilfevoraussetzungen. 36 Jedoch ist zu beachten, dass bei Agrarumweltbeihilfen, die durch eine mehrjährige Verpflichtung gekennzeichnet sind, die Beihilfevoraussetzungen während des gesamten Verpflichtungszeitraums einzuhalten sind, für den diese Beihilfen gewährt worden sind (Urteile vom 24. Mai 2012, Hehenberger, C‑188/11, EU:C:2012:312, Rn. 34, und vom 7. Februar 2013, Pusts, C‑454/11, EU:C:2013:64, Rn. 35). 37 Wird daher eine dieser Voraussetzungen für die Gewährung der Agrarumweltbeihilfe – wie die nach der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung verlangte Stellung eines jährlichen Zahlungsantrags für die Beihilfe – auch nur ein einziges Mal während der gesamten Laufzeit des Agrarumweltprojekts, für die sich der Beihilfeempfänger verpflichtet hat, nicht erfüllt, können die Beihilfen nicht gewährt werden (Urteil vom 7. Februar 2013, Pusts, C‑454/11, EU:C:2013:64, Rn. 35). 38 Aus Art. 37 Abs. 3 der Verordnung Nr. 817/2004 ergibt sich aber, dass der Begünstigte nach einer erheblichen Vergrößerung der Fläche des betreffenden Betriebs und dem Beginn eines neuen fünfjährigen Verpflichtungszeitraums innerhalb dessen Laufzeit sämtliche sich daraus ergebenden Pflichten für die gesamte vergrößerte Fläche während fünf Jahren zu erfüllen hat. 39 Des Weiteren trägt allein der Beihilfeantragsteller die Verantwortung dafür, dass die Voraussetzungen für die Gewährung der Agrarumweltbeihilfen erfüllt werden. Entgegen dem Vorbringen des Klägers des Ausgangsverfahrens geht aus den Verordnungen Nrn. 1257/1999 und 817/2004 nicht hervor, dass die zuständigen Behörden eine Informationspflicht hinsichtlich seiner Pflicht zur Einreichung eines Beihilfeantrags für das letzte Jahr seiner Verpflichtungen haben. 40 Unter diesen Umständen kann die Tatsache, dass der Empfänger einer Beihilfe, die ihm im Gegenzug zu seinen Verpflichtungen gewährt wird, nur teilweise die Voraussetzungen für ihre Gewährung erfüllt hat, die weitere Beihilfezahlung nicht rechtfertigen. 41 Wie Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 817/2004, der auf Art. 49 der Verordnung Nr. 2419/2001 verweist, welcher wiederum durch Art. 73 der Verordnung Nr. 796/2004 ersetzt worden ist, für den Fall des Ausschlusses von Agrarumweltbeihilfen wegen der Nichterfüllung von Beihilfevoraussetzungen zu entnehmen ist, ist der Beihilfebegünstigte verpflichtet, sämtliche bereits gezahlten Beträge für Beihilfen zurückzuzahlen, von denen er ausgeschlossen worden ist (Urteile vom 24. Mai 2012, Hehenberger, C‑188/11, EU:C:2012:312, Rn. 36, und vom 7. Februar 2013, Pusts, C‑454/11, EU:C:2013:64, Rn. 37). 42 Das Ziel der Verordnungen Nrn. 1257/1999 und 817/2004, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Art. 17 und 52 der Charta können diese Auslegung von Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 817/2004 nicht in Frage stellen. 43 Wie aus den Rn. 30 bis 33 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ist das Ziel der Verordnungen Nrn. 1257/1999 und 817/2004 nämlich der Umweltschutz. Der allgemeine Aufbau des von ihnen eingeführten Systems beruht darauf, dass die Beachtung der zur Gewährung der Agrarumweltbeihilfen eingegangenen Verpflichtungen wirksam überprüft wird und dass die Agrarumweltschutzmaßnahmen auf der gesamten angemeldeten Fläche dauerhaft umgesetzt werden, und zwar während des ganzen fünfjährigen Verpflichtungszeitraums. 44 Die Pflicht zur Rückzahlung der Beihilfen, die ein Begünstigter wie der Kläger des Ausgangsverfahrens erhalten hat, der nicht sämtliche Voraussetzungen für die Gewährung dieser Beihilfen erfüllt hat, trägt zur Verwirklichung dieses Ziels bei. 45 Sodann ist hervorzuheben, dass die jährlichen Beihilfezahlungen nicht als endgültig betrachtet werden können, da die so gezahlten Beihilfen unter Umständen vom Begünstigten zurückzuzahlen sind, nämlich dann, wenn er nicht alle ihre Zahlungsvoraussetzungen während des ganzen fünfjährigen Zeitraums für die gesamte angemeldete Fläche erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Mai 2012, Hehenberger, C‑188/11, EU:C:2012:312, Rn. 34, und vom 7. Februar 2013, Pusts, C‑454/11, EU:C:2013:64, Rn. 36 und 37). 46 Daher kann nicht eingewandt werden, dass die Pflicht zur Rückzahlung des Gesamtbetrags der gezahlten Beihilfen bei Nichterfüllung sämtlicher Voraussetzungen für die Gewährung der betreffenden Beihilfen außer Verhältnis zum verfolgten Ziel stünde, weil der Begünstigte hinsichtlich der ursprünglich angemeldeten Fläche die eingegangenen Verpflichtungen erfüllt habe. Wie aus Rn. 41 des vorliegenden Urteils hervorgeht, lässt nämlich die Nichterfüllung dieser Voraussetzungen die Rechtfertigung und die Rechtsgrundlage für die Gewährung der Beihilfen und das Recht, sie zu behalten, in Bezug auf ihren Gesamtbetrag entfallen. 47 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Pflicht zur Rückzahlung einer zu Unrecht gezahlten Beihilfe wegen des Verstoßes gegen eine ihrer Gewährungsvoraussetzungen nicht mit einem Eingriff in das in Art. 17 der Charta anerkannte Eigentumsrecht gleichgestellt werden kann. 48 Aus dem Wortlaut von Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 817/2004, auf dessen Grundlage die streitigen Beihilfen an den Kläger des Ausgangsverfahrens gezahlt wurden, ergibt sich nämlich, dass er im Fall der Nichterfüllung der Zahlungsvoraussetzungen verpflichtet ist, sie zurückzuzahlen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Mai 2012, Hehenberger, C‑188/11, EU:C:2012:312, Rn. 34, und vom 7. Februar 2013, Pusts, C‑454/11, EU:C:2013:64, Rn. 36 und 37). 49 Daher kann sich ein Begünstigter, der als schlichte Folge der Nichterfüllung der Voraussetzungen der betreffenden Zahlung zur Rückzahlung zu Unrecht erhaltener Beihilfen verpflichtet ist, nicht auf den Schutz durch Art. 17 der Charta berufen. 50 Da es im vorliegenden Fall nicht um eine Beschränkung der Ausübung des von der Charta anerkannten Eigentumsrechts geht, ist es nicht erforderlich, die Pflicht zur Rückzahlung der oben genannten Beihilfen im Hinblick auf Art. 52 der Charta zu prüfen. 51 In diesem Zusammenhang ist Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 817/2004 in Anbetracht des Ziels der Verordnungen Nrn. 1257/1999 und 817/2004, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des in der Charta verankerten Eigentumsrechts dahin auszulegen, dass er den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden lettischen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die den Begünstigten des Ausgangsverfahrens dazu verpflichten, den Gesamtbetrag der ihm zu Unrecht gezahlten Agrarumweltbeihilfen zurückzuzahlen. 52 Das vorlegende Gericht möchte dennoch im Rahmen seiner vierten Frage wissen, ob möglicherweise die im Ausgangsverfahren in Rede stehende und im Einklang mit dem Unionsrecht verabschiedete nationale Regelung außer Anwendung gelassen werden kann, wenn ihre Anwendung gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Auslegung seiner eigenen Rechtsordnung verstieße. 53 Insoweit ist festzustellen, dass es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts nicht zugelassen werden kann, dass Vorschriften des nationalen Rechts, auch wenn sie Verfassungsrang haben, die einheitliche Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen (Urteile vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft, 11/70, EU:C:1970:114, Rn. 3, vom 13. Dezember 1979, Hauer, 44/79, EU:C:1979:290, Rn. 14, und vom 15. Januar 2013, Križan u. a., C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 70). 54 In Anbetracht der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Auslegung im Hinblick auf die Vereinbarkeit der Pflicht des Klägers des Ausgangsverfahrens zur Rückzahlung der gesamten Agrarumweltbeihilfen mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darf das nationale Gericht der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden und im Einklang mit dem Unionsrecht verabschiedeten nationalen Regelung nicht ihre rechtliche Wirksamkeit nehmen. 55 Eine Ausnahme von der Anwendung der mit dem Unionsrecht vereinbaren Bestimmungen kann auch nicht auf der Grundlage des Begriffs der Billigkeit zugelassen werden, auf den sich das vorlegende Gericht ebenfalls bezieht. 56 Insoweit ist es ständige Rechtsprechung, dass das Unionsrecht unbeschadet bestimmter vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehener Fälle keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz kennt, nach dem eine geltende Vorschrift des Unionsrechts von einer innerstaatlichen Behörde nicht angewandt werden kann, wenn diese Vorschrift für den Betroffenen eine Härte darstellt, die der Unionsgesetzgeber erkennbar zu vermeiden gesucht hätte, wenn er bei der Normsetzung an diesen Fall gedacht hätte (Urteil vom 26. Oktober 2006, Koninklijke Coöperatie Cosun, C‑248/04, EU:C:2006:666, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher kann keine Ausnahme von der Anwendung des Unionsrechts aus Billigkeitsgründen gemacht werden, wenn dies nicht in der jeweiligen Unionsrechtsvorschrift vorgesehen ist oder diese selbst für nichtig erklärt wird (Urteil vom 26. Oktober 2006, Koninklijke Coöperatie Cosun, C‑248/04, EU:C:2006:666, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 57 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 71 Abs. 2 der Verordnung Nr. 817/2004 im Hinblick auf das Ziel der Verordnungen Nrn. 1257/1999 und 817/2004, auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und auf die Art. 17 und 52 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach der Empfänger einer Beihilfe, die ihm im Gegenzug zu seinen mehrjährigen Agrarumweltverpflichtungen gewährt wird, verpflichtet ist, die gesamte bereits ausgezahlte Beihilfe zurückzuzahlen, weil er für das letzte Jahr des fünfjährigen Zeitraums seiner Verpflichtungen keinen jährlichen Antrag auf Zahlung der Beihilfe gestellt hat, wenn dieser fünfjährige Zeitraum aufgrund der Vergrößerung der Betriebsfläche des Empfängers einen früheren Zeitraum ersetzt und der Empfänger vor der Vergrößerung seine Verpflichtungen in Bezug auf die Bewirtschaftung der angemeldeten Fläche ununterbrochen erfüllt hat. Kosten 58 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt: Art. 71 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 817/2004 der Kommission vom 29. April 2004 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1257/1999 des Rates über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) ist im Hinblick auf das Ziel der Verordnung (EG) Nr. 1257/1999 des Rates vom 17. Mai 1999 über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft (EAGFL) und zur Änderung bzw. Aufhebung bestimmter Verordnungen in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1783/2003 des Rates vom 29. September 2003 und der Verordnung Nr. 817/2004, auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und auf die Art. 17 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach der Empfänger einer Beihilfe, die ihm im Gegenzug zu seinen mehrjährigen Agrarumweltverpflichtungen gewährt wird, verpflichtet ist, die gesamte bereits ausgezahlte Beihilfe zurückzuzahlen, weil er für das letzte Jahr des fünfjährigen Zeitraums seiner Verpflichtungen keinen jährlichen Antrag auf Zahlung der Beihilfe gestellt hat, wenn dieser fünfjährige Zeitraum aufgrund der Vergrößerung der Betriebsfläche des Empfängers einen früheren Zeitraum ersetzt und der Empfänger vor der Vergrößerung seine Verpflichtungen in Bezug auf die Bewirtschaftung der angemeldeten Fläche ununterbrochen erfüllt hat. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Lettisch.
Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 27. April 2016.#ANKO AE Antiprosopeion, Emporiou kai Viomichanias gegen Europäische Kommission.#Schiedsklausel – Finanzhilfevereinbarungen im Rahmen des Siebten Rahmenprogramms für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration (2007 – 2013) – Projekte Perform und Oasis – Förderfähige Kosten – Rückerstattung der gezahlten Beträge – Widerklage – Verzugszinsen.#Rechtssache T-154/14.
62014TJ0154
ECLI:EU:T:2016:246
2016-04-27T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62014TJ0154 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62014TJ0154 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62014TJ0154 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 19. April 2016.#Dansk Industri (DI) gegen Sucession Karsten Eigil Rasmussen.#Vorabentscheidungsersuchen des Højesteret.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2000/78/EG – Verbot der Diskriminierung wegen des Alters – Nationale Regelung, die gegen eine Richtlinie verstößt – Möglichkeit des Einzelnen, den Staat wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht haftbar zu machen – Rechtsstreit zwischen Privatpersonen – Abwägung verschiedener Rechte und Grundsätze – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – Rolle des nationalen Gerichts.#Rechtssache C-441/14.
62014CJ0441
ECLI:EU:C:2016:278
2016-04-19T00:00:00
Bot, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62014CJ0441 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 19. April 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Sozialpolitik — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Richtlinie 2000/78/EG — Verbot der Diskriminierung wegen des Alters — Nationale Regelung, die gegen eine Richtlinie verstößt — Möglichkeit des Einzelnen, den Staat wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht haftbar zu machen — Rechtsstreit zwischen Privatpersonen — Abwägung verschiedener Rechte und Grundsätze — Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes — Rolle des nationalen Gerichts“ In der Rechtssache C‑441/14 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Højesteret (Oberstes Gericht, Dänemark) mit Entscheidung vom 22. September 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 24. September 2014, in dem Verfahren Dansk Industri (DI), handelnd für die Ajos A/S, gegen Nachlass des Karsten Eigil Rasmussen erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça, A. Arabadjiev und F. Biltgen (Berichterstatter), der Richter J. Malenovský, E. Levits und J.‑C. Bonichot, der Richterin M. Berger sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. Vajda, Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2015, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der Dansk Industri (DI), handelnd für die Ajos A/S, vertreten durch M. Eisensee, advokat, — des Nachlasses des Karsten Eigil Rasmussen, vertreten durch A. Andersen, advokat, — der dänischen Regierung, vertreten durch J. Bering Liisberg und M. Wolff als Bevollmächtigte, — der deutschen Regierung, vertreten durch B. Beutler als Bevollmächtigten, — der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. Gijzen als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Clausen und D. Martin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. November 2015 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. a sowie Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16) und des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Dansk Industri (DI), handelnd für die Ajos A/S (im Folgenden: Ajos), und den Berechtigten am Nachlass von Herrn Rasmussen wegen der Weigerung von Ajos, Herrn Rasmussen eine Entlassungsabfindung zu gewähren. Rechtlicher Rahmen Richtlinie 2000/78 3 Nach Art. 1 der Richtlinie 2000/78 ist ihr Zweck „die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“. 4 Art. 2 der Richtlinie bestimmt: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. (2)   Im Sinne des Absatzes 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; …“ 5 In Art. 6 der Richtlinie heißt es: „(1)   Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen: a) die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen; b) die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile; … (2)   Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass bei den betrieblichen Systemen der sozialen Sicherheit die Festsetzung von Altersgrenzen als Voraussetzung für die Mitgliedschaft oder den Bezug von Altersrente oder von Leistungen bei Invalidität einschließlich der Festsetzung unterschiedlicher Altersgrenzen im Rahmen dieser Systeme für bestimmte Beschäftigte oder Gruppen bzw. Kategorien von Beschäftigten und die Verwendung im Rahmen dieser Systeme von Alterskriterien für versicherungsmathematische Berechnungen keine Diskriminierung wegen des Alters darstellt, solange dies nicht zu Diskriminierungen wegen des Geschlechts führt.“ Dänisches Recht 6 Das Gesetz über die Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Angestellten (Lov om retsforholdet mellem arbejdsgivere og funktionærer [Funktionærloven], im Folgenden: Angestelltengesetz) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung enthält in § 2a folgende Bestimmungen über die Entlassungsabfindung: „(1)   Wird das Dienstverhältnis eines Angestellten, der im selben Betrieb 12, 15 oder 18 Jahre lang ununterbrochen beschäftigt war, gekündigt, hat der Arbeitgeber bei der Entlassung des Angestellten einen Betrag in Höhe von 1, 2 bzw. 3 Monatsgehältern zu zahlen. (2)   Abs. 1 findet keine Anwendung, wenn der Angestellte bei seinem Ausscheiden eine Volksrente erhält. (3)   Erhält der Angestellte bei seinem Ausscheiden eine Altersrente vom Arbeitgeber und ist der Angestellte dem entsprechenden Rentensystem vor Vollendung des 50. Lebensjahrs beigetreten, entfällt die Entlassungsabfindung. (4)   Abs. 3 findet keine Anwendung, wenn am 1. Juli 1996 in einem Tarifvertrag geregelt war, ob die Entlassungsabfindung infolge der vom Arbeitgeber gewährten Altersrente gekürzt wird oder entfällt. (5)   Abs. 1 findet im Fall einer ungerechtfertigten Entlassung entsprechende Anwendung.“ 7 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hat das Königreich Dänemark die Richtlinie 2000/78 mit dem Gesetz Nr. 253 zur Änderung des Gesetzes über das Verbot der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt u. a. (Lov nr. 253 om ændring af lov om forbud mod forskelsbehandling på arbejdsmarkedet m. v.) vom 7. April 2004 und dem Gesetz Nr. 1417 zur Änderung des Gesetzes über das Verbot der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt u. a. (Lov nr. 1417 om ændring af lov om forbud mod forskelsbehandling på arbejdsmarkedet m. v.) vom 22. Dezember 2004 umgesetzt. 8 Das Gesetz Nr. 253 vom 7. April 2004 in geänderter Fassung (im Folgenden: Antidiskriminierungsgesetz) sieht in § 1 vor: „Diskriminierung im Sinne dieses Gesetzes ist jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der Religion oder des Glaubens, der politischen Anschauung, der sexuellen Orientierung, des Alters, einer Behinderung oder der nationalen, sozialen oder ethnischen Herkunft.“ 9 § 2 Abs. 1 des Antidiskriminierungsgesetzes bestimmt: „Ein Arbeitgeber darf Arbeitnehmer oder Bewerber um freie Stellen bei Einstellung, Kündigung, Versetzung oder Beförderung oder hinsichtlich der Entgelt- und Arbeitsbedingungen nicht unterschiedlich behandeln.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 10 Herr Rasmussen wurde am 25. Mai 2009 im Alter von 60 Jahren von Ajos, seiner Arbeitgeberin, entlassen. Einige Tage später kündigte er seinerseits und vereinbarte mit Ajos, dass er Ende Juni 2009 ausscheiden werde. In der Folge wurde er von einem anderen Unternehmen eingestellt. 11 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hatte Herr Rasmussen, der seit 1. Juni 1984 im Dienst von Ajos gestanden hatte, nach § 2a Abs. 1 des Angestelltengesetzes grundsätzlich Anspruch auf eine Entlassungsabfindung in Höhe von drei Monatsgehältern. Da er bei seinem Ausscheiden jedoch das 60. Lebensjahr vollendet hatte und Anspruch auf die vom Arbeitgeber nach einem Rentensystem, dem er vor Vollendung des 50. Lebensjahrs beigetreten war, geschuldete Altersrente hatte, stand ihm diese Abfindung nach § 2a Abs. 3 des Angestelltengesetzes in seiner Auslegung nach der ständigen nationalen Rechtsprechung nicht zu, obwohl er nach seinem Ausscheiden bei Ajos auf dem Arbeitsmarkt geblieben war. 12 Im März 2012 erhob die Gewerkschaft Dansk Formands Forening im Namen von Herrn Rasmussen Klage gegen Ajos auf Zahlung der Entlassungsabfindung in Höhe von drei Monatsgehältern gemäß § 2a des Angestelltengesetzes. Die Gewerkschaft stützte sich dabei auf das Urteil des Gerichtshofs vom 12. Oktober 2010, Ingeniørforeningen i Danmark (C‑499/08, EU:C:2010:600). 13 Am 14. Januar 2014 gab das Sø- og Handelsret (See- und Handelsgericht) der im Namen von Herrn Rasmussen, nunmehr vertreten durch die Nachlassberechtigten, erhobenen Klage auf Zahlung der fraglichen Entlassungsabfindung statt. Es entnahm dem Urteil Ingeniørforeningen i Danmark (C‑499/08, EU:C:2010:600), dass § 2a Abs. 3 des Angestelltengesetzes der Richtlinie 2000/78 widerspreche, und stellte fest, dass die frühere nationale Auslegung dieser Bestimmung gegen das allgemeine im Unionsrecht verankerte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoße. 14 Gegen dieses Urteil legte Ajos ein Rechtsmittel vor dem Højesteret (Oberster Gerichtshof) ein. Sie machte geltend, eine Auslegung von § 2a Abs. 3 des Angestelltengesetzes im Einklang mit den im Urteil Ingeniørforeningen i Danmark (C‑499/08, EU:C:2010:600) ausgelegten Bestimmungen sei contra legem. Darüber hinaus dürfe eine so klare und eindeutige Rechtsvorschrift wie § 2a Abs. 3 nicht aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Verbots der Diskriminierung wegen des Alters unangewendet bleiben, denn dadurch würden die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verletzt. 15 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es sich im vorliegenden Fall um einen Rechtsstreit unter Privatpersonen handele, in dessen Rahmen es nicht möglich sei, den Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 unmittelbare Wirkung zu verleihen, und dass die nationale Rechtsprechung einer mit dem Unionsrecht im Einklang stehenden Auslegung von § 2a Abs. 3 des Angestelltengesetzes entgegenstehe. Sodann wirft es die Frage auf, ob sich ein Angestellter gegenüber seinem privaten Arbeitgeber auf das allgemeine unionsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen des Alters berufen könne, um ihn zur Zahlung einer im dänischen Recht vorgesehenen Entlassungsabfindung zu verpflichten, obwohl der Arbeitgeber nach nationalem Recht die Abfindung nicht zahlen müsse. Damit stelle sich im vorliegenden Fall auch die Frage, inwiefern ein ungeschriebener Grundsatz des Unionsrechts einen privaten Arbeitgeber daran hindern könne, sich auf eine diesem Grundsatz zuwiderlaufende nationale Rechtsvorschrift zu berufen. 16 Um dies zu prüfen, müsse festgestellt werden, ob das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters denselben Inhalt und dieselbe Tragweite wie die Richtlinie 2000/78 habe oder ob die Richtlinie insoweit einen weiter reichenden Schutz gegen Altersdiskriminierungen vorsehe. 17 Sollte die Richtlinie keinen weiter reichenden Schutz gewähren als das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, stelle sich zudem die Frage, ob dieser Grundsatz, wie aus den Urteilen Mangold (C‑144/04, EU:C:2005:709) und Kücükdeveci (C‑555/07, EU:C:2010:21) hervorgehe, in den Beziehungen zwischen Privatpersonen unmittelbar angewandt werden könne und in welcher Weise die unmittelbare Anwendung dieses Verbots gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und den mit ihm zusammenhängenden Grundsatz des Vertrauensschutzes abzuwägen sei. 18 Fraglich sei überdies, ob das Unionsrecht es einem nationalen Gericht in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erlaube, eine Abwägung zwischen dem allgemeinen Verbot der Diskriminierung wegen des Alters und den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vorzunehmen und dabei zu dem Ergebnis zu gelangen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit dem allgemeinen Verbot der Diskriminierung wegen des Alters vorgehe, so dass der Arbeitgeber nach nationalem Recht von der Verpflichtung zur Zahlung der Entlassungsabfindung befreit sei. 19 Insoweit sei ferner zu klären, ob im Rahmen einer solchen Abwägung berücksichtigt werden dürfe, dass der Arbeitnehmer wegen der Unvereinbarkeit der dänischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht gegebenenfalls eine Entschädigung vom dänischen Staat verlangen könne. 20 Unter diesen Umständen hat das Højesteret (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Umfasst das allgemeine unionsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen des Alters ein Verbot einer Regelung wie der dänischen, wonach Arbeitnehmer keine Entlassungsabfindung beziehen können, wenn sie Anspruch auf eine Altersrente haben, die von ihrem Arbeitgeber aus einem Rentensystem gezahlt wird, dem sie vor Vollendung ihres 50. Lebensjahrs beigetreten sind, und zwar unabhängig davon, ob sie sich dafür entscheiden, auf dem Arbeitsmarkt zu verbleiben, oder beschließen, in Rente zu gehen? 2. Ist es mit dem Unionsrecht vereinbar, dass ein dänisches Gericht in einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und einem privaten Arbeitgeber über die Zahlung einer Entlassungsabfindung, von der der Arbeitgeber nach nationalem Recht, wie in der ersten Frage beschrieben, befreit ist – was jedoch nicht mit dem allgemeinen unionsrechtlichen Verbot der Diskriminierung wegen des Alters vereinbar ist –, eine Abwägung dieses Verbots und seiner unmittelbaren Wirkung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem mit ihm zusammenhängenden Grundsatz des Vertrauensschutzes vornimmt und dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit dem Verbot der Diskriminierung wegen des Alters vorgeht, so dass der Arbeitgeber nach nationalem Recht von der Zahlung der Entlassungsabfindung befreit ist? Es wird auch um Klärung der Frage ersucht, ob der Umstand, dass der Arbeitnehmer wegen der Unvereinbarkeit der dänischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht gegebenenfalls eine staatliche Entschädigung verlangen kann, Auswirkungen darauf hat, ob eine derartige Abwägung vorgenommen werden darf. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 21 Mit seiner ersten Frage möchte das mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befasste vorlegende Gericht wissen, ob das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach Arbeitnehmer – unabhängig davon, ob sie sich dafür entscheiden, auf dem Arbeitsmarkt zu verbleiben, oder beschließen, in Rente zu gehen – keine Entlassungsabfindung beziehen können, wenn sie Anspruch auf eine Altersrente haben, die von ihrem Arbeitgeber aus einem Rentensystem gezahlt wird, dem sie vor Vollendung ihres 50. Lebensjahrs beigetreten sind. 22 Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das in der Richtlinie 2000/78 konkretisierte allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters seinen Ursprung in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten hat, wie sich aus den Erwägungsgründen 1 und 4 der Richtlinie ergibt (vgl. Urteile Mangold, C‑144/04, EU:C:2005:709, Rn. 74, und Kücükdeveci, C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 20 und 21). Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich ferner, dass dieses nunmehr in Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Verbot als ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anzusehen ist (vgl. Urteile Mangold, C‑144/04, EU:C:2005:709, Rn. 75, und Kücükdeveci, C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 21). 23 Sodann ist klarzustellen, dass das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters nicht in der Richtlinie 2000/78 selbst verankert ist, sondern dass sie dieses Verbot lediglich im Bereich von Beschäftigung und Beruf konkretisiert, so dass die Tragweite des von der Richtlinie gewährten Schutzes nicht über den mit diesem Verbot gewährleisteten Schutz hinausgeht. Der Gesetzgeber der Europäischen Union wollte durch den Erlass der Richtlinie einen genaueren Rahmen definieren, um die konkrete Umsetzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung zu fördern und insbesondere verschiedene Möglichkeiten für eine Abweichung von diesem Grundsatz festzulegen, die mittels einer klareren Definition ihres Anwendungsbereichs eingegrenzt werden. 24 Schließlich setzt die Anwendung des allgemeinen Verbots der Diskriminierung wegen des Alters auf einen Sachverhalt wie den des Ausgangsverfahrens voraus, dass der Sachverhalt in den Bereich der von der Richtlinie 2000/78 aufgestellten Diskriminierungsverbote fällt. 25 Insoweit genügt der Hinweis darauf, dass § 2a Abs. 3 des Angestelltengesetzes, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, durch den generellen Ausschluss einer ganzen Gruppe von Arbeitnehmern vom Bezug der Entlassungsabfindung die Entlassungsbedingungen dieser Arbeitnehmer im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2000/78 betrifft (Urteil Ingeniørforeningen i Danmark, C‑499/08, EU:C:2010:600, Rn. 21). Demzufolge fällt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und mithin in den des allgemeinen Verbots der Diskriminierung wegen des Alters. 26 Unter diesen Umständen und angesichts dessen, dass die Art. 2 und 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie der, die Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist, entgegenstehen, wonach Arbeitnehmer, die eine Altersrente beziehen können, die von ihrem Arbeitgeber aus einem Rentensystem gezahlt wird, dem sie vor Vollendung ihres 50. Lebensjahrs beigetreten sind, allein aus diesem Grund eine Entlassungsabfindung nicht beziehen können, die dazu bestimmt ist, die berufliche Wiedereingliederung von Arbeitnehmern mit einer Betriebszugehörigkeit von mehr als zwölf Jahren zu fördern (Urteil Ingeniørforeningen i Danmark, C‑499/08, EU:C:2010:600, Rn. 49), gilt das Gleiche für den tragenden Grundsatz der Gleichbehandlung, der im allgemeinen Verbot der Diskriminierung wegen des Alters lediglich eine besondere Ausprägung findet. 27 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass es auch in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach Arbeitnehmer – unabhängig davon, ob sie sich dafür entscheiden, auf dem Arbeitsmarkt zu verbleiben, oder beschließen, in Rente zu gehen – keine Entlassungsabfindung beziehen können, wenn sie Anspruch auf eine Altersrente haben, die von ihrem Arbeitgeber aus einem Rentensystem gezahlt wird, dem sie vor Vollendung ihres 50. Lebensjahrs beigetreten sind. Zur zweiten Frage 28 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einem mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befassten nationalen Gericht erlaubt, eine Abwägung zwischen dem allgemeinen Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, dem die relevante nationale Bestimmung zuwiderläuft, und den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vorzunehmen und dabei zu dem Ergebnis zu gelangen, dass Letztere dem genannten Verbot vorgehen. In diesem Zusammenhang wirft das vorlegende Gericht ferner die Frage auf, ob es bei dieser Abwägung berücksichtigen kann oder muss, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, den dem Einzelnen durch die nicht ordnungsgemäße Umsetzung einer Richtlinie wie der Richtlinie 2000/78 entstandenen Schaden zu ersetzen. 29 Hierzu ist erstens auf die ständige Rechtsprechung hinzuweisen, nach der es den nationalen Gerichten, die über einen Rechtsstreit zwischen Privatpersonen zu entscheiden haben, in dem sich zeigt, dass die fragliche nationale Regelung gegen das Unionsrecht verstößt, obliegt, den Rechtsschutz sicherzustellen, der sich für den Einzelnen aus den unionsrechtlichen Bestimmungen ergibt, und deren volle Wirkung zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 111, sowie Kücükdeveci, C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 45). 30 Zwar hat der Gerichtshof zu Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist (vgl. u. a. Urteile Marshall, 152/84, EU:C:1986:84, Rn. 48, Faccini Dori, C‑91/92, EU:C:1994:292, Rn. 20, sowie Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 108). Der Gerichtshof hat aber auch wiederholt entschieden, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in der Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, und ihre Pflicht, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten obliegen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile von Colson und Kamann, 14/83, EU:C:1984:153, Rn. 26, und Kücükdeveci, C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 47). 31 Folglich müssen die mit der Auslegung des nationalen Rechts betrauten nationalen Gerichte bei dessen Anwendung sämtliche nationalen Rechtsnormen berücksichtigen und die im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden anwenden, um seine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der fraglichen Richtlinie auszurichten, damit das von ihr festgelegte Ergebnis erreicht und so Art. 288 Abs. 3 AEUV nachgekommen wird (vgl. u. a. Urteile Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 113 und 114, sowie Kücükdeveci, C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 48). 32 Der Gerichtshof hat allerdings festgestellt, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken unterliegt. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts das Unionsrecht heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl. Urteile Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 100, Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 25, und Association de médiation sociale, C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 39). 33 In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung die Verpflichtung der nationalen Gerichte umfasst, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie nicht vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Centrosteel, C‑456/98, EU:C:2000:402, Rn. 17). 34 Somit darf das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren nicht davon ausgehen, dass es die in Rede stehende nationale Vorschrift allein deshalb nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen könne, weil es sie in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt habe. 35 Diesen Klarstellungen ist noch hinzuzufügen, dass ein mit einem Rechtsstreit über das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 befasstes nationales Gericht, selbst wenn es ihm tatsächlich nicht möglich sein sollte, das nationale Recht in einer mit dieser Richtlinie im Einklang stehenden Weise auszulegen, gleichwohl verpflichtet ist, im Rahmen seiner Zuständigkeiten den rechtlichen Schutz, der sich für den Einzelnen aus dem Unionsrecht ergibt, sicherzustellen und die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, indem es erforderlichenfalls jede diesem Verbot zuwiderlaufende Vorschrift der nationalen Regelung unangewendet lässt (Urteil Kücükdeveci, C‑555/07, EU:C:2010:21, Rn. 51). 36 Überdies ergibt sich aus Rn. 47 des Urteils Association de médiation sociale (C‑176/12, EU:C:2014:2), dass das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann und das die nationalen Gerichte auch in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privatpersonen verpflichtet, von der Anwendung mit diesem Verbot nicht im Einklang stehender nationaler Vorschriften abzusehen. 37 Somit obliegt es im vorliegenden Fall dem vorlegenden Gericht, die in Rede stehende nationale Vorschrift unangewendet zu lassen, sofern es sich nicht in der Lage sieht, eine unionsrechtskonforme Auslegung dieser Vorschrift zu gewährleisten. 38 Was zweitens die Frage angeht, welche Verpflichtungen sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes für ein nationales Gericht ergeben, das mit einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befasst ist, ist hervorzuheben, dass sich ein nationales Gericht nicht auf diesen Grundsatz stützen kann, um weiterhin eine nationale Rechtsvorschrift anzuwenden, die gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78 verstößt. 39 Die Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes in der vom vorlegenden Gericht in Betracht gezogenen Weise liefe nämlich in Wirklichkeit darauf hinaus, die zeitlichen Wirkungen der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung zu begrenzen, da diese Auslegung dann im Ausgangsverfahren keine Anwendung fände. 40 Nach ständiger Rechtsprechung wird durch die Auslegung des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erforderlichenfalls erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite dieses Recht seit seinem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass abgesehen von ganz außergewöhnlichen Umständen, deren Vorliegen hier jedoch nicht geltend gemacht worden ist, der Richter das Unionsrecht in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden muss, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieses Rechts betreffenden Streit erfüllt sind (vgl. u. a. Urteil Gmina Wrocław, C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 44 und 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Zudem kann der Vertrauensschutz jedenfalls nicht geltend gemacht werden, um demjenigen, der das Verfahren eingeleitet hat, das den Gerichtshof veranlasst, das Unionsrecht dahin auszulegen, dass es der fraglichen nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, den Vorteil zu versagen, der ihm aus dieser Auslegung entsteht (vgl. in diesem Sinne Urteile Defrenne, 43/75, EU:C:1976:56, Rn. 75, und Barber, C‑262/88, EU:C:1990:209, Rn. 44 und 45). 42 Hinsichtlich der in Rn. 19 des vorliegenden Urteils erwähnten Frage des vorlegenden Gerichts ist hervorzuheben, dass die Möglichkeit des Einzelnen, dem – wie im vorliegenden Fall dem Angestellten – nach dem Unionsrecht ein subjektives Recht auf eine Entschädigung zusteht, wenn seine Rechte durch einen einem Mitgliedstaat zurechenbaren Verstoß gegen das Unionsrecht verletzt worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Francovich u. a., C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428, Rn. 33, sowie Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 20), nicht die Verpflichtung des vorlegenden Gerichts in Frage stellen kann, der mit der Richtlinie 2000/78 im Einklang stehenden Auslegung des nationalen Rechts den Vorzug zu geben oder, falls sich eine solche Auslegung als unmöglich erweist, die gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch diese Richtlinie verstoßende nationale Vorschrift unangewendet zu lassen. Diese Möglichkeit darf das vorlegende Gericht im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits auch nicht dazu veranlassen, dem Vertrauensschutz der Privatperson – hier des Arbeitgebers –, die dem nationalen Recht nachgekommen ist, den Vorrang einzuräumen. 43 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, das mit einem in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 fallenden Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befasst ist, die von ihm anzuwendenden Vorschriften seines nationalen Rechts so auslegen muss, dass sie im Einklang mit dieser Richtlinie angewandt werden können, oder, falls eine solche richtlinienkonforme Auslegung unmöglich ist, erforderlichenfalls alle Vorschriften des nationalen Rechts, die gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen, unangewendet lassen muss. Weder die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes noch die Möglichkeit für den Einzelnen, der glaubt, durch die Anwendung einer gegen das Unionsrecht verstoßenden nationalen Vorschrift geschädigt worden zu sein, den betreffenden Mitgliedstaat wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht haftbar zu machen, können diese Verpflichtung in Frage stellen. Kosten 44 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Das allgemeine Verbot einer Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass es auch in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach Arbeitnehmer – unabhängig davon, ob sie sich dafür entscheiden, auf dem Arbeitsmarkt zu verbleiben, oder beschließen, in Rente zu gehen – keine Entlassungsabfindung beziehen können, wenn sie Anspruch auf eine Altersrente haben, die von ihrem Arbeitgeber aus einem Rentensystem gezahlt wird, dem sie vor Vollendung ihres 50. Lebensjahrs beigetreten sind. 2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das mit einem in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 fallenden Rechtsstreit zwischen Privatpersonen befasst ist, die von ihm anzuwendenden Vorschriften seines nationalen Rechts so auslegen muss, dass sie im Einklang mit dieser Richtlinie angewandt werden können, oder, falls eine solche richtlinienkonforme Auslegung unmöglich ist, erforderlichenfalls alle Vorschriften des nationalen Rechts, die gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen, unangewendet lassen muss. Weder die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes noch die Möglichkeit für den Einzelnen, der glaubt, durch die Anwendung einer gegen das Unionsrecht verstoßenden nationalen Vorschrift geschädigt worden zu sein, den betreffenden Mitgliedstaat wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht haftbar zu machen, können diese Verpflichtung in Frage stellen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Dänisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. April 2016.#Pál Aranyosi und Robert Căldăraru.#Vorabentscheidungsersuchen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 4 – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat.#Verbundene Rechtssachen C-404/15 und C-659/15 PPU.
62015CJ0404
ECLI:EU:C:2016:198
2016-04-05T00:00:00
Gerichtshof, Bot
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62015CJ0404 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 5. April 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2002/584/JI — Europäischer Haftbefehl — Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 4 — Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung — Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat“ In den verbundenen Rechtssachen C‑404/15 und C‑659/15 PPU betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen (Deutschland) mit Entscheidungen vom 23. Juli und vom 8. Dezember 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juli und am 9. Dezember 2015, in Verfahren betreffend die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle gegen Pál Aranyosi (C‑404/15), Robert Căldăraru (C‑659/15 PPU) erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz und D. Šváby, der Richter A. Rosas, E. Juhász, A. Borg Barthet, J. Malenovský und M. Safjan (Berichterstatter), der Richterinnen M. Berger und A. Prechal sowie der Richter E. Jarašiūnas, M. Vilaras und E. Regan, Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Februar 2016, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Herrn Aranyosi, vertreten durch Rechtsanwältin R. Chekerov, — von Herrn Căldăraru, vertreten durch Rechtsanwalt J. van Lengerich, — der Generalstaatsanwaltschaft Bremen, vertreten durch Oberstaatsanwalt M. Glasbrenner, — der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, M. Hellmann und J. Kemper als Bevollmächtigte, — der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte, — Irlands, vertreten durch E. Creedon, L. Williams, G. Mullan und A. Joyce als Bevollmächtigte, — der spanischen Regierung, vertreten durch A. Sampol Pucurull als Bevollmächtigten, — der französischen Regierung, vertreten durch F.‑X. Bréchot, D. Colas und G. de Bergues als Bevollmächtigte, — der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und J. Nasutavičienė als Bevollmächtigte, — der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér, G. Koós und M. Bóra als Bevollmächtigte, — der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte, — der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten, — der rumänischen Regierung, vertreten durch R. Radu und M. Bejenar als Bevollmächtigte, — der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von J. Holmes, Barrister, — der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. März 2016 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 1 Abs. 3, Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss). 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen der Vollstreckung von zwei Europäischen Haftbefehlen, die am 4. November und am 31. Dezember 2014 vom Ermittlungsrichter am Miskolci járásbíróság (Distriktgericht Miskolc, Ungarn) gegen Herrn Aranyosi erlassen wurden, sowie eines Europäischen Haftbefehls, der am 29. Oktober 2015 von der Judecătoria Făgăraş (Gericht erster Instanz Fogarasch, Rumänien) gegen Herrn Căldăraru erlassen wurde, in Deutschland. Rechtlicher Rahmen EMRK 3 Art. 3 („Verbot der Folter“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ 4 Art. 15 („Abweichen im Notstandsfall“) EMRK sieht vor: „(1)   Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen. (2)   Aufgrund des Absatzes 1 darf … von Artikel 3 … in keinem Fall abgewichen werden. …“ 5 Art. 46 („Verbindlichkeit und Durchführung der Urteile“) EMRK bestimmt in Abs. 2: „Das endgültige Urteil des [Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR)] ist dem Ministerkomitee zuzuleiten; dieses überwacht seine Durchführung.“ Unionsrecht Charta 6 Art. 1 („Würde des Menschen“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ 7 Art. 4 („Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“) der Charta lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ 8 In den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17, im Folgenden: Erläuterungen zur Charta) heißt es dazu: „Das Recht nach Artikel 4 [der Charta] entspricht dem Recht, das durch den gleich lautenden Artikel 3 EMRK garantiert ist … Nach Artikel 52 Absatz 3 der Charta hat Artikel 4 also die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Artikel 3 EMRK.“ 9 Art. 6 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der Charta sieht vor: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“ 10 Art. 48 („Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte“) der Charta bestimmt in Abs. 1: „Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“ 11 In Abs. 1 von Art. 51 („Anwendungsbereich“) der Charta heißt es: „Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union …“ 12 Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) der Charta bestimmt in Abs. 1: „Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“ Rahmenbeschluss 13 In den Erwägungsgründen 5 bis 8, 10 und 12 des Rahmenbeschlusses heißt es: „(5) … Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht … die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen … (6) Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar. (7) Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 2 [EU] und Artikel 5 [EG] Maßnahmen erlassen. Entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nach dem letztgenannten Artikel geht der vorliegende Rahmenbeschluss nicht über das für die Erreichung des genannten Ziels erforderliche Maß hinaus. (8) Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss. … (10) Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EU, jetzt nach Änderung Art. 2 EUV] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 [EU, jetzt nach Änderung Art. 7 Abs. 2 EUV] mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird. … (12) Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EU] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta …, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann. …“ 14 Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses sieht vor: „(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt. (2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses. (3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“ 15 Die Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses enthalten die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann. 16 Art. 5 („Vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährende Garantien“) des Rahmenbeschlusses bestimmt: „Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann nach dem Recht [des Vollstreckungsmitgliedstaats] an eine der folgenden Bedingungen geknüpft werden: … 2. Ist die Straftat, die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegt, mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder einer lebenslangen freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bedroht, so kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls an die Bedingung geknüpft werden, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats eine Überprüfung der verhängten Strafe – auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren – oder Gnadenakte zulässt, die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe oder der Maßregel führen können und auf die die betreffende Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaats Anspruch hat. 3. Ist die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats oder in diesem wohnhaft, so kann die Übergabe davon abhängig gemacht werden, dass die betreffende Person nach Gewährung rechtlichen Gehörs zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängt wird, in den Vollstreckungsmitgliedstaat rücküberstellt wird.“ 17 Art. 6 („Bestimmung der zuständigen Behörden“) des Rahmenbeschlusses lautet: „(1)   Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist. (2)   Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist. (3)   Jeder Mitgliedstaat unterrichtet das Generalsekretariat des Rates über die nach seinem Recht zuständige Justizbehörde.“ 18 Art. 7 („Beteiligung der zentralen Behörde“) des Rahmenbeschlusses lautet: „(1)   Jeder Mitgliedstaat kann eine oder, sofern es seine Rechtsordnung vorsieht, mehrere zentrale Behörden zur Unterstützung der zuständigen Justizbehörden benennen. (2)   Ein Mitgliedstaat kann, wenn sich dies aufgrund des Aufbaus seines Justizsystems als erforderlich erweist, seine zentrale(n) Behörde(n) mit der administrativen Übermittlung und Entgegennahme der Europäischen Haftbefehle sowie des gesamten übrigen sie betreffenden amtlichen Schriftverkehrs betrauen. Ein Mitgliedstaat, der von den in diesem Artikel vorgesehenen Möglichkeiten Gebrauch machen möchte, übermittelt dem Generalsekretariat des Rates die Angaben über die von ihm benannte(n) zentrale(n) Behörde(n). Diese Angaben sind für alle Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats verbindlich.“ 19 Art. 12 („Inhafthaltung der gesuchten Person“) des Rahmenbeschlusses bestimmt: „Im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls entscheidet die vollstreckende Justizbehörde, ob die gesuchte Person nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats in Haft zu halten ist. Eine vorläufige Haftentlassung nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ist jederzeit möglich, sofern die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaates die ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person trifft.“ 20 Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) des Rahmenbeschlusses sieht vor: „(1)   Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen. (2)   Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist. (3)   Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“ 21 Art. 17 („Fristen und Modalitäten der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls“) des Rahmenbeschlusses sieht vor: „(1)   Ein Europäischer Haftbefehl wird als Eilsache erledigt und vollstreckt. (2)   In den Fällen, in denen die gesuchte Person ihrer Übergabe zustimmt, sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von zehn Tagen nach Erteilung der Zustimmung erfolgen. (3)   In den anderen Fällen sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von 60 Tagen nach der Festnahme der gesuchten Person erfolgen. (4)   Kann in Sonderfällen der Europäische Haftbefehl nicht innerhalb der in den Absätzen 2 bzw. 3 vorgesehenen Fristen vollstreckt werden, so setzt die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde von diesem Umstand und von den jeweiligen Gründen unverzüglich in Kenntnis. In diesem Fall können die Fristen um weitere 30 Tage verlängert werden. (5)   Solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde ergangen ist, stellt diese sicher, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind. … (7)   Kann ein Mitgliedstaat bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände die in diesem Artikel vorgesehenen Fristen nicht einhalten, so setzt er Eurojust von diesem Umstand und von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis. Außerdem teilt ein Mitgliedstaat, der wiederholt Verzögerungen bei der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen durch einen anderen Mitgliedstaat ausgesetzt gewesen ist, diesen Umstand dem Rat mit, damit eine Beurteilung der Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses auf Ebene der Mitgliedstaaten erfolgen kann.“ 22 In Art. 23 („Frist für die Übergabe der Person“) des Rahmenbeschlusses heißt es: „(1)   Die Übergabe der gesuchten Person erfolgt so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt. (2)   Die Übergabe erfolgt spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls. … (4)   Die Übergabe kann aus schwerwiegenden humanitären Gründen, z. B. wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt, ausnahmsweise ausgesetzt werden. Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgt, sobald diese Gründe nicht mehr gegeben sind. Die vollstreckende Justizbehörde setzt die ausstellende Justizbehörde unverzüglich davon in Kenntnis und vereinbart ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin. (5)   Befindet sich die betreffende Person nach Ablauf der in den Absätzen 2 bis 4 genannten Fristen noch immer in Haft, wird sie freigelassen.“ Deutsches Recht 23 Der Rahmenbeschluss wurde durch die §§ 78 bis 83k des Gesetzes vom 23. Dezember 1982 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen in der Fassung des Europäischen Haftbefehlsgesetzes vom 20. Juli 2006 (BGBl. 2006 I S. 1721) (im Folgenden: IRG) in deutsches Recht umgesetzt. 24 § 15 („Auslieferungshaft“) IRG lautet: „(1)   Nach dem Eingang des Auslieferungsersuchens kann gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft angeordnet werden, wenn 1. die Gefahr besteht, dass er sich dem Auslieferungsverfahren oder der Durchführung der Auslieferung entziehen werde, oder 2. auf Grund bestimmter Tatsachen der dringende Verdacht begründet ist, dass der Verfolgte die Ermittlung der Wahrheit in dem ausländischen Verfahren oder im Auslieferungsverfahren erschweren werde. (2)   Absatz 1 gilt nicht, wenn die Auslieferung von vornherein unzulässig erscheint.“ 25 § 24 („Aufhebung des Auslieferungshaftbefehls“) IRG bestimmt: „(1)   Der Auslieferungshaftbefehl ist aufzuheben, sobald die Voraussetzungen der vorläufigen Auslieferungshaft oder der Auslieferungshaft nicht mehr vorliegen oder die Auslieferung für unzulässig erklärt wird. (2)   Der Auslieferungshaftbefehl ist auch aufzuheben, wenn die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht dies beantragt. Gleichzeitig mit dem Antrag ordnet sie die Freilassung des Verfolgten an.“ 26 Nach § 29 Abs. 1 IRG entscheidet das Oberlandesgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft über die Zulässigkeit der Auslieferung, wenn sich der Verfolgte nicht mit ihr einverstanden erklärt hat. Die Entscheidung ergeht nach § 32 IRG durch Beschluss. 27 § 73 IRG lautet: „Die Leistung von Rechtshilfe sowie die Datenübermittlung ohne Ersuchen ist unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten und Zehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 [EUV] enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen Rechtssache C‑404/15 28 Herr Aranyosi ist ein am 14. Juli 1996 in Szikszó (Ungarn) geborener ungarischer Staatsangehöriger. 29 Der Ermittlungsrichter am Miskolci járásbíróság (Distriktgericht Miskolc) erließ am 4. November und am 31. Dezember 2014 zwei Europäische Haftbefehle gegen Herrn Aranyosi, um seine Übergabe an die ungarischen Justizbehörden zum Zweck der Strafverfolgung zu erwirken. 30 Nach dem Europäischen Haftbefehl vom 4. November 2014 soll Herr Aranyosi am 3. August 2014 in ein Wohnhaus in Sajohidveg (Ungarn) eingedrungen sein. Dabei soll er u. a. 2500 Euro und 100000 ungarische Forint (HUF) (etwa 313 Euro) in bar sowie verschiedene Wertgegenstände entwendet haben. 31 Überdies wird Herrn Aranyosi im Europäischen Haftbefehl vom 31. Dezember 2014 zur Last gelegt, am 19. Januar 2014 durch ein Fenster in eine Schule in Sajohidveg eingestiegen zu sein und sodann in dem Gebäude mehrere Türen aufgebrochen und technische Geräte sowie Bargeld entwendet zu haben. Der Wert des Diebesguts wird mit 244000 HUF (etwa 760 Euro) und der Sachschaden mit 55000 HUF (etwa 170 Euro) angegeben. 32 Herr Aranyosi wurde am 14. Januar 2015 in Bremen (Deutschland) aufgrund einer Festnahmeausschreibung im Schengener Informationssystem vorläufig festgenommen. Am selben Tag wurde er vom Vorermittlungsrichter am Amtsgericht Bremen vernommen. 33 Herr Aranyosi erklärte, er sei ungarischer Staatsangehöriger, wohne bei seiner Mutter in Bremerhaven (Deutschland), sei ledig und habe eine Freundin sowie ein acht Monate altes Kind. Er bestritt die ihm vorgeworfenen Taten und erklärte sich nicht mit dem vereinfachten Übergabeverfahren einverstanden. 34 Der Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft Bremen ordnete die Freilassung von Herrn Aranyosi an, weil keine Gefahr gesehen wurde, dass er sich dem Übergabeverfahren entziehen werde. Die Generalstaatsanwaltschaft Bremen fragte sodann am 14. Januar 2015 beim Miskolci járásbíróság (Distriktgericht Miskolc) unter Hinweis auf die nicht den europäischen Mindeststandards genügenden Haftbedingungen in einigen ungarischen Haftanstalten an, in welcher Haftanstalt Herr Aranyosi im Fall seiner Übergabe inhaftiert würde. 35 Mit Schreiben vom 20. Februar 2015, das am 15. April 2015 per Fax über das ungarische Justizministerium einging, teilte die Staatsanwaltschaft des Distrikts Miskolc mit, dass die bei Strafverfahren angewendete Zwangsmaßnahme der Untersuchungshaft sowie die Beantragung von Freiheitsstrafe im vorliegenden Fall nicht zwingend seien. 36 Sie führte aus, im ungarischen Strafrecht existierten mehrere mildere, keinen Freiheitsentzug nach sich ziehende Zwangsmaßnahmen; ferner könnten auch mehrere Bestrafungsarten ohne Freiheitsentzug in Betracht gezogen werden. Die vor der Anklageerhebung beantragte Zwangsmaßnahme sowie die bei der Anklageerhebung beantragte Sanktion seien Teil des Anklagemonopols der unabhängigen Staatsanwaltschaft. 37 Die Aufklärung der Straftat und die Wahl der anzuwendenden Sanktionen fielen in den Kompetenzbereich der ungarischen Justizbehörden. Insoweit schrieben die ungarischen Gesetze für das Strafverfahren entsprechende, auf europäischen Werten beruhende Garantien vor. 38 Am 21. April 2015 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft Bremen, die Übergabe von Herrn Aranyosi an die ausstellende Justizbehörde zum Zweck der Strafverfolgung für zulässig zu erklären. Sie führte u. a. aus, die Staatsanwaltschaft des Distrikts Miskolc habe zwar nicht mitgeteilt, in welcher Haftanstalt der Verfolgte für den Fall der Übergabe an Ungarn inhaftiert würde, doch bestünden keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass er im Fall der Übergabe Opfer von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung werden könnte. 39 Der Rechtsbeistand von Herrn Aranyosi beantragte, den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Bremen zurückzuweisen. Die Staatsanwaltschaft des Distrikts Miskolc habe nicht angegeben, in welcher Haftanstalt der Verfolgte inhaftiert werde. Damit sei eine Überprüfung der Haftbedingungen nicht möglich. 40 Das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen führt aus, der von Ungarn gestellte Antrag erfülle die Voraussetzungen von Übergabeersuchen im Rahmen des IRG. 41 Die Herrn Aranyosi zur Last gelegten Taten stellten insbesondere sowohl nach § 370 Abs. 1 des ungarischen Strafgesetzbuchs als auch nach den §§ 242, 243 Abs. 1 Nr. 1 und 244 Abs. 1 Nr. 3 des deutschen Strafgesetzbuchs eine strafbare Handlung dar. Mithin bestehe in beiden Mitgliedstaaten eine Strafbarkeit sowie nach ungarischem und nach deutschem Recht eine Strafandrohung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe. 42 Die Übergabe wäre gleichwohl für unzulässig zu erklären, wenn ein Auslieferungshindernis gemäß § 73 IRG bestünde. Nach den derzeit verfügbaren Informationen gebe es aber beachtliche Anhaltspunkte dafür, dass Herr Aranyosi bei einer Übergabe an die ungarische Justizbehörde Haftbedingungen ausgesetzt sein könnte, die Art. 3 EMRK sowie die Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt seien, verletzten. 43 Der EGMR habe Ungarn nämlich wegen der Überfüllung seiner Gefängnisse verurteilt (EGMR, Varga u. a./Ungarn, Nrn. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 und 64586/13, vom 10. März 2015). Der EGMR habe es als erwiesen angesehen, dass der ungarische Staat durch die Unterbringung der Kläger in zu kleinen und überbelegten Haftzellen gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe. Er habe dieses Verfahren als Musterprozess betrachtet, nachdem bei ihm 450 ähnliche Klagen gegen Ungarn wegen unmenschlicher Haftbedingungen anhängig seien. 44 Auch aus einem Bericht des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ergäben sich konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Haftbedingungen, denen Herr Aranyosi im Fall der Übergabe an die ungarischen Behörden ausgesetzt wäre, nicht den völkerrechtlichen Mindeststandards entsprächen. Diese Wertung beziehe sich insbesondere auf die bei Besuchen in den Jahren 2009 bis 2013 festgestellte massive Überbelegung der Zellen. 45 Auf der Grundlage dieser Informationen sehe sich das vorlegende Gericht im Hinblick auf die durch § 73 IRG und Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses gesteckten Grenzen nicht in der Lage, über die Zulässigkeit der Übergabe von Herrn Aranyosi an die ungarischen Behörden zu entscheiden. Seine Entscheidung hänge wesentlich von der Frage ab, ob das in Rede stehende Übergabehindernis im Einklang mit dem Rahmenbeschluss durch Zusicherungen seitens des Ausstellungsmitgliedstaats überwunden werden könne. Könne dieses Hindernis nicht durch derartige Zusicherungen überwunden werden, wäre die Übergabe unzulässig. 46 Unter diesen Umständen hat das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses so auszulegen, dass eine Auslieferung zum Zweck der Strafverfolgung unzulässig ist, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat die Grundrechte der betroffenen Person und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, verletzen, oder ist er so auszulegen, dass der Vollstreckungsstaat in diesen Fällen die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung von einer Zusicherung der Einhaltung von Haftbedingungen abhängig machen kann oder muss? Kann oder muss der Vollstreckungsstaat dazu konkrete Mindestanforderungen an die zuzusichernden Haftbedingungen formulieren? 2. Sind Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses so auszulegen, dass die ausstellende Justizbehörde auch berechtigt ist, Zusicherungen über die Einhaltung von Haftbedingungen zu machen, oder verbleibt es insoweit bei der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats? Rechtssache C‑659/15 PPU 47 Herr Căldăraru ist ein am 7. Dezember 1985 in Brașov (Rumänien) geborener rumänischer Staatsangehöriger. 48 Am 16. April 2015 verurteilte die Judecătoria Făgăraş (Gericht erster Instanz Fogarasch) Herrn Căldăraru wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten. 49 Nach den vom vorlegenden Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen wiedergegebenen Gründen dieses Urteils wurde in die genannte Strafe eine von der Judecătoria Făgăraş (Gericht erster Instanz Fogarasch) am 17. Dezember 2013 verhängte Freiheitsstrafe von einem Jahr wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis einbezogen, die zur Bewährung ausgesetzt worden war. 50 Diese Verurteilung wurde im Anschluss an ein Urteil der Curtea de Apel Brașov (Berufungsgericht Brașov) vom 15. Oktober 2015 rechtskräftig. 51 Am 29. Oktober 2015 erließ die Judecătoria Făgăraş (Gericht erster Instanz Fogarasch) gegen Herrn Căldăraru einen Europäischen Haftbefehl und ließ ihn im Schengener Informationssystem zur Fahndung ausschreiben. 52 Am 8. November 2015 wurde Herr Căldăraru in Bremen festgenommen. 53 Am selben Tag erließ das Amtsgericht Bremen gegen Herrn Căldăraru eine Festhalteanordnung. Bei seiner richterlichen Vernehmung erklärte er sich nicht mit seiner Auslieferung im vereinfachten Verfahren einverstanden. 54 Am 9. November 2015 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft Bremen, gegen Herrn Căldăraru die Auslieferungshaft anzuordnen. 55 Mit Entscheidung vom 11. November 2015 gab das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen diesem Antrag statt, da es nicht „von vornherein unzulässig“ im Sinne von § 15 Abs. 2 IRG erscheine, Herrn Căldăraru in Auslieferungshaft zu nehmen, und da die Gefahr bestehe, dass er sich dem Verfahren zur Übergabe an die rumänischen Behörden entziehen werde, was nach § 15 Abs. 1 IRG die Anordnung der Auslieferungshaft rechtfertige. 56 Am 20. November 2015 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft Bremen, die Übergabe von Herrn Căldăraru an die rumänischen Behörden für zulässig zu erklären. Dabei gab sie an, die Judecătoria Făgăraş (Gericht erster Instanz Fogarasch) habe nicht mitteilen können, in welcher Haftanstalt Herr Căldăraru in Rumänien inhaftiert würde. 57 Das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen führt aus, der von Rumänien gestellte Antrag erfülle die Voraussetzungen von Übergabeersuchen im Rahmen des IRG. 58 Die Herrn Căldăraru zur Last gelegten Taten stellten insbesondere sowohl nach Art. 86 des rumänischen Gesetzes Nr. 195 von 2002 als auch nach § 21 des deutschen Straßenverkehrsgesetzes eine strafbare Handlung dar. Mithin bestehe in beiden Mitgliedstaaten eine Strafbarkeit sowie eine zu vollstreckende Freiheitsstrafe von mindestens vier Monaten. 59 Die Übergabe wäre gleichwohl für unzulässig zu erklären, wenn ein Auslieferungshindernis gemäß § 73 IRG bestünde. Nach den derzeit verfügbaren Informationen gebe es aber beachtliche Anhaltspunkte dafür, dass Herr Căldăraru bei einer Übergabe Haftbedingungen ausgesetzt sein könnte, die Art. 3 EMRK sowie die Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt seien, verletzten. 60 Der EGMR habe Rumänien nämlich mit mehreren Urteilen vom 10. Juni 2014 wegen der Überfüllung seiner Gefängnisse verurteilt (EGMR, Voicu/Rumänien, Nr. 22015/10, Bujorean/Rumänien, Nr. 13054/12, Constantin Aurelian Burlacu/Rumänien, Nr. 51318/12, und Mihai Laurenţiu Marin/Rumänien, Nr. 79857/12). Der EGMR habe es als erwiesen angesehen, dass der rumänische Staat mit der Unterbringung der Kläger in zu kleinen, überbelegten und verdreckten Haftzellen ohne ausreichende Beheizung und ohne warmes Wasser zum Duschen gegen Art. 3 EMRK verstoßen habe. 61 Auch aus einem Bericht des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ergäben sich konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Haftbedingungen, denen Herr Căldăraru im Fall der Übergabe an die rumänischen Behörden ausgesetzt wäre, nicht den völkerrechtlichen Mindeststandards entsprächen. Diese Wertung beziehe sich insbesondere auf die bei Besuchen vom 5. bis 17. Juni 2014 festgestellte massive Überbelegung der Zellen. 62 Auf der Grundlage dieser Informationen sehe sich das vorlegende Gericht im Hinblick auf die durch § 73 IRG und Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses gesteckten Grenzen nicht in der Lage, über die Zulässigkeit der Übergabe von Herrn Căldăraru an die rumänischen Behörden zu entscheiden. Seine Entscheidung hänge wesentlich von der Frage ab, ob das in Rede stehende Übergabehindernis im Einklang mit dem Rahmenbeschluss durch Zusicherungen seitens des Ausstellungsmitgliedstaats überwunden werden könne. Könne dieses Hindernis nicht durch derartige Zusicherungen überwunden werden, wäre die Übergabe unzulässig. 63 Unter diesen Umständen hat das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses so auszulegen, dass eine Auslieferung zum Zweck der Strafvollstreckung unzulässig ist, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat die Grundrechte der betroffenen Person und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, verletzen, oder ist er so auszulegen, dass der Vollstreckungsstaat in diesen Fällen die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung von einer Zusicherung der Einhaltung von Haftbedingungen abhängig machen kann oder muss? Kann oder muss der Vollstreckungsstaat dazu konkrete Mindestanforderungen an die zuzusichernden Haftbedingungen formulieren? 2. Sind Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses so auszulegen, dass die ausstellende Justizbehörde auch berechtigt ist, Zusicherungen über die Einhaltung von Haftbedingungen zu machen, oder verbleibt es insoweit bei der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats? Verfahren vor dem Gerichtshof Rechtssache C‑404/15 64 Das vorlegende Gericht hat die Anwendung des in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahrens beantragt. 65 Zur Stützung seines Antrags hat es ausgeführt, Herr Aranyosi sei aufgrund eines von den ungarischen Behörden ausgestellten Europäischen Haftbefehls vorläufig festgenommen worden, befinde sich derzeit aber nicht in Haft. Die Generalstaatsanwaltschaft Bremen habe seine Freilassung angeordnet, weil zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgrund seiner sozialen Bindungen keine Fluchtgefahr bestehe. 66 Am 31. Juli 2015 hat die Vierte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die Rechtssache C‑404/15 dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, nicht stattzugeben. 67 Am 4. August 2015 hat der Präsident des Gerichtshofs entschieden, dass die Rechtssache C‑404/15 mit Vorrang entschieden wird. Rechtssache C‑659/15 PPU 68 Das vorlegende Gericht hat die Anwendung des in Art. 107 der Verfahrensordnung vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahrens beantragt. 69 Zur Stützung seines Antrags hat es ausgeführt, Herr Căldăraru sei aufgrund eines von den rumänischen Behörden ausgestellten Europäischen Haftbefehls vorläufig festgenommen worden und befinde sich derzeit aufgrund dieses Haftbefehls zum Zweck seiner Übergabe an die genannten Behörden in Haft. Die Berechtigung zur Inhaftierung von Herrn Căldăraru hänge von der Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen ab. 70 Insoweit ist festzustellen, dass sich das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑659/15 PPU auf die Auslegung des Rahmenbeschlusses bezieht, der in den von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfassten Bereich fällt. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht. Überdies befindet sich Herr Căldăraru derzeit in Haft, und der Fortbestand seiner Inhaftierung hängt von der Antwort des Gerichtshofs auf die Fragen des vorlegenden Gerichts ab. 71 Unter diesen Umständen hat die Dritte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts am 16. Dezember 2015 entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑659/15 PPU dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben. 72 Überdies ist entschieden worden, die Rechtssache C‑659/15 PPU sowie, wegen des Zusammenhangs mit ihr, die Rechtssache C‑404/15 an den Gerichtshof zu verweisen, damit er sie der Großen Kammer zuweist. 73 In Anbetracht dieses Zusammenhangs, der sich in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, sind die Rechtssachen C‑404/15 und C‑659/15 PPU zu gemeinsamem Urteil zu verbinden. Zu den Vorlagefragen 74 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde im Fall des Vorliegens gewichtiger Anhaltspunkte dafür, dass die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat mit den Grundrechten, insbesondere mit Art. 4 der Charta, unvereinbar sind, die Vollstreckung des gegen eine Person zum Zweck der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangenen Europäischen Haftbefehls ablehnen kann oder muss, oder ob sie die Übergabe dieser Person davon abhängig machen kann oder muss, dass sie vom Ausstellungsmitgliedstaat Informationen erhält, die es ihr ermöglichen, sich der Vereinbarkeit der dortigen Haftbedingungen mit den Grundrechten zu vergewissern. Überdies möchte es wissen, ob die Art. 5 und 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass solche Informationen von der Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats erteilt werden können, oder ob sich ihre Erteilung nach der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung dieses Mitgliedstaats richtet. 75 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass mit dem Rahmenbeschluss, wie sich insbesondere aus seinem Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie seinen Erwägungsgründen 5 und 7 ergibt, das auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhende multilaterale Auslieferungssystem durch ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhendes System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen zwischen Justizbehörden zur Vollstreckung von Urteilen oder zur Strafverfolgung ersetzt werden soll (vgl. Urteile West, C‑192/12 PPU, EU:C:2012:404, Rn. 54, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 36, F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 34, und Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 27). 76 Der Rahmenbeschluss ist daher darauf gerichtet, durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt wurden oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus (vgl. Urteile Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 37, F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 35, und Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 28). 77 Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, auf den sich das System des Europäischen Haftbefehls stützt, beruht seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten (vgl. in diesem Sinne Urteil F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 50, und entsprechend, in Bezug auf die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen, Urteil Aguirre Zarraga, C‑491/10 PPU, EU:C:2010:828, Rn. 70). 78 Sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung haben im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13, EU:C:2014:2454, Rn. 191). 79 In dem vom Rahmenbeschluss geregelten Bereich kommt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der – wie sich insbesondere aus dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses ergibt – den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bildet, in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses zur Anwendung, der bestimmt, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten (vgl. in diesem Sinne Urteil Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 80 Folglich ist die Ablehnung der Vollstreckung eines solchen Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde nur in den abschließend aufgezählten Fällen möglich, in denen sie nach Art. 3 des Rahmenbeschlusses abzulehnen ist oder nach den Art. 4 und 4a des Rahmenbeschlusses abgelehnt werden kann. Außerdem kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nur an eine der in Art. 5 des Rahmenbeschlusses erschöpfend aufgeführten Bedingungen geknüpft werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 81 In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass nach dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls als solchem nur ausgesetzt werden darf, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, und dass dies im Einklang mit dem in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahren geschehen muss. 82 Gleichwohl hat der Gerichtshof zum einen anerkannt, dass unter „außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich sind (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13, EU:C:2014:2454, Rn. 191). 83 Zum anderen berührt der Rahmenbeschluss, wie aus seinem Art. 1 Abs. 3 hervorgeht, nicht die Pflicht, die Grundrechte, wie sie insbesondere in der Charta niedergelegt sind, zu achten. 84 Insoweit ist hervorzuheben, dass Art. 4 der Charta, der eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung verbietet, nach Art. 51 Abs. 1 der Charta von den Mitgliedstaaten und damit von ihren Gerichten bei der Durchführung des Unionsrechts anzuwenden ist; dies ist der Fall, wenn die ausstellende Justizbehörde und die vollstreckende Justizbehörde die zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses ergangenen nationalen Bestimmungen anwenden (vgl. entsprechend Urteile Dereci u. a., C‑256/11, EU:C:2011:734, Rn. 72, sowie Peftiev u. a., C‑314/13, EU:C:2014:1645, Rn. 24). 85 Das in Art. 4 der Charta aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung hat absoluten Charakter, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht (vgl. in diesem Sinne Urteil Schmidberger, C‑112/00, EU:C:2003:333, Rn. 80). 86 Der absolute Charakter des durch Art. 4 der Charta gewährleisteten Rechts wird durch Art. 3 EMRK bestätigt, dem Art. 4 der Charta entspricht. Wie sich aus Art. 15 Abs. 2 EMRK ergibt, darf nämlich in keinem Fall von Art. 3 EMRK abgewichen werden. 87 In den Art. 1 und 4 der Charta sowie in Art. 3 EMRK ist einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert. Aus diesem Grund sieht die EMRK unter allen Umständen, auch bei der Bekämpfung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens, ein absolutes Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung vor, das unabhängig vom Verhalten des Betroffenen gilt (vgl. Urteil des EGMR, Bouyid/Belgien, Nr. 23380/09, vom 28. September 2015, § 81 und die dort angeführte Rechtsprechung). 88 Folglich ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, im Licht des durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandards der Grundrechte und insbesondere von Art. 4 der Charta (vgl. in diesem Sinne Urteil Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 59 und 63, sowie Gutachten 2/13, EU:C:2014:2454, Rn. 192) verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie über die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats zu entscheiden hat. Die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls darf nämlich nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung dieser Person führen. 89 Dabei muss sich die vollstreckende Justizbehörde zunächst auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel belegen. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des EGMR, aus Entscheidungen von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben. 90 Insoweit geht aus der Rechtsprechung des EGMR hervor, dass Art. 3 EMRK den Behörden des Staates, in dessen Hoheitsgebiet eine Person inhaftiert ist, eine positive Verpflichtung auferlegt, sich zu vergewissern, dass jeder Häftling unter Bedingungen untergebracht ist, die die Wahrung der Menschenwürde gewährleisten, dass die Durchführungsmodalitäten der Maßnahme den Betroffenen keiner Bürde oder Last aussetzen, deren Intensität über das dem Freiheitsentzug unvermeidlich innewohnende Maß des Leidens hinausgeht, und dass nach Maßgabe der praktischen Erfordernisse der Inhaftierung Gesundheit und Wohlergehen des Häftlings in angemessener Weise sichergestellt werden (vgl. Urteil des EGMR Torreggiani u. a./Italien, Nrn. 43517/09, 46882/09, 55400/09, 57875/09, 61535/09, 35315/10 und 37818/10, vom 8. Januar 2013, § 65). 91 Die Feststellung des Vorliegens einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aufgrund der allgemeinen Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat kann jedoch als solche nicht zur Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führen. 92 Hat die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen einer solchen Gefahr festgestellt, muss sie nämlich sodann noch konkret und genau prüfen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene aufgrund der Bedingungen seiner beabsichtigten Inhaftierung im Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird. 93 Das bloße Vorliegen von Anhaltspunkten für systemische oder allgemeine, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel bei den Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat bedeutet nämlich nicht zwingend, dass in einem konkreten Fall der Betroffene einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, sofern er den Behörden dieses Mitgliedstaats übergeben wird. 94 Um die Beachtung von Art. 4 der Charta im individuellen Fall der Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, sicherzustellen, ist infolgedessen die vollstreckende Justizbehörde, die über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Belege für das Vorliegen solcher Mängel verfügt, zu der Prüfung verpflichtet, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Anschluss an ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in diesem Mitgliedstaat ausgesetzt sein wird. 95 Zu diesem Zweck muss die genannte Behörde nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll. 96 Diese Anfrage kann sich auch darauf erstrecken, ob es im Ausstellungsmitgliedstaat nationale oder internationale Verfahren und Mechanismen zur Überprüfung der Haftbedingungen gibt, z. B. in Verbindung mit Besuchen in den Haftanstalten, die es ermöglichen, den aktuellen Stand der dortigen Haftbedingungen zu beurteilen. 97 Nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses kann die vollstreckende Justizbehörde eine Frist für den Erhalt der von der ausstellenden Justizbehörde erbetenen zusätzlichen Informationen festsetzen. Diese Frist muss an den Einzelfall angepasst sein, damit der ausstellenden Justizbehörde, die dabei erforderlichenfalls die oder eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses um Unterstützung ersuchen kann, die für die Sammlung der Informationen nötige Zeit zur Verfügung steht. Nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses ist dabei allerdings die Frist nach Art. 17 des Rahmenbeschlusses zu beachten. Die ausstellende Justizbehörde ist verpflichtet, der vollstreckenden Justizbehörde diese Informationen zu erteilen. 98 Stellt die vollstreckende Justizbehörde anhand der gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses erteilten Informationen sowie aller übrigen Informationen, über die sie verfügt, fest, dass für die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in dem in Rn. 94 des vorliegenden Urteils angesprochenen Sinne besteht, ist die Vollstreckung des Haftbefehls aufzuschieben, aber nicht aufzugeben (vgl. entsprechend Urteil Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 38). 99 Beschließt die vollstreckende Justizbehörde einen solchen Aufschub, setzt der Vollstreckungsmitgliedstaat im Einklang mit Art. 17 Abs. 7 des Rahmenbeschlusses Eurojust von diesem Umstand und von den Gründen der Verzögerung in Kenntnis. Außerdem teilt nach dieser Bestimmung ein Mitgliedstaat, der wiederholt aus den oben in Rn. 98 angesprochenen Gründen Verzögerungen bei der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen durch einen anderen Mitgliedstaat ausgesetzt gewesen ist, diesen Umstand dem Rat mit, damit eine Beurteilung der Umsetzung des Rahmenbeschlusses auf Ebene der Mitgliedstaaten erfolgen kann. 100 Überdies darf die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 6 der Charta die betreffende Person nur in Haft behalten, solange das Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt worden ist und somit keine übermäßig lange Inhaftierung vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 58 bis 60). Bei Personen, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung richtet, muss sie der durch Art. 48 der Charta gewährleisteten Unschuldsvermutung gebührend Rechnung tragen. 101 Insoweit muss die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 52 Abs. 1 der Charta das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit jeder Einschränkung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten beachten. Die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls kann nämlich keine unbefristete Inhaftierung der betreffenden Person rechtfertigen. 102 Kommt die vollstreckende Justizbehörde am Ende der in den Rn. 100 und 101 des vorliegenden Urteils angesprochenen Prüfung zu dem Ergebnis, dass sie verpflichtet ist, die Inhaftierung der gesuchten Person zu beenden, muss sie jedenfalls nach den Art. 12 und 17 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses die vorläufige Freilassung dieser Person mit den ihres Erachtens zur Verhinderung einer Flucht erforderlichen Maßnahmen verbinden und sicherstellen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe der Person weiterhin gegeben sind, solange noch keine endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ergangen ist (vgl. Urteil Lanigan, C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 61). 103 Sollte die vollstreckende Justizbehörde aufgrund der Informationen, die sie von der ausstellenden Justizbehörde erhalten hat, das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung der betreffenden Person im Ausstellungsmitgliedstaat ausschließen, muss sie innerhalb der im Rahmenbeschluss vorgesehenen Fristen ihre Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls treffen, unbeschadet der Möglichkeit der betreffenden Person, nach ihrer Übergabe in der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats die Rechtsschutzmöglichkeiten zu nutzen, die es ihr gestatten, gegebenenfalls die Rechtmäßigkeit ihrer Haftbedingungen in einer Haftanstalt dieses Mitgliedstaats in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil F., C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 50). 104 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3, Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass die vollstreckende Justizbehörde, sofern sie über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat belegen, konkret und genau prüfen muss, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein zum Zweck der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassener Haftbefehl richtet, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung in diesem Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein wird, falls sie ihm übergeben wird. Dabei muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen bitten, und Letztere muss diese Informationen, nachdem sie erforderlichenfalls die oder eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses um Unterstützung ersucht hat, innerhalb der im Ersuchen gesetzten Frist übermitteln. Die vollstreckende Justizbehörde muss ihre Entscheidung über die Übergabe der betreffenden Person aufschieben, bis sie die zusätzlichen Informationen erhalten hat, die es ihr gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist. Kosten 105 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 1 Abs. 3, Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, sofern sie über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat belegen, konkret und genau prüfen muss, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein zum Zweck der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassener Haftbefehl richtet, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung in diesem Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sein wird, falls sie ihm übergeben wird. Dabei muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen bitten, und Letztere muss diese Informationen, nachdem sie erforderlichenfalls die oder eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses um Unterstützung ersucht hat, innerhalb der im Ersuchen gesetzten Frist übermitteln. Die vollstreckende Justizbehörde muss ihre Entscheidung über die Übergabe der betreffenden Person aufschieben, bis sie die zusätzlichen Informationen erhalten hat, die es ihr gestatten, das Vorliegen einer solchen Gefahr auszuschließen. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss die vollstreckende Justizbehörde darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 25. Juni 2015.#PT Perindustrian dan Perdagangan Musim Semi Mas (PT Musim Mas) gegen Rat der Europäischen Union.#Dumping – Einfuhren bestimmter Fettalkohole und ihrer Gemische mit Ursprung in Indien, Indonesien und Malaysia – Berichtigung – Art. 2 Abs. 9 und 10 Buchst. i der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 – Ähnliche Funktionen wie ein auf Provisionsgrundlage tätiger Vertreter – Wirtschaftliche Einheit – Offenkundiger Beurteilungsfehler – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung – Gleichheit und Nichtdiskriminierung.#Rechtssache T-26/12.
62012TJ0026
ECLI:EU:T:2015:437
2015-06-25T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62012TJ0026 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62012TJ0026 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62012TJ0026 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 18. Juni 2015.#Deutsche Bahn AG u.a. gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Wettbewerb – Schienenverkehrssektor und Nebenleistungen – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 – Art. 20 und 28 Abs. 1 – Verwaltungsverfahren – Beschluss, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird – Nachprüfungsbefugnisse der Kommission – Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung – Fehlen einer vorherigen richterlichen Genehmigung – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz – Zufallsfund.#Rechtssache C-583/13 P.
62013CJ0583
ECLI:EU:C:2015:404
2015-06-18T00:00:00
Gerichtshof, Wahl
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62013CJ0583 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 18. Juni 2015 (*1) „Rechtsmittel — Wettbewerb — Schienenverkehrssektor und Nebenleistungen — Missbrauch einer beherrschenden Stellung — Verordnung (EG) Nr. 1/2003 — Art. 20 und 28 Abs. 1 — Verwaltungsverfahren — Beschluss, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird — Nachprüfungsbefugnisse der Kommission — Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung — Fehlen einer vorherigen richterlichen Genehmigung — Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz — Zufallsfund“ In der Rechtssache C‑583/13 P betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 15. November 2013, Deutsche Bahn AG mit Sitz in Berlin (Deutschland), DB Mobility Logistics AG mit Sitz in Berlin, DB Energie GmbH mit Sitz in Frankfurt am Main (Deutschland), DB Netz AG mit Sitz in Frankfurt am Main, Deutsche Umschlaggesellschaft Schiene-Straße (DUSS) mbH mit Sitz in Bodenheim (Deutschland), DB Schenker Rail GmbH mit Sitz in Mainz (Deutschland), DB Schenker Rail Deutschland AG mit Sitz in Mainz, Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte W. Deselaers, E. Venot und J. Brückner, Rechtsmittelführerinnen, andere Parteien des Verfahrens: Europäische Kommission, vertreten durch L. Malferrari und R. Sauer als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg, Beklagte im ersten Rechtszug, Königreich Spanien, vertreten durch A. Rubio González und L. Banciella Rodríguez-Miñón als Bevollmächtigte, Streithelfer im ersten Rechtszug, EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch M. Schneider, X. Lewis sowie M. Moustakali als Bevollmächtigte, Streithelferin im ersten Rechtszug, Rat der Europäischen Union, Streithelfer im ersten Rechtszug, erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev (Berichterstatter), J. L. da Cruz Vilaça und C. Lycourgos, Generalanwalt: N. Wahl, Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Dezember 2014, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Februar 2015 folgendes Urteil 1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen die Deutsche Bahn AG und ihre Tochtergesellschaften DB Mobility Logistics AG, DB Energie GmbH, DB Netz AG, Deutsche Umschlaggesellschaft Schiene-Straße (DUSS) mbH, DB Schenker Rail GmbH und DB Schenker Rail Deutschland AG (im Folgenden gemeinsam: Deutsche Bahn) die Aufhebung des Urteils Deutsche Bahn u. a./Kommission des Gerichts der Europäischen Union (T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, im Folgenden: angefochtenes Urteil), mit dem dieses ihre Klage auf Nichtigerklärung der Beschlüsse der Kommission K (2011) 1774 vom 14. März 2011, K (2011) 2365 vom 30. März 2011 und K (2011) 5230 vom 14. Juli 2011 (im Folgenden gemeinsam: streitige Beschlüsse) abgewiesen hat, mit denen Nachprüfungen gemäß Art. 20 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) bei der Deutschen Bahn AG sowie allen ihren Tochtergesellschaften angeordnet worden waren (Sachen COMP/39.678 und COMP/39.731). Rechtlicher Rahmen 2 Art. 20 („Nachprüfungsbefugnisse der Kommission“) der Verordnung Nr. 1/2003 lautet: „(1)   Die Kommission kann zur Erfüllung der ihr durch diese Verordnung übertragenen Aufgaben bei Unternehmen und Unternehmensvereinigungen alle erforderlichen Nachprüfungen vornehmen. (2)   Die mit den Nachprüfungen beauftragten Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen sind befugt, a) alle Räumlichkeiten, Grundstücke und Transportmittel der Unternehmen und Unternehmensvereinigungen zu betreten; b) die Bücher und sonstigen Geschäftsunterlagen, unabhängig davon, in welcher Form sie vorliegen, zu prüfen; c) Kopien oder Auszüge gleich in welcher Form aus diesen Büchern und Geschäftsunterlagen anzufertigen oder zu erlangen; d) betriebliche Räumlichkeiten und Bücher oder Unterlagen jeder Art für die Dauer und in dem Ausmaß zu versiegeln, wie es für die Nachprüfung erforderlich ist; e) von allen Vertretern oder Mitgliedern der Belegschaft des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung Erläuterungen zu Tatsachen oder Unterlagen zu verlangen, die mit Gegenstand und Zweck der Nachprüfung in Zusammenhang stehen, und ihre Antworten zu Protokoll zu nehmen. (3)   Die mit Nachprüfungen beauftragten Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen üben ihre Befugnisse unter Vorlage eines schriftlichen Auftrags aus, in dem der Gegenstand und der Zweck der Nachprüfung bezeichnet sind und auf die in Artikel 23 vorgesehenen Sanktionen für den Fall hingewiesen wird, dass die angeforderten Bücher oder sonstigen Geschäftsunterlagen nicht vollständig vorgelegt werden oder die Antworten auf die nach Maßgabe von Absatz 2 des vorliegenden Artikels gestellten Fragen unrichtig oder irreführend sind. Die Kommission unterrichtet die Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll, über die Nachprüfung rechtzeitig vor deren Beginn. (4)   Die Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sind verpflichtet, die Nachprüfungen zu dulden, die die Kommission durch Entscheidung angeordnet hat. Die Entscheidung bezeichnet den Gegenstand und den Zweck der Nachprüfung, bestimmt den Zeitpunkt des Beginns der Nachprüfung und weist auf die in Artikel 23 und Artikel 24 vorgesehenen Sanktionen sowie auf das Recht hin, vor dem Gerichtshof Klage gegen die Entscheidung zu erheben. Die Kommission erlässt diese Entscheidungen nach Anhörung der Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll. (5)   Die Bediensteten der Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Nachprüfung vorgenommen werden soll, oder von dieser Behörde entsprechend ermächtigte oder benannte Personen unterstützen auf Ersuchen dieser Behörde oder der Kommission die Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen aktiv. Sie verfügen hierzu über die in Absatz 2 genannten Befugnisse. (6)   Stellen die beauftragten Bediensteten der Kommission und die anderen von ihr ermächtigten Begleitpersonen fest, dass sich ein Unternehmen einer nach Maßgabe dieses Artikels angeordneten Nachprüfung widersetzt, so gewährt der betreffende Mitgliedstaat die erforderliche Unterstützung, gegebenenfalls unter Einsatz von Polizeikräften oder einer entsprechenden vollziehenden Behörde, damit die Bediensteten der Kommission ihren Nachprüfungsauftrag erfüllen können. (7)   Setzt die Unterstützung nach Absatz 6 nach einzelstaatlichem Recht eine Genehmigung eines Gerichts voraus, so ist diese zu beantragen. Die Genehmigung kann auch vorsorglich beantragt werden. (8)   Wird die in Absatz 7 genannte Genehmigung beantragt, so prüft das einzelstaatliche Gericht die Echtheit der Entscheidung der Kommission sowie, ob die beantragten Zwangsmaßnahmen nicht willkürlich und, gemessen am Gegenstand der Nachprüfung, nicht unverhältnismäßig sind. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Zwangsmaßnahmen kann das einzelstaatliche Gericht von der Kommission unmittelbar oder über die Wettbewerbsbehörde des betreffenden Mitgliedstaats ausführliche Erläuterungen anfordern, und zwar insbesondere zu den Gründen, die die Kommission veranlasst haben, das Unternehmen einer Zuwiderhandlung gegen Artikel [101 oder 102 des AEU-Vertrags] zu verdächtigen, sowie zur Schwere der behaupteten Zuwiderhandlung und zur Art der Beteiligung des betreffenden Unternehmens. Das einzelstaatliche Gericht darf jedoch weder die Notwendigkeit der Nachprüfung in Frage stellen noch die Übermittlung der in den Akten der Kommission enthaltenen Informationen verlangen. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Kommissionsentscheidung ist dem Gerichtshof vorbehalten.“ 3 Nach Art. 28 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 dürfen die mittels der Ermittlungsbefugnisse der Kommission erlangten Informationen unbeschadet der Art. 12 und 15 dieser Verordnung über den Informationsaustausch zwischen der Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden bzw. über die Zusammenarbeit mit Gerichten der Mitgliedstaaten nur zu dem Zweck verwertet werden, zu dem sie eingeholt wurden. Vorgeschichte des Rechtsstreits 4 Die Deutsche Bahn ist ein Unternehmen, das in den Bereichen nationaler und internationaler Güter- und Passagierverkehr, Logistik und Nebenleistungen im Schienenverkehr tätig ist. 5 Am 14. März 2011 erließ die Kommission einen ersten Beschluss, der die Deutsche Bahn verpflichtete, eine Nachprüfung wegen einer möglicherweise nicht gerechtfertigten bevorzugten Behandlung zu dulden, die die DB Energie GmbH anderen Tochtergesellschaften der Gruppe insbesondere in Form eines Rabattsystems für die Lieferung von Bahnstrom habe zukommen lassen (im Folgenden: erster Nachprüfungsbeschluss). Diese erste Nachprüfung fand vom 29. bis zum 31. März 2011 statt. 6 Am 30. März 2011 erließ die Kommission gegenüber der Deutschen Bahn einen zweiten Nachprüfungsbeschluss wegen etwaiger Praktiken von DUSS mit dem Ziel, in Deutschland tätige Wettbewerber der Gruppe zu benachteiligen, indem deren Zugang zu DB Terminals erschwert oder sie bei dessen Gewährung diskriminiert worden seien (im Folgenden: zweiter Nachprüfungsbeschluss). Diese zweite Nachprüfung fand am 30. März und 1. April 2011 statt. 7 Am 14. Juli 2011 erließ die Kommission einen dritten an die Deutsche Bahn gerichteten Nachprüfungsbeschluss wegen der Einrichtung eines möglicherweise wettbewerbswidrigen Systems des strategischen Einsatzes der von Gesellschaften der Gruppe verwalteten Infrastruktur mit dem Ziel, Tätigkeiten der Wettbewerber der Gruppe im Bereich des Schienentransports, die einen Zugang zu den Terminals von DUSS erfordern, zu behindern, zu erschweren oder zu verteuern (im Folgenden: dritter Nachprüfungsbeschluss). Diese dritte Nachprüfung fand am 26. Juli 2011 statt. 8 Die Deutsche Bahn, deren Rechtsbeistände bei den Nachprüfungen anwesend waren, erhob keine Einwände. Sie beanstandete auch nicht das Fehlen einer vorherigen richterlichen Genehmigung und widersetzte sich den Nachprüfungen nicht im Sinne von Art. 20 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003. Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteils 9 Mit Klageschriften, die am 10. Juni und 5. Oktober 2011 eingereicht wurden, erhob die Deutsche Bahn beim Gericht drei Klagen – die verbunden wurden – auf Nichtigerklärung der streitigen Beschlüsse und der von der Kommission während dieser Nachprüfungen getroffenen Maßnahmen und auf Verpflichtung der Kommission zur Rückgabe sämtlicher Kopien von Dokumenten, die im Rahmen der Nachprüfungen angefertigt worden waren. 10 Zur Stützung ihrer Klagen machte die Deutsche Bahn fünf Klagegründe geltend, mit denen im Wesentlichen eine Verletzung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) mangels einer vorherigen richterlichen Genehmigung, eine Verletzung des Grundrechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gemäß Art. 47 der Charta und Art. 6 EMRK, verschiedene Verstöße gegen die Verteidigungsrechte und eine Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gerügt wurden. 11 Das Gericht hat die Klagen der Deutschen Bahn insgesamt abgewiesen. Anträge der Parteien vor dem Gerichtshof 12 Die Deutsche Bahn beantragt, — das angefochtene Urteil aufzuheben; — die drei streitigen Beschlüsse für nichtig zu erklären; — der Kommission die Kosten für das Verfahren im ersten Rechtszug und für das Rechtsmittelverfahren aufzuerlegen. 13 Die Kommission beantragt, — das Rechtsmittel zurückzuweisen, — der Deutschen Bahn die Kosten aufzuerlegen. Zum Rechtsmittel Zum ersten Rechtsmittelgrund: fehlerhafte Auslegung und Anwendung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK Vorbringen der Deutschen Bahn 14 Die Deutsche Bahn wirft dem Gericht zunächst vor, das Urteil Colas Est u. a./Frankreich (Nr. 3797/97, EGMR 2002-III) des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verkannt zu haben und dessen Urteile Société Métallurgique Liotard Frères/Frankreich (vom 5. Mai 2011, Nr. 29598/08) und Canal Plus u. a./Frankreich (vom 21. Dezember 2010, Nr. 29408/08) nicht geprüft zu haben, soweit es in Rn. 72 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass das Fehlen einer vorherigen richterlichen Ermächtigung nur eines der Merkmale sei, die der EGMR herangezogen habe, um einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK festzustellen. 15 Sie rügt weiter, das Gericht habe sich in Rn. 66 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft auf die Urteile Harju/Finnland (vom 15. Februar 2011, Nr. 56716/09,) und Heino/Finnland (vom 15. Februar 2011, Nr. 56720/09) des EGMR berufen, soweit es dort festgestellt habe, aus diesen Urteilen lasse sich der allgemeine Grundsatz ableiten, dass das Fehlen einer vorherigen richterlichen Genehmigung durch eine umfassende Kontrolle im Anschluss an die Nachprüfung kompensiert werden könne. 16 Schließlich trägt die Deutsche Bahn vor, dass die vom Gericht in den Rn. 74 bis 101 des angefochtenen Urteils aufgeführten fünf Kategorien von Garantien keinen ausreichenden Schutz ihrer Verteidigungsrechte gegen den Eingriff in ihr Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung böten, den die Nachprüfungen der Kommission in ihren Geschäftsräumen darstellten. 17 Die Kommission tritt diesem Vorbringen, unterstützt von der EFTA-Überwachungsbehörde und dem Königreich Spanien, entgegen. Würdigung durch den Gerichtshof 18 Mit ihrem ersten Rechtsmittelgrund möchte die Deutsche Bahn im Wesentlichen dartun, dass das angefochtene Urteil mit Rechtsfehlern behaftet ist, soweit das Gericht unter Verkennung von Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK festgestellt habe, dass das Fehlen einer vorherigen richterlichen Genehmigung die Rechtmäßigkeit der streitigen Beschlüsse nicht beeinträchtige. 19 Dazu ist festzustellen, dass das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Hoechst/Kommission, 46/87 und 227/88, EU:C:1989:337, Rn. 19, Dow Benelux/Kommission, 85/87, EU:C:1989:379, Rn. 30, sowie Dow Chemical Ibérica u. a./Kommission, 97/87 bis 99/87, EU:C:1989:380, Rn. 16), der nunmehr in Art. 7 der Charta, der Art. 8 EMRK entspricht, Ausdruck gefunden hat. 20 Es ist ferner darauf hinzuweisen, dass sich der in Art. 8 EMRK vorgesehene Schutz nach der Rechtsprechung des EGMR zwar auf bestimmte Geschäftsräume erstrecken kann, aber der EGMR gleichwohl entschieden hat, dass der öffentliche Eingriff im Fall beruflicher oder geschäftlicher Räume oder Tätigkeiten weiter gehen kann als in anderen Fällen (EGMR, Urteile vom 16. Dezember 1992, Niemietz/Deutschland, Serie A Nr. 251-B, und 14. März 2013, Bernh Larsen Holding AS u. a./Norwegen, Nr. 24117/08). 21 Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass dem Gericht, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht vorgeworfen werden kann, die Urteile Métallurgique Liotard Frères/Frankreich und Canal Plus/Frankreich des EGMR nicht berücksichtigt zu haben, da diese keine Verletzung von Art. 8 EMRK, sondern von Art. 6 Abs. 1 EMRK betrafen. 22 Ferner hat das Gericht in Rn. 72 des angefochtenen Urteils unter Verweis auf Rn. 49 des Urteils Colas Est u. a./Frankreich zu Recht darauf hingewiesen, dass das Fehlen einer vorherigen richterlichen Genehmigung nur eines der Merkmale war, die der EGMR herangezogen hat, um im Ergebnis einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK festzustellen. In dieser Randnummer hat das Gericht hinzugefügt, dass der EGMR den Umfang der Befugnisse der nationalen Wettbewerbsbehörde, die Umstände des Eingriffs sowie die begrenzte Zahl von Garantien berücksichtigt hat und sich diese Gesichtspunkte von der Lage unterschieden, wie sie sich im Unionsrecht darstellt. 23 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission nach Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1/2003 auf das Recht ihrer Bediensteten beschränken, u. a. die von ihnen bezeichneten Räume zu betreten, sich die von ihnen angeforderten Unterlagen vorlegen zu lassen und davon Kopien anzufertigen und sich den Inhalt der von ihnen angegebenen Möbel zeigen zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil Hoechst/Kommission, 46/87 und 227/88, EU:C:1989:337, Rn. 31). 24 Zudem ist zu beachten, dass nach Art. 20 Abs. 6 und 7 der Verordnung Nr. 1/2003 die Genehmigung eines Gerichts beantragt werden muss, wenn der betreffende Mitgliedstaat in einem Fall, in dem sich das Unternehmen widersetzt, die für die Erfüllung des Nachprüfungsauftrags erforderliche Unterstützung gegebenenfalls unter Einsatz von Polizeikräften oder einer entsprechenden vollziehenden Behörde gewährt und diese Genehmigung nach nationalem Recht vorausgesetzt wird. Die Genehmigung kann auch vorsorglich beantragt werden. Weiter ergibt sich aus Art. 20 Abs. 8 dieser Verordnung, dass das nationale Gericht zwar u. a. prüft, ob die beantragten Zwangsmaßnahmen nicht willkürlich und, gemessen am Gegenstand der Nachprüfung, nicht unverhältnismäßig sind, es aber die Notwendigkeit der Nachprüfung nicht in Frage stellen darf. Diese Bestimmung sieht eine dem Gerichtshof vorbehaltene nachträgliche Rechtmäßigkeitsprüfung vor. 25 Folglich hat das Gericht in Rn. 67 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei festgestellt, dass angesichts der Rechtsprechung des EGMR das Fehlen einer vorherigen richterlichen Genehmigung als solches nicht geeignet ist, zur Rechtswidrigkeit einer Nachprüfungsmaßnahme zu führen. 26 Weiter ist zu dem Vorbringen der Deutschen Bahn, wonach sich das Gericht in Rn. 66 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft auf die Urteile Harju/Finnland und Heino/Finnland des EGMR berufen habe, festzustellen, dass der EGMR dort ausdrücklich ausgeführt hat, dass das Fehlen einer vorherigen richterlichen Genehmigung durch eine nachträgliche gerichtliche Kontrolle sowohl der Tatsachen- als auch der Rechtsfragen kompensiert werden kann. 27 Daraus folgt, dass das in den Rn. 15 und 26 des vorliegenden Urteils wiedergegebene Vorbringen der Deutschen Bahn unbegründet ist. 28 Schließlich ist zu beachten, dass das Gericht in Rn. 73 des angefochtenen Urteils darauf hingewiesen hat, dass der Schutz gegen willkürliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt nach der Rechtsprechung des EGMR einen rechtlichen Rahmen und strikte Grenzen erfordert, und sodann in den Rn. 74 bis 100 des angefochtenen Urteils fünf Kategorien von Garantien aufgeführt und geprüft hat, die den Rahmen für den Nachprüfungsbeschluss bilden müssen. Das Gericht ist in Rn. 100 zu dem Ergebnis gekommen, dass jede dieser Garantien im vorliegenden Fall gewährleistet gewesen sei. 29 In diesem Zusammenhang genügt die Feststellung, dass die detaillierte Prüfung, die das Gericht vorgenommen hat, sowohl den Anforderungen des EGMR genügt, wie aus der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils hervorgeht, als auch dem Wortlaut der Verordnung Nr. 1/2003 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs entspricht. 30 Zum einen ergibt sich nämlich aus Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003, dass der Nachprüfungsbeschluss den Gegenstand und den Zweck der Nachprüfung, die gegen das betreffende Unternehmen vorgesehenen Sanktionen und ferner angeben muss, dass das Unternehmen beim Gerichtshof Klage erheben kann. 31 Zum anderen sind nach ständiger Rechtsprechung die der Kommission verliehenen Nachprüfungsbefugnisse genau eingegrenzt, so hinsichtlich des Ausschlusses von Unterlagen nichtgeschäftlicher Art von dem Bereich, in dem die Kommission ermitteln darf, des Rechts auf Hinzuziehung eines juristischen Beistands, des Anspruchs auf Wahrung der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Anwälten und Mandanten oder der Pflicht zur Begründung des Nachprüfungsbeschlusses und der Möglichkeit zur Klageerhebung vor dem Gemeinschaftsrichter (vgl. in diesem Sinne Urteil Roquette Frères, C‑94/00, EU:C:2002:603, Rn. 44 bis 50). 32 Wie zudem der Generalanwalt in Nr. 38 seiner Schlussanträge ausgeführt hat und in Rn. 26 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, wird das Bestehen einer nachträglichen gerichtlichen Kontrolle vom EGMR als geeignet angesehen, das Fehlen einer vorherigen richterlichen Ermächtigung zu kompensieren, und bildet damit eine grundlegende Garantie, um die Vereinbarkeit der fraglichen Nachprüfungsmaßnahme mit Art. 8 EMRK zu gewährleisten (vgl. u. a. EGMR, Urteil Delta Pekárny a.s./Tschechische Republik, Nr. 97/11, §§ 83, 87 und 92, 2. Oktober 2014). 33 Ebenso verhält es sich im Rahmen des in der Europäischen Union geschaffenen Systems, da in Art. 20 Abs. 8 der Verordnung Nr. 1/2003 ausdrücklich vorgesehen ist, dass der Gerichtshof für die Prüfung der Rechtmäßigkeit des von der Kommission erlassenen Nachprüfungsbeschlusses zuständig ist. 34 Die durch die Verträge vorgesehene Kontrolle setzt voraus, dass der Unionsrichter auf der Grundlage der vom Kläger zur Stützung seiner Klagegründe vorgelegten Beweise eine umfassende Prüfung vornimmt, d. h. eine Prüfung, die sich sowohl auf die Rechts- als auch auf die Tatsachenfragen erstreckt (vgl. in diesem Sinne Urteile Chalkor/Kommission, C‑386/10 P, EU:C:2011:815, Rn. 62, und CB/Kommission, C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 44). 35 Folglich hat das Gericht zu Recht entschieden, dass das durch Art. 8 EMRK geschützte Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung durch das Fehlen einer vorherigen richterlichen Genehmigung nicht verletzt worden ist. 36 Demnach ist ebenfalls festzustellen, dass keine Verletzung von Art. 7 der Charta nachgewiesen worden ist. 37 Unter diesen Umständen ist der erste Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen. Zum zweiten Rechtsmittelgrund: fehlerhafte Auslegung und Anwendung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gemäß Art. 47 der Charta und Art. 6 Abs. 1 EMRK Vorbringen der Deutschen Bahn 38 Die Deutsche Bahn macht geltend, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, soweit es festgestellt habe, dass die streitigen Beschlüsse das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz mit Rücksicht darauf, dass im Unionsrecht eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung gegeben sei, nicht verletzt hätten. 39 Die Deutsche Bahn wirft dem Gericht insbesondere vor, seine Begründung auf die Urteile des EGMR, Société Métallurgique Liotard Frères/Frankreich und Canal Plus u. a./Frankreich, gestützt zu haben, obwohl die dort fraglichen Sachverhalte nicht vergleichbar gewesen seien, weil die französische Wettbewerbsbehörde im Rahmen jener Verfahren vorab eine richterliche Genehmigung eingeholt habe. 40 Die Kommission tritt diesem Vorbringen mit Unterstützung der EFTA-Überwachungsbehörde und des Königreichs Spanien entgegen. Würdigung durch den Gerichtshof 41 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in den Rn. 109 und 110 des angefochtenen Urteils zu Recht festgestellt hat, dass den Urteilen Société Métallurgique Liotard Frères/Frankreich und Canal Plus/Frankreich des EGMR zu entnehmen ist, dass sie den Umfang der Kontrolle, darin eingeschlossen eine Kontrolle sämtlicher tatsächlicher und rechtlicher Gesichtspunkte und im Fall einer festgestellten Regelwidrigkeit die Ermöglichung einer angemessenen Wiedergutmachung, und nicht deren Zeitpunkt betreffen. 42 Außerdem hat das Gericht in Rn. 112 des angefochtenen Urteils ausgeführt, dass der Unionsrichter, der über eine gegen einen Nachprüfungsbeschluss erhobene Nichtigkeitsklage entscheidet, eine Kontrolle sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht ausübt und befugt ist, Beweise zu würdigen und den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären. 43 Es ist festzustellen, dass diese Beurteilung auch der in Rn. 34 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs entspricht. Die vom Gericht in den Rn. 109 bis 112 des angefochtenen Urteils vorgenommene Beurteilung ist daher nicht rechtsfehlerhaft. 44 Zudem haben – entgegen dem Vorbringen der Deutschen Bahn – Unternehmen, an die ein Nachprüfungsbeschluss gerichtet worden ist, die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit dieses Beschlusses anzufechten, und zwar, wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge erläutert hat, unmittelbar nach der Mitteilung dieses Beschlusses. Dies bedeutet, dass das Unternehmen nicht den Erlass der abschließenden Entscheidung der Kommission über die mutmaßliche Verletzung der Wettbewerbsregeln abwarten muss, um eine Nichtigkeitsklage bei den Unionsgerichten zu erheben. 45 Schließlich hat das Gericht in Rn. 113 des angefochtenen Urteils hinsichtlich der unionsrechtlichen Garantien zur Gewährleistung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hingewiesen, wonach die Nichtigerklärung des Nachprüfungsbeschlusses oder die Feststellung einer Regelwidrigkeit bei der Durchführung der Nachprüfung dazu führt, dass es der Kommission nicht möglich ist, die dabei erlangten Informationen für die Zwecke des Zuwiderhandlungsverfahrens zu verwenden (Urteil Roquette Frères, C‑94/00, EU:C:2002:603, Rn. 49). 46 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Gericht zu Recht der Ansicht war, dass das durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierte Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz durch das Fehlen einer vorherigen gerichtlichen Kontrolle nicht verletzt wurde. 47 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass dieses Grundrecht ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der nunmehr in Art. 47 der Charta zum Ausdruck kommt und im Unionsrecht dem Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Chalkor/Kommission, C‑386/10 P, EU:C:2011:815, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung, Telefónica und Telefónica de España/Kommission, C‑295/12 P, EU:C:2014:2062, Rn. 40, sowie CB/Kommission, C‑67/13 P, EU:C:2014:2204, Rn. 43). 48 Aus den oben angeführten Gründen ist auch festzustellen, dass keine Verletzung von Art. 47 der Charta nachgewiesen wurde. 49 Der zweite Rechtsmittelgrund ist demnach zurückzuweisen. Zum dritten Rechtsmittelgrund: Verletzung der Verteidigungsrechte angesichts von Unregelmäßigkeiten bei der ersten Nachprüfung Vorbringen der Deutschen Bahn 50 Die Deutsche Bahn rügt die vom Gericht in Rn. 162 des angefochtenen Urteils getroffene Feststellung, es sei legitim gewesen, dass die Kommission ihre Bediensteten vor dem ersten Nachprüfungsbeschluss über Verdachtsmomente gegenüber DUSS informiert habe. 51 Dazu führt die Deutsche Bahn aus, die Kommission habe durch ihr Verhalten bewusst das Risiko geschaffen, dass die ihren Bediensteten mitgeteilten Informationen über den Komplex DUSS diese veranlasst hätten, ihr Augenmerk speziell auch auf DUSS-Dokumente zu richten, obwohl diese Dokumente außerhalb des Gegenstands der ersten Nachprüfung gelegen hätten. Daher sei die vom Gerichtshof in seinem Urteil Dow Benelux/Kommission (85/87, EU:C:1989:379) anerkannte Ausnahme von dem Verbot, außerhalb des Nachprüfungszwecks liegende Dokumente zu verwerten, entgegen der Feststellung des Gerichts nicht anwendbar gewesen. 52 Auch sei diese vorherige Unterrichtung der Kommissionsbediensteten über den Komplex DUSS für eine effiziente Durchsetzung der Wettbewerbsregeln nicht notwendig gewesen. 53 Die Kommission bestreitet die Zulässigkeit des Vorbringens der Deutschen Bahn zu dem Rechtsfehler, den das Gericht mit der Annahme von Zufallsfunden begangen haben soll. Es handele sich um Tatsachenfeststellungen, die im Rahmen des Rechtsmittels nicht erörtert werden könnten. Würdigung durch den Gerichtshof 54 Was die von der Kommission bestrittene Zulässigkeit des vorliegenden Rechtsmittelgrundes betrifft, ist zunächst festzustellen, dass die Deutsche Bahn nicht nur eine neue Beurteilung der Tatsachen durch den Gerichtshof begehrt, sondern einen Rechtsfehler rügt, den das Gericht durch die Feststellung begangen haben soll, es sei legitim gewesen, dass die Kommission ihre Bediensteten vor der ersten Nachprüfung über das Bestehen von Verdachtsmomenten gegenüber DUSS als allgemeinen Hintergrund der Sache informiert habe. 55 Der dritte Rechtsmittelgrund ist daher zulässig. 56 In der Sache ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 die Kommission dazu verpflichtet, Nachprüfungsentscheidungen unter Angabe von Gegenstand und Zweck der Nachprüfung zu begründen, was, wie der Gerichtshof klargestellt hat, insofern ein grundlegendes Erfordernis darstellt, als dadurch nicht nur die Berechtigung des beabsichtigten Eingriffs in den betroffenen Unternehmen aufgezeigt werden soll, sondern auch diese Unternehmen in die Lage versetzt werden sollen, den Umfang ihrer Mitwirkungspflicht zu erkennen und zugleich ihre Verteidigungsrechte zu wahren (Urteile Roquette Frères, C‑94/00, EU:C:2002:603, Rn. 47, sowie Nexans und Nexans Frankreich/Kommission, C‑37/13 P, EU:C:2014:2030, Rn. 34). 57 Zudem dürfen im Laufe von Nachprüfungen erlangte Informationen nach Art. 28 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 zu keinen anderen als den im Prüfungsauftrag oder Nachprüfungsbeschluss angegebenen Zwecken verwertet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Dow Benelux/Kommission, 85/87, EU:C:1989:379, Rn. 17). 58 Der Gerichtshof hat dargelegt, dass ein solches Erfordernis neben dem in Art. 28 der Verordnung Nr. 1/2003 ausdrücklich genannten Berufsgeheimnis die Verteidigungsrechte der Unternehmen schützen soll, die Art. 20 Abs. 4 gewährleisten soll. Diese Rechte würden nämlich in schwerwiegender Weise beeinträchtigt, wenn die Kommission gegenüber den Unternehmen bei einer Nachprüfung erlangte Beweise anführen könnte, die in keinem Zusammenhang mit Gegenstand und Zweck dieser Nachprüfung stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil Dow Benelux/Kommission, 85/87, EU:C:1989:379, Rn. 18). 59 Dies bedeutet jedoch nicht, dass es der Kommission verwehrt wäre, ein Untersuchungsverfahren einzuleiten, um Informationen, die sie bei einer früheren Nachprüfung zufällig erlangt hat, auf ihre Richtigkeit zu prüfen oder zu vervollständigen, wenn diese Informationen einen Hinweis auf Verhaltensweisen liefern, die gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrags verstoßen. Eine solche Lösung ginge nämlich über das hinaus, was zum Schutz des Berufsgeheimnisses und der Verteidigungsrechte notwendig ist, und würde die Kommission in ungerechtfertigter Weise bei der Erfüllung ihrer Aufgabe behindern, über die Einhaltung der Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu wachen und Zuwiderhandlungen gegen die Art. 101 AEUV und 102 AEUV zu ermitteln (vgl. in diesem Sinne Urteil Dow Benelux/Kommission, 85/87, EU:C:1989:379, Rn. 19). 60 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass zum einen die Kommission verpflichtet ist, den Beschluss, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird, zu begründen. Zum anderen dürfen, soweit die Begründung des Beschlusses die den Kommissionsbediensteten verliehenen Befugnisse eingrenzt, nur Dokumente gesucht werden, die in den Gegenstand der Nachprüfung fallen. 61 Im vorliegenden Fall geht jedoch aus Rn. 162 des angefochtenen Urteils sowie den Ausführungen der Kommission in der mündlichen Verhandlung hervor, dass diese kurz vor der Nachprüfung ihre Mitarbeiter darüber informierte, dass eine weitere Beschwerde gegen die Deutsche Bahn vorlag, die sich auf ihre Tochtergesellschaft DUSS bezog. 62 Auch wenn die Effektivität einer Nachprüfung, wie der Generalanwalt in Nr. 69 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, voraussetzt, dass die Kommission den damit beauftragten Bediensteten vor der Nachprüfung alle Informationen erteilt, aufgrund deren diese das Wesen und den Umfang der etwaigen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verstehen können, sowie Informationen über den Ablauf der Nachprüfung selbst gibt, muss sich doch die Gesamtheit dieser Informationen allein auf den Gegenstand der Nachprüfung beziehen, die durch den Beschluss angeordnet worden ist. 63 Zwar hat das Gericht in Rn. 75 des angefochtenen Urteils zu Recht darauf hingewiesen, dass der Nachprüfungsbeschluss der Kommission der Begründungspflicht unterliegt. Es hat jedoch nicht in Betracht gezogen, dass dann, wenn die Kommission ihre Bediensteten vor der ersten Nachprüfung über die weitere Beschwerde in Bezug auf das betreffende Unternehmen informierte, der in dem Nachprüfungsbeschluss bezeichnete Gegenstand der Nachprüfung auch Angaben zu dieser weiteren Beschwerde hätte umfassen müssen. 64 Diese vorherige Unterrichtung nicht über den allgemeinen Hintergrund der Angelegenheit, sondern über das Vorliegen einer anderen Beschwerde liegt außerhalb des Gegenstands des ersten Nachprüfungsbeschlusses. Daher verletzt das Fehlen eines Hinweises auf diese Beschwerde im Rahmen des Gegenstands dieses Nachprüfungsbeschlusses die Begründungspflicht und die Verteidigungsrechte des betreffenden Unternehmens. 65 Es ist weiter festzustellen, dass das Gericht in Rn. 134 des angefochtenen Urteils ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass der Umstand, dass der zweite Nachprüfungsbeschluss erging, während die erste Nachprüfung lief, die Bedeutung der bei dieser Gelegenheit erlangten Informationen für die Ingangsetzung der zweiten Nachprüfung zeigt und dass sich die dritte Nachprüfung unzweifelhaft teilweise auf Informationen stützte, die bei den ersten beiden Nachprüfungen gesammelt worden waren. Daraus hat es geschlossen, dass die Bedingungen, unter denen die Informationen über DUSS bei der ersten Nachprüfung erlangt wurden, die Rechtmäßigkeit des zweiten und des dritten Nachprüfungsbeschlusses berühren können. 66 Damit wies die erste Nachprüfung Unregelmäßigkeiten auf, da die Kommissionsbediensteten, die im Vorhinein über außerhalb des Nachprüfungsgegenstands liegende Informationen verfügten, Unterlagen beschlagnahmten, die außerhalb des Gebiets der Nachprüfung lagen, das durch den ersten Nachprüfungsbeschluss eingegrenzt worden war. 67 Aus alledem folgt, dass das Gericht in Rn. 162 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft zu der Feststellung gelangte, es sei rechtmäßig gewesen, dass die Kommissionsbediensteten vor dem ersten Nachprüfungsbeschluss über das Vorliegen der das Unternehmen DUSS betreffenden Beschwerde als Teil des allgemeinen Hintergrundes informiert worden seien – ohne dass überdies das Gericht dafür eine Begründung gegeben hätte –, obwohl eine solche vorherige Information offensichtlich nicht zum Gegenstand des ersten Nachprüfungsbeschlusses gehört und somit die Garantien missachtet, die die Nachprüfungsbefugnisse der Kommission eingrenzen. 68 Unter diesen Umständen ist dem dritten Rechtsmittelgrund stattzugeben. 69 Demnach ist das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit damit die Klage gegen den zweiten und den dritten Nachprüfungsbeschluss abgewiesen worden ist, ohne dass der vierte Rechtsmittelgrund der Deutschen Bahn geprüft zu werden braucht, der eine fehlerhafte Anwendung der Beweislastregeln durch das Gericht betrifft und ebenfalls auf die Nichtigerklärung des zweiten und des dritten Nachprüfungsbeschlusses gerichtet ist. Zur Klage vor dem Gericht 70 Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Gerichtshof, wenn er die Entscheidung des Gerichts aufhebt, den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist. Dies ist hier der Fall. 71 Aus den Rn. 56 bis 67 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass der dritte Klagegrund der im ersten Rechtszug erhobenen Klage begründet ist und dass der zweite und der dritte Nachprüfungsbeschluss wegen einer Verletzung der Verteidigungsrechte für nichtig zu erklären sind. Kosten 72 Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof, wenn das Rechtsmittel begründet ist und er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheidet, über die Kosten. 73 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. 74 Nach Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung trägt in einem Fall, in dem jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, jede Partei ihre eigenen Kosten. Der Gerichtshof kann jedoch entscheiden, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint. 75 Da dem Rechtsmittel der Deutschen Bahn teilweise stattgegeben worden ist, trägt die Kommission außer der Hälfte der ihr im vorliegenden Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten die Hälfte der Kosten, die der Deutschen Bahn in diesem Rechtsmittelverfahren entstanden sind. Die Deutsche Bahn trägt die Hälfte der ihr in diesem Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten sowie die Hälfte der der Kommission in dem Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten. 76 Was die Kosten des Verfahrens im ersten Rechtszug betrifft, so hat die Kommission in den Rechtssachen T‑290/11 und T‑521/11 die Kosten zu tragen, während der Deutschen Bahn die Kosten in der Rechtssache T‑289/11 aufzuerlegen sind. 77 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. In Anwendung dieser Bestimmung trägt das Königreich Spanien seine eigenen Kosten für das Verfahren im ersten Rechtszug und für das Rechtsmittelverfahren. 78 Nach Art. 140 Abs. 2 dieser Verfahrensordnung trägt die EFTA-Überwachungsbehörde, die dem Rechtsstreit als Streithelferin beigetreten ist, ihre eigenen Kosten. Demnach trägt die EFTA-Überwachungsbehörde ihre eigenen Kosten für das Verfahren im ersten Rechtszug und für das Rechtsmittelverfahren. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Das Urteil Deutsche Bahn u. a./Kommission (T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404) des Gerichts der Europäischen Union wird aufgehoben, soweit darin die Klage gegen den zweiten und den dritten Nachprüfungsbeschluss, K (2011) 2365 vom 30. März 2011 und K (2011) 5230 vom 14. Juli 2011, abgewiesen worden ist. 2. Die Beschlüsse K (2011) 2365 vom 30. März 2011 und K (2011) 5230 der Europäischen Kommission vom 14. Juli 2011 werden für nichtig erklärt. 3. Im Übrigen wird das Rechtsmittel zurückgewiesen. 4. Die Deutsche Bahn AG, die DB Mobility Logistics AG, die DB Energie GmbH, die DB Netz AG, die Deutsche Umschlaggesellschaft Schiene-Straße (DUSS) mbH, die DB Schenker Rail GmbH und die DB Schenker Rail Deutschland AG tragen außer der Hälfte der ihnen im vorliegenden Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten die Hälfte der Kosten, die in diesem Rechtsmittelverfahren der Europäischen Kommission entstanden sind. 5. Die Europäische Kommission trägt außer der Hälfte der ihr im vorliegenden Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten die Hälfte der Kosten, die in diesem Rechtsmittelverfahren der Deutschen Bahn AG, der DB Mobility Logistics AG, der DB Energie GmbH, der DB Netz AG, der Deutschen Umschlaggesellschaft Schiene-Straße (DUSS) mbH, der DB Schenker Rail GmbH und der DB Schenker Rail Deutschland AG entstanden sind. 6. Die Deutsche Bahn AG, die DB Mobility Logistics AG, die DB Energie GmbH, die DB Netz AG, die Deutsche Umschlaggesellschaft Schiene-Straße (DUSS) mbH, die DB Schenker Rail GmbH und die DB Schenker Rail Deutschland AG tragen die Kosten in der Rechtssache T‑289/11. 7. Die Europäische Kommission trägt die Kosten in den Rechtssachen T‑290/11 und T‑521/11. 8. Das Königreich Spanien trägt seine eigenen Kosten. 9. Die EFTA-Überwachungsbehörde trägt ihre eigenen Kosten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichts (Zweite Kammer) vom 28. April 2015. # Chelyabinsk electrometallurgical integrated plant OAO (CHEMK) und Kuzneckie ferrosplavy OAO (KF) gegen Rat der Europäischen Union. # Rechtssache T-169/12.
62012TJ0169
ECLI:EU:T:2015:231
2015-04-28T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
Parteien Entscheidungsgründe Tenor Parteien In der Rechtssache T‑169/12 Chelyabinsk electrometallurgical integrated plant OAO (CHEMK) mit Sitz in Chelyabinsk (Russland), Kuzneckie ferrosplavy OAO (KF) mit Sitz in Novokuznetsk (Russland), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt B. Evtimov, Klägerinnen, gegen Rat der Europäischen Union, vertreten durch J.‑P. Hix als Bevollmächtigten, zunächst im Beistand von Rechtsanwälten G. Berrisch und A. Polcyn, dann von G. Berrisch und N. Chesaites, Barrister, und schließlich von Rechtsanwalt D. Gerardin, Beklagter, unterstützt durch Europäische Kommission, vertreten zunächst durch H. van Vliet, M. França und A. Stobiecka-Kuik, dann durch M. França, A. Stobiecka-Kuik und J.‑F. Brakeland als Bevollmächtigte, und durch Euroalliages mit Sitz in Brüssel (Belgien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte O. Prost und M.-S. Dibling, Streithelferinnen, wegen teilweiser Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 60/2012 des Rates vom 16. Januar 2012 zur Einstellung der gemäß Artikel 11 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 durchgeführten teilweisen Interimsüberprüfung der Antidumpingmaßnahmen gegenüber den Einfuhren von Ferrosilicium mit Ursprung unter anderem in Russland (ABl. L 22, S. 1), soweit sie die Klägerinnen betrifft, erlässt DAS GERICHT (Zweite Kammer) unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise (Berichterstatter), Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. März 2014 folgendes Urteil Entscheidungsgründe Rechtlicher Rahmen 1. Die Antidumping-Grundregelung der Europäischen Union besteht aus der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 des Rates vom 30. November 2009 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. L 343, S. 51, berichtigt in ABl. 2010, L 7, S. 22, im Folgenden: Grundverordnung), die die Verordnung (EG) Nr. 384/96 des Rates vom 22. Dezember 1995 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. 1996, L 56, S. 1) in geänderter Fassung ersetzt hat. 2. Art. 2 der Grundverordnung enthält die Regelungen zur Feststellung des Dumpings. Art. 2 Abs. 11 und 12 der Grundverordnung betrifft die Feststellung der Dumpingspannen während des Untersuchungszeitraums. Gemäß Art. 2 Abs. 12 der Grundverordnung „entspricht [die Dumpingspanne] dem Betrag, um den der Normalwert den Ausfuhrpreis übersteigt“. 3. Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung regelt das Verfahren für die Interimsüberprüfung. Diese Bestimmung lautet: „Die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Maßnahmen kann bei Bedarf ebenfalls von der Kommission von Amts wegen oder auf Antrag eines Mitgliedstaats oder, sofern seit der Einführung der endgültigen Maßnahme eine angemessene Zeitspanne, mindestens aber ein Jahr vergangen ist, auf Antrag eines Ausführers oder Einführers oder der Gemeinschaftshersteller überprüft werden, wenn dieser Antrag ausreichende Beweise für die Notwendigkeit einer solchen Interimsüberprüfung enthält. Eine Interimsüberprüfung wird eingeleitet, wenn der Antrag ausreichende Beweise dafür enthält, dass die Aufrechterhaltung der Maßnahme zum Ausgleich des Dumpings nicht mehr notwendig ist und/oder dass die Schädigung im Fall der Aufhebung oder Änderung der Maßnahme wahrscheinlich nicht anhalten oder erneut auftreten würde oder dass die Maßnahme nicht oder nicht mehr ausreicht, um das schädigende Dumping unwirksam zu machen. Bei Untersuchungen gemäß diesem Absatz kann die Kommission unter anderem prüfen, ob sich die Umstände hinsichtlich des Dumpings und der Schädigung wesentlich verändert haben oder ob die geltenden Maßnahmen zum angestrebten Ergebnis führen und die Beseitigung der gemäß Artikel 3 festgestellten Schädigung ermöglichen. Zu diesen Fragen werden alle einschlägigen ordnungsgemäß belegten Beweise in der endgültigen Feststellung berücksichtigt.“ 4. In Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung heißt es: „In allen Überprüfungen oder Erstattungsuntersuchungen gemäß diesem Artikel wendet die Kommission, soweit sich die Umstände nicht geändert haben, die gleiche Methodik an wie in der Untersuchung, die zur Einführung des Zolls führte, unter gebührender Berücksichtigung des Artikels 2, insbesondere der Absätze 11 und 12, und des Artikels 17.“ Vorgeschichte des Rechtsstreits 5. Die Klägerinnen, die Chelyabinsk electrometallurgical integrated plant OAO (CHEMK) und die Kuzneckie ferrosplavy OAO (KF), sind Gesellschaften mit Sitz in Russland, die in der Herstellung von Ferrosilicium tätig sind, einer in der Fertigung von Stahl und Eisen verwendeten Legierung. Die RFA International, LP (RFAI) ist ein mit den Klägerinnen verbundenes Unternehmen. Die RFAI, die ihren Sitz in Kanada hat und eine Zweigstelle in der Schweiz besitzt, ist für die Verkäufe der Klägerinnen in der Union verantwortlich. 6. Am 25. Februar 2008 erließ der Rat der Europäischen Union auf eine Beschwerde des Verbindungsausschusses für die Eisenlegierungsindustrie (Euroalliages) hin die Verordnung (EG) Nr. 172/2008 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Zolls auf die Einfuhren von Ferrosilicium mit Ursprung in der Volksrepublik China, Ägypten, Kasachstan, der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien und Russland (ABl. L 55, S. 6, im Folgenden: ursprüngliche Verordnung). Gemäß Art. 1 der ursprünglichen Verordnung galten für die von den Klägerinnen hergestellten Waren endgültige Antidumpingzölle auf den Nettopreis frei Grenze der Gemeinschaft, unverzollt, in Höhe von 22,7 %. 7. Am 30. November 2009 beantragten die Klägerinnen eine teilweise Interimsüberprüfung, die sich gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung nur auf das Dumping bezog. Die Klägerinnen machten in ihrem Antrag geltend, die Umstände, aufgrund deren die ursprüngliche Verordnung erlassen worden sei, hätten sich geändert, und die in Rede stehenden Veränderungen hätten einen dauerhaften Charakter. 8. Am 27. Oktober 2010 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Bekanntmachung der Einleitung einer teilweisen Interimsüberprüfung der Antidumpingmaßnahmen gegenüber den Einfuhren von Ferrosilicium mit Ursprung unter anderem in Russland (ABl. C 290, S. 15), die ausschließlich das Dumping betraf. Der von der Überprüfungsuntersuchung erfasste Zeitraum lief vom 1. Oktober 2009 bis zum 30. September 2010 (im Folgenden: Untersuchungszeitraum der Überprüfung). 9. Mit Schreiben vom 12. Januar und 24. März 2011 übermittelten die Klägerinnen der Kommission Erläuterungen hinsichtlich der Struktur der Gruppe, zu der sie sowie die RFAI gehörten, und zur Frage des dauerhaften Charakters der Veränderung der in dem Antrag auf Interimsüberprüfung geltend gemachten Umstände. 10. Am 28. Oktober 2011 richtete die Kommission ein Dokument an die Klägerinnen, das den Sachverhalt und die wesentlichen Erwägungen enthielt, aufgrund deren sie beabsichtigte, die Schließung der Interimsüberprüfung ohne Änderung der durch die ursprüngliche Verordnung verhängten Antidumpingmaßnahmen zu empfehlen (im Folgenden: Dokument zur allgemeinen Unterrichtung). In diesem Dokument legte die Kommission zum einen die Berechnung und den Betrag der Dumpingspanne für den Untersuchungszeitraum der Überprüfung dar und teilte zum anderen mit, dass die von den Klägerinnen in ihrem Antrag auf Interimsüberprüfung geltend gemachte Veränderung der Umstände nicht als dauerhaft angesehen werden könne. 11. Am 14. November 2011 nahmen die Klägerinnen gegenüber der Kommission zum Dokument zur allgemeinen Unterrichtung Stellung. 12. Nach Abschluss der teilweisen Interimsüberprüfung erließ der Rat die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 60/2012 vom 16. Januar 2012 zur Einstellung der gemäß Artikel 11 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 durchgeführten teilweisen Interimsüberprüfung der Antidumpingmaßnahmen gegenüber den Einfuhren von Ferrosilicium mit Ursprung unter anderem in Russland (ABl. L 22, S. 1, im Folgenden: angefochtene Verordnung). In dieser Verordnung prüfte der Rat im Abschnitt „2. Dauerhafte Veränderung der Umstände“, ob die von den Klägerinnen in ihrem Antrag auf Interimsüberprüfung geltend gemachte Veränderung der Umstände, die ausschließlich das Dumping betraf, dauerhaft und somit geeignet war, eine Reduzierung oder sogar eine Aufhebung der in Rede stehenden Maßnahmen zu rechtfertigen. 13. Erstens wies er darauf hin, dass die Organe der Union bei ihrer Prüfung der Notwendigkeit einer Beibehaltung der bestehenden Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung über ein weites Ermessen verfügten, wozu auch die Befugnis gehöre, die voraussichtliche Entwicklung der Preise der betroffenen Ausführer zu beurteilen. Anschließend stellte er fest, dass das Vorbringen der Klägerinnen hinsichtlich der dauerhaften Veränderung der Umstände, auf die sie sich im vorliegenden Fall berufen hätten, in diesem Kontext geprüft werden müsse. 14. Zweitens sah es der Rat im Rahmen der Prüfung der von den Klägerinnen behaupteten dauerhaften Veränderung der Umstände als Erstes zum einen als sinnvoll an, die Erwägungen der Unionsorgane zur Frage, ob die Klägerinnen während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung möglicherweise weiterhin auf dem EU-Markt Dumping betrieben hätten, darzulegen, und schätzte aufgrund dessen zum anderen die Dumpingspanne im Rahmen des Überprüfungsverfahrens auf „etwa 13 %“. Als Zweites prüfte der Rat die verschiedenen Argumente der Klägerinnen hinsichtlich der angeblich dauerhaften Veränderungen der Umstände, die sie geltend machten. Zum Abschluss dieser Prüfung kam er im 54. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung mit der Überschrift „2.5 Fazit: keine hinreichenden Beweise für eine dauerhafte Veränderung der Umstände“ zu dem Ergebnis, dass derzeit keine hinreichenden Beweise für eine dauerhafte Veränderung der in Rede stehenden Umstände vorlägen und dass es voreilig und daher nicht gerechtfertigt wäre, zu diesem Zeitpunkt den geltenden Zollsatz zu senken. Wie aus den Erwägungsgründen 38 und 40 der angefochtenen Verordnung hervorgeht, stellte der Rat abgesehen von diesem Fazit ausdrücklich fest, dass es unabhängig von der Höhe des Betrags der Dumpingspanne im Untersuchungszeitraum der Überprüfung „auf keinen Fall“ hinreichende Anhaltspunkte dafür gebe, dass der für diesen Zeitraum dieser Spanne entsprechende Betrag als dauerhaft anzusehen sei. Demzufolge entschied der Rat in Art. 1 der angefochtenen Verordnung, dass es keinen Anlass gebe, die in der ursprünglichen Verordnung festgelegte Antidumpingmaßnahme zu ändern. 15. Parallel zum Antrag auf Interimsüberprüfung wurden von RFAI gemäß Art. 11 Abs. 8 der Grundverordnung Anträge auf Erstattung der entrichteten Antidumpingzölle gestellt. Die Erstattungsanträge bezogen sich auf den Zeitraum 1. Oktober 2008 bis 30. September 2010. Die Kommission unterteilte den Untersuchungszeitraum, für den die Erstattung beantragt worden war, in zwei Teilzeiträume: Vom 1. Oktober 2008 bis 30. September 2009 (im Folgenden: UZ1) und vom 1. Oktober 2009 bis 30. September 2010 (im Folgenden: UZ2), wobei der UZ2 mit dem Zeitraum der Überprüfungsuntersuchung identisch ist. 16. Am 9. November 2011 unterrichtete die Kommission die Klägerinnen über ihre Ergebnisse zu den Anträgen auf Erstattung hinsichtlich des UZ1. Hinsichtlich des UZ2 verwies die Kommission die Klägerinnen auf das im Rahmen der Interimsüberprüfung erstellte Dokument zur allgemeinen Unterrichtung. 17. Per E-Mail vom 26. Januar 2012 verlangten die Klägerinnen die Bekanntgabe der Berechnung der Dumpingspanne, wie sie in der angefochtenen Verordnung genannt worden sei. Per E-Mail vom selben Tag antwortete die Kommission, dass ihnen die Einzelheiten dieser Berechnung im Rahmen der Anträge auf Erstattung hinsichtlich des UZ2 bekannt gegeben würden. 18. Am 6. Juni 2012 übermittelte die Kommission den Klägerinnen das Dokument zur abschließenden Unterrichtung im Rahmen der Untersuchung über die Erstattung, das u. a. eine Berechnung der Dumpingspanne für den UZ2 umfasste. Verfahren und Anträge der Parteien 19. Die Klägerinnen haben mit Klageschrift, die am 10. April 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben. 20. Mit Schriftsätzen, die am 1. Juni bzw. 18. Juli 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Kommission und Euroalliages beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden. 21. Mit Schriftsätzen, die am 6. August bzw. 21. September 2012 sowie am 1. März 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Klägerinnen beantragt, gemäß Art. 116 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts bestimmte vertrauliche Gesichtspunkte der Klageschrift, der Klagebeantwortung, der Erwiderung und der Stellungnahmen der Kommission von der Übermittlung an Euroalliages auszunehmen. Zum Zweck dieser Übermittlung haben die Klägerinnen, der Rat und die Kommission eine nichtvertrauliche Fassung der fraglichen Schriftstücke und Dokumente erstellt. 22. Mit Beschlüssen vom 5. September 2012 hat der Präsident der Vierten Kammer des Gerichts den Anträgen der Kommission und von Euroalliages auf Zulassung als Streithelferinnen entsprochen. 23. Im Zuge einer Änderung der Zusammensetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Zweiten Kammer zugeteilt worden, der diese Rechtssache dementsprechend zugewiesen worden ist. 24. Im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme ist die Kommission aufgefordert worden, ein Dokument vorzulegen. Dieser Aufforderung ist sie fristgemäß nachgekommen. 25. Die Parteien haben in der Sitzung vom 28. März 2014 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet. 26. Die Klägerinnen beantragen, – die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit diese sie betrifft; – dem Rat die Kosten aufzuerlegen. 27. Der Rat beantragt, – die Klage abzuweisen; – den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen. 28. Die Kommission beantragt, die Klage abzuweisen. 29. Euroalliages beantragt, – die von den Klägerinnen geltend gemachten Klagegründe zurückzuweisen; – den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen. Rechtliche Würdigung 30. Zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung machen die Klägerinnen drei Klagegründe geltend. 31. Im Rahmen des ersten Klagegrundes legen die Klägerinnen dar, die Kommission und der Rat (im Folgenden: Organe) hätten erstens gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 Satz 1 dieser Verordnung verstoßen, zweitens einen Rechtsfehler begangen und ihr Ermessen im Rahmen der Anwendung von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung überschritten sowie drittens ihre Verteidigungsrechte verletzt. Sie rügen grundsätzlich die Tatsache, dass der Rat in der angefochtenen Verordnung davon abgesehen habe, die Dumpingspanne genau zu berechnen. 32. Im Rahmen des zweiten Klagegrundes machen die Klägerinnen einen offensichtlichen Beurteilungsfehler der Organe betreffend die Berechnung des Preises bei der Ausfuhr zur Feststellung der Dumpingspanne während der Überprüfungsuntersuchung geltend. 33. Im Rahmen des dritten Klagegrundes berufen sich die Klägerinnen auf einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung und auf einen offensichtlichen Beurteilungsfehler. Sie rügen im Wesentlichen die von den Organen gezogene Schlussfolgerung, nach der die zur Stützung ihres Antrags auf Interimsüberprüfung geltend gemachte Veränderung der Umstände keinen dauerhaften Charakter habe. 34. Vorab hält es das Gericht für notwendig, die Voraussetzungen festzulegen, nach denen es bei der Prüfung der drei von den Klägerinnen zur Stützung der vorliegenden Klage geltend gemachten Klagegründe vorgehen wird. Insoweit ist festzustellen, dass die angefochtene Verordnung nach Abschluss einer Interimsüberprüfung gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung erlassen wurde, der die Eröffnungsvoraussetzungen und die Ziele des Verfahrens einer solchen Überprüfung regelt (Urteil vom 17. November 2009, MTZ Polyfilms/Rat, T‑143/06, Slg, EU:T:2009:441, Rn. 40). 35. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 der Grundverordnung die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Maßnahmen u. a. infolge eines Antrags eines Ausführers oder Einführers oder Gemeinschaftsherstellers überprüft werden kann, wenn dieser Antrag ausreichende Beweise für die Notwendigkeit einer solchen Interimsüberprüfung enthält. Im vorliegenden Fall ist der Antrag von den Klägerinnen in ihrer Eigenschaft als Ausführer gestellt worden. Außerdem ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass dieser Antrag ausschließlich das Dumping betraf. 36. Sodann geht aus Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 der Grundverordnung hervor, dass, wenn der Antrag von einem Ausführer oder Einführer gestellt worden ist und er ausschließlich das Dumping betrifft, die Notwendigkeit zur Überprüfung im Wesentlichen voraussetzt, dass dieser Antrag ausreichende Beweise dafür enthält, die belegen, dass die Aufrechterhaltung der Maßnahme zum Ausgleich des Dumpings nicht mehr notwendig ist. 37. Schließlich ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass hinsichtlich der Behandlung eines ausschließlich das Dumping betreffenden Antrags auf Überprüfung der Rat unter Berufung auf diese Bestimmungen feststellen kann, dass sich die Umstände hinsichtlich des Dumpings wesentlich verändert haben, und dass er nach Bestätigung der Dauerhaftigkeit dieser Veränderungen auch zu dem Schluss berechtigt ist, dass der in Rede stehende Antidumpingzoll geändert werden muss (Urteil MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt, EU:T:2009:441, Rn. 41). 38. Im Hinblick auf die Zusammenfassung oben in den Rn. 34 bis 37 sind als Erstes der erste und der dritte Klagegrund gemeinsam zu prüfen, soweit sie dem Rat im Wesentlichen vorwerfen, erstens gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung, zweitens gegen Art. 11 Abs. 9 dieser Verordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung verstoßen und drittens die Verteidigungsrechte der Klägerinnen verletzt zu haben. Als Zweites wird die Prüfung des zweiten Klagegrundes, der die Berechnung des Preises bei der Ausfuhr im Rahmen der Feststellung der Dumpingspanne betrifft, im Hinblick auf die Ergebnisse betreffend den ersten und den dritten Klagegrund vorzunehmen sein. Zum ersten und zum dritten Klagegrund gemeinsam: Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung und gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung sowie Verletzung der Verteidigungsrechte 39. Im gemeinsamen Rahmen des ersten und des dritten Klagegrundes machen die Klägerinnen einen Verstoß erstens gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung, zweitens gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung und drittens eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte geltend. Zum Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung 40. Die Klägerinnen berufen sich zur Stützung des ersten und des dritten Klagegrundes auf einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung. Im Wesentlichen machen sie zwei Rügen geltend, wobei die erste den Umstand betrifft, dass die Organe einen den Umfang ihres Ermessens betreffenden Rechtsfehler im Zusammenhang mit diesem Artikel begangen hätten, und die zweite den Umstand, dass die Organe einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hätten, indem sie hinsichtlich der Dumpingspanne keine dauerhafte Änderung der Umstände angenommen hätten. – Zur im Rahmen des ersten Klagegrundes erhobenen ersten Rüge, mit der ein von den Organen begangener, den Umfang ihres Ermessens im Zusammenhang mit Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung betreffender Rechtsfehler geltend gemacht wird 41. Die Klägerinnen machen im Wesentlichen geltend, die Organe hätten dadurch, dass sie keine genaue Berechnung der Dumpingspanne gemäß Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung vorgenommen hätten, weil die Veränderung der Umstände, auf die sie sich beriefen, keinen dauerhaften Charakter habe, einen Rechtsfehler begangen und die Grenzen ihres Ermessens im Rahmen der entsprechenden Beurteilungen gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung überschritten. 42. Der Rat und die Kommission treten dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 43. Erstens geht, worauf bereits oben in den Rn. 34 bis 37 hingewiesen worden ist, aus dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 und 3 der Grundverordnung hervor, dass das Ziel der Interimsüberprüfung in der Beurteilung der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Antidumpingmaßnahmen besteht und dass, wenn der Überprüfungsantrag eines Ausführers nur das Dumping betrifft, insoweit von den Organen als Erstes die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der bestehenden Maßnahme zu prüfen und infolgedessen nicht nur festzustellen ist, dass sich die Umstände hinsichtlich des Dumpings wesentlich, sondern auch dauerhaft verändert haben (vgl. in diesem Sinne Urteil MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt, EU:T:2009:441, Rn. 41). Erst als Zweites, wenn die Kontrolle der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der bestehenden Maßnahmen abgeschlossen ist und soweit die Organe beschlossen haben, die bestehenden Maßnahmen zu ändern, sind sie bei der Festlegung neuer Maßnahmen durch Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung gebunden, der sie im Grundsatz ausdrücklich zur Anwendung derselben Methode wie der während der Ausgangsuntersuchung verwendeten berechtigt und verpflichtet, die zur Festsetzung des Antidumpingzolls geführt hat (Urteil MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt, EU:T:2009:441, Rn. 49). 44. Zweitens verfügen die Unionsorgane, worauf auch im elften Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hingewiesen wird, nach ständiger Rechtsprechung im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik, besonders im Bereich handelspolitischer Schutzmaßnahmen, wegen der Komplexität der von ihnen zu prüfenden wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Sachverhalte über ein weites Ermessen. Die gerichtliche Kontrolle einer solchen Ermessensausübung ist daher auf die Prüfung der Frage zu beschränken, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten wurden, ob der Sachverhalt, der der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegt wurde, zutreffend festgestellt ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Beurteilung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen (Urteil vom 16. Februar 2012, Rat und Kommission/Interpipe Niko Tube und Interpipe NTRP, C‑191/09 P und C‑200/09 P, EU:C:2012:78, Rn. 63; vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2007, Ikea Wholesale, C‑351/04, Slg, EU:C:2007:547, Rn. 40 und 41). 45. Diese Erwägungen sind u. a. auf die Ermessensausübung anwendbar, die die Organe im Rahmen des Überprüfungsverfahrens vornehmen. Was die Interimsüberprüfung gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung angeht, kann die Kommission u. a., wenn der Antrag auf Überprüfung ausschließlich das Dumping betrifft, prüfen, ob sich die das Dumping betreffenden Umstände wesentlich verändert haben oder ob die bestehenden Maßnahmen zum angestrebten Ergebnis geführt haben, um die Aufhebung, die Veränderung oder die Aufrechterhaltung der angesichts der Ausgangsuntersuchung festgelegten Antidumpingzölle vorzuschlagen. 46. Drittens ist festzustellen, dass Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung keine den Organen zur Verfügung stehenden Methoden oder spezifische Modalitäten vorsieht, um die durch diese Bestimmung vorgesehenen Kontrollen vorzunehmen. Nach dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 3 dieser Verordnung werden, um festzustellen, ob sich die das Dumping und die Schädigung betreffenden Umstände wesentlich verändert haben, nur „alle einschlägigen und ordnungsgemäß belegten Beweise“ berücksichtigt. 47. Viertens ist anzumerken, dass die Kontrolle, die die Kommission in dieser Hinsicht durchzuführen hat, sie veranlasst, nicht nur eine rückblickende Analyse der Entwicklung der seit der Einführung der ursprünglichen endgültigen Maßnahme berücksichtigten Situation durchzuführen, um zu beurteilen, ob die Aufrechterhaltung dieser Maßnahme oder ihre Änderung notwendig ist, um das schädigende Dumping unwirksam zu machen, sondern auch eine vorausschauende Analyse der voraussichtlichen Entwicklung der Lage seit dem Erlass der Überprüfungsmaßnahme, um die voraussichtliche Auswirkung eines Auslaufens oder einer Änderung dieser Maßnahme zu beurteilen. 48. Was das Dumping angeht, ergibt sich aus Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 der Grundverordnung und insbesondere aus der Verwendung des Begriffs „Aufrechterhaltung“, dass im Rahmen der vorausschauenden Analyse das betreffende Organ die Aufgabe hat, im Licht der von demjenigen, der den Antrag auf Überprüfung stellt, vorgelegten Beweise zu kontrollieren, ob das Dumping nicht wieder auftreten oder nicht von Neuem in der Zukunft ansteigen wird, so dass keine Maßnahmen mehr notwendig sind, um dieses unwirksam zu machen. Mit anderen Worten ist der Antragsteller, wie oben in Rn. 36 festgestellt, im Rahmen einer Interimsüberprüfung hinsichtlich des Dumpings verpflichtet, zu beweisen, dass sich die dem Dumping zugrunde liegenden Umstände dauerhaft verändert haben. 49. Demzufolge erfordert die Interimsüberprüfung eines Antrags hinsichtlich des Dumpings sowohl eine rückblickende Überprüfung als auch eine vorausschauende Überprüfung, wobei beide zeigen müssen, dass es nicht mehr notwendig ist, die geltende Maßnahme aufrechtzuerhalten. Wie oben aus den Erwägungen in Rn. 43 hervorgeht, hängt die Notwendigkeit, die Überprüfung einer geltenden Maßnahme vorzunehmen, zum einen von der Feststellung ab, dass sich die das Dumping betreffenden Umstände wesentlich verändert haben, und zum anderen davon, dass diese Veränderungen dauerhaft sind. Daher genügt es, dass eine der kumulativen Voraussetzungen nicht erfüllt ist, damit die Organe zu dem Ergebnis kommen können, dass diese Maßnahme aufrechtzuerhalten ist. 50. Hierzu ist festzustellen, dass Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 und 3 keinen Hinweis auf die Reihenfolge beinhaltet, in der diese beiden Prüfungen durchzuführen sind. Aus der Rechtsprechung geht hervor, dass die praktische Wirksamkeit von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung im Wesentlichen weitgehend dadurch gewährleistet ist, dass die Organe bei ihrer Prüfung der Notwendigkeit einer Beibehaltung der bestehenden Maßnahmen über ein weites Ermessen verfügen, wozu auch die Befugnis gehört, die voraussichtliche Entwicklung zu beurteilen (Urteil MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt, EU:T:2009:441, Rn. 48). Hieraus ergibt sich, dass es ‐ wenn die vorausschauende Beurteilung nicht die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Maßnahmen nachweist ‐ unnötig ist, dass die Organe eine ausführliche rückblickende Überprüfung vornehmen und damit, was das Dumping angeht, eine ausführliche Berechnung der Dumpingspanne vornehmen. 51. Aus den oben in den Rn. 43 bis 50 angestellten Erwägungen folgt, dass die Organe angesichts des weiten Wertungsspielraums, über den sie im Zusammenhang mit einer auf das Dumping begrenzten Interimsüberprüfung gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung verfügen, wenn sie dies für angemessen halten, mit der vorausschauenden Prüfung beginnen können und dann unter der Voraussetzung, dass sie zu dem Ergebnis kommen, dass die Veränderung der Umstände, auf die sich derjenige, der den Antrag auf Überprüfung stellt, beruft und die zu einer Verringerung oder einem Wegfall des bei Abschluss des Verfahrens der Ausgangsuntersuchung festgestellten Dumpings geführt hat, nicht dauerhaft ist, im Rahmen des Überprüfungsverfahrens davon absehen, die Dumpingspanne genau zu berechnen. 52. Wie aus dem elften Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hervorgeht, haben die Organe im vorliegenden Fall im Rahmen dieser vorausschauenden Analyse das Vorbringen der Klägerinnen überprüft, mit dem diese versuchten, nachzuweisen, dass angesichts des dauerhaften Charakters der Veränderung der Umstände, auf die sie sich beriefen und die sich ausschließlich auf das Dumping bezog, eine Reduzierung oder Streichung der geltenden Maßnahme gerechtfertigt sei. 53. Angesichts des weiten Wertungsspielraums, über den die Organe verfügten, um den Antrag auf Interimsüberprüfung der fraglichen Maßnahme im vorliegenden Fall zu beurteilen, ist festzustellen, dass sie zu Recht von Anfang an eine vorausschauende Überprüfung dieses Antrags vorgenommen haben und somit, da dieser ausschließlich das Dumping betraf, beurteilt haben, ob die behauptete Veränderung der Umstände, die sich auf Letzteres bezieht, einen dauerhaften Charakter hatte. Da, wie aus dem 54. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hervorgeht, die Organe zu dem Ergebnis kamen, dass die behauptete Veränderung der Umstände, die ausschließlich das Dumping betraf, nicht dauerhaft war, haben sie rechtsfehlerfrei und ohne Überschreitung der Grenzen ihres Ermessens gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung festgestellt, ohne vorab eine genaue Berechnung der Dumpingspanne vorzunehmen, dass die fraglichen Maßnahmen aufrechterhalten werden müssen. 54. Das Vorbringen der Klägerinnen kann daran nichts ändern. 55. Was erstens das Vorbringen der Klägerinnen im Hinblick auf die aufeinanderfolgenden Schritte angeht, aus der eine Interimsüberprüfung besteht, machen sie geltend, es gebe zwei grundlegende Schritte, die in einer bestimmten Reihenfolge vorzunehmen seien, nämlich zunächst im Zusammenhang mit der Feststellung des Vorliegens einer Veränderung der Umstände die Bestimmung der neuen Antidumpingspanne, die eine genaue Berechnung dieser Spanne erfordere, daran anschließend die Beurteilung des dauerhaften Charakters dieser Veränderung. Dazu ist festzustellen, dass dieses Vorbringen unmittelbar durch die oben in den Rn. 43 bis 50 angestellten Erwägungen sowie das oben in Rn. 51 angeführte Ergebnis widerlegt wird, so dass es als unbegründet zurückzuweisen ist. 56. Zweitens ist hinsichtlich des Vorbringens, die Organe seien nicht ihrer Verpflichtung nachgekommen, die Notwendigkeit der Änderung des Umfangs der geltenden Maßnahme zu prüfen, wobei unterstellt wird, dass wenn das Dumping während des Zeitraums der Überprüfungsuntersuchung vorlag, dann in einer geringeren Höhe, festzustellen, dass es durch die oben in den Rn. 35 und 43 angestellten Erwägungen unmittelbar widerlegt wird. Zum einen besteht nämlich das Ziel der Interimsüberprüfung in der Kontrolle der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Antidumpingmaßnahmen, und zum anderen erfordert diese Prüfung, um möglicherweise zu einer Entscheidung zu führen, die den ursprünglich festgesetzten Antidumpingzoll ändert, auf der Grundlage der von demjenigen, der den Antrag auf Überprüfung stellt, vorgelegten Beweise nicht nur die Feststellung einer wesentlichen Veränderung der Umstände betreffend das Dumping, sondern auch, dass diese Veränderung dauerhaften Charakter hat. Da die Organe auf das Fehlen eines solchen dauerhaften Charakters geschlossen haben, kann jedoch im vorliegenden Fall der Umstand, dass das Dumping, wie dies die Klägerinnen behaupten, während des Überprüfungszeitraums womöglich einen geringeren Umfang hatte als den während des Verfahrens der Ausgangsuntersuchung festgestellten, nicht ausreichen, um eine Änderung der geltenden Maßnahme zu begründen. 57. Was drittens das Vorbringen der Klägerinnen in Bezug auf das Urteil MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt (EU:T:2009:441), angeht, nämlich u. a., dass zum einen Rn. 49 dieses Urteils angesichts von Art. 11 Abs. 9 und Art. 2 der Grundverordnung nicht als Ermächtigung für die Organe ausgelegt werden könne, die Dumpingspanne nicht genau festzustellen, wenn sie zu dem Ergebnis kämen, dass die Veränderung der Umstände keinen dauerhaften Charakter habe, und dass zum anderen das Ergebnis der Organe auf der Grundlage einer solchen Auslegung bei Überprüfungsuntersuchungen häufig weder unparteiisch noch objektiv sei, kann dieses nicht durchgreifen. 58. Zum einen wird dieses Vorbringen unmittelbar durch das oben in Rn. 51 formulierte Ergebnis widerlegt. 59. Zum anderen haben die Klägerinnen weder in ihren Schriftsätzen noch in der mündlichen Verhandlung in Beantwortung einer vom Gericht gestellten Frage erläutert, aus welchen Gründen ihrer Auffassung nach die Auslegung von Rn. 49 des Urteils MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt (EU:T:2009:441), wie oben in Rn. 57 ausgeführt, die sie zurückweisen, zu einem Mangel an Objektivität und Unparteilichkeit in den zukünftigen Überprüfungsuntersuchungen führen soll. Auf jeden Fall ist festzustellen, dass ein solches Vorbringen als unbegründet zurückzuweisen wäre. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass sich ein Überprüfungsverfahren grundsätzlich vom Verfahren der Ausgangsuntersuchung unterscheidet, das sich nach anderen Bestimmungen der Grundverordnung richtet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Januar 2005, Europe Chemi-Con [Deutschland]/Rat, C‑422/02 P, Slg, EU:C:2005:56, Rn. 49, und vom 11. Februar 2010, Hoesch Metals and Alloys, C‑373/08, Slg, EU:C:2010:68, Rn. 65), da der Gerichtshof bereits die Auffassung vertreten hat, dass einige dieser Bestimmungen nach der allgemeinen Systematik und den Zwecken der Regelung keine Anwendung auf das Überprüfungsverfahren finden sollen (vgl. in diesem Sinne Urteil Hoesch Metals and Alloys, EU:C:2010:68, Rn. 77). 60. Der objektive Unterschied zwischen diesen beiden Verfahrensarten besteht nämlich in Folgendem: Einer Überprüfung unterliegen diejenigen Einfuhren, für die bereits endgültige Antidumpingmaßnahmen eingeführt worden sind und bei denen grundsätzlich ausreichende Beweise dafür beigebracht worden sind, dass bei einem Auslaufen dieser Maßnahmen das Dumping und die Schädigung wahrscheinlich anhalten oder erneut auftreten würden. Dagegen ist Gegenstand einer Ausgangsuntersuchung von Einfuhren gerade die Feststellung des Vorliegens, des Umfangs und der Auswirkungen angeblicher Dumpingpraktiken (Urteil Europe Chemi‑Con [Deutschland]/Rat, oben in Rn. 59 angeführt, EU:C:2005:56, Rn. 50). 61. Somit kann den Organen angesichts der Unterschiede zwischen dem Ausgangsverfahren und dem Überprüfungsverfahren keine fehlende Objektivität und Unparteilichkeit vorgeworfen werden, wenn sie im Rahmen einer Überprüfungsuntersuchung die Interimsüberprüfung vornehmen, die mit der vorausschauenden Beurteilung beginnt. 62. Viertens ist hinsichtlich des Vorbringens, die von den Organen angestellten Erwägungen betreffend den Antrag der Klägerinnen auf Überprüfung gefährdeten die Ziele von Art. 11 Abs. 1 der Grundverordnung, festzustellen, dass diese Ziele auf keinen Fall durch die Anwendung der Bestimmungen von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung in der Auslegung der Rn. 43 bis 50 beeinträchtigt werden. 63. Das Ziel von Art. 11 Abs. 1 der Grundverordnung besteht nämlich darin, dass eine Antidumpingmaßnahme nur so lange in Kraft bleibt, wie sie notwendig ist, um das Dumping auszugleichen. Bei Art. 11 Abs. 3 dieser Verordnung besteht das Ziel, wie bereits oben in Rn. 43 erwähnt, in der Überprüfung der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Antidumpingmaßnahmen. Demzufolge ist festzustellen, dass die Organe im vorliegenden Fall, weil sie die Auffassung vertreten haben, dass die Veränderung der Umstände nicht dauerhaft sei, zu Recht, ohne das durch Art. 11 Abs. 1 der Grundverordnung verfolgte Ziel in irgendeiner Weise zu gefährden, zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Aufrechterhaltung der geltenden Maßnahme notwendig sei. 64. Was fünftens das Vorbringen hinsichtlich des Umstands angeht, dass sich die Erwägungen zum Dumping in der angefochtenen Verordnung in dem der Überprüfung gewidmeten Abschnitt „Dauerhafte Veränderung der Umstände“ befinden, kann dieses nicht durchgreifen. Ein solches Vorbringen ist nämlich ohne Bedeutung, um den Rechtsfehler oder die Tatsache zu beweisen, dass die Organe die Grenzen ihres Ermessens überschritten haben. Dies trifft umso eher im vorliegenden Fall zu, in dem unstreitig ist, dass der Rat deshalb keine genaue Berechnung der Dumpingspanne vorgenommen hat, weil er, wie oben in Rn. 53 festgestellt, der Ansicht war, die angebliche das Dumping betreffende Veränderung der Umstände sei nicht dauerhaft. 65. Nach alledem ist die erste im Rahmen des ersten Klagegrundes vorgetragene Rüge als unbegründet zurückzuweisen. – Zur im Rahmen des dritten Klagegrundes erhobenen zweiten Rüge, mit der ein offensichtlicher Beurteilungsfehler geltend gemacht wird, da die Organe zu dem Ergebnis gekommen seien, dass es hinsichtlich der Dumpingspanne keine dauerhafte Veränderung der Umstände gegeben habe 66. Erstens sind die Klägerinnen der Ansicht, die Organe hätten die vier Beweise berücksichtigen müssen, die sie im Hinblick auf die dauerhafte Veränderung der Umstände vorgelegt hätten, nämlich erstens die den UZ1 betreffenden Schlussfolgerungen zum Abschluss des Erstattungsverfahrens, wonach die Dumpingspanne der Klägerinnen null betragen habe, zweitens die Tatsache, dass die gewichteten durchschnittlichen Ausfuhrpreise den bei der Ausgangsuntersuchung verhängten Antidumpingzoll von 22,7 % hinlänglich widerspiegelten, drittens die Tatsache, dass die Ausfuhrpreise während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung netto höher gewesen seien als während des ursprünglichen Untersuchungszeitraums, und viertens die Tatsache, dass während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung die Dumpingspanne wesentlich geringer gewesen sei, da sie sich, wie im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung festgestellt, auf „etwa 13 %“ belaufen habe oder gar auf unter 10 %, wenn das Gericht den bei der Berechnung des Ausfuhrpreises begangenen offensichtlichen Beurteilungsfehler feststellen sollte, wie er im Rahmen des zweiten Klagegrundes geltend gemacht worden sei. 67. Zweitens machen die Klägerinnen geltend, der 42. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung sei mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet. Nach ihrer Auffassung haben die Organe darin nämlich auf eine extreme Schwankung der Ausfuhrpreise geschlossen, was sie daran gehindert habe, die dauerhafte Veränderung der Umstände festzustellen. Indessen hätte diese Schwankung die Organe nicht daran gehindert, zu dem Ergebnis zu kommen, dass zum einen während des UZ1 kein Dumping vorgelegen habe und dass zum anderen die Ausfuhrpreise während des UZ2 wesentlich höher als die während der Ausgangsuntersuchung festgestellten Ausfuhrpreise gewesen seien. 68. Der Rat und die Kommission treten dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 69. Was insbesondere die vorausschauende Prüfung hinsichtlich des Dumpings angeht, müssen diese Organe, wie aus den oben in Rn. 46 getroffenen Feststellungen hervorgeht, da ihnen keine spezifische Methode oder spezifischen Modalitäten zur Verfügung stehen, um die in Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung vorgesehenen Kontrollen vorzunehmen, in diesem Stadium der Prüfung des Antrags auf Interimsüberprüfung, mit der festgestellt werden soll, ob eine Änderung des Antidumpingzolls erforderlich ist, lediglich „alle einschlägigen ordnungsgemäß belegten Beweise“ berücksichtigen. Daher sind die Organe lediglich in Bezug auf alle vom Antragsteller zur Stützung des Antrags auf Überprüfung betreffend die Dauerhaftigkeit der Veränderung wesentlicher Umstände, auf die er sich beruft, vorgelegten Beweise verpflichtet, Stellung zu nehmen. 70. Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerinnen in ihrem Antrag auf Interimsüberprüfung geltend gemacht haben, dass die Veränderung der Umstände, die zur angeblichen Senkung der Dumpingspanne geführt habe, aus vier Gründen dauerhaft gewesen sei, die der Rat nach einer in den Erwägungsgründen 41 bis 53 der angefochtenen Verordnung vorgenommenen Analyse zurückgewiesen habe. 71. Dazu trugen die Klägerinnen erstens vor, dass sich die Struktur ihrer Verkäufe seit der ursprünglichen Verordnung weiterentwickelt habe. Zum einen seien nämlich die Einfuhren in die Union der schweizerischen Zweigstelle der RFAI übertragen worden, und zum anderen sei diese neue Verkaufsstruktur mit der Erkundung neuer im Aufschwung befindlicher Märkte verbunden worden. Diese strukturelle Veränderung habe zum Anstieg der Ausfuhrpreise des Ferrosiliciums auf allen Ausfuhrmärkten einschließlich desjenigen der Union beigetragen. Jedoch stellte der Rat in den Erwägungsgründen 42 und 43 der angefochtenen Verordnung fest, dass die Klägerinnen keine konkreten Beweise vorgelegt hätten, die die Verbindung zwischen der neuen Unternehmensstruktur, der Erkundung der im Aufschwung befindlichen neuen Märkte und dem Anstieg der Preise auf dem Markt der Union nachwiesen. Im Gegenteil habe die Untersuchung belegt, dass die Ausfuhrpreise sowohl während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung als auch während des UZ1 extremen Schwankungen unterworfen gewesen seien und dass sie den Weltmarktpreisen gefolgt seien. Somit hätten die Klägerinnen keinen ausreichenden Beweis erbracht, dass nicht nur diese strukturelle Veränderung ursächlich für den angeblichen Anstieg der Marktpreise gewesen sei, sondern dass dieser Anstieg auch in der Zukunft auf einer ähnlichen Höhe bleiben könne. 72. Zweitens bekräftigten die Klägerinnen zum einen, dass die Ausfuhrpreise auf die Märkte von Drittstaaten mit ihren Verkaufspreisen in die Union vergleichbar oder sogar höher seien und dass erhebliche Investitionen vorgenommen worden seien, um diese Märkte besser zu versorgen. Die Reduzierung oder Aufhebung der Antidumpingmaßnahmen trieben sie deshalb nicht an, ihre Ausfuhren aus der Union zu steigern oder ihre Preise zu senken. Zum anderen machten sie geltend, dass sich die neuen Marktchancen auf anderen Märkten als auf demjenigen der Union ergäben. Allerdings hat der Rat in den Erwägungsgründen 45 und 46 der angefochtenen Verordnung zunächst festgestellt, dass, soweit das Dumping während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung noch fortbestand und die Union einer der traditionellen Märkte der Klägerinnen blieb, Letztere keinerlei substanziellen Beweis zur Stützung ihrer Behauptungen in Bezug auf ihre auf Drittstaaten gerichteten Marktstrategien vorgelegt hätten, und anschließend festgestellt, dass die Ausfuhrpreise auf dem internationalen Markt Schwankungen unterworfen seien, so dass die Aufhebung oder Einschränkung der geltenden Maßnahmen nicht in Betracht gezogen werden könne. 73. Drittens machten die Klägerinnen geltend, dass der russische Binnenmarkt einer ihrer Hauptmärkte bleibe und dass die Nachfrage nach ähnlichen Waren steigen müsse. Dennoch hat der Rat in den Erwägungsgründen 48 und 50 der angefochtenen Verordnung zunächst festgestellt, dass zum einen, selbst wenn diese Behauptungen begründet wären, immer noch die Tatsache bestehen bliebe, dass die Klägerinnen während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung in erheblichem Umfang und zu schwankenden Preisen Dumping betrieben hätten und dass zum anderen die von den Klägerinnen im Untersuchungszeitraum der Überprüfung auf dem Unionsmarkt abgesetzten Mengen nicht darauf hindeuteten, dass sie sich von diesem Markt zurückgezogen hätten oder dies in nächster Zukunft beabsichtigten. Sodann machte der Rat geltend, die Klägerinnen hätten keinerlei schlüssige Angaben vorgelegt, um ihre Behauptung zu stützen, dass zum einen die Nachfrage nach der betroffenen Ware in Russland zunehmen werde und dass zum anderen die Ausfuhrpreise des Konzerns, zu dem die Klägerinnen gehörten, weit schneller steigen müssten als die Produktionskosten. 74. Viertens machten die Klägerinnen schließlich geltend, dass sie seit Jahren voll ausgelastet seien, dass sie nicht die Absicht hätten, ihre Produktionskapazität für Ferrosilicium zu steigern und dass sich keine Anhaltspunkte für das Gegenteil ergeben hätten. Jedoch hat der Rat in den Erwägungsgründen 52 und 53 der angefochtenen Verordnung im Wesentlichen festgestellt, dass diese Behauptungen durch bestimmte von den Organen eingeholte Informationen widerlegt seien. Zum einen hätten Letztere nämlich nach der Finanzkrise von 2009 eine deutliche Zunahme der Produktionskapazitäten der Klägerinnen im Verhältnis zum Jahr 2007 festgestellt, und zum anderen hätten die Klägerinnen selbst eine Steigerung dieser Kapazitäten in einer Spanne von 10 bis 20 % im Vergleich zum Zeitraum vor der Finanzkrise von 2009 angegeben. Als Antwort auf das Vorbringen der Klägerinnen, wonach sie die Finanzkrise von 2009 antizipiert hätten und deshalb ihre Produktionskapazitäten gesenkt hätten, hat der Rat geltend gemacht, dass die Finanzkrise von 2009 die Produktionskapazität der Klägerinnen im Jahr 2007 nicht habe beeinflussen können. 75. Als Fazit seiner Prüfung der vier von den Klägerinnen geltend gemachten Gründe zum Nachweis der dauerhaften Veränderung der Umstände, auf die sie sich beriefen, hat der Rat im 54. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung festgestellt, dass keine hinreichenden Beweise für eine mögliche dauerhafte Veränderung der sich auf die Preispolitik der Klägerinnen beziehenden Umstände vorlägen. Infolgedessen hat er den Schluss gezogen, dass es voreilig und daher nicht gerechtfertigt wäre, zu diesem Zeitpunkt den geltenden Zollsatz zu senken. 76. In Bezug auf die vom Rat getroffenen, oben in den Rn. 71 bis 75 wiedergegebenen Schlussfolgerungen betreffend die fehlende Dauerhaftigkeit der Veränderung der Umstände, auf die sie sich beriefen, rügen die Klägerinnen zur Stützung ihrer Klage gegenüber dem Rat erstens, bei der Prüfung des von ihnen geltend gemachten dauerhaften Charakters die oben in Rn. 66 angeführten Beweise nicht berücksichtigt zu haben. 77. Wie aus den Erwägungen oben in Rn. 36 hervorgeht, oblag es den Klägerinnen, ausreichende Beweise vorzulegen, um nachzuweisen, dass die Veränderung der Umstände für die angebliche Senkung des Dumpings einen dauerhaften Charakter hatte. Jedoch ist festzustellen, dass die oben in Rn. 66 genannten Beweise zwar geeignet sind, im Rahmen der Analyse einer Veränderung der Umstände berücksichtigt zu werden, sie jedoch als solches die behauptete dauerhafte Veränderung der Umstände nicht nachweisen können. Keiner dieser Nachweise, d. h. zunächst einmal die Höhe der bei dem Verfahren auf Erstattung während des UZ1 berechneten Dumpingspanne, sodann die Höhe der allenfalls während des Überprüfungsverfahrens festgestellten Ausfuhrpreise und schließlich die ungefähre Berechnung der Dumpingspanne während des Überprüfungsverfahrens, ermöglicht es, die behauptete dauerhafte Veränderung der Umstände zu beurteilen oder gar nachzuweisen. Infolgedessen haben die Klägerinnen aufgrund des Fehlens ausreichender Beweiselemente hinsichtlich des dauerhaften Charakters dieser Veränderung nicht nachgewiesen, dass die Organe zu Unrecht angenommen hätten, dass die behauptete Veränderung der Umstände im Sinne von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung nicht dauerhaft gewesen sei. Demnach ist das im Rahmen des dritten Klagegrundes zur Stützung der zweiten Rüge angeführte erste Argument auch nicht geeignet, nachzuweisen, dass die vom Rat in den Erwägungsgründen 41 bis 53 der angefochtenen Verordnung vorgenommene vorausschauende Analyse, in denen er zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Klägerinnen keine hinreichenden Beweise betreffend die behauptete dauerhafte Veränderung der Umstände vorgelegt hätten, mit einem schweren Beurteilungsfehler behaftet ist. Hieraus folgt, dass dieses Vorbringen zurückzuweisen ist, ohne dass es notwendig ist, festzustellen, ob diese Gesichtspunkte vom Rat berücksichtigt worden sind oder nicht. 78. Zweitens machen die Klägerinnen geltend, dass der 42. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, der die von den Organen aus der Schwankung der Preise gezogenen Folgerungen betreffend den behaupteten dauerhaften Charakter der Veränderung der Umstände betrifft, mit einem schweren Beurteilungsfehler behaftet sei. Dazu ist festzustellen, dass die von den Klägerinnen als Beleg für das Vorliegen eines solchen Fehlers vorgebrachten Argumente – d. h., dass diese Schwankung die Organe nicht daran gehindert hätte, zum einen auf das Fehlen des Dumpings während des UZ1 und zum anderen darauf zu schließen, dass die Ausfuhrpreise während des UZ2 wesentlich höher als diejenigen während der Ausgangsuntersuchung gewesen seien – keine Gesichtspunkte beinhaltet, die es ermöglichen, im Rahmen des Antrags auf Interimsüberprüfung die behauptete dauerhafte Veränderung der Umstände zu beurteilen, geschweige denn, diese nachzuweisen. 79. Zum einen ermöglicht nämlich das Erstattungsverfahren gemäß Art. 11 Abs. 8 der Grundverordnung, die Erstattung der bereits entrichteten Zölle zu beantragen, wenn nachgewiesen wird, dass die Dumpingspanne, auf deren Grundlage die Zölle entrichtet wurden, beseitigt oder so weit verringert worden ist, dass sie niedriger als der geltende Zoll ist. Es hat somit einen ausschließlich rückblickenden Charakter, weil es fallweise auf Situationen angewendet wird, in denen ein Antidumpingzoll entrichtet worden ist, obgleich die fragliche Einfuhr keinem Dumping oder einem geringeren Dumping unterlag. Damit sind im vorliegenden Fall mangels zusätzlicher von den Klägerinnen beigebrachter Beweise die von den Organen bei den Anträgen auf Erstattung hinsichtlich des UZ1 angestellten Erwägungen nicht geeignet, die Beurteilung der behaupteten dauerhaften Veränderung der Umstände im Rahmen des Antrags auf Interimsüberprüfung zu beeinflussen. 80. Zum anderen ist festzustellen, dass die Organe hinsichtlich des UZ2, der mit dem Untersuchungszeitraum der Überprüfung identisch ist, in den Erwägungsgründen 42 und 43 der angefochtenen Verordnung nicht lediglich festgestellt haben, dass die Ausfuhrpreise während dieses Zeitraums eindeutig höher gewesen seien als die während der Ausgangsuntersuchung festgestellten Preise, sondern ausdrücklich hinzugefügt haben, dass diese Preise ‐ ungeachtet ihres höheren Niveaus ‐ gleichwohl „extremen Schwankungen“ unterworfen gewesen seien, so dass nicht habe angenommen werden können, dass sich „[ihre] Preise für Ausfuhren in die EU künftig auf einem hohen Niveau bewegen und dass kein Dumping praktiziert wird“. Infolgedessen werfen die Klägerinnen mangels Beweisen, die nachweisen sollten, dass trotz der extremen Schwankungen der Ausfuhrpreise die behauptete Veränderung der Umstände einen dauerhaften Charakter im Sinne von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung hatte, den Organen zu Unrecht vor, auf die mangelnde Dauerhaftigkeit dieser Veränderung geschlossen zu haben. Das vorliegende Argument ist daher als unbegründet zurückzuweisen. 81. Da die zur Stützung der zweiten im Rahmen des dritten Klagegrundes formulierten Rüge vorgebrachten Argumente nicht durchgreifen, ist diese Rüge insgesamt zurückzuweisen. 82. Im Hinblick auf die oben in den Rn. 65 und 81 gezogenen Schlussfolgerungen sind der erste und der dritte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen, soweit die Klägerinnen darin einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung geltend machen. Zum Verstoß gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung 83. Die Klägerinnen machen im Rahmen des ersten Klagegrundes geltend, die Organe hätten dadurch, dass sie keinen genauen Betrag für die Dumpingspanne bestimmt hätten, gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 Satz 1 dieser Verordnung verstoßen. 84. Hierzu führen sie erstens aus, dass Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung auf Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung verweise, die in ihrem ersten Satz eine zwingende Regelung für die Definition der Dumpingspanne beinhalte. Zweitens konzentrierten sich die Organe in der angefochtenen Verordnung, statt eine genaue Dumpingspanne zu ermitteln, auf die Frage, ob die Klägerinnen weiterhin zu Dumpingpreisen verkauften. Drittens hätten die Organe nicht versucht, das Vorliegen einer Veränderung von Umständen im Sinne von Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung nachzuweisen, die ihnen ermöglicht hätte, von einer ‐ eng auszulegenden ‐ Ausnahme von der in diesem Artikel aufgestellten Regel zu profitieren, wonach die Organe verpflichtet seien, den Betrag der Dumpingspanne zu ermitteln, vorausgesetzt, dass diese Ermittlung als eine Methode im Sinne dieser Bestimmungen angesehen werden könne. Viertens sei es falsch, dass die Organe im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung festgestellt hätten, nicht verpflichtet zu sein, zur angemessenen Methode der Berechnung der Dumpingspanne endgültig Stellung zu nehmen, d. h. keine Wahl zwischen der in der Ausgangsuntersuchung verwendeten Methode und der im Dokument zur allgemeinen Unterrichtung verwendeten neuen Berechnungsmethode treffen zu müssen, unter Verstoß gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung. 85. In der Erwiderung führen die Klägerinnen aus, der Begriff des dauerhaften Charakters sei in der Grundverordnung nicht bestimmt, und infolgedessen seien dieser Begriff und die hierauf gestützten Erwägungen nicht geeignet, die Anwendbarkeit der expliziten und zwingenden Anforderungen zu beeinträchtigen, wie sie in Art. 11 Abs. 9 und in Art. 2 Abs. 12 der Grundverordnung enthalten seien, nämlich die Verpflichtung der Organe, bei der Interimsüberprüfung eine Dumpingspanne zu bestimmen. 86. Der Rat und die Kommission treten dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 87. Erstens ist festzustellen, dass der Rat im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung bekräftigt hat, es sei unnötig, zur Frage der Notwendigkeit, die Dumpingspanne genau zu berechnen, Stellung zu nehmen. Der Rat hat nämlich u. a. geltend gemacht, dass es keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür gebe, dass die für den Untersuchungszeitraum der Überprüfung festgestellte Dumpingspanne als dauerhaft anzusehen sei. 88. Zweitens besteht die von den Klägerinnen aufgeworfene Frage im Wesentlichen darin, ob das Vorgehen des Rates im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung darstellt. Daher ist zu prüfen, ob diese zuletzt genannten Bestimmungen einem Vorgehen entgegenstehen, das jedoch, wie oben in Rn. 50 dargelegt, nach Art. 11 Abs. 3 dieser Verordnung zulässig ist. 89. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Abs. 11 und 12 der Grundverordnung die Berechnungsmethode für die Dumpingspanne betrifft. Genauer entspricht die Dumpingspanne gemäß Art. 2 Abs. 12 der Grundverordnung dem Betrag, um den der Normalwert den Ausfuhrpreis übersteigt. 90. Was das Verhältnis zwischen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung und Art. 11 Abs. 9 dieser Verordnung angeht, ist zum einen festzustellen, dass sich die entsprechenden, in diesen Bestimmungen angeführten Veränderungen der Umstände durch ihr Ziel unterscheiden. Die Veränderung der Umstände im Sinne von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung betrifft nämlich das Dumping und die Schädigung. Die von Art. 11 Abs. 9 dieser Regelung erfasste Veränderung der Umstände betrifft jedoch die insbesondere gemäß Art. 2 Abs. 11 und 12 dieser Verordnung bei der während der Ausgangsuntersuchung, die zur Feststellung des Zolls geführt hat, verwendeten Methode angewendeten Parameter zur Berechnung der Dumpingspanne. Die gemäß Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung festgestellte Veränderung der Umstände kann u. a. aus dem Verlust der Zuverlässigkeit eines solchen während der Ausgangsuntersuchung verwendeten Parameters resultieren. 91. Zum anderen verfügen die Organe, worauf oben in den Rn. 43, 44 und 50 hingewiesen worden ist, im Rahmen der Überprüfung der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der bestehenden Maßnahmen über ein weites Ermessen, einschließlich der Befugnis, auf eine vorausschauende Beurteilung zurückzugreifen. Nur wenn die Beurteilung dieser Notwendigkeit vorgenommen worden ist und wenn die Organe entschieden haben, die bestehenden Maßnahmen zu ändern, sind sie bei der Festlegung der neuen Maßnahmen durch Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung gebunden, der sie verpflichtet, die durch Art. 2 dieser Verordnung vorgeschriebene Methode anzuwenden. 92. Aus Rn. 49 des Urteils MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt (EU:T:2009:441), geht, wie oben in Rn. 43 dargelegt, hervor, dass Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung nur zur Anwendung kommt, wenn das Vorliegen einer dauerhaften Veränderung der Umstände gemäß Art. 11 Abs. 3 dieser Verordnung festgestellt worden ist und wenn nach dieser Bestimmung entschieden worden ist, die bestehenden Maßnahmen zu ändern, so dass es notwendig ist, den Betrag der Dumpingspanne neu zu berechnen. Umgekehrt ist, wenn die Organe zu dem Ergebnis gekommen sind, dass keine dauerhafte Veränderung der Umstände gegeben ist, Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung nicht anwendbar. Daraus folgt im vorliegenden Fall, dass wenn die Organe auf die fehlende Dauerhaftigkeit der von den Klägerinnen geltend gemachten Veränderung der Umstände geschlossen haben, diese zuletzt genannte Bestimmung nicht zur Anwendung kommen kann und auf jeden Fall ihre Geltendmachung nicht ermöglicht, das im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung beschriebene Vorgehen des Rates für nichtig zu erklären. 93. Deshalb rügen die Klägerinnen gegenüber den Organen offensichtlich zu Unrecht, zum einen die Dumpingspanne zum Abschluss der Interimsüberprüfung nicht genau festgestellt zu haben und zum anderen keine Wahl zwischen der während der Ausgangsuntersuchung verwendeten Berechnungsmethode und der im Dokument zur allgemeinen Unterrichtung verwendeten Berechnungsmethode getroffen zu haben. Dieses Vorbringen stützt sich nämlich auf Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung, obwohl dieser im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. 94. Zudem ist zu bedenken, dass der Umstand, dass der Begriff des dauerhaften Charakters in Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung nicht ausdrücklich erwähnt wird, keine Auswirkung auf die Frage hat, ob Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung die Organe verpflichtet, bei der Interimsüberprüfung eine Dumpingspanne genau zu berechnen. Aus der oben in den Rn. 43 bis 50 vorgenommenen Auslegung von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung ergibt sich nämlich, dass diese Bestimmung hinsichtlich des Dumpings dahin ausgelegt werden muss, dass die Organe befugt sind, eine Überprüfung sowohl rückblickend als auch vorausschauend vorzunehmen. Wie sich aus den Erwägungen oben in den Rn. 50 und 51 ergibt, können die Organe, wenn sie bei der vorausschauenden Überprüfung zu dem Ergebnis kommen, dass der dauerhafte Charakter der Veränderung der Umstände nicht gegeben ist, von der genauen Feststellung der Dumpingspanne absehen. 95. Nach alledem ist der erste Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen, soweit die Klägerinnen einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung geltend machen. Zur Verletzung der Verteidigungsrechte 96. Die Klägerinnen machen geltend, der Rat und die Kommission hätten ihre Verteidigungsrechte insofern verletzt, als die Kommission ihnen zum Zeitpunkt der Erhebung der vorliegenden Klage nicht die endgültige Berechnung der Dumpingspanne mitgeteilt habe, wobei vorausgesetzt wird, dass diese Berechnung als Grundlage für die Schlussfolgerungen in Bezug auf sowohl die Fortsetzung und das Bestehen des Dumpings als auch die Dauerhaftigkeit der Veränderung der Umstände als auch das abschließende Fazit der teilweisen Interimsüberprüfung gedient habe. Wenn die Kommission diese Berechnung mitgeteilt hätte, hätte dies ihnen ermöglicht, ihre Rechte hinsichtlich der Berechnung des Dumpings und der Erwägungen über das Dumping insgesamt einschließlich des Vorbringens betreffend die während der Ausgangsüberprüfung verwendete Berechnungsmethode besser zu verteidigen, was einen bedeutenden Einfluss auf ihre rechtliche Situation hätte haben können. 97. Der Rat weist das Vorbringen der Klägerinnen zurück. 98. Nach der Rechtsprechung sind die Erfordernisse, die sich aus der Wahrung der Verteidigungsrechte ergeben, nicht nur im Rahmen von Verfahren, die zu Sanktionen führen können, zu berücksichtigen, sondern auch in den Untersuchungsverfahren, die dem Erlass von Antidumpingverordnungen vorausgehen, die die betroffenen Unternehmen unmittelbar und individuell berühren und nachteilige Auswirkungen auf diese haben können (Urteil vom 27. Juni 1991, Al-Jubail Fertilizer/Rat, C‑49/88, Slg, EU:C:1991:276, Rn. 15). Insbesondere müssen die betroffenen Unternehmen im Laufe des Verwaltungsverfahrens in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zur Richtigkeit und Erheblichkeit der behaupteten Tatsachen sowie zu den Beweisen, auf die die Kommission ihren Vorwurf des Vorliegens eines Dumpings und der daraus resultierenden Schädigung stützt, sachgerecht zu vertreten (Urteil Al-Jubail Fertilizer/Rat, EU:C:1991:276, Rn. 17). Diese Erfordernisse wurden in Art. 20 der Grundverordnung noch präzisiert, dessen Abs. 2 bestimmt, dass die Antragsteller, die Einführer und Ausführer sowie ihre repräsentativen Verbände und die Vertreter des Ausfuhrlands „die endgültige Unterrichtung über die wichtigsten Tatsachen und Erwägungen beantragen [können], auf deren Grundlage beabsichtigt wird, die Einführung endgültiger Maßnahmen … zu empfehlen“. 99. Im vorliegenden Fall reicht es aus, festzustellen, dass die endgültige Berechnung der Dumpingspanne keine wichtige Erwägung oder Tatsache darstellte. Der Rat hat nämlich, wie oben in Rn. 87 festgestellt, im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung dargelegt, dass es unnötig sei, zur Frage der Notwendigkeit, eine Dumpingspanne individuell für jede einzelne Klägerin zu berechnen, Stellung zu nehmen, weil es auf jeden Fall keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Veränderung der Umstände hinsichtlich der Dumpingspanne während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung als dauerhaft anzusehen sei. Da die Klägerinnen jedoch, wie oben aus den Rn. 76 und 78 hervorgeht, keine Beweise vorgelegt haben, die geeignet sind, nachzuweisen, dass die behauptete Veränderung der Umstände dauerhaft war, ist diese Feststellung des Rates nicht rechtswidrig, so dass er rechtmäßig die Aufrechterhaltung der geltenden Maßnahmen beschließen konnte, ohne dass es notwendig war, die Dumpingspanne genau zu berechnen. Somit ist festzustellen, dass selbst unter der Voraussetzung, dass die von den Klägerinnen behauptete angebliche Verletzung der Verteidigungsrechte festgestellt würde, diese sich auf die Art der Berechnung der Dumpingspanne beziehende Verletzung keine Nichtigerklärung der angefochtenen Verordnung nach sich ziehen könnte, weil der Rat, wie oben festgestellt, seine Entscheidung auf die Feststellung des Fehlens des dauerhaften Charakters der behaupteten Veränderung der Umstände gestützt hat. 100. Im Übrigen ist festzustellen, dass die Kommission den Klägerinnen die Berechnung der Dumpingspanne am 28. Oktober 2011 im Dokument zur allgemeinen Unterrichtung mitgeteilt hat. Die Klägerinnen haben zu diesem Dokument mit Schreiben vom 14. November 2011 Stellung genommen. In diesen Stellungnahmen befassen sich die Klägerinnen mit den wichtigsten Entwicklungen bei der Berechnung der Dumpingspanne. Infolgedessen ist festzuhalten, dass die Klägerinnen ihre Verteidigungsrechte ausgeübt haben und dies, obwohl der Rat letztlich entschieden hat, keine endgültige Dumpingspanne zu bestimmen. 101. Nach alledem ist der erste Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen, soweit sich die Klägerinnen auf eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte berufen. 102. Angesichts der oben in den Rn. 82, 95 und 101 dargelegten Ergebnisse sind der erste und der dritte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen. Zum zweiten Klagegrund betreffend die Berechnung des Ausfuhrpreises 103. Die Klägerinnen machen im Wesentlichen geltend, die Organe hätten einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, indem sie zum einen festgestellt hätten, dass sie im Sinne der Rechtsprechung keine wirtschaftliche Einheit mit der RFAI bildeten und indem sie zum anderen demzufolge angenommen hätten, dass eine Anpassung des Ausfuhrpreises entsprechend den Vertriebs-, Verwaltungs- und Gemeinkosten sowie den Gewinnen der RFAI gemäß Art. 2 Abs. 9 der Grundverordnung vorgenommen werden müsse. 104. Der Rat und Euroalliages treten dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 105. Da die Organe zu Recht, wie oben festgestellt, davon abgesehen haben, die genaue Dumpingspanne festzulegen, ist festzustellen, dass der zweite Klagegrund nicht stichhaltig ist. Der zweite Klagegrund wird nämlich im Wesentlichen auf eine Rechtswidrigkeit gestützt, die der Berechnung des Ausfuhrpreises im Rahmen der Feststellung der Dumpingspanne anhaften soll. 106. Der zweite Klagegrund ist daher als nicht stichhaltig zurückzuweisen. 107. Angesichts der oben in den Rn. 102 und 106 gezogenen Schlussfolgerungen ist die Klage insgesamt abzuweisen. Kosten 108. Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerinnen unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag des Rates die Kosten aufzuerlegen. 109. Außerdem tragen nach Art. 87 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Kommission, die dem Rechtsstreit als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates beigetreten ist, trägt daher ihre eigenen Kosten. 110. Euroalliages trägt schließlich gemäß Art. 87 § 4 Abs. 3 der Verfahrensordnung ihre eigenen Kosten. Tenor Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Die Chelyabinsk electrometallurgical integrated plant OAO (CHEMK) und die Kuzneckie ferrosplavy OAO (KF) tragen ihre eigenen Kosten sowie die dem Rat der Europäischen Union entstandenen Kosten. 3. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten. 4. Euroalliages trägt ihre eigenen Kosten. URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer) 28. April 2015 (*1) „Dumping — Einfuhren von Ferrosilicium mit Ursprung unter anderem in Russland — Teilweise Interimsüberprüfung — Berechnung der Dumpingspanne — Veränderung der Umstände — Dauerhafter Charakter“ In der Rechtssache T‑169/12 Chelyabinsk electrometallurgical integrated plant OAO (CHEMK) mit Sitz in Chelyabinsk (Russland), Kuzneckie ferrosplavy OAO (KF) mit Sitz in Novokuznetsk (Russland), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt B. Evtimov, Klägerinnen, gegen Rat der Europäischen Union, vertreten durch J.‑P. Hix als Bevollmächtigten, zunächst im Beistand von Rechtsanwälten G. Berrisch und A. Polcyn, dann von G. Berrisch und N. Chesaites, Barrister, und schließlich von Rechtsanwalt D. Gerardin, Beklagter, unterstützt durch Europäische Kommission, vertreten zunächst durch H. van Vliet, M. França und A. Stobiecka-Kuik, dann durch M. França, A. Stobiecka-Kuik und J.‑F. Brakeland als Bevollmächtigte, und durch Euroalliages mit Sitz in Brüssel (Belgien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte O. Prost und M.-S. Dibling, Streithelferinnen, wegen teilweiser Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 60/2012 des Rates vom 16. Januar 2012 zur Einstellung der gemäß Artikel 11 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 durchgeführten teilweisen Interimsüberprüfung der Antidumpingmaßnahmen gegenüber den Einfuhren von Ferrosilicium mit Ursprung unter anderem in Russland (ABl. L 22, S. 1), soweit sie die Klägerinnen betrifft, erlässt DAS GERICHT (Zweite Kammer) unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise (Berichterstatter), Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. März 2014 folgendes Urteil Rechtlicher Rahmen 1 Die Antidumping-Grundregelung der Europäischen Union besteht aus der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 des Rates vom 30. November 2009 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. L 343, S. 51, berichtigt in ABl. 2010, L 7, S. 22, im Folgenden: Grundverordnung), die die Verordnung (EG) Nr. 384/96 des Rates vom 22. Dezember 1995 über den Schutz gegen gedumpte Einfuhren aus nicht zur Europäischen Gemeinschaft gehörenden Ländern (ABl. 1996, L 56, S. 1) in geänderter Fassung ersetzt hat. 2 Art. 2 der Grundverordnung enthält die Regelungen zur Feststellung des Dumpings. Art. 2 Abs. 11 und 12 der Grundverordnung betrifft die Feststellung der Dumpingspannen während des Untersuchungszeitraums. Gemäß Art. 2 Abs. 12 der Grundverordnung „entspricht [die Dumpingspanne] dem Betrag, um den der Normalwert den Ausfuhrpreis übersteigt“. 3 Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung regelt das Verfahren für die Interimsüberprüfung. Diese Bestimmung lautet: „Die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Maßnahmen kann bei Bedarf ebenfalls von der Kommission von Amts wegen oder auf Antrag eines Mitgliedstaats oder, sofern seit der Einführung der endgültigen Maßnahme eine angemessene Zeitspanne, mindestens aber ein Jahr vergangen ist, auf Antrag eines Ausführers oder Einführers oder der Gemeinschaftshersteller überprüft werden, wenn dieser Antrag ausreichende Beweise für die Notwendigkeit einer solchen Interimsüberprüfung enthält. Eine Interimsüberprüfung wird eingeleitet, wenn der Antrag ausreichende Beweise dafür enthält, dass die Aufrechterhaltung der Maßnahme zum Ausgleich des Dumpings nicht mehr notwendig ist und/oder dass die Schädigung im Fall der Aufhebung oder Änderung der Maßnahme wahrscheinlich nicht anhalten oder erneut auftreten würde oder dass die Maßnahme nicht oder nicht mehr ausreicht, um das schädigende Dumping unwirksam zu machen. Bei Untersuchungen gemäß diesem Absatz kann die Kommission unter anderem prüfen, ob sich die Umstände hinsichtlich des Dumpings und der Schädigung wesentlich verändert haben oder ob die geltenden Maßnahmen zum angestrebten Ergebnis führen und die Beseitigung der gemäß Artikel 3 festgestellten Schädigung ermöglichen. Zu diesen Fragen werden alle einschlägigen ordnungsgemäß belegten Beweise in der endgültigen Feststellung berücksichtigt.“ 4 In Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung heißt es: „In allen Überprüfungen oder Erstattungsuntersuchungen gemäß diesem Artikel wendet die Kommission, soweit sich die Umstände nicht geändert haben, die gleiche Methodik an wie in der Untersuchung, die zur Einführung des Zolls führte, unter gebührender Berücksichtigung des Artikels 2, insbesondere der Absätze 11 und 12, und des Artikels 17.“ Vorgeschichte des Rechtsstreits 5 Die Klägerinnen, die Chelyabinsk electrometallurgical integrated plant OAO (CHEMK) und die Kuzneckie ferrosplavy OAO (KF), sind Gesellschaften mit Sitz in Russland, die in der Herstellung von Ferrosilicium tätig sind, einer in der Fertigung von Stahl und Eisen verwendeten Legierung. Die RFA International, LP (RFAI) ist ein mit den Klägerinnen verbundenes Unternehmen. Die RFAI, die ihren Sitz in Kanada hat und eine Zweigstelle in der Schweiz besitzt, ist für die Verkäufe der Klägerinnen in der Union verantwortlich. 6 Am 25. Februar 2008 erließ der Rat der Europäischen Union auf eine Beschwerde des Verbindungsausschusses für die Eisenlegierungsindustrie (Euroalliages) hin die Verordnung (EG) Nr. 172/2008 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls und zur endgültigen Vereinnahmung des vorläufigen Zolls auf die Einfuhren von Ferrosilicium mit Ursprung in der Volksrepublik China, Ägypten, Kasachstan, der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien und Russland (ABl. L 55, S. 6, im Folgenden: ursprüngliche Verordnung). Gemäß Art. 1 der ursprünglichen Verordnung galten für die von den Klägerinnen hergestellten Waren endgültige Antidumpingzölle auf den Nettopreis frei Grenze der Gemeinschaft, unverzollt, in Höhe von 22,7 %. 7 Am 30. November 2009 beantragten die Klägerinnen eine teilweise Interimsüberprüfung, die sich gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung nur auf das Dumping bezog. Die Klägerinnen machten in ihrem Antrag geltend, die Umstände, aufgrund deren die ursprüngliche Verordnung erlassen worden sei, hätten sich geändert, und die in Rede stehenden Veränderungen hätten einen dauerhaften Charakter. 8 Am 27. Oktober 2010 veröffentlichte die Europäische Kommission eine Bekanntmachung der Einleitung einer teilweisen Interimsüberprüfung der Antidumpingmaßnahmen gegenüber den Einfuhren von Ferrosilicium mit Ursprung unter anderem in Russland (ABl. C 290, S. 15), die ausschließlich das Dumping betraf. Der von der Überprüfungsuntersuchung erfasste Zeitraum lief vom 1. Oktober 2009 bis zum 30. September 2010 (im Folgenden: Untersuchungszeitraum der Überprüfung). 9 Mit Schreiben vom 12. Januar und 24. März 2011 übermittelten die Klägerinnen der Kommission Erläuterungen hinsichtlich der Struktur der Gruppe, zu der sie sowie die RFAI gehörten, und zur Frage des dauerhaften Charakters der Veränderung der in dem Antrag auf Interimsüberprüfung geltend gemachten Umstände. 10 Am 28. Oktober 2011 richtete die Kommission ein Dokument an die Klägerinnen, das den Sachverhalt und die wesentlichen Erwägungen enthielt, aufgrund deren sie beabsichtigte, die Schließung der Interimsüberprüfung ohne Änderung der durch die ursprüngliche Verordnung verhängten Antidumpingmaßnahmen zu empfehlen (im Folgenden: Dokument zur allgemeinen Unterrichtung). In diesem Dokument legte die Kommission zum einen die Berechnung und den Betrag der Dumpingspanne für den Untersuchungszeitraum der Überprüfung dar und teilte zum anderen mit, dass die von den Klägerinnen in ihrem Antrag auf Interimsüberprüfung geltend gemachte Veränderung der Umstände nicht als dauerhaft angesehen werden könne. 11 Am 14. November 2011 nahmen die Klägerinnen gegenüber der Kommission zum Dokument zur allgemeinen Unterrichtung Stellung. 12 Nach Abschluss der teilweisen Interimsüberprüfung erließ der Rat die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 60/2012 vom 16. Januar 2012 zur Einstellung der gemäß Artikel 11 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 durchgeführten teilweisen Interimsüberprüfung der Antidumpingmaßnahmen gegenüber den Einfuhren von Ferrosilicium mit Ursprung unter anderem in Russland (ABl. L 22, S. 1, im Folgenden: angefochtene Verordnung). In dieser Verordnung prüfte der Rat im Abschnitt „2. Dauerhafte Veränderung der Umstände“, ob die von den Klägerinnen in ihrem Antrag auf Interimsüberprüfung geltend gemachte Veränderung der Umstände, die ausschließlich das Dumping betraf, dauerhaft und somit geeignet war, eine Reduzierung oder sogar eine Aufhebung der in Rede stehenden Maßnahmen zu rechtfertigen. 13 Erstens wies er darauf hin, dass die Organe der Union bei ihrer Prüfung der Notwendigkeit einer Beibehaltung der bestehenden Maßnahmen auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung über ein weites Ermessen verfügten, wozu auch die Befugnis gehöre, die voraussichtliche Entwicklung der Preise der betroffenen Ausführer zu beurteilen. Anschließend stellte er fest, dass das Vorbringen der Klägerinnen hinsichtlich der dauerhaften Veränderung der Umstände, auf die sie sich im vorliegenden Fall berufen hätten, in diesem Kontext geprüft werden müsse. 14 Zweitens sah es der Rat im Rahmen der Prüfung der von den Klägerinnen behaupteten dauerhaften Veränderung der Umstände als Erstes zum einen als sinnvoll an, die Erwägungen der Unionsorgane zur Frage, ob die Klägerinnen während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung möglicherweise weiterhin auf dem EU-Markt Dumping betrieben hätten, darzulegen, und schätzte aufgrund dessen zum anderen die Dumpingspanne im Rahmen des Überprüfungsverfahrens auf „etwa 13 %“. Als Zweites prüfte der Rat die verschiedenen Argumente der Klägerinnen hinsichtlich der angeblich dauerhaften Veränderungen der Umstände, die sie geltend machten. Zum Abschluss dieser Prüfung kam er im 54. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung mit der Überschrift „2.5 Fazit: keine hinreichenden Beweise für eine dauerhafte Veränderung der Umstände“ zu dem Ergebnis, dass derzeit keine hinreichenden Beweise für eine dauerhafte Veränderung der in Rede stehenden Umstände vorlägen und dass es voreilig und daher nicht gerechtfertigt wäre, zu diesem Zeitpunkt den geltenden Zollsatz zu senken. Wie aus den Erwägungsgründen 38 und 40 der angefochtenen Verordnung hervorgeht, stellte der Rat abgesehen von diesem Fazit ausdrücklich fest, dass es unabhängig von der Höhe des Betrags der Dumpingspanne im Untersuchungszeitraum der Überprüfung „auf keinen Fall“ hinreichende Anhaltspunkte dafür gebe, dass der für diesen Zeitraum dieser Spanne entsprechende Betrag als dauerhaft anzusehen sei. Demzufolge entschied der Rat in Art. 1 der angefochtenen Verordnung, dass es keinen Anlass gebe, die in der ursprünglichen Verordnung festgelegte Antidumpingmaßnahme zu ändern. 15 Parallel zum Antrag auf Interimsüberprüfung wurden von RFAI gemäß Art. 11 Abs. 8 der Grundverordnung Anträge auf Erstattung der entrichteten Antidumpingzölle gestellt. Die Erstattungsanträge bezogen sich auf den Zeitraum 1. Oktober 2008 bis 30. September 2010. Die Kommission unterteilte den Untersuchungszeitraum, für den die Erstattung beantragt worden war, in zwei Teilzeiträume: Vom 1. Oktober 2008 bis 30. September 2009 (im Folgenden: UZ1) und vom 1. Oktober 2009 bis 30. September 2010 (im Folgenden: UZ2), wobei der UZ2 mit dem Zeitraum der Überprüfungsuntersuchung identisch ist. 16 Am 9. November 2011 unterrichtete die Kommission die Klägerinnen über ihre Ergebnisse zu den Anträgen auf Erstattung hinsichtlich des UZ1. Hinsichtlich des UZ2 verwies die Kommission die Klägerinnen auf das im Rahmen der Interimsüberprüfung erstellte Dokument zur allgemeinen Unterrichtung. 17 Per E-Mail vom 26. Januar 2012 verlangten die Klägerinnen die Bekanntgabe der Berechnung der Dumpingspanne, wie sie in der angefochtenen Verordnung genannt worden sei. Per E-Mail vom selben Tag antwortete die Kommission, dass ihnen die Einzelheiten dieser Berechnung im Rahmen der Anträge auf Erstattung hinsichtlich des UZ2 bekannt gegeben würden. 18 Am 6. Juni 2012 übermittelte die Kommission den Klägerinnen das Dokument zur abschließenden Unterrichtung im Rahmen der Untersuchung über die Erstattung, das u. a. eine Berechnung der Dumpingspanne für den UZ2 umfasste. Verfahren und Anträge der Parteien 19 Die Klägerinnen haben mit Klageschrift, die am 10. April 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben. 20 Mit Schriftsätzen, die am 1. Juni bzw. 18. Juli 2012 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Kommission und Euroalliages beantragt, im vorliegenden Verfahren als Streithelferinnen zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen zu werden. 21 Mit Schriftsätzen, die am 6. August bzw. 21. September 2012 sowie am 1. März 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Klägerinnen beantragt, gemäß Art. 116 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts bestimmte vertrauliche Gesichtspunkte der Klageschrift, der Klagebeantwortung, der Erwiderung und der Stellungnahmen der Kommission von der Übermittlung an Euroalliages auszunehmen. Zum Zweck dieser Übermittlung haben die Klägerinnen, der Rat und die Kommission eine nichtvertrauliche Fassung der fraglichen Schriftstücke und Dokumente erstellt. 22 Mit Beschlüssen vom 5. September 2012 hat der Präsident der Vierten Kammer des Gerichts den Anträgen der Kommission und von Euroalliages auf Zulassung als Streithelferinnen entsprochen. 23 Im Zuge einer Änderung der Zusammensetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter der Zweiten Kammer zugeteilt worden, der diese Rechtssache dementsprechend zugewiesen worden ist. 24 Im Rahmen einer prozessleitenden Maßnahme ist die Kommission aufgefordert worden, ein Dokument vorzulegen. Dieser Aufforderung ist sie fristgemäß nachgekommen. 25 Die Parteien haben in der Sitzung vom 28. März 2014 mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet. 26 Die Klägerinnen beantragen, — die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit diese sie betrifft; — dem Rat die Kosten aufzuerlegen. 27 Der Rat beantragt, — die Klage abzuweisen; — den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen. 28 Die Kommission beantragt, die Klage abzuweisen. 29 Euroalliages beantragt, — die von den Klägerinnen geltend gemachten Klagegründe zurückzuweisen; — den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen. Rechtliche Würdigung 30 Zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung machen die Klägerinnen drei Klagegründe geltend. 31 Im Rahmen des ersten Klagegrundes legen die Klägerinnen dar, die Kommission und der Rat (im Folgenden: Organe) hätten erstens gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 Satz 1 dieser Verordnung verstoßen, zweitens einen Rechtsfehler begangen und ihr Ermessen im Rahmen der Anwendung von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung überschritten sowie drittens ihre Verteidigungsrechte verletzt. Sie rügen grundsätzlich die Tatsache, dass der Rat in der angefochtenen Verordnung davon abgesehen habe, die Dumpingspanne genau zu berechnen. 32 Im Rahmen des zweiten Klagegrundes machen die Klägerinnen einen offensichtlichen Beurteilungsfehler der Organe betreffend die Berechnung des Preises bei der Ausfuhr zur Feststellung der Dumpingspanne während der Überprüfungsuntersuchung geltend. 33 Im Rahmen des dritten Klagegrundes berufen sich die Klägerinnen auf einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung und auf einen offensichtlichen Beurteilungsfehler. Sie rügen im Wesentlichen die von den Organen gezogene Schlussfolgerung, nach der die zur Stützung ihres Antrags auf Interimsüberprüfung geltend gemachte Veränderung der Umstände keinen dauerhaften Charakter habe. 34 Vorab hält es das Gericht für notwendig, die Voraussetzungen festzulegen, nach denen es bei der Prüfung der drei von den Klägerinnen zur Stützung der vorliegenden Klage geltend gemachten Klagegründe vorgehen wird. Insoweit ist festzustellen, dass die angefochtene Verordnung nach Abschluss einer Interimsüberprüfung gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung erlassen wurde, der die Eröffnungsvoraussetzungen und die Ziele des Verfahrens einer solchen Überprüfung regelt (Urteil vom 17. November 2009, MTZ Polyfilms/Rat, T‑143/06, Slg, EU:T:2009:441, Rn. 40). 35 Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 1 der Grundverordnung die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Maßnahmen u. a. infolge eines Antrags eines Ausführers oder Einführers oder Gemeinschaftsherstellers überprüft werden kann, wenn dieser Antrag ausreichende Beweise für die Notwendigkeit einer solchen Interimsüberprüfung enthält. Im vorliegenden Fall ist der Antrag von den Klägerinnen in ihrer Eigenschaft als Ausführer gestellt worden. Außerdem ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass dieser Antrag ausschließlich das Dumping betraf. 36 Sodann geht aus Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 der Grundverordnung hervor, dass, wenn der Antrag von einem Ausführer oder Einführer gestellt worden ist und er ausschließlich das Dumping betrifft, die Notwendigkeit zur Überprüfung im Wesentlichen voraussetzt, dass dieser Antrag ausreichende Beweise dafür enthält, die belegen, dass die Aufrechterhaltung der Maßnahme zum Ausgleich des Dumpings nicht mehr notwendig ist. 37 Schließlich ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass hinsichtlich der Behandlung eines ausschließlich das Dumping betreffenden Antrags auf Überprüfung der Rat unter Berufung auf diese Bestimmungen feststellen kann, dass sich die Umstände hinsichtlich des Dumpings wesentlich verändert haben, und dass er nach Bestätigung der Dauerhaftigkeit dieser Veränderungen auch zu dem Schluss berechtigt ist, dass der in Rede stehende Antidumpingzoll geändert werden muss (Urteil MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt, EU:T:2009:441, Rn. 41). 38 Im Hinblick auf die Zusammenfassung oben in den Rn. 34 bis 37 sind als Erstes der erste und der dritte Klagegrund gemeinsam zu prüfen, soweit sie dem Rat im Wesentlichen vorwerfen, erstens gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung, zweitens gegen Art. 11 Abs. 9 dieser Verordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung verstoßen und drittens die Verteidigungsrechte der Klägerinnen verletzt zu haben. Als Zweites wird die Prüfung des zweiten Klagegrundes, der die Berechnung des Preises bei der Ausfuhr im Rahmen der Feststellung der Dumpingspanne betrifft, im Hinblick auf die Ergebnisse betreffend den ersten und den dritten Klagegrund vorzunehmen sein. Zum ersten und zum dritten Klagegrund gemeinsam: Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung und gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung sowie Verletzung der Verteidigungsrechte 39 Im gemeinsamen Rahmen des ersten und des dritten Klagegrundes machen die Klägerinnen einen Verstoß erstens gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung, zweitens gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung und drittens eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte geltend. Zum Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung 40 Die Klägerinnen berufen sich zur Stützung des ersten und des dritten Klagegrundes auf einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung. Im Wesentlichen machen sie zwei Rügen geltend, wobei die erste den Umstand betrifft, dass die Organe einen den Umfang ihres Ermessens betreffenden Rechtsfehler im Zusammenhang mit diesem Artikel begangen hätten, und die zweite den Umstand, dass die Organe einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen hätten, indem sie hinsichtlich der Dumpingspanne keine dauerhafte Änderung der Umstände angenommen hätten. – Zur im Rahmen des ersten Klagegrundes erhobenen ersten Rüge, mit der ein von den Organen begangener, den Umfang ihres Ermessens im Zusammenhang mit Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung betreffender Rechtsfehler geltend gemacht wird 41 Die Klägerinnen machen im Wesentlichen geltend, die Organe hätten dadurch, dass sie keine genaue Berechnung der Dumpingspanne gemäß Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung vorgenommen hätten, weil die Veränderung der Umstände, auf die sie sich beriefen, keinen dauerhaften Charakter habe, einen Rechtsfehler begangen und die Grenzen ihres Ermessens im Rahmen der entsprechenden Beurteilungen gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung überschritten. 42 Der Rat und die Kommission treten dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 43 Erstens geht, worauf bereits oben in den Rn. 34 bis 37 hingewiesen worden ist, aus dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 und 3 der Grundverordnung hervor, dass das Ziel der Interimsüberprüfung in der Beurteilung der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Antidumpingmaßnahmen besteht und dass, wenn der Überprüfungsantrag eines Ausführers nur das Dumping betrifft, insoweit von den Organen als Erstes die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der bestehenden Maßnahme zu prüfen und infolgedessen nicht nur festzustellen ist, dass sich die Umstände hinsichtlich des Dumpings wesentlich, sondern auch dauerhaft verändert haben (vgl. in diesem Sinne Urteil MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt, EU:T:2009:441, Rn. 41). Erst als Zweites, wenn die Kontrolle der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der bestehenden Maßnahmen abgeschlossen ist und soweit die Organe beschlossen haben, die bestehenden Maßnahmen zu ändern, sind sie bei der Festlegung neuer Maßnahmen durch Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung gebunden, der sie im Grundsatz ausdrücklich zur Anwendung derselben Methode wie der während der Ausgangsuntersuchung verwendeten berechtigt und verpflichtet, die zur Festsetzung des Antidumpingzolls geführt hat (Urteil MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt, EU:T:2009:441, Rn. 49). 44 Zweitens verfügen die Unionsorgane, worauf auch im elften Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hingewiesen wird, nach ständiger Rechtsprechung im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik, besonders im Bereich handelspolitischer Schutzmaßnahmen, wegen der Komplexität der von ihnen zu prüfenden wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Sachverhalte über ein weites Ermessen. Die gerichtliche Kontrolle einer solchen Ermessensausübung ist daher auf die Prüfung der Frage zu beschränken, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten wurden, ob der Sachverhalt, der der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegt wurde, zutreffend festgestellt ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Beurteilung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen (Urteil vom 16. Februar 2012, Rat und Kommission/Interpipe Niko Tube und Interpipe NTRP, C‑191/09 P und C‑200/09 P, EU:C:2012:78, Rn. 63; vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2007, Ikea Wholesale, C‑351/04, Slg, EU:C:2007:547, Rn. 40 und 41). 45 Diese Erwägungen sind u. a. auf die Ermessensausübung anwendbar, die die Organe im Rahmen des Überprüfungsverfahrens vornehmen. Was die Interimsüberprüfung gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung angeht, kann die Kommission u. a., wenn der Antrag auf Überprüfung ausschließlich das Dumping betrifft, prüfen, ob sich die das Dumping betreffenden Umstände wesentlich verändert haben oder ob die bestehenden Maßnahmen zum angestrebten Ergebnis geführt haben, um die Aufhebung, die Veränderung oder die Aufrechterhaltung der angesichts der Ausgangsuntersuchung festgelegten Antidumpingzölle vorzuschlagen. 46 Drittens ist festzustellen, dass Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung keine den Organen zur Verfügung stehenden Methoden oder spezifische Modalitäten vorsieht, um die durch diese Bestimmung vorgesehenen Kontrollen vorzunehmen. Nach dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 3 dieser Verordnung werden, um festzustellen, ob sich die das Dumping und die Schädigung betreffenden Umstände wesentlich verändert haben, nur „alle einschlägigen und ordnungsgemäß belegten Beweise“ berücksichtigt. 47 Viertens ist anzumerken, dass die Kontrolle, die die Kommission in dieser Hinsicht durchzuführen hat, sie veranlasst, nicht nur eine rückblickende Analyse der Entwicklung der seit der Einführung der ursprünglichen endgültigen Maßnahme berücksichtigten Situation durchzuführen, um zu beurteilen, ob die Aufrechterhaltung dieser Maßnahme oder ihre Änderung notwendig ist, um das schädigende Dumping unwirksam zu machen, sondern auch eine vorausschauende Analyse der voraussichtlichen Entwicklung der Lage seit dem Erlass der Überprüfungsmaßnahme, um die voraussichtliche Auswirkung eines Auslaufens oder einer Änderung dieser Maßnahme zu beurteilen. 48 Was das Dumping angeht, ergibt sich aus Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 der Grundverordnung und insbesondere aus der Verwendung des Begriffs „Aufrechterhaltung“, dass im Rahmen der vorausschauenden Analyse das betreffende Organ die Aufgabe hat, im Licht der von demjenigen, der den Antrag auf Überprüfung stellt, vorgelegten Beweise zu kontrollieren, ob das Dumping nicht wieder auftreten oder nicht von Neuem in der Zukunft ansteigen wird, so dass keine Maßnahmen mehr notwendig sind, um dieses unwirksam zu machen. Mit anderen Worten ist der Antragsteller, wie oben in Rn. 36 festgestellt, im Rahmen einer Interimsüberprüfung hinsichtlich des Dumpings verpflichtet, zu beweisen, dass sich die dem Dumping zugrunde liegenden Umstände dauerhaft verändert haben. 49 Demzufolge erfordert die Interimsüberprüfung eines Antrags hinsichtlich des Dumpings sowohl eine rückblickende Überprüfung als auch eine vorausschauende Überprüfung, wobei beide zeigen müssen, dass es nicht mehr notwendig ist, die geltende Maßnahme aufrechtzuerhalten. Wie oben aus den Erwägungen in Rn. 43 hervorgeht, hängt die Notwendigkeit, die Überprüfung einer geltenden Maßnahme vorzunehmen, zum einen von der Feststellung ab, dass sich die das Dumping betreffenden Umstände wesentlich verändert haben, und zum anderen davon, dass diese Veränderungen dauerhaft sind. Daher genügt es, dass eine der kumulativen Voraussetzungen nicht erfüllt ist, damit die Organe zu dem Ergebnis kommen können, dass diese Maßnahme aufrechtzuerhalten ist. 50 Hierzu ist festzustellen, dass Art. 11 Abs. 3 Unterabs. 2 und 3 keinen Hinweis auf die Reihenfolge beinhaltet, in der diese beiden Prüfungen durchzuführen sind. Aus der Rechtsprechung geht hervor, dass die praktische Wirksamkeit von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung im Wesentlichen weitgehend dadurch gewährleistet ist, dass die Organe bei ihrer Prüfung der Notwendigkeit einer Beibehaltung der bestehenden Maßnahmen über ein weites Ermessen verfügen, wozu auch die Befugnis gehört, die voraussichtliche Entwicklung zu beurteilen (Urteil MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt, EU:T:2009:441, Rn. 48). Hieraus ergibt sich, dass es ‐ wenn die vorausschauende Beurteilung nicht die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Maßnahmen nachweist ‐ unnötig ist, dass die Organe eine ausführliche rückblickende Überprüfung vornehmen und damit, was das Dumping angeht, eine ausführliche Berechnung der Dumpingspanne vornehmen. 51 Aus den oben in den Rn. 43 bis 50 angestellten Erwägungen folgt, dass die Organe angesichts des weiten Wertungsspielraums, über den sie im Zusammenhang mit einer auf das Dumping begrenzten Interimsüberprüfung gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung verfügen, wenn sie dies für angemessen halten, mit der vorausschauenden Prüfung beginnen können und dann unter der Voraussetzung, dass sie zu dem Ergebnis kommen, dass die Veränderung der Umstände, auf die sich derjenige, der den Antrag auf Überprüfung stellt, beruft und die zu einer Verringerung oder einem Wegfall des bei Abschluss des Verfahrens der Ausgangsuntersuchung festgestellten Dumpings geführt hat, nicht dauerhaft ist, im Rahmen des Überprüfungsverfahrens davon absehen, die Dumpingspanne genau zu berechnen. 52 Wie aus dem elften Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hervorgeht, haben die Organe im vorliegenden Fall im Rahmen dieser vorausschauenden Analyse das Vorbringen der Klägerinnen überprüft, mit dem diese versuchten, nachzuweisen, dass angesichts des dauerhaften Charakters der Veränderung der Umstände, auf die sie sich beriefen und die sich ausschließlich auf das Dumping bezog, eine Reduzierung oder Streichung der geltenden Maßnahme gerechtfertigt sei. 53 Angesichts des weiten Wertungsspielraums, über den die Organe verfügten, um den Antrag auf Interimsüberprüfung der fraglichen Maßnahme im vorliegenden Fall zu beurteilen, ist festzustellen, dass sie zu Recht von Anfang an eine vorausschauende Überprüfung dieses Antrags vorgenommen haben und somit, da dieser ausschließlich das Dumping betraf, beurteilt haben, ob die behauptete Veränderung der Umstände, die sich auf Letzteres bezieht, einen dauerhaften Charakter hatte. Da, wie aus dem 54. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung hervorgeht, die Organe zu dem Ergebnis kamen, dass die behauptete Veränderung der Umstände, die ausschließlich das Dumping betraf, nicht dauerhaft war, haben sie rechtsfehlerfrei und ohne Überschreitung der Grenzen ihres Ermessens gemäß Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung festgestellt, ohne vorab eine genaue Berechnung der Dumpingspanne vorzunehmen, dass die fraglichen Maßnahmen aufrechterhalten werden müssen. 54 Das Vorbringen der Klägerinnen kann daran nichts ändern. 55 Was erstens das Vorbringen der Klägerinnen im Hinblick auf die aufeinanderfolgenden Schritte angeht, aus der eine Interimsüberprüfung besteht, machen sie geltend, es gebe zwei grundlegende Schritte, die in einer bestimmten Reihenfolge vorzunehmen seien, nämlich zunächst im Zusammenhang mit der Feststellung des Vorliegens einer Veränderung der Umstände die Bestimmung der neuen Antidumpingspanne, die eine genaue Berechnung dieser Spanne erfordere, daran anschließend die Beurteilung des dauerhaften Charakters dieser Veränderung. Dazu ist festzustellen, dass dieses Vorbringen unmittelbar durch die oben in den Rn. 43 bis 50 angestellten Erwägungen sowie das oben in Rn. 51 angeführte Ergebnis widerlegt wird, so dass es als unbegründet zurückzuweisen ist. 56 Zweitens ist hinsichtlich des Vorbringens, die Organe seien nicht ihrer Verpflichtung nachgekommen, die Notwendigkeit der Änderung des Umfangs der geltenden Maßnahme zu prüfen, wobei unterstellt wird, dass wenn das Dumping während des Zeitraums der Überprüfungsuntersuchung vorlag, dann in einer geringeren Höhe, festzustellen, dass es durch die oben in den Rn. 35 und 43 angestellten Erwägungen unmittelbar widerlegt wird. Zum einen besteht nämlich das Ziel der Interimsüberprüfung in der Kontrolle der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Antidumpingmaßnahmen, und zum anderen erfordert diese Prüfung, um möglicherweise zu einer Entscheidung zu führen, die den ursprünglich festgesetzten Antidumpingzoll ändert, auf der Grundlage der von demjenigen, der den Antrag auf Überprüfung stellt, vorgelegten Beweise nicht nur die Feststellung einer wesentlichen Veränderung der Umstände betreffend das Dumping, sondern auch, dass diese Veränderung dauerhaften Charakter hat. Da die Organe auf das Fehlen eines solchen dauerhaften Charakters geschlossen haben, kann jedoch im vorliegenden Fall der Umstand, dass das Dumping, wie dies die Klägerinnen behaupten, während des Überprüfungszeitraums womöglich einen geringeren Umfang hatte als den während des Verfahrens der Ausgangsuntersuchung festgestellten, nicht ausreichen, um eine Änderung der geltenden Maßnahme zu begründen. 57 Was drittens das Vorbringen der Klägerinnen in Bezug auf das Urteil MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt (EU:T:2009:441), angeht, nämlich u. a., dass zum einen Rn. 49 dieses Urteils angesichts von Art. 11 Abs. 9 und Art. 2 der Grundverordnung nicht als Ermächtigung für die Organe ausgelegt werden könne, die Dumpingspanne nicht genau festzustellen, wenn sie zu dem Ergebnis kämen, dass die Veränderung der Umstände keinen dauerhaften Charakter habe, und dass zum anderen das Ergebnis der Organe auf der Grundlage einer solchen Auslegung bei Überprüfungsuntersuchungen häufig weder unparteiisch noch objektiv sei, kann dieses nicht durchgreifen. 58 Zum einen wird dieses Vorbringen unmittelbar durch das oben in Rn. 51 formulierte Ergebnis widerlegt. 59 Zum anderen haben die Klägerinnen weder in ihren Schriftsätzen noch in der mündlichen Verhandlung in Beantwortung einer vom Gericht gestellten Frage erläutert, aus welchen Gründen ihrer Auffassung nach die Auslegung von Rn. 49 des Urteils MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt (EU:T:2009:441), wie oben in Rn. 57 ausgeführt, die sie zurückweisen, zu einem Mangel an Objektivität und Unparteilichkeit in den zukünftigen Überprüfungsuntersuchungen führen soll. Auf jeden Fall ist festzustellen, dass ein solches Vorbringen als unbegründet zurückzuweisen wäre. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass sich ein Überprüfungsverfahren grundsätzlich vom Verfahren der Ausgangsuntersuchung unterscheidet, das sich nach anderen Bestimmungen der Grundverordnung richtet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Januar 2005, Europe Chemi-Con [Deutschland]/Rat, C‑422/02 P, Slg, EU:C:2005:56, Rn. 49, und vom 11. Februar 2010, Hoesch Metals and Alloys, C‑373/08, Slg, EU:C:2010:68, Rn. 65), da der Gerichtshof bereits die Auffassung vertreten hat, dass einige dieser Bestimmungen nach der allgemeinen Systematik und den Zwecken der Regelung keine Anwendung auf das Überprüfungsverfahren finden sollen (vgl. in diesem Sinne Urteil Hoesch Metals and Alloys, EU:C:2010:68, Rn. 77). 60 Der objektive Unterschied zwischen diesen beiden Verfahrensarten besteht nämlich in Folgendem: Einer Überprüfung unterliegen diejenigen Einfuhren, für die bereits endgültige Antidumpingmaßnahmen eingeführt worden sind und bei denen grundsätzlich ausreichende Beweise dafür beigebracht worden sind, dass bei einem Auslaufen dieser Maßnahmen das Dumping und die Schädigung wahrscheinlich anhalten oder erneut auftreten würden. Dagegen ist Gegenstand einer Ausgangsuntersuchung von Einfuhren gerade die Feststellung des Vorliegens, des Umfangs und der Auswirkungen angeblicher Dumpingpraktiken (Urteil Europe Chemi‑Con [Deutschland]/Rat, oben in Rn. 59 angeführt, EU:C:2005:56, Rn. 50). 61 Somit kann den Organen angesichts der Unterschiede zwischen dem Ausgangsverfahren und dem Überprüfungsverfahren keine fehlende Objektivität und Unparteilichkeit vorgeworfen werden, wenn sie im Rahmen einer Überprüfungsuntersuchung die Interimsüberprüfung vornehmen, die mit der vorausschauenden Beurteilung beginnt. 62 Viertens ist hinsichtlich des Vorbringens, die von den Organen angestellten Erwägungen betreffend den Antrag der Klägerinnen auf Überprüfung gefährdeten die Ziele von Art. 11 Abs. 1 der Grundverordnung, festzustellen, dass diese Ziele auf keinen Fall durch die Anwendung der Bestimmungen von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung in der Auslegung der Rn. 43 bis 50 beeinträchtigt werden. 63 Das Ziel von Art. 11 Abs. 1 der Grundverordnung besteht nämlich darin, dass eine Antidumpingmaßnahme nur so lange in Kraft bleibt, wie sie notwendig ist, um das Dumping auszugleichen. Bei Art. 11 Abs. 3 dieser Verordnung besteht das Ziel, wie bereits oben in Rn. 43 erwähnt, in der Überprüfung der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Antidumpingmaßnahmen. Demzufolge ist festzustellen, dass die Organe im vorliegenden Fall, weil sie die Auffassung vertreten haben, dass die Veränderung der Umstände nicht dauerhaft sei, zu Recht, ohne das durch Art. 11 Abs. 1 der Grundverordnung verfolgte Ziel in irgendeiner Weise zu gefährden, zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Aufrechterhaltung der geltenden Maßnahme notwendig sei. 64 Was fünftens das Vorbringen hinsichtlich des Umstands angeht, dass sich die Erwägungen zum Dumping in der angefochtenen Verordnung in dem der Überprüfung gewidmeten Abschnitt „Dauerhafte Veränderung der Umstände“ befinden, kann dieses nicht durchgreifen. Ein solches Vorbringen ist nämlich ohne Bedeutung, um den Rechtsfehler oder die Tatsache zu beweisen, dass die Organe die Grenzen ihres Ermessens überschritten haben. Dies trifft umso eher im vorliegenden Fall zu, in dem unstreitig ist, dass der Rat deshalb keine genaue Berechnung der Dumpingspanne vorgenommen hat, weil er, wie oben in Rn. 53 festgestellt, der Ansicht war, die angebliche das Dumping betreffende Veränderung der Umstände sei nicht dauerhaft. 65 Nach alledem ist die erste im Rahmen des ersten Klagegrundes vorgetragene Rüge als unbegründet zurückzuweisen. – Zur im Rahmen des dritten Klagegrundes erhobenen zweiten Rüge, mit der ein offensichtlicher Beurteilungsfehler geltend gemacht wird, da die Organe zu dem Ergebnis gekommen seien, dass es hinsichtlich der Dumpingspanne keine dauerhafte Veränderung der Umstände gegeben habe 66 Erstens sind die Klägerinnen der Ansicht, die Organe hätten die vier Beweise berücksichtigen müssen, die sie im Hinblick auf die dauerhafte Veränderung der Umstände vorgelegt hätten, nämlich erstens die den UZ1 betreffenden Schlussfolgerungen zum Abschluss des Erstattungsverfahrens, wonach die Dumpingspanne der Klägerinnen null betragen habe, zweitens die Tatsache, dass die gewichteten durchschnittlichen Ausfuhrpreise den bei der Ausgangsuntersuchung verhängten Antidumpingzoll von 22,7 % hinlänglich widerspiegelten, drittens die Tatsache, dass die Ausfuhrpreise während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung netto höher gewesen seien als während des ursprünglichen Untersuchungszeitraums, und viertens die Tatsache, dass während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung die Dumpingspanne wesentlich geringer gewesen sei, da sie sich, wie im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung festgestellt, auf „etwa 13 %“ belaufen habe oder gar auf unter 10 %, wenn das Gericht den bei der Berechnung des Ausfuhrpreises begangenen offensichtlichen Beurteilungsfehler feststellen sollte, wie er im Rahmen des zweiten Klagegrundes geltend gemacht worden sei. 67 Zweitens machen die Klägerinnen geltend, der 42. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung sei mit einem offensichtlichen Beurteilungsfehler behaftet. Nach ihrer Auffassung haben die Organe darin nämlich auf eine extreme Schwankung der Ausfuhrpreise geschlossen, was sie daran gehindert habe, die dauerhafte Veränderung der Umstände festzustellen. Indessen hätte diese Schwankung die Organe nicht daran gehindert, zu dem Ergebnis zu kommen, dass zum einen während des UZ1 kein Dumping vorgelegen habe und dass zum anderen die Ausfuhrpreise während des UZ2 wesentlich höher als die während der Ausgangsuntersuchung festgestellten Ausfuhrpreise gewesen seien. 68 Der Rat und die Kommission treten dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 69 Was insbesondere die vorausschauende Prüfung hinsichtlich des Dumpings angeht, müssen diese Organe, wie aus den oben in Rn. 46 getroffenen Feststellungen hervorgeht, da ihnen keine spezifische Methode oder spezifischen Modalitäten zur Verfügung stehen, um die in Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung vorgesehenen Kontrollen vorzunehmen, in diesem Stadium der Prüfung des Antrags auf Interimsüberprüfung, mit der festgestellt werden soll, ob eine Änderung des Antidumpingzolls erforderlich ist, lediglich „alle einschlägigen ordnungsgemäß belegten Beweise“ berücksichtigen. Daher sind die Organe lediglich in Bezug auf alle vom Antragsteller zur Stützung des Antrags auf Überprüfung betreffend die Dauerhaftigkeit der Veränderung wesentlicher Umstände, auf die er sich beruft, vorgelegten Beweise verpflichtet, Stellung zu nehmen. 70 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerinnen in ihrem Antrag auf Interimsüberprüfung geltend gemacht haben, dass die Veränderung der Umstände, die zur angeblichen Senkung der Dumpingspanne geführt habe, aus vier Gründen dauerhaft gewesen sei, die der Rat nach einer in den Erwägungsgründen 41 bis 53 der angefochtenen Verordnung vorgenommenen Analyse zurückgewiesen habe. 71 Dazu trugen die Klägerinnen erstens vor, dass sich die Struktur ihrer Verkäufe seit der ursprünglichen Verordnung weiterentwickelt habe. Zum einen seien nämlich die Einfuhren in die Union der schweizerischen Zweigstelle der RFAI übertragen worden, und zum anderen sei diese neue Verkaufsstruktur mit der Erkundung neuer im Aufschwung befindlicher Märkte verbunden worden. Diese strukturelle Veränderung habe zum Anstieg der Ausfuhrpreise des Ferrosiliciums auf allen Ausfuhrmärkten einschließlich desjenigen der Union beigetragen. Jedoch stellte der Rat in den Erwägungsgründen 42 und 43 der angefochtenen Verordnung fest, dass die Klägerinnen keine konkreten Beweise vorgelegt hätten, die die Verbindung zwischen der neuen Unternehmensstruktur, der Erkundung der im Aufschwung befindlichen neuen Märkte und dem Anstieg der Preise auf dem Markt der Union nachwiesen. Im Gegenteil habe die Untersuchung belegt, dass die Ausfuhrpreise sowohl während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung als auch während des UZ1 extremen Schwankungen unterworfen gewesen seien und dass sie den Weltmarktpreisen gefolgt seien. Somit hätten die Klägerinnen keinen ausreichenden Beweis erbracht, dass nicht nur diese strukturelle Veränderung ursächlich für den angeblichen Anstieg der Marktpreise gewesen sei, sondern dass dieser Anstieg auch in der Zukunft auf einer ähnlichen Höhe bleiben könne. 72 Zweitens bekräftigten die Klägerinnen zum einen, dass die Ausfuhrpreise auf die Märkte von Drittstaaten mit ihren Verkaufspreisen in die Union vergleichbar oder sogar höher seien und dass erhebliche Investitionen vorgenommen worden seien, um diese Märkte besser zu versorgen. Die Reduzierung oder Aufhebung der Antidumpingmaßnahmen trieben sie deshalb nicht an, ihre Ausfuhren aus der Union zu steigern oder ihre Preise zu senken. Zum anderen machten sie geltend, dass sich die neuen Marktchancen auf anderen Märkten als auf demjenigen der Union ergäben. Allerdings hat der Rat in den Erwägungsgründen 45 und 46 der angefochtenen Verordnung zunächst festgestellt, dass, soweit das Dumping während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung noch fortbestand und die Union einer der traditionellen Märkte der Klägerinnen blieb, Letztere keinerlei substanziellen Beweis zur Stützung ihrer Behauptungen in Bezug auf ihre auf Drittstaaten gerichteten Marktstrategien vorgelegt hätten, und anschließend festgestellt, dass die Ausfuhrpreise auf dem internationalen Markt Schwankungen unterworfen seien, so dass die Aufhebung oder Einschränkung der geltenden Maßnahmen nicht in Betracht gezogen werden könne. 73 Drittens machten die Klägerinnen geltend, dass der russische Binnenmarkt einer ihrer Hauptmärkte bleibe und dass die Nachfrage nach ähnlichen Waren steigen müsse. Dennoch hat der Rat in den Erwägungsgründen 48 und 50 der angefochtenen Verordnung zunächst festgestellt, dass zum einen, selbst wenn diese Behauptungen begründet wären, immer noch die Tatsache bestehen bliebe, dass die Klägerinnen während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung in erheblichem Umfang und zu schwankenden Preisen Dumping betrieben hätten und dass zum anderen die von den Klägerinnen im Untersuchungszeitraum der Überprüfung auf dem Unionsmarkt abgesetzten Mengen nicht darauf hindeuteten, dass sie sich von diesem Markt zurückgezogen hätten oder dies in nächster Zukunft beabsichtigten. Sodann machte der Rat geltend, die Klägerinnen hätten keinerlei schlüssige Angaben vorgelegt, um ihre Behauptung zu stützen, dass zum einen die Nachfrage nach der betroffenen Ware in Russland zunehmen werde und dass zum anderen die Ausfuhrpreise des Konzerns, zu dem die Klägerinnen gehörten, weit schneller steigen müssten als die Produktionskosten. 74 Viertens machten die Klägerinnen schließlich geltend, dass sie seit Jahren voll ausgelastet seien, dass sie nicht die Absicht hätten, ihre Produktionskapazität für Ferrosilicium zu steigern und dass sich keine Anhaltspunkte für das Gegenteil ergeben hätten. Jedoch hat der Rat in den Erwägungsgründen 52 und 53 der angefochtenen Verordnung im Wesentlichen festgestellt, dass diese Behauptungen durch bestimmte von den Organen eingeholte Informationen widerlegt seien. Zum einen hätten Letztere nämlich nach der Finanzkrise von 2009 eine deutliche Zunahme der Produktionskapazitäten der Klägerinnen im Verhältnis zum Jahr 2007 festgestellt, und zum anderen hätten die Klägerinnen selbst eine Steigerung dieser Kapazitäten in einer Spanne von 10 bis 20 % im Vergleich zum Zeitraum vor der Finanzkrise von 2009 angegeben. Als Antwort auf das Vorbringen der Klägerinnen, wonach sie die Finanzkrise von 2009 antizipiert hätten und deshalb ihre Produktionskapazitäten gesenkt hätten, hat der Rat geltend gemacht, dass die Finanzkrise von 2009 die Produktionskapazität der Klägerinnen im Jahr 2007 nicht habe beeinflussen können. 75 Als Fazit seiner Prüfung der vier von den Klägerinnen geltend gemachten Gründe zum Nachweis der dauerhaften Veränderung der Umstände, auf die sie sich beriefen, hat der Rat im 54. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung festgestellt, dass keine hinreichenden Beweise für eine mögliche dauerhafte Veränderung der sich auf die Preispolitik der Klägerinnen beziehenden Umstände vorlägen. Infolgedessen hat er den Schluss gezogen, dass es voreilig und daher nicht gerechtfertigt wäre, zu diesem Zeitpunkt den geltenden Zollsatz zu senken. 76 In Bezug auf die vom Rat getroffenen, oben in den Rn. 71 bis 75 wiedergegebenen Schlussfolgerungen betreffend die fehlende Dauerhaftigkeit der Veränderung der Umstände, auf die sie sich beriefen, rügen die Klägerinnen zur Stützung ihrer Klage gegenüber dem Rat erstens, bei der Prüfung des von ihnen geltend gemachten dauerhaften Charakters die oben in Rn. 66 angeführten Beweise nicht berücksichtigt zu haben. 77 Wie aus den Erwägungen oben in Rn. 36 hervorgeht, oblag es den Klägerinnen, ausreichende Beweise vorzulegen, um nachzuweisen, dass die Veränderung der Umstände für die angebliche Senkung des Dumpings einen dauerhaften Charakter hatte. Jedoch ist festzustellen, dass die oben in Rn. 66 genannten Beweise zwar geeignet sind, im Rahmen der Analyse einer Veränderung der Umstände berücksichtigt zu werden, sie jedoch als solches die behauptete dauerhafte Veränderung der Umstände nicht nachweisen können. Keiner dieser Nachweise, d. h. zunächst einmal die Höhe der bei dem Verfahren auf Erstattung während des UZ1 berechneten Dumpingspanne, sodann die Höhe der allenfalls während des Überprüfungsverfahrens festgestellten Ausfuhrpreise und schließlich die ungefähre Berechnung der Dumpingspanne während des Überprüfungsverfahrens, ermöglicht es, die behauptete dauerhafte Veränderung der Umstände zu beurteilen oder gar nachzuweisen. Infolgedessen haben die Klägerinnen aufgrund des Fehlens ausreichender Beweiselemente hinsichtlich des dauerhaften Charakters dieser Veränderung nicht nachgewiesen, dass die Organe zu Unrecht angenommen hätten, dass die behauptete Veränderung der Umstände im Sinne von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung nicht dauerhaft gewesen sei. Demnach ist das im Rahmen des dritten Klagegrundes zur Stützung der zweiten Rüge angeführte erste Argument auch nicht geeignet, nachzuweisen, dass die vom Rat in den Erwägungsgründen 41 bis 53 der angefochtenen Verordnung vorgenommene vorausschauende Analyse, in denen er zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Klägerinnen keine hinreichenden Beweise betreffend die behauptete dauerhafte Veränderung der Umstände vorgelegt hätten, mit einem schweren Beurteilungsfehler behaftet ist. Hieraus folgt, dass dieses Vorbringen zurückzuweisen ist, ohne dass es notwendig ist, festzustellen, ob diese Gesichtspunkte vom Rat berücksichtigt worden sind oder nicht. 78 Zweitens machen die Klägerinnen geltend, dass der 42. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung, der die von den Organen aus der Schwankung der Preise gezogenen Folgerungen betreffend den behaupteten dauerhaften Charakter der Veränderung der Umstände betrifft, mit einem schweren Beurteilungsfehler behaftet sei. Dazu ist festzustellen, dass die von den Klägerinnen als Beleg für das Vorliegen eines solchen Fehlers vorgebrachten Argumente – d. h., dass diese Schwankung die Organe nicht daran gehindert hätte, zum einen auf das Fehlen des Dumpings während des UZ1 und zum anderen darauf zu schließen, dass die Ausfuhrpreise während des UZ2 wesentlich höher als diejenigen während der Ausgangsuntersuchung gewesen seien – keine Gesichtspunkte beinhaltet, die es ermöglichen, im Rahmen des Antrags auf Interimsüberprüfung die behauptete dauerhafte Veränderung der Umstände zu beurteilen, geschweige denn, diese nachzuweisen. 79 Zum einen ermöglicht nämlich das Erstattungsverfahren gemäß Art. 11 Abs. 8 der Grundverordnung, die Erstattung der bereits entrichteten Zölle zu beantragen, wenn nachgewiesen wird, dass die Dumpingspanne, auf deren Grundlage die Zölle entrichtet wurden, beseitigt oder so weit verringert worden ist, dass sie niedriger als der geltende Zoll ist. Es hat somit einen ausschließlich rückblickenden Charakter, weil es fallweise auf Situationen angewendet wird, in denen ein Antidumpingzoll entrichtet worden ist, obgleich die fragliche Einfuhr keinem Dumping oder einem geringeren Dumping unterlag. Damit sind im vorliegenden Fall mangels zusätzlicher von den Klägerinnen beigebrachter Beweise die von den Organen bei den Anträgen auf Erstattung hinsichtlich des UZ1 angestellten Erwägungen nicht geeignet, die Beurteilung der behaupteten dauerhaften Veränderung der Umstände im Rahmen des Antrags auf Interimsüberprüfung zu beeinflussen. 80 Zum anderen ist festzustellen, dass die Organe hinsichtlich des UZ2, der mit dem Untersuchungszeitraum der Überprüfung identisch ist, in den Erwägungsgründen 42 und 43 der angefochtenen Verordnung nicht lediglich festgestellt haben, dass die Ausfuhrpreise während dieses Zeitraums eindeutig höher gewesen seien als die während der Ausgangsuntersuchung festgestellten Preise, sondern ausdrücklich hinzugefügt haben, dass diese Preise ‐ ungeachtet ihres höheren Niveaus ‐ gleichwohl „extremen Schwankungen“ unterworfen gewesen seien, so dass nicht habe angenommen werden können, dass sich „[ihre] Preise für Ausfuhren in die EU künftig auf einem hohen Niveau bewegen und dass kein Dumping praktiziert wird“. Infolgedessen werfen die Klägerinnen mangels Beweisen, die nachweisen sollten, dass trotz der extremen Schwankungen der Ausfuhrpreise die behauptete Veränderung der Umstände einen dauerhaften Charakter im Sinne von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung hatte, den Organen zu Unrecht vor, auf die mangelnde Dauerhaftigkeit dieser Veränderung geschlossen zu haben. Das vorliegende Argument ist daher als unbegründet zurückzuweisen. 81 Da die zur Stützung der zweiten im Rahmen des dritten Klagegrundes formulierten Rüge vorgebrachten Argumente nicht durchgreifen, ist diese Rüge insgesamt zurückzuweisen. 82 Im Hinblick auf die oben in den Rn. 65 und 81 gezogenen Schlussfolgerungen sind der erste und der dritte Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen, soweit die Klägerinnen darin einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung geltend machen. Zum Verstoß gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung 83 Die Klägerinnen machen im Rahmen des ersten Klagegrundes geltend, die Organe hätten dadurch, dass sie keinen genauen Betrag für die Dumpingspanne bestimmt hätten, gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 Satz 1 dieser Verordnung verstoßen. 84 Hierzu führen sie erstens aus, dass Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung auf Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung verweise, die in ihrem ersten Satz eine zwingende Regelung für die Definition der Dumpingspanne beinhalte. Zweitens konzentrierten sich die Organe in der angefochtenen Verordnung, statt eine genaue Dumpingspanne zu ermitteln, auf die Frage, ob die Klägerinnen weiterhin zu Dumpingpreisen verkauften. Drittens hätten die Organe nicht versucht, das Vorliegen einer Veränderung von Umständen im Sinne von Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung nachzuweisen, die ihnen ermöglicht hätte, von einer ‐ eng auszulegenden ‐ Ausnahme von der in diesem Artikel aufgestellten Regel zu profitieren, wonach die Organe verpflichtet seien, den Betrag der Dumpingspanne zu ermitteln, vorausgesetzt, dass diese Ermittlung als eine Methode im Sinne dieser Bestimmungen angesehen werden könne. Viertens sei es falsch, dass die Organe im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung festgestellt hätten, nicht verpflichtet zu sein, zur angemessenen Methode der Berechnung der Dumpingspanne endgültig Stellung zu nehmen, d. h. keine Wahl zwischen der in der Ausgangsuntersuchung verwendeten Methode und der im Dokument zur allgemeinen Unterrichtung verwendeten neuen Berechnungsmethode treffen zu müssen, unter Verstoß gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung. 85 In der Erwiderung führen die Klägerinnen aus, der Begriff des dauerhaften Charakters sei in der Grundverordnung nicht bestimmt, und infolgedessen seien dieser Begriff und die hierauf gestützten Erwägungen nicht geeignet, die Anwendbarkeit der expliziten und zwingenden Anforderungen zu beeinträchtigen, wie sie in Art. 11 Abs. 9 und in Art. 2 Abs. 12 der Grundverordnung enthalten seien, nämlich die Verpflichtung der Organe, bei der Interimsüberprüfung eine Dumpingspanne zu bestimmen. 86 Der Rat und die Kommission treten dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 87 Erstens ist festzustellen, dass der Rat im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung bekräftigt hat, es sei unnötig, zur Frage der Notwendigkeit, die Dumpingspanne genau zu berechnen, Stellung zu nehmen. Der Rat hat nämlich u. a. geltend gemacht, dass es keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür gebe, dass die für den Untersuchungszeitraum der Überprüfung festgestellte Dumpingspanne als dauerhaft anzusehen sei. 88 Zweitens besteht die von den Klägerinnen aufgeworfene Frage im Wesentlichen darin, ob das Vorgehen des Rates im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung darstellt. Daher ist zu prüfen, ob diese zuletzt genannten Bestimmungen einem Vorgehen entgegenstehen, das jedoch, wie oben in Rn. 50 dargelegt, nach Art. 11 Abs. 3 dieser Verordnung zulässig ist. 89 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Abs. 11 und 12 der Grundverordnung die Berechnungsmethode für die Dumpingspanne betrifft. Genauer entspricht die Dumpingspanne gemäß Art. 2 Abs. 12 der Grundverordnung dem Betrag, um den der Normalwert den Ausfuhrpreis übersteigt. 90 Was das Verhältnis zwischen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung und Art. 11 Abs. 9 dieser Verordnung angeht, ist zum einen festzustellen, dass sich die entsprechenden, in diesen Bestimmungen angeführten Veränderungen der Umstände durch ihr Ziel unterscheiden. Die Veränderung der Umstände im Sinne von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung betrifft nämlich das Dumping und die Schädigung. Die von Art. 11 Abs. 9 dieser Regelung erfasste Veränderung der Umstände betrifft jedoch die insbesondere gemäß Art. 2 Abs. 11 und 12 dieser Verordnung bei der während der Ausgangsuntersuchung, die zur Feststellung des Zolls geführt hat, verwendeten Methode angewendeten Parameter zur Berechnung der Dumpingspanne. Die gemäß Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung festgestellte Veränderung der Umstände kann u. a. aus dem Verlust der Zuverlässigkeit eines solchen während der Ausgangsuntersuchung verwendeten Parameters resultieren. 91 Zum anderen verfügen die Organe, worauf oben in den Rn. 43, 44 und 50 hingewiesen worden ist, im Rahmen der Überprüfung der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der bestehenden Maßnahmen über ein weites Ermessen, einschließlich der Befugnis, auf eine vorausschauende Beurteilung zurückzugreifen. Nur wenn die Beurteilung dieser Notwendigkeit vorgenommen worden ist und wenn die Organe entschieden haben, die bestehenden Maßnahmen zu ändern, sind sie bei der Festlegung der neuen Maßnahmen durch Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung gebunden, der sie verpflichtet, die durch Art. 2 dieser Verordnung vorgeschriebene Methode anzuwenden. 92 Aus Rn. 49 des Urteils MTZ Polyfilms/Rat, oben in Rn. 34 angeführt (EU:T:2009:441), geht, wie oben in Rn. 43 dargelegt, hervor, dass Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung nur zur Anwendung kommt, wenn das Vorliegen einer dauerhaften Veränderung der Umstände gemäß Art. 11 Abs. 3 dieser Verordnung festgestellt worden ist und wenn nach dieser Bestimmung entschieden worden ist, die bestehenden Maßnahmen zu ändern, so dass es notwendig ist, den Betrag der Dumpingspanne neu zu berechnen. Umgekehrt ist, wenn die Organe zu dem Ergebnis gekommen sind, dass keine dauerhafte Veränderung der Umstände gegeben ist, Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung nicht anwendbar. Daraus folgt im vorliegenden Fall, dass wenn die Organe auf die fehlende Dauerhaftigkeit der von den Klägerinnen geltend gemachten Veränderung der Umstände geschlossen haben, diese zuletzt genannte Bestimmung nicht zur Anwendung kommen kann und auf jeden Fall ihre Geltendmachung nicht ermöglicht, das im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung beschriebene Vorgehen des Rates für nichtig zu erklären. 93 Deshalb rügen die Klägerinnen gegenüber den Organen offensichtlich zu Unrecht, zum einen die Dumpingspanne zum Abschluss der Interimsüberprüfung nicht genau festgestellt zu haben und zum anderen keine Wahl zwischen der während der Ausgangsuntersuchung verwendeten Berechnungsmethode und der im Dokument zur allgemeinen Unterrichtung verwendeten Berechnungsmethode getroffen zu haben. Dieses Vorbringen stützt sich nämlich auf Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung, obwohl dieser im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. 94 Zudem ist zu bedenken, dass der Umstand, dass der Begriff des dauerhaften Charakters in Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung nicht ausdrücklich erwähnt wird, keine Auswirkung auf die Frage hat, ob Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung die Organe verpflichtet, bei der Interimsüberprüfung eine Dumpingspanne genau zu berechnen. Aus der oben in den Rn. 43 bis 50 vorgenommenen Auslegung von Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung ergibt sich nämlich, dass diese Bestimmung hinsichtlich des Dumpings dahin ausgelegt werden muss, dass die Organe befugt sind, eine Überprüfung sowohl rückblickend als auch vorausschauend vorzunehmen. Wie sich aus den Erwägungen oben in den Rn. 50 und 51 ergibt, können die Organe, wenn sie bei der vorausschauenden Überprüfung zu dem Ergebnis kommen, dass der dauerhafte Charakter der Veränderung der Umstände nicht gegeben ist, von der genauen Feststellung der Dumpingspanne absehen. 95 Nach alledem ist der erste Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen, soweit die Klägerinnen einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung geltend machen. Zur Verletzung der Verteidigungsrechte 96 Die Klägerinnen machen geltend, der Rat und die Kommission hätten ihre Verteidigungsrechte insofern verletzt, als die Kommission ihnen zum Zeitpunkt der Erhebung der vorliegenden Klage nicht die endgültige Berechnung der Dumpingspanne mitgeteilt habe, wobei vorausgesetzt wird, dass diese Berechnung als Grundlage für die Schlussfolgerungen in Bezug auf sowohl die Fortsetzung und das Bestehen des Dumpings als auch die Dauerhaftigkeit der Veränderung der Umstände als auch das abschließende Fazit der teilweisen Interimsüberprüfung gedient habe. Wenn die Kommission diese Berechnung mitgeteilt hätte, hätte dies ihnen ermöglicht, ihre Rechte hinsichtlich der Berechnung des Dumpings und der Erwägungen über das Dumping insgesamt einschließlich des Vorbringens betreffend die während der Ausgangsüberprüfung verwendete Berechnungsmethode besser zu verteidigen, was einen bedeutenden Einfluss auf ihre rechtliche Situation hätte haben können. 97 Der Rat weist das Vorbringen der Klägerinnen zurück. 98 Nach der Rechtsprechung sind die Erfordernisse, die sich aus der Wahrung der Verteidigungsrechte ergeben, nicht nur im Rahmen von Verfahren, die zu Sanktionen führen können, zu berücksichtigen, sondern auch in den Untersuchungsverfahren, die dem Erlass von Antidumpingverordnungen vorausgehen, die die betroffenen Unternehmen unmittelbar und individuell berühren und nachteilige Auswirkungen auf diese haben können (Urteil vom 27. Juni 1991, Al-Jubail Fertilizer/Rat, C‑49/88, Slg, EU:C:1991:276, Rn. 15). Insbesondere müssen die betroffenen Unternehmen im Laufe des Verwaltungsverfahrens in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zur Richtigkeit und Erheblichkeit der behaupteten Tatsachen sowie zu den Beweisen, auf die die Kommission ihren Vorwurf des Vorliegens eines Dumpings und der daraus resultierenden Schädigung stützt, sachgerecht zu vertreten (Urteil Al-Jubail Fertilizer/Rat, EU:C:1991:276, Rn. 17). Diese Erfordernisse wurden in Art. 20 der Grundverordnung noch präzisiert, dessen Abs. 2 bestimmt, dass die Antragsteller, die Einführer und Ausführer sowie ihre repräsentativen Verbände und die Vertreter des Ausfuhrlands „die endgültige Unterrichtung über die wichtigsten Tatsachen und Erwägungen beantragen [können], auf deren Grundlage beabsichtigt wird, die Einführung endgültiger Maßnahmen … zu empfehlen“. 99 Im vorliegenden Fall reicht es aus, festzustellen, dass die endgültige Berechnung der Dumpingspanne keine wichtige Erwägung oder Tatsache darstellte. Der Rat hat nämlich, wie oben in Rn. 87 festgestellt, im 38. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung dargelegt, dass es unnötig sei, zur Frage der Notwendigkeit, eine Dumpingspanne individuell für jede einzelne Klägerin zu berechnen, Stellung zu nehmen, weil es auf jeden Fall keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Veränderung der Umstände hinsichtlich der Dumpingspanne während des Untersuchungszeitraums der Überprüfung als dauerhaft anzusehen sei. Da die Klägerinnen jedoch, wie oben aus den Rn. 76 und 78 hervorgeht, keine Beweise vorgelegt haben, die geeignet sind, nachzuweisen, dass die behauptete Veränderung der Umstände dauerhaft war, ist diese Feststellung des Rates nicht rechtswidrig, so dass er rechtmäßig die Aufrechterhaltung der geltenden Maßnahmen beschließen konnte, ohne dass es notwendig war, die Dumpingspanne genau zu berechnen. Somit ist festzustellen, dass selbst unter der Voraussetzung, dass die von den Klägerinnen behauptete angebliche Verletzung der Verteidigungsrechte festgestellt würde, diese sich auf die Art der Berechnung der Dumpingspanne beziehende Verletzung keine Nichtigerklärung der angefochtenen Verordnung nach sich ziehen könnte, weil der Rat, wie oben festgestellt, seine Entscheidung auf die Feststellung des Fehlens des dauerhaften Charakters der behaupteten Veränderung der Umstände gestützt hat. 100 Im Übrigen ist festzustellen, dass die Kommission den Klägerinnen die Berechnung der Dumpingspanne am 28. Oktober 2011 im Dokument zur allgemeinen Unterrichtung mitgeteilt hat. Die Klägerinnen haben zu diesem Dokument mit Schreiben vom 14. November 2011 Stellung genommen. In diesen Stellungnahmen befassen sich die Klägerinnen mit den wichtigsten Entwicklungen bei der Berechnung der Dumpingspanne. Infolgedessen ist festzuhalten, dass die Klägerinnen ihre Verteidigungsrechte ausgeübt haben und dies, obwohl der Rat letztlich entschieden hat, keine endgültige Dumpingspanne zu bestimmen. 101 Nach alledem ist der erste Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen, soweit sich die Klägerinnen auf eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte berufen. 102 Angesichts der oben in den Rn. 82, 95 und 101 dargelegten Ergebnisse sind der erste und der dritte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen. Zum zweiten Klagegrund betreffend die Berechnung des Ausfuhrpreises 103 Die Klägerinnen machen im Wesentlichen geltend, die Organe hätten einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, indem sie zum einen festgestellt hätten, dass sie im Sinne der Rechtsprechung keine wirtschaftliche Einheit mit der RFAI bildeten und indem sie zum anderen demzufolge angenommen hätten, dass eine Anpassung des Ausfuhrpreises entsprechend den Vertriebs-, Verwaltungs- und Gemeinkosten sowie den Gewinnen der RFAI gemäß Art. 2 Abs. 9 der Grundverordnung vorgenommen werden müsse. 104 Der Rat und Euroalliages treten dem Vorbringen der Klägerinnen entgegen. 105 Da die Organe zu Recht, wie oben festgestellt, davon abgesehen haben, die genaue Dumpingspanne festzulegen, ist festzustellen, dass der zweite Klagegrund nicht stichhaltig ist. Der zweite Klagegrund wird nämlich im Wesentlichen auf eine Rechtswidrigkeit gestützt, die der Berechnung des Ausfuhrpreises im Rahmen der Feststellung der Dumpingspanne anhaften soll. 106 Der zweite Klagegrund ist daher als nicht stichhaltig zurückzuweisen. 107 Angesichts der oben in den Rn. 102 und 106 gezogenen Schlussfolgerungen ist die Klage insgesamt abzuweisen. Kosten 108 Nach Art. 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerinnen unterlegen sind, sind ihnen gemäß dem Antrag des Rates die Kosten aufzuerlegen. 109 Außerdem tragen nach Art. 87 § 4 Abs. 1 der Verfahrensordnung die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Die Kommission, die dem Rechtsstreit als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge des Rates beigetreten ist, trägt daher ihre eigenen Kosten. 110 Euroalliages trägt schließlich gemäß Art. 87 § 4 Abs. 3 der Verfahrensordnung ihre eigenen Kosten. Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Die Chelyabinsk electrometallurgical integrated plant OAO (CHEMK) und die Kuzneckie ferrosplavy OAO (KF) tragen ihre eigenen Kosten sowie die dem Rat der Europäischen Union entstandenen Kosten. 3. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen Kosten. 4. Euroalliages trägt ihre eigenen Kosten. Martins Ribeiro Gervasoni Madise Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. April 2015. Unterschriften Inhaltsverzeichnis Rechtlicher Rahmen Vorgeschichte des Rechtsstreits Verfahren und Anträge der Parteien Rechtliche Würdigung Zum ersten und zum dritten Klagegrund gemeinsam: Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung und gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung sowie Verletzung der Verteidigungsrechte Zum Verstoß gegen Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung – Zur im Rahmen des ersten Klagegrundes erhobenen ersten Rüge, mit der ein von den Organen begangener, den Umfang ihres Ermessens im Zusammenhang mit Art. 11 Abs. 3 der Grundverordnung betreffender Rechtsfehler geltend gemacht wird – Zur im Rahmen des dritten Klagegrundes erhobenen zweiten Rüge, mit der ein offensichtlicher Beurteilungsfehler geltend gemacht wird, da die Organe zu dem Ergebnis gekommen seien, dass es hinsichtlich der Dumpingspanne keine dauerhafte Veränderung der Umstände gegeben habe Zum Verstoß gegen Art. 11 Abs. 9 der Grundverordnung in Verbindung mit Art. 2 Abs. 12 dieser Verordnung Zur Verletzung der Verteidigungsrechte Zum zweiten Klagegrund betreffend die Berechnung des Ausfuhrpreises Kosten (*1) Verfahrenssprache: Englisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 26. März 2015.#Gérard Fenoll gegen Centre d'aide par le travail "La Jouvene" und Association de parents et d'amis de personnes handicapées mentales (APEI) d'Avignon.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 31 Abs. 2 – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Begriff ‚Arbeitnehmer‘ – Behinderte Person – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Mit dem Unionsrecht unvereinbare nationale Regelung – Rolle des nationalen Gerichts.#Rechtssache C-316/13.
62013CJ0316
ECLI:EU:C:2015:200
2015-03-26T00:00:00
Gerichtshof, Mengozzi
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62013CJ0316 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 26. März 2015 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Sozialpolitik — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 31 Abs. 2 — Richtlinie 2003/88/EG — Art. 7 — Begriff ‚Arbeitnehmer‘ — Behinderte Person — Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub — Mit dem Unionsrecht unvereinbare nationale Regelung — Rolle des nationalen Gerichts“ In der Rechtssache C‑316/13 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Frankreich) mit Entscheidung vom 29. Mai 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Juni 2013, in dem Verfahren Gérard Fenoll gegen Centre d’aide par le travail „La Jouvene“, Association de parents et d’amis de personnes handicapées mentales (APEI) d’Avignon erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet und E. Levits (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen, Generalanwalt: P. Mengozzi, Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. März 2014, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Herrn Fenoll, vertreten durch G. Delvolvé und A. Delvolvé, avocats, — der Association de parents et d’amis de personnes handicapées mentales (APEI) d’Avignon, vertreten durch L. Cocquebert, avocat, — der französischen Regierung, vertreten durch N. Rouam, D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte, — der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und C. Schillemans als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Van Hoof und M. van Beek als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Juni 2014 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Begriffs „Arbeitnehmer“ im Sinne der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9) sowie des Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Fenoll auf der einen Seite und dem Centre d’aide par le travail „La Jouvene“ (Zentrum für Hilfe durch Arbeit „La Jouvene“, im Folgenden: CAT „La Jouvene“) sowie der Association de parents et d’amis de personnes handicapées mentales (APEI) d’Avignon auf der anderen Seite über dessen Antrag auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/88 heißt es: „(1)   Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung. (2)   Gegenstand dieser Richtlinie sind a) … der Mindestjahresurlaub … … (3)   Diese Richtlinie gilt unbeschadet ihrer Artikel 14, 17, 18 und 19 für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 89/391/EWG [des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. L 183, S. 1)]. …“ 4 Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind. (2)   Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“ 5 Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Hinsichtlich ihres Art. 7 ist jedoch keine Abweichung zulässig. 6 Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 89/391 lautet: „(1)   Diese Richtlinie findet Anwendung auf alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche (gewerbliche, landwirtschaftliche, kaufmännische, verwaltungsmäßige sowie dienstleistungs- oder ausbildungsbezogene, kulturelle und Freizeittätigkeiten usw.). (2)   Diese Richtlinie findet keine Anwendung, soweit dem Besonderheiten bestimmter spezifischer Tätigkeiten im öffentlichen Dienst, z. B. bei den Streitkräften oder der Polizei, oder bestimmter spezifischer Tätigkeiten bei den Katastrophenschutzdiensten zwingend entgegenstehen. In diesen Fällen ist dafür Sorge zu tragen, dass unter Berücksichtigung der Ziele dieser Richtlinie eine größtmögliche Sicherheit und ein größtmöglicher Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer gewährleistet ist.“ Französisches Recht Code du travail (Arbeitsgesetzbuch) 7 Art. L. 223-2 Abs. 1 des Code du travail lautet in seiner zur Zeit der im Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse geltenden Fassung: „Ein Arbeitnehmer, der nachweist, im Laufe des Bezugsjahrs während eines Zeitraums, der mindestens einem Monat effektiver Arbeitszeit entspricht, beim selben Arbeitgeber beschäftigt gewesen zu sein, hat Anspruch auf Urlaub von 2,5 Arbeitstagen je Arbeitsmonat, ohne dass die Gesamtdauer des zustehenden Urlaubs 30 Arbeitstage überschreiten kann.“ 8 Art. L. 223-4 des Code du travail sieht vor: „Für die Ermittlung der Urlaubsdauer sind einem Monat effektiver Arbeitszeit vier Arbeitswochen oder 24 Arbeitstage gleichgestellt. Die Zeit des bezahlten Urlaubs, die … Ausgleichsruhetage, die … Ruhezeit der Wöchnerinnen, die aufgrund der Reduzierung der Arbeitszeit erworbenen Ruhetage und die auf eine ununterbrochene Dauer von einem Jahr beschränkte Zeit, während der die Erfüllung des Arbeitsvertrags aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit unterbrochen ist, werden als effektive Arbeitszeit angesehen. …“ 9 Art. L. 323-10 des Code du travail bestimmt: „Als behinderter Arbeitnehmer im Sinne dieses Abschnitts gilt jede Person, deren Möglichkeiten, einen Arbeitsplatz zu erhalten oder zu behalten, infolge der Veränderung einer oder mehrerer körperlichen, sensorischen, geistigen oder psychischen Funktionen tatsächlich eingeschränkt sind. Die Anerkennung als behinderter Arbeitnehmer erfolgt durch die in Art. L. 146-9 des Code de l’action sociale et des familles (Sozial- und Familiengesetzbuch) genannte Kommission. Die Orientierung in einer Einrichtung oder einem Dienst nach Art. L. 312-1 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a dieses Gesetzes gilt als Anerkennung als behinderter Arbeitnehmer.“ Code de l’action sociale et des familles 10 Art. L. 312-1 des Code de l’action sociale et des familles bestimmt in seiner seit dem 6. September 2003 geltenden Fassung: „Soziale und medizinisch-soziale Einrichtungen und Dienste im Sinne dieses Gesetzes sind die nachstehend aufgeführten Einrichtungen und Dienste mit oder ohne eigener Rechtspersönlichkeit: … 5. Einrichtungen oder Dienste: a) Hilfe durch Arbeit, ausgenommen Einrichtungen, mit denen eine vertragliche Vereinbarung für die in Art. L. 322-4-16 des Code du travail genannten Tätigkeiten besteht, sowie in Art. L. 323-30 ff. dieses Gesetzes definierte, für Behinderte geschützte Unternehmen; …“ 11 Art. L. 344-2 des Code de l’action sociale et des familles bestimmte in seiner zwischen dem 3. Januar 2002 und dem 11. Februar 2005 geltenden Fassung: „Zentren für Hilfe durch Arbeit – mit oder ohne Wohnheim – nehmen behinderte Jugendliche und Erwachsene auf, die momentan oder dauerhaft weder in gewöhnlichen Unternehmen, an einem für Behinderte geschützten Arbeitsplatz oder im Auftrag eines Verteilungszentrums für Heimarbeit arbeiten können noch eine unabhängige berufliche Tätigkeit ausüben können. Sie bieten ihnen verschiedene Möglichkeiten beruflicher Tätigkeiten, Unterstützung in medizinisch-sozialer Hinsicht und bei der Bildung sowie ein Lebensumfeld, das ihre persönliche Entwicklung und ihre soziale Integration fördert. …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 12 Herr Fenoll nahm vom 1. Februar 1996 bis zum 20. Juni 2005 das CAT „La Jouvene“ in Anspruch. Ursprünglich erhielt er regelmäßig fünf Wochen bezahlten Jahresurlaub. 13 Vom 16. Oktober 2004 bis zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem CAT war Herr Fenoll krankgeschrieben. Als dieser Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit begann, standen ihm für den Beschäftigungszeitraum vom 1. Juni 2003 bis zum 31. Mai 2004 noch zwölf Tage bezahlter Jahresurlaub zu, den er nicht genommen hatte. Außerdem konnte Herr Fenoll seinen Urlaub für den Bezugszeitraum vom 1. Juni 2004 bis zum 31. Mai 2005 nicht nehmen. Nach Ansicht von Herrn Fenoll steht ihm für diese Ansprüche auf erworbene, aber nicht genommene Urlaubstage eine finanzielle Vergütung in Höhe von 945 Euro zu. Das CAT „La Jouvene“ verweigerte ihm deren Zahlung. 14 Nachdem das Tribunal d’instance d’Avignon (Frankreich) seine Klage auf Entschädigung letztinstanzlich abgewiesen hatte, legte Herr Fenoll Kassationsbeschwerde ein. 15 Das vorlegende Gericht weist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und zum Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 45 AEUV hin. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Personen, die in einem Zentrum für Hilfe durch Arbeit (im Folgenden: CAT) untergebracht sind und dort keinen Arbeitnehmerstatus haben, unter den Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts fallen. 16 Das vorlegende Gericht weist auf den Wortlaut von Art. 31 Abs. 2 der Charta hin, wonach jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer u. a. das Recht auf bezahlten Jahresurlaub hat, und führt aus, dass nach ständiger Rechtsprechung in einem Rechtsstreit zwischen Privaten die Grundrechte der Europäischen Union geltend gemacht werden könnten, um deren Achtung durch die Organe der Union und die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts zu überprüfen. 17 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist Art. 3 der Richtlinie 89/391, auf die Art. 1 der Richtlinie 2003/88, der deren Anwendungsbereich festlegt, verweist, dahin auszulegen, dass eine Person, die in ein CAT aufgenommen worden ist, als „Arbeitnehmer“ im Sinne dieses Art. 3 anzusehen ist? 2. Ist Art. 31 der Charta dahin auszulegen, dass eine Person, wie sie in der vorangegangenen Frage beschrieben wird, als „Arbeitnehmer“ im Sinne dieses Artikels anzusehen ist? 3. Kann sich eine Person, wie sie in der ersten Frage beschrieben wird, unmittelbar auf ihre Rechte aus der Charta berufen, um einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zu erhalten, wenn die nationale Regelung für sie keinen solchen Anspruch vorsieht, und muss der nationale Richter, um die volle Wirksamkeit dieser Rechte sicherzustellen, jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lassen? Zu den Vorlagefragen Zur ersten und zur zweiten Frage 18 Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er eine Person einschließt, die in ein CAT wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende aufgenommen worden ist. 19 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 2003/88 in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie 89/391, auf den dieser Art. 1 Abs. 3 verweist, diese Richtlinien für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche gelten, um die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit zu verbessern und bestimmte Aspekte der Gestaltung ihrer Arbeitszeit zu regeln. 20 Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie 89/391 weit zu verstehen ist, so dass die in Art. 2 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmen eng auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Simap, C‑303/98, EU:C:2000:528, Rn. 34 und 35, sowie Kommission/Spanien, C‑132/04, EU:C:2006:18, Rn. 22). Diese Ausnahmen sind nämlich allein zu dem Zweck erlassen worden, das ordnungsgemäße Funktionieren der Dienste zu gewährleisten, die in Situationen von besonderer Schwere und besonderem Ausmaß für den Schutz der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit und Ordnung unerlässlich sind (Urteil Neidel, C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung). 21 Da keiner dieser Umstände hinsichtlich der Situation einer Person wie des Klägers des Ausgangsverfahrens einschlägig ist, fällt dessen Tätigkeit in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/88. 22 Daraus ergibt sich, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/88, insbesondere Art. 7, auf die von Herrn Fenoll ausgeübte Tätigkeit Anwendung finden. 23 Zu beantworten ist daher die Frage, ob Herr Fenoll diese Tätigkeit als Arbeitnehmer im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta ausübt. 24 Insoweit ist festzustellen, dass die Richtlinie 2003/88 – wie der Generalanwalt in Nr. 29 seiner Schlussanträge ausführt – weder auf den Arbeitnehmerbegriff der Richtlinie 89/391 verweist noch auf die Definition dieses Begriffs, wie sie sich aus einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil Union syndicale Solidaires Isère, C‑428/09, EU:C:2010:612, Rn. 27). 25 Hieraus ergibt sich, dass der Arbeitnehmerbegriff für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88 nicht nach Maßgabe der nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich ausgelegt werden kann, sondern eine eigenständige unionsrechtliche Bedeutung hat (Urteil Union syndicale Solidaires Isère, C‑428/09, EU:C:2010:612, Rn. 28). 26 Wie der Generalanwalt in Nr. 26 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, ist diese Feststellung auch im Hinblick auf die Auslegung des Begriffs „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta geboten, um die Einheitlichkeit des persönlichen Geltungsbereichs des Anspruchs der Arbeitnehmer auf bezahlten Urlaub zu gewährleisten. 27 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Arbeitnehmerbegriff im Rahmen der Richtlinie 2003/88 nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs anhand objektiver Kriterien zu definieren ist, die das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Als „Arbeitnehmer“ ist daher jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. in diesem Sinne Urteile Union syndicale Solidaires Isère, C‑428/09, EU:C:2010:612, Rn. 28, und Neidel, C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 23). 28 Um zu prüfen, ob dieser Begriff eine Person einschließen kann, die, wie Herr Fenoll, in ein CAT aufgenommen worden ist, sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen. 29 Erstens hat der Gerichtshof entschieden, dass sich das nationale Gericht im Rahmen der ihm obliegenden Prüfung, ob der Betreffende unter den Arbeitnehmerbegriff fällt, auf objektive Kriterien stützen und eine Gesamtwürdigung aller Umstände der bei ihm anhängigen Rechtssache vornehmen muss, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und des Verhältnisses zwischen den fraglichen Parteien betreffen (Urteil Union syndicale Solidaires Isère, C‑428/09, EU:C:2010:612, Rn. 29). 30 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass Personen, die in ein CAT aufgenommen worden sind, bestimmten Vorschriften des Code du travail nicht unterliegen. Dieser Umstand, der eine Rechtsstellung sui generis dieser Personen bewirkt, kann allerdings im Rahmen der Beurteilung des Beschäftigungsverhältnisses zwischen den betreffenden Parteien nicht ausschlaggebend sein. 31 Der Gerichtshof hat insoweit nämlich bereits entschieden, dass es für die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Unionsrechts ohne Bedeutung ist, dass ein Beschäftigungsverhältnis nach nationalem Recht ein Rechtsverhältnis sui generis ist (vgl. Urteil Kiiski, C‑116/06, EU:C:2007:536, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Zweitens ist unstreitig, dass Herr Fenoll während einer gewissen Zeit – im vorliegenden Fall von der Aufnahme seiner Tätigkeit beim CAT „La Jouvene“ im Jahr 1996 an und mindestens während der fünf darauffolgenden Jahre, für die er im Übrigen bezahlten Jahresurlaub erhalten hat – verschiedene Leistungen erbracht hat. Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass diese von medizinisch-sozialer Unterstützung begleiteten Leistungen von dem Personal und der Geschäftsleitung des CAT „La Jouvene“ angewiesen und geleitet wurden, wobei sich das CAT bemühte, dem Betroffenen eine seinen Bedürfnissen bestmöglich angepasste Lebensweise zu bieten. Ein solcher organisatorischer Rahmen kann einer Einrichtung wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden CAT ermöglichen, sowohl für die persönliche Entwicklung einer schwerbehinderten Person durch die Förderung ihrer Fähigkeiten Sorge zu tragen als auch im Rahmen des Möglichen darauf zu achten, dass die dieser Person übertragenen Leistungen einen gewissen wirtschaftlichen Nutzen zugunsten der betreffenden Einrichtung haben können. 33 Drittens ergibt sich ferner aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten, dass Herr Fenoll für seine Leistungen, die auf diese Weise in das wirtschaftlich-soziale Programm des CAT „La Jouvene“ eingebunden waren, im Gegenzug eine Vergütung erhalten hatte. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass diese deutlich unter dem garantierten Mindestlohn in Frankreich liegen konnte, im Hinblick auf die Einstufung von Herrn Fenoll als „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts nicht berücksichtigt werden kann. 34 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs spielt es nämlich für die Frage, ob jemand als Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts anzusehen ist, keine Rolle, wie hoch die Produktivität des Betroffenen ist, woher die Mittel für seine Entlohnung stammen oder ob diese eine eingeschränkte Höhe aufweist (vgl. Urteile Bettray, 344/87, EU:C:1989:226, Rn. 15 und 16, Kurz, C‑188/00, EU:C:2002:694, Rn. 32, sowie Trojani, C‑456/02, EU:C:2004:488, Rn. 16). 35 Viertens ist von Bedeutung, ob die von Herrn Fenoll im CAT „La Jouvene“ ausgeübten Tätigkeiten als „tatsächlich und echt“ zu qualifizieren sind oder ob sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen, so dass nach der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs derjenige, der sie ausführt, nicht als „Arbeitnehmer“ eingestuft werden kann. 36 In diesem Zusammenhang leiten die Association de parents et d’amis de personnes handicapées mentales (APEI) d’Avignon und die französische Regierung aus dem Sachverhalt, der dem Urteil Bettray (344/87, EU:C:1989:226) zugrunde lag, ab, dass Herr Fenoll dementsprechend nicht als „Arbeitnehmer“ eingestuft werden könne, da seine Tätigkeiten im CAT „La Jouvene“ angeblich mit denjenigen vergleichbar seien, die von Personen ausgeübt würden, die in einem Therapiezentrum für Suchtkranke wie dem in jenem Urteil in Rede stehenden aufgenommen worden seien. 37 Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. 38 Zwar hat der Gerichtshof in Rn. 17 des Urteils Bettray (344/87, EU:C:1989:226) entschieden, dass Tätigkeiten nicht als tatsächliche und echte wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden können, die nur ein Mittel der Rehabilitation oder der Wiedereingliederung der Betroffenen in das Arbeitsleben darstellen. Er hat jedoch auch bereits klargestellt, dass diese Erwägung nur im Zusammenhang mit dem Sachverhalt, der jenem Urteil zugrunde lag, maßgeblich ist. Dabei ging es um die Situation einer Person, die aufgrund ihrer Drogenabhängigkeit nach nationalen Rechtsvorschriften eingestellt worden war, die bezweckten, Personen Arbeit zu verschaffen, die infolge von in ihrer Person begründeten Umständen auf unbestimmte Zeit nicht in der Lage sind, unter normalen Bedingungen zu arbeiten (vgl. Urteil Trojani, C‑456/02, EU:C:2004:488, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Sodann ist festzustellen, dass – auch wenn die Arbeitsplätze im CAT „La Jouvene“ genau wie diejenigen, die in der Rechtssache, in der das Urteil Bettray (344/87, EU:C:1989:226) erging, für Suchtkranke bestimmt waren, Personen vorbehalten sind, die infolge von in ihrer Person begründeten Umständen nicht in der Lage sind, unter normalen Bedingungen zu arbeiten – sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten gleichwohl ergibt, dass die Konzeption der Regelung über die Funktionsweise eines CAT und somit über die von den Behinderten dort ausgeübten Tätigkeiten so geartet ist, dass diese Tätigkeiten nicht als lediglich untergeordnet und unwesentlich im Sinne der in Rn. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung erscheinen. 40 Wie der Generalanwalt insbesondere in Nr. 42 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, werden die von den Behinderten im CAT „La Jouvene“ ausgeübten Tätigkeiten nämlich nicht allein deshalb eingerichtet, um den Betroffenen eine – gegebenenfalls ablenkende – Beschäftigung zu bieten. Vielmehr sind diese Tätigkeiten, wenn sie auch den Fähigkeiten der Betroffenen angepasst sind, zugleich von einem gewissen wirtschaftlichen Nutzen. Dies gilt umso mehr, als es diese Tätigkeiten ermöglichen, die Produktivität schwerbehinderter Menschen – so gering sie auch sein mag – zu steigern und zugleich den sozialen Schutz zu gewährleisten, der ihnen zusteht. 41 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich daher, dass eine Person, die Tätigkeiten wie Herr Fenoll im CAT „La Jouvene“ ausübt, aufgrund der Gesichtspunkte, die sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergeben, als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta eingestuft werden kann. 42 In diesem Zusammenhang hat das nationale Gericht insbesondere zu prüfen, ob die vom Betroffenen tatsächlich erbrachten Leistungen als auf dem Beschäftigungsmarkt üblich angesehen werden können. Dabei können nicht nur der Status und die Praxis des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden CAT als Aufnahmeeinrichtung sowie die verschiedenen Aspekte der Zielsetzung seines Programms zur sozialen Unterstützung, sondern auch die Art der Leistungen und die Modalitäten ihrer Erbringung berücksichtigt werden (vgl. entsprechend Urteil Trojani, C‑456/02, EU:C:2004:488, Rn. 24). 43 Unter diesen Umständen ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er eine Person, die in ein CAT wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende aufgenommen worden ist, einschließen kann. Zur dritten Frage 44 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unmittelbar geltend gemacht werden kann, um die volle Wirksamkeit des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu gewährleisten und zu erreichen, dass jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet bleibt. 45 In diesem Zusammenhang genügt es, festzustellen, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta – wie der Generalanwalt in Nr. 23 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar ist. 46 Die Forderung von Herrn Fenoll bezüglich seiner bezahlten Urlaubstage betrifft nämlich einen Zeitraum vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon und damit vor dem Zeitpunkt, in dem die Charta nach Art. 6 Abs. 1 des EU-Vertrags den gleichen Rang wie die Verträge erlangt hat. 47 Daher kann Art. 31 Abs. 2 der Charta als solcher in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens nicht geltend gemacht werden. 48 Hinsichtlich der Möglichkeit einer Bezugnahme auf Art. 7 der Richtlinie 2003/88, der gerade den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub regelt, ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Art. 7 der Richtlinie für den Fall, dass das nationale Recht nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann – was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist –, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten wie dem des Ausgangsverfahrens nicht geltend gemacht werden kann, um die volle Wirksamkeit dieses Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu gewährleisten und zu erreichen, dass jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet bleibt. Darüber hinaus könnte sich die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei in einer solchen Situation jedoch auf die auf dem Urteil Francovich u. a. (C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428) beruhende Rechtsprechung berufen, um gegebenenfalls Ersatz des ihr entstandenen Schadens zu erlangen (vgl. Urteil Dominguez, C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 43). 49 Nach alledem ist die dritte Frage nicht zu beantworten. Kosten 50 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er eine Person, die in ein Zentrum für Hilfe durch Arbeit wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende aufgenommen worden ist, einschließen kann. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 18. Dezember 2014.#Fag og Arbejde (FOA) gegen Kommunernes Landsforening (KL).#Vorabentscheidungsersuchen des Ret i Kolding.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Entlassung – Grund –Adipositas des Arbeitnehmers – Allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas – Fehlen – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung – Vorliegen einer ‚Behinderung‘.#Rechtssache C‑354/13.
62013CJ0354
ECLI:EU:C:2014:2463
2014-12-18T00:00:00
Gerichtshof, Jääskinen
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62013CJ0354 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 18. Dezember 2014 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Sozialpolitik — Entlassung — Grund — Adipositas des Arbeitnehmers — Allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas — Fehlen — Richtlinie 2000/78/EG — Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf — Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung — Vorliegen einer ‚Behinderung‘“ In der Rechtssache C‑354/13 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Ret i Kolding (Dänemark) mit Entscheidung vom 25. Juni 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juni 2013, in dem Verfahren Fag og Arbejde (FOA), handelnd für Karsten Kaltoft, gegen Kommunernes Landsforening (KL), handelnd für die Billund Kommune, erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský und M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richterin A. Prechal, Generalanwalt: N. Jääskinen, Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juni 2014, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der Fag og Arbejde (FOA), handelnd für Herrn Kaltoft, vertreten durch J. Sand, advokat, — der Kommunernes Landsforening (KL), handelnd für die Billund Kommune, vertreten durch Y. Frederiksen, advokat, — der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning und M. Wolff als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Clausen und D. Martin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Juli 2014 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts und der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gewerkschaft Fag og Arbejde (FOA), die für Herrn Kaltoft handelt, und der Kommunernes Landsforening (KL) (Nationaler Verband der dänischen Gemeinden), die für die Billund Kommune (Gemeinde Billund, Dänemark) handelt, über die Rechtmäßigkeit der Entlassung von Herrn Kaltoft, die auf dessen Adipositas beruhen soll. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 1, 11, 12, 15, 28 und 31 der Richtlinie 2000/78 heißt es: „(1) Nach Artikel 6 Absatz 2 [EUV] beruht die Europäische Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. … (11) Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung können die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit. (12) Daher sollte jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen gemeinschaftsweit untersagt werden. … … (15) Die Beurteilung von Tatbeständen, die auf eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung schließen lassen, obliegt den einzelstaatlichen gerichtlichen Instanzen oder anderen zuständigen Stellen nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten; in diesen einzelstaatlichen Vorschriften kann insbesondere vorgesehen sein, dass mittelbare Diskriminierung mit allen Mitteln, einschließlich statistischer Beweise, festzustellen ist. … (28) In dieser Richtlinie werden Mindestanforderungen festgelegt; es steht den Mitgliedstaaten somit frei, günstigere Vorschriften einzuführen oder beizubehalten. Die Umsetzung dieser Richtlinie darf nicht eine Absenkung des in den Mitgliedstaaten bereits bestehenden Schutzniveaus rechtfertigen. … (31) Eine Änderung der Regeln für die Beweislast ist geboten, wenn ein glaubhafter Anschein einer Diskriminierung besteht. Zur wirksamen Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist eine Verlagerung der Beweislast auf die beklagte Partei erforderlich, wenn eine solche Diskriminierung nachgewiesen ist. Allerdings obliegt es dem Beklagten nicht, nachzuweisen, dass der Kläger einer bestimmten Religion angehört, eine bestimmte Weltanschauung hat, eine bestimmte Behinderung aufweist, ein bestimmtes Alter oder eine bestimmte sexuelle Ausrichtung hat.“ 4 Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt: „Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“ 5 Art. 2 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. (2)   Im Sinne des Absatzes 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; …“ 6 Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie bestimmt: „Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf … c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts“. 7 Art. 5 der Richtlinie 2000/78 lautet: „Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch geltende Maßnahmen im Rahmen der Behindertenpolitik des Mitgliedstaates ausreichend kompensiert wird.“ 8 In Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie heißt es: „Die Mitgliedstaaten können Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.“ 9 Art. 10 Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten ergreifen im Einklang mit ihrem nationalen Gerichtswesen die erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat. (2)   Absatz 1 lässt das Recht der Mitgliedstaaten, eine für den Kläger günstigere Beweislastregelung vorzusehen, unberührt.“ Dänisches Recht 10 Die Richtlinie 2000/78 wurde durch das Gesetz Nr. 1417 zur Änderung des Gesetzes über das Verbot der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt u. a. (Lov nr.° 1417 om ændring af lov om forbud mod forskelsbehandling på arbejdsmarkedet m. v.) vom 22. Dezember 2004 in das dänische Recht umgesetzt. 11 § 1 Abs. 1 dieses Gesetzes in der Fassung der Gesetzesbekanntmachung Nr. 1349 vom 16. Dezember 2008 (im Folgenden: Antidiskriminierungsgesetz) bestimmt: „Diskriminierung im Sinne dieses Gesetzes ist jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der Religion oder des Glaubens, der politischen Anschauung, der sexuellen Orientierung, des Alters, einer Behinderung oder der nationalen, sozialen oder ethnischen Herkunft.“ 12 § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor: „Arbeitgeber dürfen Arbeitnehmer oder Bewerber um freie Stellen bei Anstellung, Kündigung, Versetzung, Beförderung oder im Hinblick auf Entgelt- und Arbeitsbedingungen nicht unterschiedlich behandeln.“ 13 § 2a des Gesetzes bestimmt: „Der Arbeitgeber hat die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufs, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Dies gilt jedoch nicht, wenn diese Maßnahmen den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten würden. Diese Belastung ist nicht unverhältnismäßig, wenn sie durch öffentliche Maßnahmen ausreichend kompensiert wird.“ 14 In § 7 Abs. 1 des Antidiskriminierungsgesetzes heißt es: „Personen, deren Rechte durch Verstoß gegen §§ 2 bis 4 verletzt werden, kann Schadensersatz zuerkannt werden.“ 15 § 7a der Richtlinie lautet: „Macht eine Person, die sich in ihren Rechten gemäß §§ 2 bis 4 verletzt fühlt, tatsächliche Umstände geltend, die eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt wurde.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 16 Am 1. November 1996 stellte die Billund Kommune, die Teil der dänischen öffentlichen Verwaltung ist, Herrn Kaltoft mit befristetem Vertrag als Tagesvater ein, der Kinder im eigenen Heim betreut. 17 Die Billund Kommune stellte Herrn Kaltoft sodann mit unbefristetem Vertrag zum 1. Januar 1998 als Tagesvater ein. Herr Kaltoft übte diese Tätigkeit etwa 15 Jahre aus. 18 Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens ist unstreitig, dass Herr Kaltoft während der gesamten Zeit seiner Beschäftigung bei der Billund Kommune „adipös“ im Sinne der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) war. Die Adipositas ist unter dem Code E66 in der „Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ der WHO (ICD 10) aufgeführt. 19 Herr Kaltoft versuchte, Gewicht zu verlieren, und die Billund Kommune gewährte ihm im Rahmen ihrer Gesundheitspolitik von Januar 2008 bis Januar 2009 einen finanziellen Zuschuss für die Teilnahme an Sportkursen und anderen körperlichen Aktivitäten. Er verlor zwar Gewicht, nahm dann aber wie bei früheren Versuchen wieder zu. 20 Im März 2010 nahm Herr Kaltoft seine Arbeit als Tagesvater wieder auf, nachdem er ein Jahr Urlaub aus familiären Gründen genommen hatte. In der Folge wurde er mehrmals unangekündigt von der für die Tagesbetreuer Verantwortlichen besucht, die sich nach seinem Gewichtsverlust erkundigte. Bei diesen Besuchen wurde festgestellt, dass das Gewicht von Herrn Kaltoft nahezu unverändert geblieben war. 21 Wegen des Rückgangs der Kinderzahl in der Billund Kommune hatte Herr Kaltoft ab der 38. Kalenderwoche 2010 nur drei statt der vier Kinder zu betreuen, für die er eine Zulassung erhalten hatte. 22 Der Vorlageentscheidung zufolge wurden die pädagogischen Beauftragten der Billund Kommune um Vorschläge dazu gebeten, welcher der Tagesbetreuer entlassen werden solle. Die für die Tagesbetreuer Verantwortliche entschied auf der Grundlage dieser Vorschläge, dass es Herr Kaltoft sein solle. 23 Am 1. November 2010 wurde Herrn Kaltoft telefonisch mitgeteilt, dass die Billund Kommune in Betracht ziehe, ihn zu entlassen. Daraufhin wurde das bei der Entlassung eines Angestellten des öffentlichen Dienstes geltende Anhörungsverfahren eingeleitet. 24 Am selben Tag erkundigte sich Herr Kaltoft bei einem Gespräch mit der für die Tagesbetreuer Verantwortlichen in Anwesenheit der Personalvertreterin nach dem Grund dafür, dass er als einziger der Tagesbetreuer entlassen werde. Die Parteien des Ausgangsverfahrens sind sich darüber einig, dass die Adipositas von Herrn Kaltoft bei diesem Treffen erörtert wurde. Dagegen besteht keine Einigkeit darüber, wie die Adipositas von Herrn Kaltoft bei diesem Treffen zur Sprache gekommen und inwieweit sie ein Gesichtspunkt gewesen war, der in den zu seiner Entlassung führenden Entscheidungsprozess Eingang fand. 25 Mit Schreiben vom 4. November 2010 teilte die Billund Kommune Herrn Kaltoft förmlich mit, dass sie beabsichtige, ihn zu entlassen, und forderte ihn auf, gegebenenfalls dazu Stellung zu nehmen. In diesem Schreiben wurde dargelegt, dass die ins Auge gefasste Entlassung „nach einer konkreten Prüfung vor dem Hintergrund eines Rückgangs der Kinderzahl und damit der Arbeitslast [erfolgt], mit dem erhebliche finanzielle Auswirkungen auf den Kinderbetreuungsdienst und dessen Organisation verbunden sind“. 26 Herr Kaltoft konnte keinen Aufschluss über die genauen Gründe erlangen, aus denen gerade er entlassen wurde. Er war der einzige Tagesbetreuer, der wegen des geltend gemachten Rückgangs der Arbeitslast entlassen wurde. 27 Da die Billund Kommune Herrn Kaltoft eine Frist zur Stellungnahme gesetzt hatte, teilte dieser mit Schreiben vom 10. November 2010 mit, er habe den Eindruck, er sei wegen seiner Adipositas entlassen worden. 28 Mit Schreiben vom 22. November 2010 kündigte die Billund Kommune Herrn Kaltoft und führte aus, dass diese Kündigung nach einer „konkreten Prüfung vor dem Hintergrund eines Rückgangs der Kinderzahl“ erfolgt sei. Die Billund Kommune ging auf die Ausführungen von Herrn Kaltoft zu dem von ihm vermuteten wirklichen Grund für seine Entlassung in seinem Schreiben vom 10. November 2010 nicht ein. 29 Die FOA, die für Herrn Kaltoft handelt, erhob Klage beim Ret i Kolding (Gericht in Kolding) und macht geltend, dass Herr Kaltoft Opfer einer Diskriminierung wegen Adipositas geworden sei und ihm dafür Schadensersatz zu leisten sei. 30 Unter diesen Umständen hat das Ret i Kolding das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Verstößt eine Diskriminierung wegen Adipositas auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen oder durch einen öffentlichen Arbeitgeber im Besonderen gegen das Unionsrecht, wie es zum Beispiel in der Grundrechte betreffenden Bestimmung des Art. 6 EUV zum Ausdruck kommt? 2. Ist ein etwaiges unionsrechtliches Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas unmittelbar auf das Verhältnis zwischen einem dänischen Staatsangehörigen und seinem Arbeitgeber, der eine Behörde ist, anwendbar? 3. Hat, sofern der Gerichtshof der Auffassung ist, dass in der Union ein Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen oder durch einen öffentlichen Arbeitgeber im Besonderen besteht, die Prüfung, ob gegen ein eventuelles Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas verstoßen wurde, gegebenenfalls gemäß der verteilten Beweislast zu erfolgen, so dass zur wirksamen Umsetzung des Verbots in Fällen, in denen der Anschein einer Diskriminierung besteht, die Beweislast auf den beklagten Arbeitgeber zu verlagern ist? 4. Kann Adipositas als eine vom Schutz der Richtlinie 2000/78 umfasste Behinderung betrachtet werden, und welche Kriterien sind gegebenenfalls ausschlaggebend dafür, dass die Adipositas einer Person konkret den Schutz dieser Person durch das in dieser Richtlinie enthaltene Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung beinhaltet? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 31 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es ein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf enthält. 32 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehört zu den Grundrechten als integraler Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts u. a. das allgemeine Diskriminierungsverbot, das für die Mitgliedstaaten somit verbindlich ist, wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehende innerstaatliche Situation in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil Chacón Navas, C‑13/05, EU:C:2006:456, Rn. 56). 33 Hierzu ist festzustellen, dass weder der EU‑Vertrag noch der AEU‑Vertrag eine Bestimmung enthält, die eine Diskriminierung wegen Adipositas als solcher verbietet. Insbesondere wird weder in Art. 10 AEUV noch in Art. 19 AEUV auf Adipositas Bezug genommen. 34 Im Einzelnen ergibt sich zu Art. 19 AEUV aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass dieser Artikel lediglich eine Regelung der Zuständigkeiten der Union enthält und, da er nicht die Diskriminierung wegen Adipositas als solcher betrifft, keine Rechtsgrundlage für Maßnahmen des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung einer solchen Diskriminierung sein kann (vgl. entsprechend Urteil Chacón Navas, EU:C:2006:456, Rn. 55). 35 Ebenso wenig enthält das abgeleitete Unionsrecht ein Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas in Beschäftigung und Beruf. Insbesondere ist Adipositas nicht in der Richtlinie 2000/78 als Diskriminierungsgrund aufgeführt. 36 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs darf der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 nicht in entsprechender Anwendung über die Diskriminierungen wegen der in Art. 1 dieser Richtlinie abschließend aufgezählten Gründe hinaus ausgedehnt werden (vgl. Urteile Chacón Navas, EU:C:2006:456, Rn. 56, und Coleman, C‑303/06, EU:C:2008:415, Rn. 46). 37 Daher kann Adipositas als solche nicht als ein weiterer Grund neben denen angesehen werden, derentwegen Personen zu diskriminieren nach der Richtlinie 2000/78 verboten ist (vgl. entsprechend Urteil Chacón Navas, EU:C:2006:456, Rn. 57). 38 Im vorliegenden Fall enthält die dem Gerichtshof übermittelte Akte nichts, was darauf schließen ließe, dass der im Ausgangsverfahren fragliche Sachverhalt, soweit er eine Entlassung betrifft, die auf Adipositas als solcher beruhen soll, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. 39 In diesem Zusammenhang finden auch die Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union keine Anwendung auf einen solchen Sachverhalt (vgl. in diesem Sinne Urteil Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 21 und 22). 40 In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es kein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf enthält. Zur zweiten und zur dritten Frage 41 In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage sind die zweite und die dritte Frage nicht zu beantworten. Zur vierten Frage 42 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die Adipositas eines Arbeitnehmers eine „Behinderung“ im Sinne dieser Richtlinie darstellen kann und, falls ja, welche Kriterien ausschlaggebend dafür sind, dass dem Betreffenden der durch die Richtlinie gewährte Schutz gegen Diskriminierung wegen einer Behinderung zugute kommt. Zur Zulässigkeit 43 Die dänische Regierung trägt vor, dass die vierte Frage unzulässig sei, da sie hypothetisch sei. Aus den vom vorlegenden Gericht dargelegten tatsächlichen Umständen ergebe sich nämlich nicht, dass Herr Kaltoft während seiner Beschäftigung bei der Billund Kommune nicht in der Lage gewesen wäre, seine Tätigkeit auszuüben, und erst recht nicht, dass davon ausgegangen worden wäre, dass er unter einer „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 leide. Die Beantwortung dieser Frage wäre daher der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht sachdienlich. 44 Außerdem lasse die Antwort auf die vierte Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel, da sie klar aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs abgeleitet werden könne. Denn im Licht von Rn. 47 des Urteils HK Danmark (C‑335/11 und C‑337/11, EU:C:2013:222) könne das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren selbst über die Definition des Begriffs „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 entscheiden. 45 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen. Die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen kann nur ausnahmsweise widerlegt werden, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn. 39 und 40, sowie B., C‑394/13, EU:C:2014:2199, Rn. 19). 46 Im vorliegenden Fall ist sich das vorlegende Gericht nicht sicher, wie der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 auszulegen ist, und möchte mit seiner vierten Frage wissen, ob dieser Begriff auf einen adipösen Arbeitnehmer anwendbar ist, der entlassen wurde. 47 Unter diesen Umständen ist nicht offensichtlich, dass das vorlegende Gericht die von ihm erbetene Auslegung des Unionsrechts für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht benötigt. 48 Es ist ferner einem nationalen Gericht keineswegs untersagt, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, deren Beantwortung keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt (vgl. Urteil Painer, C‑145/10, EU:C:2011:798, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Daher ist die vierte Frage als zulässig anzusehen. Beantwortung der Frage 50 Vorab ist festzustellen, dass die Richtlinie 2000/78 nach ihrem Art. 1 die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf aus einem der in diesem Artikel genannten Gründe bezweckt, zu denen die Behinderung zählt (vgl. Urteil Chacón Navas, Rn. 41). 51 Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Art. 1 dieser Richtlinie genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person. 52 Gemäß ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. c gilt die Richtlinie 2000/78 im Rahmen der auf die Union übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, u. a. in Bezug auf die Entlassungsbedingungen. 53 Nach der Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 (ABl. 2010, L 23, S. 35) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde, hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 so zu verstehen ist, dass er eine Einschränkung erfasst, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können (vgl. Urteile HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn. 37 bis 39; Z., C‑363/12, EU:C:2014:159, Rn. 76, und Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 45). 54 Dieser Begriff „Behinderung“ ist so zu verstehen, dass er nicht nur die Unmöglichkeit erfasst, eine berufliche Tätigkeit auszuüben, sondern auch eine Beeinträchtigung der Ausübung einer solchen Tätigkeit. Eine andere Auslegung wäre mit dem Ziel dieser Richtlinie unvereinbar, die insbesondere Menschen mit Behinderung Zugang zur Beschäftigung oder die Ausübung eines Berufs ermöglichen soll (vgl. Urteil Z., EU:C:2014:159, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Für den Anwendungsbereich dieser Richtlinie je nach Ursache der Behinderung zu differenzieren, würde außerdem ihrem Ziel selbst, die Gleichbehandlung zu verwirklichen, widersprechen (vgl. Urteil HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn. 40). 56 Der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 hängt nämlich nicht davon ab, inwieweit der Betreffende gegebenenfalls zum Auftreten seiner Behinderung beigetragen hat. 57 Darüber hinaus geht die Definition des Begriffs „Behinderung“ im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2000/78 der Bestimmung und Beurteilung der in Art. 5 der Richtlinie ins Auge gefassten geeigneten Vorkehrungsmaßnahmen voraus. Gemäß dem 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie soll mit solchen Maßnahmen nämlich den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung Rechnung getragen werden, und sie sind daher Folge und nicht Tatbestandsmerkmal der Behinderung (vgl. in diesem Sinne Urteil HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn. 45 und 46). Daher kann nicht allein deshalb, weil Herrn Kaltoft gegenüber keine solchen Vorkehrungsmaßnahmen getroffen wurden, davon ausgegangen werden, dass er nicht behindert im Sinne der Richtlinie sein kann. 58 Es ist festzustellen, dass Adipositas als solche keine „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 ist, da sie ihrem Wesen nach nicht zwangsläufig eine Einschränkung wie die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils beschriebene zur Folge hat. 59 Dagegen fällt die Adipositas eines Arbeitnehmers, wenn sie unter bestimmten Umständen eine Einschränkung mit sich bringt, die insbesondere auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist, unter den Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 (vgl. in diesem Sinne Urteil HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn. 41). 60 Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer aufgrund seiner Adipositas an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, gehindert wäre, und zwar aufgrund eingeschränkter Mobilität oder dem Auftreten von Krankheitsbildern, die ihn an der Verrichtung seiner Arbeit hindern oder zu einer Beeinträchtigung der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit führen. 61 Im vorliegenden Fall steht, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, fest, dass Herr Kaltoft während der gesamten Zeit seiner Beschäftigung bei der Billund Kommune – also über einen langen Zeitraum – adipös war. 62 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im Ausgangsrechtsstreit die Adipositas von Herrn Kaltoft trotz des Umstands, dass er – wie in Rn. 17 des vorliegenden Urteils ausgeführt – seine Arbeit etwa 15 Jahre lang verrichtet hat, zu einer Einschränkung geführt hat, die die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt. 63 Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Schluss gelangt, dass die Adipositas von Herrn Kaltoft die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt, ist bezüglich der Beweislast darauf hinzuweisen, dass nach Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 die Mitgliedstaaten im Einklang mit ihrem nationalen Gerichtswesen die erforderlichen Maßnahmen ergreifen müssen, um zu gewährleisten, dass immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat. Nach Art. 10 Abs. 2 lässt Abs. 1 das Recht der Mitgliedstaaten, eine für den Kläger günstigere Beweislastregelung vorzusehen, unberührt. 64 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die Adipositas eines Arbeitnehmers eine „Behinderung“ im Sinne dieser Richtlinie darstellt, wenn sie eine Einschränkung mit sich bringt, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind. Kosten 65 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: 1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es kein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf enthält. 2. Die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass die Adipositas eines Arbeitnehmers eine „Behinderung“ im Sinne dieser Richtlinie darstellt, wenn sie eine Einschränkung mit sich bringt, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Dänisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 18. Dezember 2014.#Centre public d’action sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve gegen Moussa Abdida.#Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht von der Cour du travail de Bruxelles.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 – Richtlinie 2004/83/EU – Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz – Art. 15 Buchst. b – Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland – Art. 3 – Günstigere Normen – An einer schweren Krankheit leidender Antragsteller – Nichtverfügbarkeit einer angemessenen Behandlung im Herkunftsland – Richtlinie 2008/115/EU – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 13 – Gerichtlicher Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung – Art. 14 – Garantien bis zur Rückkehr – Grundbedürfnisse.#Rechtssache C‑562/13.
62013CJ0562
ECLI:EU:C:2014:2453
2014-12-18T00:00:00
Gerichtshof, Bot
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62013CJ0562 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 18. Dezember 2014 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 — Richtlinie 2004/83/EU — Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus — Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz — Art. 15 Buchst. b — Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland — Art. 3 — Günstigere Normen — An einer schweren Krankheit leidender Antragsteller — Nichtverfügbarkeit einer angemessenen Behandlung im Herkunftsland — Richtlinie 2008/115/EU — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Art. 13 — Gerichtlicher Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung — Art. 14 — Garantien bis zur Rückkehr — Grundbedürfnisse“ In der Rechtssache C‑562/13 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour du travail de Bruxelles (Belgien) mit Entscheidung vom 25. Oktober 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Oktober 2013, in dem Verfahren Centre public d’action sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve gegen Moussa Abdida erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen (Berichterstatter), T. von Danwitz und J.‑C. Bonichot, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Richter A. Rosas, E. Juhász und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby sowie der Richterinnen M. Berger und A. Prechal, Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juni 2014, unter Berücksichtigung der Erklärungen — des Centre public d’action sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve, vertreten durch V. Vander Geeten, avocat, — von Herrn Abdida, vertreten durch O. Stein, avocat, — der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und T. Materne als Bevollmächtigte im Beistand von J.‑J. Masquelin, D. Matray, J. Matray, C. Piront und N. Schynts, avocats, — der französischen Regierung, vertreten durch F.‑X. Bréchot und D. Colas als Bevollmächtigte, — der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Banner, Barrister, — der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und R. Troosters als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. September 2014 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. L 31, S. 18), der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, und – Berichtigung – ABl. 2005, L 204, S. 24), der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, und – Berichtigung – ABl. 2006, L 236, S. 36) und der Art. 1 bis 4, des Art. 19 Abs. 2 sowie der Art. 20, 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Centre public d’action sociale d’Ottignies-Louvain-la-Neuve (öffentliches Sozialhilfezentrum Ottignies-Louvain-la-Neuve, im Folgenden: CPAS) und Herrn Abdida, einem nigerianischen Staatsangehörigen, wegen der von dieser Stelle gegenüber Herrn Abdida erlassenen Entscheidung über den Entzug der Sozialhilfe. Rechtlicher Rahmen Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 3 Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht in Art. 3 („Verbot der Folter“) vor: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ 4 Art. 13 dieser Konvention bestimmt: „Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“ Unionsrecht Richtlinie 2003/9 5 Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/9 bestimmt: „(1)   Diese Richtlinie gilt für alle Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, die an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats Asyl beantragen, solange sie als Asylbewerber im Hoheitsgebiet verbleiben dürfen … … (4)   Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie auf Verfahren zur Bearbeitung von Ersuchen um andere Formen der Schutzgewährung anzuwenden, die sich nicht aus [dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Vertragssammlung der Vereinten Nationen, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954])] ergeben und die Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zugutekommen, die nicht als Flüchtlinge gelten.“ Richtlinie 2004/83 6 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2004/83 bestimmt: „Das Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung von Mindestnormen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, sowie des Inhalts des zu gewährenden Schutzes.“ 7 Art. 2 Buchst. c, e und g der Richtlinie 2004/83 bestimmt: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … c) ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will … … e) ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel[s] 15 zu erleiden, … und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will; … g) ‚Antrag auf internationalen Schutz‘ das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht“. 8 Art. 3 der Richtlinie 2004/83 sieht vor: „Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung der Frage, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“ 9 In Kapitel V („Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz“) der Richtlinie 2004/83 sieht Art. 15 („Ernsthafter Schaden“) vor: „Als ernsthafter Schaden gilt: a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“ Richtlinie 2005/85 10 In Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2005/85 heißt es: „(1)   Diese Richtlinie gilt für alle Asylanträge, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, sowie für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft. … (3)   Wenn Mitgliedstaaten ein Verfahren anwenden oder einführen, nach dem Asylanträge sowohl als Anträge aufgrund [des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge] als auch als Anträge auf Gewährung anderer Formen internationalen Schutzes, der unter den in Artikel 15 der Richtlinie 2004/83/EG definierten Umständen gewährt wird, geprüft werden, wenden sie die vorliegende Richtlinie während des gesamten Verfahrens an. (4)   Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten beschließen, diese Richtlinie bei Verfahren anzuwenden, mit denen über Anträge auf Gewährung irgendeiner Form des internationalen Schutzes entschieden wird.“ Richtlinie 2008/115/EG 11 Die Erwägungsgründe 2 und 12 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98) lauten: „(2) Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden. … (12) Die Situation von Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, sollte geregelt werden. Die Festlegungen hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums dieser Personen sollten nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getroffen werden. …“ 12 Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke … 4. ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme[,] mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird“. 13 Art. 5 der Richtlinie 2008/115 sieht vor: „Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise: … c) den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen, und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“ 14 Art. 9 („Aufschub der Abschiebung“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt in Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf, a) wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde oder b) solange nach Artikel 13 Absatz 2 aufschiebende Wirkung besteht.“ 15 Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht vor: „Rückkehrentscheidungen sowie – gegebenenfalls – Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung ergehen schriftlich und enthalten eine sachliche und rechtliche Begründung sowie Informationen über mögliche Rechtsbehelfe. …“ 16 Art. 13 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 bestimmt: „(1)   Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen. (2)   Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist.“ 17 In Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 heißt es: „Die Mitgliedstaaten stellen außer in Fällen nach Artikel 16 und 17 sicher, dass innerhalb der nach Artikel 7 für die freiwillige Ausreise gewährten Frist und der Fristen, während derer die Vollstreckung einer Abschiebung nach Artikel 9 aufgeschoben ist, die folgenden Grundsätze in Bezug auf Drittstaatsangehörige so weit wie möglich beachtet werden: … b) Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten; …“ Belgisches Recht 18 Art. 9ter § 1 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) lautet: „Ein Ausländer, der sich in Belgien aufhält, seine Identität gemäß § 2 nachweist und so sehr an einer Krankheit leidet, dass sie eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich aufhält, keine angemessene Behandlung vorhanden ist, kann beim Minister beziehungsweise seinem Beauftragten beantragen, dass ihm der Aufenthalt im Königreich erlaubt wird.“ 19 Art. 48/4 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bestimmt: „§ 1   Der subsidiäre Schutzstatus wird einem Ausländer zuerkannt, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt und nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 9ter fällt, für den aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 2 zu erleiden, und der unter Berücksichtigung der Gefahr den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will, sofern er nicht von den in Artikel 55/4 erwähnten Ausschlussklauseln betroffen ist. § 2   Als ernsthafter Schaden gilt: a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“ 20 Die Art. 39/82, 39/84 und 39/85 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 sehen verschiedene Verfahren vor, die dazu dienen, die Aussetzung von Verwaltungsentscheidungen über den Aufenthalt und die Entfernung von Ausländern zu erreichen. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 21 Am 15. April 2009 stellte Herr Abdida auf der Grundlage von Art. 9ter des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen, den er damit begründete, dass er an einer besonders schweren Krankheit leide. 22 Am 4. Dezember 2009 wurde dieser Antrag für zulässig erklärt. Dies hatte zur Folge, dass Herr Abdida Sozialhilfe vom CPAS erhielt. 23 Mit Entscheidung vom 6. Juni 2011 wurde der von Herrn Abdida gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung zurückgewiesen, dass sein Herkunftsland über eine ausreichende medizinische Infrastruktur zur Behandlung von an seiner Krankheit erkrankten Personen verfüge. Diese Entscheidung wurde Herrn Abdida zusammen mit einer Anordnung zum Verlassen des belgischen Staatsgebiets am 29. Juni 2011 zugestellt. 24 Am 7. Juli 2011 legte Herr Abdida beim Rat für Ausländerstreitsachen Beschwerde gegen die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis ein. 25 Am 13. Juli 2011 entschied das CPAS, Herrn Abdida die Sozialhilfe zu entziehen und die dringende medizinische Hilfe zu verweigern. Am 27. Juli 2011 änderte das CPAS diese Entscheidung dahin ab, dass es die dringende medizinische Hilfe gewährte. 26 Am 5. August 2011 erhob Herr Abdida vor dem Tribunal du travail de Nivelles Klage gegen die Entscheidung des CPAS, mit der ihm die Sozialhilfe entzogen wurde. 27 Mit Urteil vom 9. September 2011 gab dieses Gericht der Klage statt und verurteilte das CPAS, an Herrn Abdida eine dem Eingliederungseinkommen zum Satz für Alleinstehende entsprechende Sozialhilfe zu zahlen. Es befand u. a., dass es sich bei dem Recht auf Sozialhilfe um eine unerlässliche Voraussetzung für die wirksame Ausübung eines Rechtsbehelfs handele und dass die Sozialhilfe für Herrn Abdida daher bis zu einer Entscheidung über seine Klage gegen die Entscheidung, ihm die Aufenthaltserlaubnis zu verweigern, aufrechterhalten werden müsse. 28 Am 7. Oktober 2011 legte das CPAS gegen dieses Urteil bei der Cour du travail de Bruxelles Berufung ein. 29 Dieses Gericht stellt fest, dass Herr Abdida gemäß den geltenden Bestimmungen des nationalen Rechts nicht über einen gerichtlichen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen die Entscheidung über die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis verfüge und dass er bis zur Entscheidung über die Klage von jeder Sozialhilfe, mit Ausnahme dringender medizinischer Hilfe, ausgeschlossen sei. 30 Unter diesen Umständen hat die Cour du travail de Bruxelles das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Sind die Richtlinien 2004/83, 2005/85 und 2003/9 so auszulegen, dass sie einen Mitgliedstaat, der vorsieht, dass ein Ausländer, der „so sehr an einer Krankheit leidet, dass sie eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland … keine angemessene Behandlung vorhanden ist“, Anspruch auf subsidiären Schutz im Sinne von Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 hat, verpflichten, — einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen die behördliche Entscheidung vorzusehen, mit der das Aufenthaltsrecht und/oder der subsidiäre Schutz versagt und das Verlassen des Staatsgebiets angeordnet werden, — bis zu einer Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen diese behördliche Entscheidung andere als medizinische Grundbedürfnisse des Rechtsbehelfsführers im Rahmen seiner Sozialhilfe- oder Aufnahmeregelung zu befriedigen? 2. Falls dies verneint werden sollte: Verpflichtet die Charta … und insbesondere ihre Art. 1 bis 3 …, ihr Art. 4 …, ihr Art. 19 Abs. 2 …, ihre Art. 20 und 21 … und/oder ihr Art. 47 … den Mitgliedstaat, der die Richtlinien 2004/83, 2005/85 und 2003/9 umsetzt, einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung und die Befriedigung der oben in Frage 1 aufgeführten Grundbedürfnisse vorzusehen? Zu den Vorlagefragen 31 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85, gegebenenfalls in Verbindung mit den Art. 1 bis 4, Art. 19 Abs. 2 sowie den Art. 20, 21 und 47 der Charta, dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat, dessen zuständige Behörden eine Entscheidung erlassen haben, mit der der Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in diesem Mitgliedstaat gemäß nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – die vorsehen, dass der Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat einem Ausländer erlaubt wird, der an einer Krankheit leidet, die eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich zuvor aufgehalten hat, keine angemessene Behandlung vorhanden ist – abgelehnt und diesem Drittstaatsangehörigen gegenüber angeordnet wurde, das Gebiet dieses Mitgliedstaats zu verlassen, einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen diese Entscheidung vorsehen und die Grundbedürfnisse dieses Drittstaatsangehörigen bis zur Entscheidung über die Klage gegen diese Entscheidung befriedigen muss. 32 Vorab ist festzustellen, dass aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass diese Fragen auf der Prämisse beruhen, dass Anträge, die gemäß den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften gestellt werden, Anträge auf internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2004/83 darstellen und somit in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen. 33 Wie aber aus den Rn. 27, 41, 45 und 46 des Urteils M’Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452) hervorgeht, sind Art. 2 Buchst. c und e sowie die Art. 3 und 15 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen, dass Anträge, die gemäß diesen nationalen Rechtsvorschriften gestellt werden, keine Anträge auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie darstellen. Folglich fällt die Lage eines Drittstaatsangehörigen, der einen solchen Antrag gestellt hat, nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie, wie er in deren Art. 1 definiert wird. 34 Was die Richtlinie 2005/85 betrifft, so geht aus ihrem Art. 3 hervor, dass sie für Asylanträge gilt, aber auch für Anträge auf subsidiären Schutz, wenn ein Mitgliedstaat ein einheitliches Verfahren einführt, in dessen Rahmen er einen Antrag unter dem Aspekt der beiden Formen des internationalen Schutzes prüft (Urteile M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 79, und N., C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 39), und dass die Mitgliedstaaten beschließen können, diese Richtlinie auch auf Anträge auf Gewährung anderer Formen des internationalen Schutzes anzuwenden. 35 Es steht fest, dass die gemäß den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften gestellten Anträge keine Anträge auf internationalen Schutz sind. 36 Auch die Richtlinie 2003/9 ist auf einen Fall wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht anwendbar, weil zum einen Art. 3 Abs. 1 und 4 dieser Richtlinie ihre Geltung auf Asylanträge beschränkt – wobei allerdings weiter bestimmt wird, dass die Mitgliedstaaten beschließen können, diese Richtlinie auf die Bearbeitung von Ersuchen um andere Formen der Schutzgewährung anzuwenden – und zum anderen aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervorgeht, dass das Königreich Belgien beschlossen hätte, diese Richtlinie auf Anträge anzuwenden, die gemäß den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften gestellt werden. 37 Im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ist es indessen Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Auch wenn das vorlegende Gericht formal nur auf die Richtlinien 2003/9, 2004/83 und 2005/85 Bezug genommen hat, hindert dies demnach den Gerichtshof nicht daran, dem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten von dem einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile Fuß, C‑243/09, EU:C:2010:609, Rn. 39 und 40, sowie Hadj Ahmed, C‑45/12, EU:C:2013:390, Rn. 42). 38 Im vorliegenden Fall betreffen die von dem vorlegenden Gericht gestellten Fragen die Merkmale des Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, mit der gegenüber Herrn Abdida wegen der Rechtswidrigkeit seines Aufenthalts in Belgien angeordnet wird, das belgische Staatsgebiet zu verlassen, sowie die Garantien, die Herrn Abdida bis zur Entscheidung über den von ihm gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelf zu gewähren sind. 39 Es steht fest, dass diese Entscheidung eine behördliche Maßnahme darstellt, mit der der illegale Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen und eine Rückkehrverpflichtung festgestellt werden. Sie ist somit als „Rückkehrentscheidung“ im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 zu qualifizieren. 40 Diese Richtlinie enthält aber in ihren Art. 13 und 14 Vorschriften in Bezug auf die gegen Rückkehrentscheidungen gegebenen Rechtsbehelfe und die Garantien, die Drittstaatsangehörigen, die von einer solchen Entscheidung betroffen sind, bis zur Rückkehr gewährt werden. 41 Es ist daher zu bestimmen, ob diese Artikel dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die einem gegen eine Rückkehrentscheidung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ausgeübten Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung verleiht und die nicht die Befriedigung der Grundbedürfnisse des Drittstaatsangehörigen bis zur Entscheidung über den gegen eine solche Entscheidung ausgeübten Rechtsbehelf vorsieht. 42 Insoweit ist hervorzuheben, dass die Auslegung der Vorschriften der Richtlinie 2008/115, wie es in deren zweitem Erwägungsgrund heißt, unter vollständiger Achtung der Grundrechte und der Menschenwürde der Betroffenen erfolgen muss. 43 Was erstens die Merkmale des Rechtsbehelfs angeht, der gegen eine Rückkehrentscheidung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gegeben sein muss, ergibt sich aus Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie, dass ein Drittstaatsangehöriger über einen wirksamen Rechtsbehelf gegen eine gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung verfügen muss. 44 Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor, dass die Behörde oder das Gremium, die oder das zur Entscheidung über diesen Rechtsbehelf zuständig ist, die Vollstreckung der angefochtenen Rückkehrentscheidung einstweilig aussetzen kann, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist. Hieraus folgt, dass diese Richtlinie nicht vorschreibt, dass der in Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehene Rechtsbehelf notwendigerweise aufschiebende Wirkung haben muss. 45 Allerdings sind die Merkmale dieses Rechtsbehelfs im Einklang mit Art. 47 der Charta auszulegen, der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt (vgl. in diesem Sinne Urteile Unibet, C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 37, und Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 59) und nach dem jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. 46 Insoweit ist festzustellen, dass Art. 19 Abs. 2 der Charta u. a. klarstellt, dass niemand in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht. 47 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 2 der Charta zu berücksichtigen ist, geht hervor, dass Ausländer, die von einer Entscheidung betroffen sind, die ihre Abschiebung ermöglicht, zwar grundsätzlich kein Recht auf Verbleib in einem Staat geltend machen können, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung durch diesen Staat zu erhalten, dass jedoch die Entscheidung, einen Ausländer, der an einer schweren physischen oder psychischen Krankheit leidet, in ein Land abzuschieben, in dem die Möglichkeiten einer Behandlung dieser Krankheit geringer sind als in dem entsprechenden Staat, in absoluten Ausnahmefällen Fragen unter dem Blickwinkel von Art. 3 EMRK aufwerfen kann, wenn die humanitären Erwägungen, die gegen die Abschiebung sprechen, zwingend sind (vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 27. Mai 2008, N./Vereinigtes Königreich, Nr. 42). 48 In den absoluten Ausnahmefällen, in denen die Abschiebung eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen in ein Land, in dem keine angemessenen Behandlungsmöglichkeiten bestehen, gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstieße, dürfen die Mitgliedstaaten somit gemäß Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Charta diese Abschiebung nicht vornehmen. 49 Die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung, die die Abschiebung eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen in ein Land, in dem keine angemessenen Behandlungsmöglichkeiten bestehen, umfasst, könnte daher in bestimmten Fällen einen Verstoß gegen Art. 5 der Richtlinie 2008/115 darstellen. 50 Diese absoluten Ausnahmefälle sind dadurch gekennzeichnet, dass der Schaden, der sich aus der Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen in ein Land ergibt, in dem für ihn die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, schwer und nicht wiedergutzumachen ist. Die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs gegen eine Rückkehrentscheidung, deren Vollzug den betroffenen Drittstaatsangehörigen der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, erfordert unter diesen Umständen, dass diesem Drittstaatsangehörigen ein Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung zur Verfügung steht, um zu gewährleisten, dass die Rückkehrentscheidung nicht vollzogen wird, bevor eine Rüge in Bezug auf einen Verstoß gegen Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Charta durch eine zuständige Stelle geprüft werden konnte. 51 Diese Auslegung wird bestätigt durch die Erläuterungen zu Art. 47 der Charta, wonach sich Art. 47 Abs. 1 der Charta auf Art. 13 EMRK stützt (Urteil Überprüfung Arango Jaramillo u. a./EIB, C‑334/12 RX‑II, EU:C:2013:134, Rn. 42). 52 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nämlich entschieden, dass, wenn ein Staat entscheidet, einen Ausländer in ein Land abzuschieben, bei dem ernsthafte Gründe befürchten lassen, dass tatsächlich die Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung dieses Ausländers besteht, die Wirksamkeit des Rechtsbehelfs nach Art. 13 EMRK es erfordert, dass die Betroffenen über einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen den Vollzug der Maßnahme verfügen, die ihre Abschiebung ermöglicht (vgl. u. a. EGMR, Urteile vom 26. April 2007, Gebremedhin/Frankreich, Nr. 67, und vom 23. Februar 2012, Hirsi Jamaa u. a./Italien, Nr. 200). 53 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die keinen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung gegen eine Rückkehrentscheidung vorsehen, deren Vollzug den betroffenen Drittstaatsangehörigen einer ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzt. 54 Was zweitens die Befriedigung der Grundbedürfnisse eines Drittstaatsangehörigen in einer Lage wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden betrifft, ergibt sich zwar aus dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115, dass die Festlegungen hinsichtlich des Existenzminimums von Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getroffen werden sollten, doch müssen diese Rechtsvorschriften mit den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Verpflichtungen im Einklang stehen. 55 Art. 14 der Richtlinie 2008/115 sieht aber bestimmte Garantien bis zur Rückkehr vor, u. a. innerhalb der Fristen, während deren die Vollstreckung einer Abschiebung nach Art. 9 dieser Richtlinie aufgeschoben ist. 56 Gemäß Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 schieben die Mitgliedstaaten die Abschiebung auf, solange nach Art. 13 Abs. 2 dieser Richtlinie aufschiebende Wirkung besteht. 57 Aus dem allgemeinen Aufbau der Richtlinie 2008/115, der bei der Auslegung ihrer Bestimmungen zu berücksichtigen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Abdullahi, C‑394/12, EU:C:2013:813, Rn. 51), geht aber hervor, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie alle Situationen erfassen muss, in denen ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung infolge der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung auszusetzen. 58 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen, der einen Rechtsbehelf gegen eine Rückkehrentscheidung eingelegt hat, deren Vollstreckung ihn der ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, die in Art. 14 der Richtlinie 2008/115 niedergelegten Garantien bis zur Rückkehr zu bieten. 59 Insbesondere ist der betreffende Mitgliedstaat in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie verpflichtet, im Rahmen des Möglichen die Grundbedürfnisse eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen zu befriedigen, wenn dieser über keine Mittel verfügt, um selbst für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu sorgen. 60 Die Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten, die in Art. 14 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 vorgesehen ist, könnte nämlich in einer solchen Situation ihre tatsächliche Wirkung verlieren, wenn sie nicht mit der Befriedigung der Grundbedürfnisse des betroffenen Drittstaatsangehörigen einhergeht. 61 Allerdings ist festzustellen, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, die Form festzulegen, die diese Befriedigung der Grundbedürfnisse des betroffenen Drittstaatsangehörigen anzunehmen hat. 62 Folglich ist Art. 14 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die nicht die im Rahmen des Möglichen erfolgende Befriedigung der Grundbedürfnisse eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen vorsehen, um zu gewährleisten, dass die medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten innerhalb der Fristen, während deren der betreffende Mitgliedstaat die Abschiebung dieses Drittstaatsangehörigen infolge der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine gegen ihn erlassene Rückkehrentscheidung aufschieben muss, tatsächlich gewährt werden können. 63 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta sowie Art. 14 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, — die einem Rechtsbehelf, der gegen eine Entscheidung eingelegt wird, die gegenüber einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen anordnet, das Gebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen, keine aufschiebende Wirkung verleihen, wenn die Vollstreckung dieser Entscheidung den Drittstaatsangehörigen einer ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, und — die nicht die im Rahmen des Möglichen erfolgende Befriedigung der Grundbedürfnisse dieses Drittstaatsangehörigen vorsehen, um zu gewährleisten, dass die medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten innerhalb der Fristen, während deren der betreffende Mitgliedstaat die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen infolge der Einlegung des entsprechenden Rechtsbehelfs aufschieben muss, tatsächlich gewährt werden können. Kosten 64 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Die Art. 5 und 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Art. 14 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, — die einem Rechtsbehelf, der gegen eine Entscheidung eingelegt wird, die gegenüber einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen anordnet, das Gebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen, keine aufschiebende Wirkung verleihen, wenn die Vollstreckung dieser Entscheidung den Drittstaatsangehörigen einer ernsthaften Gefahr einer schweren und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands aussetzen könnte, und — die nicht die im Rahmen des Möglichen erfolgende Befriedigung der Grundbedürfnisse dieses Drittstaatsangehörigen vorsehen, um zu gewährleisten, dass die medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten innerhalb der Fristen, während deren der betreffende Mitgliedstaat die Abschiebung des Drittstaatsangehörigen infolge der Einlegung des entsprechenden Rechtsbehelfs aufschieben muss, tatsächlich gewährt werden können. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 2. Dezember 2014.#A u. a. gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie.#Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Niederlande].#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2004/83/EG – Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 4 – Prüfung der Ereignisse und Umstände – Art und Weise der Prüfung – Zulassung bestimmter Beweise – Umfang der Befugnisse der zuständigen nationalen Behörden – Furcht vor Verfolgung wegen der sexuellen Ausrichtung – Unterschiede zwischen den Grenzen für die Prüfung der Aussagen und Unterlagen oder sonstigen Beweise zur behaupteten sexuellen Ausrichtung eines Asylbewerbers und den Grenzen für die Prüfung dieser Anhaltspunkte bei anderen Verfolgungsgründen – Richtlinie 2005/85/EG – Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Art. 13 – Anforderungen an die persönliche Anhörung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 1 – Würde des Menschen – Art. 7 – Achtung des Privat- und Familienlebens.#Verbundene Rechtssachen C‑148/13 bis C‑150/13.
62013CJ0148
ECLI:EU:C:2014:2406
2014-12-02T00:00:00
Gerichtshof, Sharpston
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62013CJ0148 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 2. Dezember 2014 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Richtlinie 2004/83/EG — Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus — Art. 4 — Prüfung der Ereignisse und Umstände — Art und Weise der Prüfung — Zulassung bestimmter Beweise — Umfang der Befugnisse der zuständigen nationalen Behörden — Furcht vor Verfolgung wegen der sexuellen Ausrichtung — Unterschiede zwischen den Grenzen für die Prüfung der Aussagen und Unterlagen oder sonstigen Beweise zur behaupteten sexuellen Ausrichtung eines Asylbewerbers und den Grenzen für die Prüfung dieser Anhaltspunkte bei anderen Verfolgungsgründen — Richtlinie 2005/85/EG — Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft — Art. 13 — Anforderungen an die persönliche Anhörung — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 1 — Würde des Menschen — Art. 7 — Achtung des Privat- und Familienlebens“ In den verbundenen Rechtssachen C‑148/13 bis C‑150/13 betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Niederlande) mit Entscheidungen vom 20. März 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 25. März 2013, in den Verfahren A (C‑148/13), B (C‑149/13), C (C‑150/13) gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie, Beteiligte: United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, L. Bay Larsen (Berichterstatter), T. von Danwitz, A. Ó Caoimh und J.‑C. Bonichot sowie der Richter A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund und J. L. da Cruz Vilaça, Generalanwältin: E. Sharpston, Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Februar 2014, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Herrn A, vertreten durch N. C. Blomjous, advocaat, — von Herrn B, vertreten durch C. Chen, advocaat, — des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR), vertreten durch P. Moreau als Bevollmächtigte im Beistand von M.‑E. Demetriou, QC, — der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Schillemans, M. Bulterman und B. Koopman als Bevollmächtigte, — der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte, — der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte, — der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und A. Wiedmann als Bevollmächtigte, — der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte, — der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und S. Menez als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou‑Durande und R. Troosters als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. Juli 2014 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, Berichtigung in ABl. 2005, L 204, S. 24) sowie der Art. 3 und 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen den Drittstaatsangehörigen A, B und C auf der einen Seite und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, im Folgenden: Staatssecretaris) auf der anderen Seite über die Ablehnung der Anträge von A, B und C auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis (Asyl) in den Niederlanden. Rechtlicher Rahmen Internationales Recht 3 Nach Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 Abs. 1 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten und am 22. April 1954 in Kraft getretenen Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Konvention), das durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt wurde, findet der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will“. Unionsrecht Richtlinie 2004/83 4 Nach dem dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 stellt die Genfer Konvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar. 5 Der zehnte Erwägungsgrund dieser Richtlinie lautet: „Die Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta … anerkannten Grundsätze. Die Richtlinie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde, des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen.“ 6 Nach dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie sollten Mindestnormen für die Bestimmung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft festgelegt werden, um die zuständigen innerstaatlichen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention zu leiten. 7 Nach dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 müssen gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 der Genfer Konvention eingeführt werden. 8 Gemäß Art. 2 bezeichnet im Sinne dieser Richtlinie der Ausdruck „… c) ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will … …“ 9 Der im Kapitel II („Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“) enthaltene Art. 4 der Richtlinie 2004/83 legt die Voraussetzungen für die Prüfung der Ereignisse und Umstände fest und bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen. (2)   Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter, familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen, Identitätsausweisen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen hierzu. (3)   Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist: a) alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden; b) die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte; c) die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind; d) die Frage, ob die Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes ausschließlich oder hauptsächlich aufgenommen wurden, um die für die Beantragung des internationalen Schutzes erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, um bewerten zu können, ob der Antragsteller im Fall einer Rückkehr in dieses Land aufgrund dieser Aktivitäten verfolgt oder ernsthaften Schaden erleiden würde; e) die Frage, ob vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen könnte. … (5)   Wenden die Mitgliedstaaten den in Absatz 1 Satz 1 genannten Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn a) der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu substanziieren; b) alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde; c) festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen; d) der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war; e) die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.“ 10 Art. 10 („Verfolgungsgründe“) der Richtlinie 2004/83 sieht vor: „(1)   Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes: … d) Eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn — die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und — die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet. Als sexuelle Ausrichtung dürfen keine Handlungen verstanden werden, die nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten als strafbar gelten; … …“ Richtlinie 2005/85/EG 11 Die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, Berichtigung in ABl. 2006, L 236, S. 36) steht nach ihrem achten Erwägungsgrund in Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta anerkannt wurden. 12 Art. 13 der Richtlinie 2005/85, der die Anforderungen an die persönliche Anhörung präzisiert, bestimmt in Abs. 3: „Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen, damit die persönliche Anhörung unter Bedingungen durchgeführt wird, die dem Antragsteller eine zusammenhängende Darlegung der Gründe seines Asylantrags gestatten. Zu diesem Zweck a) gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die anhörende Person ausreichend befähigt ist, um die persönlichen oder allgemeinen Umstände des Antrags einschließlich der kulturellen Herkunft oder der Verletzlichkeit des Antragstellers zu berücksichtigen, soweit dies möglich ist; … …“ Niederländisches Recht 13 Die einschlägige nationale Regelung findet sich in Art. 31 des Ausländergesetzes 2000 (Vreemdelingenwet 2000), Art. 3.111 der Ausländerverordnung 2000 (Vreemdelingenbesluit 2000) und Art. 3.35 der interministeriellen Ausländerverordnung 2000 (Voorschrift Vreemdelingen 2000). 14 Diese Bestimmungen wurden in den Abschnitten C2/2.1, C2/2.1.1 und C14/2.1 bis C14/2.4 des Ausländerrunderlasses 2000 (Vreemdelingencirculaire 2000) präzisiert. 15 Nach Art. 31 Abs. 1 des Ausländergesetzes 2000 in Verbindung mit Art. 3.111 Abs. 1 der Ausländerverordnung 2000 ist es Sache des betreffenden Asylbewerbers, die Gründe für die Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis (Asyl) glaubhaft zu machen, wobei er verpflichtet ist, von sich aus alle relevanten Informationen vorzulegen, damit die Behörde über seinen Antrag entscheiden kann. Der Staatssecretaris prüft, ob die Erteilung dieser Erlaubnis rechtlich begründet ist. 16 Nach Art. 3.111 Abs. 1 der Ausländerverordnung 2000 legt der Asylbewerber, wenn er die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß Art. 28 des Ausländergesetzes 2000 beantragt, alle Informationen einschließlich der relevanten Unterlagen vor, anhand deren der Staatssecretaris unter Mitwirkung des betreffenden Asylbewerbers prüfen kann, ob eine Rechtsgrundlage für die Erteilung dieser Erlaubnis besteht. 17 Gemäß Abschnitt C14/2.1 des Ausländerrunderlasses 2000 bezieht sich die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussagen eines Asylbewerbers auf die von ihm dargelegten Ereignisse und Umstände. Bei den tatsächlichen Umständen handelt es sich um die Angaben zur Person des betreffenden Asylbewerbers, u. a. seine sexuelle Ausrichtung. 18 Nach Abschnitt C14/2.2 dieses Runderlasses ist der Asylbewerber verpflichtet, die Wahrheit zu sagen und bei der möglichst vollständigen Feststellung des gesamten Sachverhalts uneingeschränkt mitzuwirken. Er hat die Einwanderungs- und Naturalisierungsstelle so schnell wie möglich über alle für die Bearbeitung seines Antrags wichtigen tatsächlichen Ereignisse und Umstände zu informieren. 19 Gemäß Abschnitt C14/2.3 des Runderlasses ist nicht ausgeschlossen, dass die fehlende Glaubhaftigkeit eines Teils der Aussagen eines Asylbewerbers auch die Glaubhaftigkeit der übrigen Teile seiner Aussagen beeinträchtigt. 20 Nach Abschnitt C14/2.4 des Runderlasses reicht es grundsätzlich aus, dass ein Asylbewerber seine Aussagen plausibel gemacht hat. Hierzu wird von ihm erwartet, dass er Unterlagen zur Stützung seines Antrags vorlegt. Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussagen, die der betreffende Asylbewerber zur Stützung seines Antrags gemacht hat, geht es jedoch nicht darum, ob und inwieweit sich diese beweisen lassen. In vielen Fällen haben Asylbewerber nämlich dargetan, dass sie nicht in der Lage seien, ihre Aussagen zu beweisen, und dass von ihnen vernünftigerweise nicht verlangt werden könne, dass sie überzeugende Beweise zur Stützung ihrer Darstellung beibrächten. 21 Der Staatssecretaris kann die Aussagen gemäß Art. 3.35 Abs. 3 der interministeriellen Ausländerverordnung 2000 als glaubhaft ansehen und deshalb davon absehen, einen Nachweis zu verlangen, wenn die generelle Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers festgestellt worden ist. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 22 Die Drittstaatsangehörigen A, B und C beantragten jeweils eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis (Asyl) in den Niederlanden. Zur Stützung ihrer Anträge machten sie geltend, sie befürchteten, in ihrem jeweiligen Herkunftsland insbesondere wegen ihrer Homosexualität verfolgt zu werden. 23 Der erste Asylantrag von A wurde vom Staatssecretaris als nicht glaubhaft abgelehnt. 24 A focht diesen ersten Ablehnungsbescheid nicht an und stellte einen zweiten Asylantrag mit dem Hinweis, er sei bereit, sich einem „Test“ zum Nachweis seiner Homosexualität zu unterziehen oder eine homosexuelle Handlung vorzunehmen, um zu belegen, dass er tatsächlich die behauptete sexuelle Ausrichtung besitze. 25 Mit Bescheid vom 12. Juli 2011 lehnte der Staatssecretaris den zweiten Antrag von A mit der Begründung ab, die von ihm behauptete sexuelle Ausrichtung sei nach wie vor nicht glaubhaft. Der Staatssecretaris war der Ansicht, es dürfe nicht allein auf die behauptete sexuelle Ausrichtung des Asylbewerbers abgestellt werden, ohne dass deren Glaubhaftigkeit geprüft werde. 26 Am 1. August 2012 lehnte der Staatssecretaris den Antrag von B mit der Begründung ab, die Aussagen zu seiner Homosexualität seien vage, oberflächlich und nicht glaubhaft. Da B aus einem Land komme, in dem Homosexualität nicht akzeptiert sei, wäre darüber hinaus von ihm zu erwarten gewesen, dass er seine Gefühle und den inneren Prozess seiner sexuellen Ausrichtung näher erläutern könne. 27 C stellte einen ersten Asylantrag aus anderen Gründen als der Verfolgung wegen seiner Homosexualität; dieser Antrag wurde vom Staatssecretaris abgelehnt. 28 C focht diesen ersten Bescheid nicht an und stellte einen zweiten Asylantrag, der dieses Mal auf die Furcht vor Verfolgung in seinem Herkunftsland wegen seiner Homosexualität gestützt war. Im Rahmen dieses zweiten Antrags trug C vor, dass er sich zu seiner homosexuellen Neigung erst nach Verlassen seines Herkunftslandes habe bekennen können. Zur Stützung seines Antrags übermittelte C den für die Prüfung des Antrags zuständigen Behörden zudem eine Videoaufnahme intimer Handlungen mit einer Person gleichen Geschlechts. 29 Mit Bescheid vom 8. Oktober 2012 lehnte der Staatssecretaris den Asylantrag von C mit der Begründung ab, dass seine Aussagen zu seiner Homosexualität nicht glaubhaft seien. Der Staatssecretaris führte aus, dass C seine behauptete sexuelle Ausrichtung im ersten Asylantrag hätte geltend machen müssen, dass er nicht klar erläutert habe, wie er sich seiner Homosexualität bewusst geworden sei, und dass er die Fragen nach niederländischen Organisationen zum Schutz der Rechte Homosexueller nicht habe beantworten können. 30 Nach der Ablehnung ihrer Anträge auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltserlaubnis (Asyl) legten A, B und C gegen die Ablehnungsbescheide Rechtsbehelfe bei der Rechtbank ’s-Gravenhage ein. 31 Mit Urteilen vom 9. September 2011 und vom 30. Oktober 2012 wies die Rechtbank ’s-Gravenhage die Rechtsbehelfe von A und C als unbegründet zurück. Das Gericht war der Auffassung, das A und C in ihrem jeweiligen Rechtsbehelf die ersten Ablehnungsbescheide des Staatssecretaris hätten anfechten müssen und dass sie im Rahmen des zweiten Asylantragsverfahrens ihre Aussagen zu ihrer behaupteten Homosexualität nicht glaubhaft gemacht hätten. 32 Mit Urteil vom 23. August 2012 wurde auch der von B gegen den Ablehnungsbescheid des Staatssecretaris eingelegte Rechtsbehelf zurückgewiesen. Die Rechtbank ’s-Gravenhage war der Ansicht, dass die Schlussfolgerung des Staatssecretaris, die Aussagen des B zu seiner Homosexualität seien nicht glaubhaft, vertretbar sei. 33 A, B und C legten gegen diese Urteile Rechtsmittel beim Raad van State ein. 34 Im Rahmen der Rechtsmittelverfahren machen A, B und C insbesondere geltend, dass die für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Behörden ihren Bescheiden, da die sexuelle Ausrichtung von Asylbewerbern nicht objektiv feststellbar sei, allein deren Erklärungen zu ihrer behaupteten Ausrichtung zugrunde zu legen hätten. 35 Den Rechtsmittelführern des Ausgangsverfahrens zufolge stellen die Behörden im Rahmen der Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussagen eines Asylbewerbers Fragen zur behaupteten sexuellen Ausrichtung, die insbesondere die Wahrung seiner Würde und sein Recht auf Achtung seines Privatlebens beeinträchtigten und darüber hinaus weder die von ihm während der Anhörungen möglicherweise empfundene Scham noch die kulturell bedingten Hemmungen, offen über diese Ausrichtung zu sprechen, berücksichtigten. Dass der Staatssecretaris das Vorbringen der Asylbewerber für nicht glaubhaft halte, dürfe außerdem nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass auch die sexuelle Ausrichtung selbst nicht glaubhaft sei. 36 Der Staatssecretaris führt aus, weder aus der Richtlinie 2004/83 noch aus der Charta ergebe sich, dass der Entscheidung allein die Erklärungen von Asylbewerbern zu ihrer behaupteten sexuellen Ausrichtung zugrunde zu legen seien. Es sei jedoch nicht zu prüfen, ob Asylbewerber tatsächlich die behauptete sexuelle Ausrichtung besäßen, sondern vielmehr, ob sie plausibel dargetan hätten, dass sie einer sozialen Gruppe im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2004/83 angehörten oder dass die Verfolger sie im Sinne von Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie als einer solchen Gruppe angehörende Personen betrachteten. 37 Im Übrigen könnten Asylbewerber den Nachweis ihrer Homosexualität selten anders als durch ihre eigenen Aussagen erbringen, so dass, wenn diese Aussagen für kohärent und plausibel befunden würden und die generelle Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers festgestellt worden sei, im Zweifel zu ihren Gunsten zu entscheiden sei. 38 Nach Ansicht des Staatssecretaris unterscheidet sich die von ihm vorzunehmende Beurteilung der Glaubhaftigkeit der sexuellen Ausrichtung von Asylbewerbern nicht von der Beurteilung bezüglich anderer Verfolgungsgründe. Er trage jedoch den spezifischen Problemen im Zusammenhang mit Aussagen zur sexuellen Ausrichtung Rechnung. Die mit den Anhörungen von Asylbewerbern betrauten Mitarbeiter würden u. a. angewiesen, keine direkten Fragen dazu zu stellen, wie die Asylbewerber ihre Ausrichtung auslebten. Außerdem werde Bildern intimer Handlungen, die von Asylbewerbern als Nachweis vorgelegt würden, keine Bedeutung beigemessen, da sie nur die Vornahme sexueller Handlungen als solche und nicht die behauptete sexuelle Ausrichtung belegten. 39 Der Raad van State führt aus, dass weder Art. 4 der Richtlinie 2004/83 noch die geltend gemachten Bestimmungen der Charta den Staatssecretaris verpflichteten, die behauptete sexuelle Ausrichtung von Asylbewerbern allein aufgrund ihrer Aussagen als erwiesen anzusehen. Im Übrigen unterscheide sich die Prüfung der sexuellen Ausrichtung von Asylbewerbern nicht von der Prüfung anderer Verfolgungsgründe. 40 Der Raad van State stellt sich jedoch die Frage, ob Art. 4 der Richtlinie 2004/83 sowie die Art. 3 und 7 der Charta der Prüfung der sexuellen Ausrichtung von Asylbewerbern Grenzen setzen. 41 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, die in diesen Bestimmungen der Charta garantierten Rechte könnten dadurch, dass dem Asylbewerber Fragen gestellt würden, in gewissem Maß verletzt werden. 42 Die Gefahr einer Verletzung der in den Art. 3 und 7 der Charta verankerten Grundrechte von Asylbewerbern könne unabhängig von der Methode, die in dem betreffenden Mitgliedstaat zur Prüfung des Vorliegens der behaupteten sexuellen Ausrichtung herangezogen werde, nicht ausgeschlossen werden. 43 Unter diesen Umständen hat der Raad van State beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage, die in den Rechtssachen C‑148/13 bis C‑150/13 gleich lautet, zur Vorabentscheidung vorzulegen: Welche Grenzen setzen Art. 4 der Richtlinie 2004/83 sowie die Charta, insbesondere deren Art. 3 und 7, der Art und Weise, wie die Glaubhaftigkeit einer behaupteten sexuellen Ausrichtung zu prüfen ist, und unterscheiden sich diese Grenzen von denen, die für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der anderen Verfolgungsgründe gelten, und wenn ja, inwieweit? 44 Mit Beschluss vom 19. April 2013 hat der Präsident des Gerichtshofs die Rechtssachen C‑148/13 bis C‑150/13 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden. Zur Vorlagefrage Vorbemerkungen 45 Aus den Erwägungsgründen 3, 16 und 17 der Richtlinie 2004/83 geht hervor, dass die Genfer Konvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt und dass die Bestimmungen dieser Richtlinie über die Voraussetzungen der Anerkennung als Flüchtling und über den Inhalt des Flüchtlingen zu gewährenden Schutzes erlassen wurden, um die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Genfer Konvention auf der Grundlage gemeinsamer Konzepte und Kriterien zu leiten (Urteil N., C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 27). 46 Die Bestimmungen der Richtlinie 2004/83 sind daher im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention und einschlägigen anderen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt, auszulegen. Diese Auslegung muss zudem, wie dem zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie zu entnehmen ist, die Achtung der in der Charta anerkannten Rechte gewährleisten (Urteil X u. a., C‑199/12 bis C‑201/12, EU:C:2013:720, Rn. 40). 47 Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Richtlinie 2004/83 keine Verfahrensvorschriften für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz enthält und deshalb auch nicht die dem Asylbewerber zu gewährenden Verfahrensgarantien bestimmt. Vielmehr legt die Richtlinie 2005/85 Mindestnormen für die Verfahren zur Prüfung der Anträge fest und regelt die Rechte der Asylbewerber, die im Rahmen der Prüfung der Fälle der Ausgangsverfahrens zu berücksichtigen sind. Zur Vorlagefrage 48 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 der Richtlinie 2004/83 im Licht der Bestimmungen der Charta dahin auszulegen ist, dass er den zuständigen nationalen Behörden, die unter der Kontrolle der Gerichte tätig werden, bestimmte Grenzen bei der Prüfung der Ereignisse und Umstände setzt, die die behauptete sexuelle Ausrichtung eines Asylbewerbers betreffen, dessen Antrag auf die Furcht vor Verfolgung wegen dieser Ausrichtung gestützt ist. 49 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren – wonach die Behörden, die für die Prüfung eines Asylantrags zuständig seien, der auf die Furcht vor Verfolgung wegen der sexuellen Ausrichtung des Asylbewerbers gestützt sei, dessen behauptete Ausrichtung allein aufgrund seiner Aussagen als erwiesen anzusehen hätten – diese Aussagen angesichts des besonderen Kontexts von Asylanträgen im Verfahren der Prüfung der Ereignisse und Umstände gemäß Art. 4 der Richtlinie 2004/83 nur den Ausgangspunkt bilden können. 50 Nach dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie können die Mitgliedstaaten es nämlich im Rahmen dieser Prüfung als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen, wobei der Mitgliedstaat unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte prüft. 51 Darüber hinaus ergibt sich aus Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2004/83, dass die Aussagen von Asylbewerbern zu ihrer behaupteten sexuellen Ausrichtung eines Nachweises bedürfen können, wenn die in den Buchst. a bis e dieser Bestimmung aufgeführten Voraussetzungen nicht erfüllt sind. 52 Folglich können, auch wenn der Asylbewerber seine sexuelle Ausrichtung anzugeben hat, bei der es sich um einen Aspekt seiner persönlichen Sphäre handelt, Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die mit der Furcht vor Verfolgung wegen der sexuellen Ausrichtung begründet werden, ebenso wie Anträge, die auf andere Verfolgungsgründe gestützt werden, Gegenstand eines Prüfverfahrens gemäß Art. 4 der Richtlinie 2004/83 sein. 53 Die Art und Weise, in der die zuständigen Behörden die Aussagen und Unterlagen oder sonstigen Beweise, auf die diese Anträge gestützt werden, prüfen, muss jedoch in Einklang mit den Bestimmungen der Richtlinien 2004/83 und 2005/85 sowie – entsprechend den Erwägungsgründen 10 und 8 dieser Richtlinien – mit den in der Charta garantierten Grundrechten wie dem in Art. 1 der Charta verankerten Recht auf Wahrung der Würde des Menschen und dem in Art. 7 der Charta garantierten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens stehen. 54 Art. 4 der Richtlinie 2004/83 gilt zwar für alle Anträge auf internationalen Schutz unabhängig von den Verfolgungsgründen, auf die diese Anträge gestützt werden, doch müssen die zuständigen Behörden unter Wahrung der in der Charta garantierten Rechte die Art und Weise, in der sie die Aussagen und Unterlagen oder sonstigen Beweise prüfen, den besonderen Merkmalen jeder Kategorie von Asylanträgen anpassen. 55 Die Prüfung der Ereignisse und Umstände gemäß Art. 4 der Richtlinie 2004/83 vollzieht sich, wie in Rn. 64 des Urteils M. (C‑277/11, EU:C:2012:744) entschieden worden ist, in zwei getrennten Abschnitten. Der erste Abschnitt betrifft die Feststellung der tatsächlichen Umstände, die Beweise zur Stützung des Antrags darstellen können, während der zweite Abschnitt die rechtliche Würdigung dieser Umstände betrifft, die in der Entscheidung besteht, ob die in den Art. 9 und 10 oder 15 der Richtlinie 2004/83 vorgesehenen materiellen Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes in Anbetracht der Umstände, die einen konkreten Fall auszeichnen, erfüllt sind. 56 Im Rahmen des ersten Abschnitts, in den die Fragen des vorlegenden Gerichts im jeweiligen Ausgangsverfahren einzuordnen sind, können die Mitgliedstaaten es zwar nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 normalerweise als Pflicht des Antragstellers betrachten, alle zur Begründung seines Antrags erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen – wobei der Antragsteller im Übrigen am Besten in der Lage ist, Gesichtspunkte vorzutragen, die seine eigene sexuelle Ausrichtung belegen ‐, doch ist der betreffende Mitgliedstaat nach dieser Vorschrift verpflichtet, mit dem Antragsteller im Abschnitt der Bestimmung der maßgeblichen Anhaltspunkte des Antrags zusammenzuarbeiten (vgl. in diesem Sinne Urteil M., EU:C:2012:744, Rn. 65). 57 Hierzu ist festzustellen, dass diese Prüfung gemäß Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 individuell zu erfolgen hat und die individuelle Lage sowie die persönlichen Umstände des Antragstellers einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter zu berücksichtigen hat, um bewerten zu können, ob in Anbetracht dieser Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind. 58 Wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bedürfen außerdem Aussagen eines Asylbewerbers, für die Unterlagen oder sonstige Beweise fehlen, im Rahmen der Prüfung durch die zuständigen Behörden nach Art. 4 der Richtlinie keines Nachweises, wenn die kumulativen Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 5 Buchst. a bis e der Richtlinie erfüllt sind. 59 Was die Art und Weise betrifft, in der die Aussagen und Unterlagen oder sonstigen Beweise zu prüfen sind, um die es im jeweiligen Ausgangsverfahren geht, ist die vorliegende Untersuchung, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, darauf zu beschränken, ob es mit den Richtlinien 2004/83 und 2005/85 sowie mit der Charta in Einklang steht, dass die zuständigen Behörden zum einen die Prüfung anhand von insbesondere auf Stereotypen zu Homosexuellen beruhenden Befragungen oder anhand von detaillierten Befragungen zu den sexuellen Praktiken eines Asylbewerbers durchführen und die Möglichkeit haben, zu akzeptieren, dass sich der Asylbewerber einem „Test“ zum Nachweis seiner Homosexualität unterzieht und/oder freiwillig Videoaufnahmen intimer Handlungen vorlegt, und dass die zuständigen Behörden zum anderen die Glaubhaftigkeit allein deshalb verneinen können, weil der Asylbewerber die behauptete sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe geltend gemacht hat. 60 Was erstens die Prüfungen anhand von Befragungen des betreffenden Asylbewerbers zu seiner Kenntnis von Vereinigungen zum Schutz der Rechte Homosexueller und von Einzelheiten zu diesen Vereinigungen angeht, implizieren diese Prüfungen nach Auffassung des Rechtsmittelführers des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑150/13, dass die Behörden ihrer Beurteilung stereotype Vorstellungen von den Verhaltensweisen Homosexueller und nicht die konkrete Situation jedes Asylbewerbers zugrunde legten. 61 Hierzu ist zu beachten, dass die zuständigen Behörden nach Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 bei der Prüfung die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers und nach Art. 13 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 bei der Anhörung die persönlichen oder allgemeinen Umstände des Asylantrags zu berücksichtigen haben. 62 Befragungen, die sich auf stereotype Vorstellungen beziehen, können zwar den zuständigen Behörden bei der Prüfung von Nutzen sein, doch entspricht eine Prüfung von Anträgen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die allein auf stereotypen Vorstellungen in Verbindung mit Homosexuellen beruht, nicht den Anforderungen der in der vorigen Randnummer genannten Bestimmungen, da sie den Behörden nicht erlaubt, der individuellen und persönlichen Situation des betreffenden Asylbewerbers Rechnung zu tragen. 63 Dass ein Asylbewerber nicht in der Lage ist, solche Fragen zu beantworten, kann deshalb für sich genommen kein ausreichender Grund sein, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass er unglaubwürdig ist, da dieser Ansatz den Anforderungen von Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 und von Art. 13 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 zuwiderliefe. 64 Zweitens sind die nationalen Behörden zwar berechtigt, gegebenenfalls Befragungen durchzuführen, anhand deren die Ereignisse und Umstände, die die behauptete sexuelle Ausrichtung eines Asylbewerbers betreffen, geprüft werden sollen, doch verstoßen Befragungen zu den Einzelheiten seiner sexuellen Praktiken gegen die in der Charta garantierten Grundrechte, insbesondere gegen das in Art. 7 der Charta verankerte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. 65 Was drittens die Möglichkeit anbelangt, dass die nationalen Behörden, wie es einige Rechtsmittelführer der Ausgangsverfahren vorgeschlagen haben, akzeptieren, dass Antragsteller homosexuelle Handlungen vornehmen, sich etwaigen „Tests“ zum Nachweis ihrer Homosexualität unterziehen oder auch Beweise wie Videoaufnahmen intimer Handlungen vorlegen, würde durch derartige Mittel – abgesehen davon, dass sie nicht zwangsläufig Beweiskraft besitzen – die Würde des Menschen verletzt, deren Achtung in Art. 1 der Charta garantiert ist. 66 Diese Art von Beweisen zuzulassen oder zu akzeptieren, würde zudem einen Anreiz für andere Antragsteller schaffen und de facto darauf hinauslaufen, dass von ihnen solche Beweise verlangt würden. 67 Viertens ist zur Möglichkeit, dass die zuständigen Behörden die Glaubhaftigkeit u. a. dann verneinen, wenn der Antragsteller die behauptete sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe geltend gemacht hat, das Folgende festzustellen. 68 Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 können es die Mitgliedstaaten als Pflicht des Antragstellers betrachten, „so schnell wie möglich“ alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. 69 Angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, kann jedoch allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, ihre Homosexualität nicht sofort angegeben hat, nicht geschlossen werden, dass sie unglaubwürdig ist. 70 Außerdem ist zu beachten, dass die in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83 vorgesehene Pflicht, „so schnell wie möglich“ alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen, dadurch abgemildert wird, dass die zuständigen Behörden nach Art. 13 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 und Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83 bei der Anhörung die persönlichen oder allgemeinen Umstände des Antrags einschließlich der Verletzlichkeit des Antragstellers zu berücksichtigen haben und den Antrag individuell prüfen müssen, wobei die individuelle Lage und die persönlichen Umstände jedes Antragstellers zu berücksichtigen sind. 71 Es liefe auf einen Verstoß gegen das in der vorigen Randnummer dargestellte Erfordernis hinaus, wenn ein Asylbewerber allein deshalb als unglaubwürdig angesehen würde, weil er seine sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe offenbart hat. 72 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage in den Rechtssachen C‑148/13 bis C‑150/13 zu antworten: — Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 und Art. 13 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 sind dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden, die unter der Kontrolle der Gerichte tätig werden, im Rahmen ihrer Prüfung der Ereignisse und Umstände, die die behauptete sexuelle Ausrichtung eines Asylbewerbers betreffen, dessen Antrag auf die Furcht vor Verfolgung wegen dieser Ausrichtung gestützt ist, dessen Aussagen und die zur Stützung seines Antrags vorgelegten Unterlagen oder sonstigen Beweise nicht anhand von Befragungen beurteilen dürfen, die allein auf stereotypen Vorstellungen von Homosexuellen beruhen. — Art. 4 der Richtlinie 2004/83 ist im Licht von Art. 7 der Charta dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden im Rahmen dieser Prüfung keine detaillierten Befragungen zu den sexuellen Praktiken eines Asylbewerbers durchführen dürfen. — Art. 4 der Richtlinie 2004/83 ist im Licht von Art. 1 der Charta dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden im Rahmen dieser Prüfung keine Beweise der Art akzeptieren dürfen, dass der betreffende Asylbewerber homosexuelle Handlungen vornimmt, sich „Tests“ zum Nachweis seiner Homosexualität unterzieht oder auch Videoaufnahmen solcher Handlungen vorlegt. — Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83 und Art. 13 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 sind dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden im Rahmen dieser Prüfung nicht allein deshalb zu dem Ergebnis gelangen dürfen, dass die Aussagen des betreffenden Asylbewerbers nicht glaubhaft sind, weil er seine behauptete sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe geltend gemacht hat. Kosten 73 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 4 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes und Art. 13 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft sind dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden, die unter der Kontrolle der Gerichte tätig werden, im Rahmen ihrer Prüfung der Ereignisse und Umstände, die die behauptete sexuelle Ausrichtung eines Asylbewerbers betreffen, dessen Antrag auf die Furcht vor Verfolgung wegen dieser Ausrichtung gestützt ist, dessen Aussagen und die zur Stützung seines Antrags vorgelegten Unterlagen oder sonstigen Beweise nicht anhand von Befragungen beurteilen dürfen, die allein auf stereotypen Vorstellungen von Homosexuellen beruhen. Art. 4 der Richtlinie 2004/83 ist im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden im Rahmen dieser Prüfung keine detaillierten Befragungen zu den sexuellen Praktiken eines Asylbewerbers durchführen dürfen. Art. 4 der Richtlinie 2004/83 ist im Licht von Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden im Rahmen dieser Prüfung keine Beweise der Art akzeptieren dürfen, dass der betreffende Asylbewerber homosexuelle Handlungen vornimmt, sich „Tests“ zum Nachweis seiner Homosexualität unterzieht oder auch Videoaufnahmen solcher Handlungen vorlegt. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83 und Art. 13 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 sind dahin auszulegen, dass die zuständigen nationalen Behörden im Rahmen dieser Prüfung nicht allein deshalb zu dem Ergebnis gelangen dürfen, dass die Aussagen des betreffenden Asylbewerbers nicht glaubhaft sind, weil er seine behauptete sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe geltend gemacht hat. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 17. Juli 2014.#Strafverfahren gegen Mohammad Ferooz Qurbani.#Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Bamberg.#Vorabentscheidungsersuchen – Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge – Art. 31 – Drittstaatsangehöriger, der in einen Mitgliedstaat über einen anderen Mitgliedstaat eingereist ist – Inanspruchnahme von Schleuserdiensten – Unerlaubte Einreise und unerlaubter Aufenthalt – Vorlage eines gefälschten Passes – Strafrechtliche Sanktionen – Unzuständigkeit des Gerichtshofs.#Rechtssache C‑481/13.
62013CJ0481
ECLI:EU:C:2014:2101
2014-07-17T00:00:00
Sharpston, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62013CJ0481 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 17. Juli 2014 (*1) „Vorabentscheidungsersuchen — Genfer Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge — Art. 31 — Drittstaatsangehöriger, der in einen Mitgliedstaat über einen anderen Mitgliedstaat eingereist ist — Inanspruchnahme von Schleuserdiensten — Unerlaubte Einreise und unerlaubter Aufenthalt — Vorlage eines gefälschten Passes — Strafrechtliche Sanktionen — Unzuständigkeit des Gerichtshofs“ In der Rechtssache C‑481/13 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Bamberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. August 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 9. September 2013, in einem Strafverfahren gegen Mohammad Ferooz Qurbani erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter M. Safjan und J. Malenovský sowie der Richterinnen A. Prechal und K. Jürimäe, Generalanwältin: E. Sharpston, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Herrn Qurbani, vertreten durch Rechtsanwalt M. Koch, — der Staatsanwaltschaft Würzburg, vertreten durch D. Geuder, Leitender Oberstaatsanwalt, — der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und A. Wiedmann als Bevollmächtigte, — der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte, — der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 31 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten und am 22. April 1954 in Kraft getretenen Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention), wie es durch das am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt wurde. 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Qurbani wegen Urkundenfälschung, unerlaubter Einreise, unerlaubten Aufenthalts und unerlaubten Aufenthalts ohne Pass. Rechtlicher Rahmen Internationales Recht Genfer Flüchtlingskonvention 3 Art. 31 („Flüchtlinge, die sich nicht rechtmäßig im Aufnahmeland aufhalten“) der Genfer Flüchtlingskonvention lautet: „1.   Die vertragschließenden Staaten werden wegen unrechtmäßiger Einreise oder Aufenthalts keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit im Sinne von Artikel 1 bedroht waren und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten, vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen. 2.   Die vertragschließenden Staaten werden den Flüchtlingen beim Wechsel des Aufenthaltsortes keine Beschränkungen auferlegen, außer denen, die notwendig sind; diese Beschränkungen werden jedoch nur so lange Anwendung finden, wie die Rechtsstellung dieser Flüchtlinge im Aufnahmeland geregelt oder es ihnen gelungen ist, in einem anderen Land Aufnahme zu erhalten. Die vertragschließenden Staaten werden diesen Flüchtlingen eine angemessene Frist sowie alle notwendigen Erleichterungen zur Aufnahme in einem anderen Land gewähren.“ Unionsrecht Richtlinie 2004/83/EG 4 In Art. 14 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, Berichtigung ABl. 2005, L 204, S. 24) heißt es: „… (4)   Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn a) es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält; b) er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde. (5)   In den in Absatz 4 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten entscheiden, einem Flüchtling eine Rechtsstellung nicht zuzuerkennen, solange noch keine Entscheidung darüber gefasst worden ist. (6)   Personen, auf die die Absätze 4 oder 5 Anwendung finden, können die in den Artikeln 3, 4, 16, 22, 31, 32 und 33 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Rechte oder vergleichbare Rechte geltend machen, sofern sie sich in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten.“ Deutsches Recht 5 § 267 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs bestimmt: „Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde herstellt, eine echte Urkunde verfälscht oder eine unechte oder verfälschte Urkunde gebraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 6 Herr Qurbani ist ein afghanischer Staatsangehöriger, der mittels eines Schleusers über den Iran und die Türkei nach Griechenland gelangte. 7 Am 17. August 2010 verließ er Griechenland, um mit einem gefälschten pakistanischen Pass, den er sich über einen weiteren Schleuser besorgt haben soll, nach München zu fliegen. 8 Am Flughafen München wurde Herr Qurbani festgenommen, nachdem bei der Einreisekontrolle die Fälschung des von ihm vorgelegten Passes erkannt worden war. 9 Er gab sogleich an, dass er die Anerkennung als Flüchtling beantragen wolle. 10 Am 18. August 2010 wurde Herr Qurbani an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weitergeleitet, wo er einen formellen Antrag in dem genannten Sinne stellte. 11 Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts ergibt sich, dass das Verfahren über diesen Asylantrag noch nicht abgeschlossen ist. 12 Am 11. April 2011 beantragte die Staatsanwaltschaft Würzburg beim Amtsgericht den Erlass eines Strafbefehls gegen Herrn Qurbani wegen unerlaubter Einreise, unerlaubten Aufenthalts, unerlaubten Aufenthalts ohne Pass und Urkundenfälschung. Gegen den vom Amtsgericht erlassenen Strafbefehl legte Herr Qurbani bei eben diesem Gericht Einspruch ein. 13 Mit Urteil vom 4. Februar 2013 sprach das Amtsgericht Würzburg Herrn Qurbani von allen Anklagepunkten frei. 14 Es war der Ansicht, dass das im deutschen Grundgesetz verankerte Asylrecht einer Verurteilung von Herrn Qurbani wegen unerlaubten Aufenthalts und unerlaubten Aufenthalts ohne Pass entgegenstehe, während hinsichtlich der Vergehen der unerlaubten Einreise und der Urkundenfälschung der Strafaufhebungsgrund des Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention greife. 15 Die Staatsanwaltschaft Würzburg legte Revision beim Oberlandesgericht Bamberg ein und machte im Wesentlichen geltend, Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention sei im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da der Betroffene in das deutsche Hoheitsgebiet nicht unmittelbar aus dem Staat, in dem er verfolgt werde, sondern über einen anderen Mitgliedstaat, nämlich die Hellenische Republik, eingereist sei. Außerdem berühre dieser Artikel nur die unerlaubte Einreise und könne den deutschen Behörden nicht die Strafgewalt für Begleitdelikte entziehen. 16 Vor diesem Hintergrund hat das Oberlandesgericht Bamberg, das Zweifel hinsichtlich der zutreffenden Auslegung von Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention hegt, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Erfasst der persönliche Strafaufhebungsgrund des Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention über seinen Wortlaut hinaus auch eine Urkundenfälschung, die durch Vorlage eines gefälschten Passes gegenüber einem Polizeibeamten anlässlich der Einreise nach Deutschland auf dem Luftweg begangen wurde, wenn dieses Gebrauchmachen von dem gefälschten Pass zur Geltendmachung von Asyl in diesem Staat gar nicht erforderlich ist? 2. Lässt die Inanspruchnahme von Schleuserdiensten die Berufung auf Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention entfallen? 3. Ist das Tatbestandsmerkmal in Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention der „unmittelbaren“ Herkunft aus einem Gebiet, in dem das Leben oder die Freiheit des Betroffenen bedroht war, dahin gehend auszulegen, dass diese Voraussetzung auch dann erfüllt ist, wenn der Betroffene zunächst in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (hier: die Hellenische Republik) eingereist war und von dort aus in einen weiteren Mitgliedstaat (hier: die Bundesrepublik Deutschland) weiterreist und dort um Asyl nachsucht? Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 17 Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention dahin auszulegen ist, dass eine Person einerseits in dem Mitgliedstaat, in dem sie Asyl beantragt, für Vergehen im Zusammenhang mit ihrer unerlaubten Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wie insbesondere die unerlaubte Einreise mit Hilfe von Schleusern und die Verwendung eines gefälschten Ausweisdokuments nicht strafrechtlich belangt werden kann und dass sie sich andererseits nicht auf die in diesem Artikel vorgesehene Strafbefreiung berufen kann, soweit sie in das Hoheitsgebiet des besagten Mitgliedstaats über einen anderen Mitgliedstaat der Union gelangt ist. 18 Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen wirft zuallererst die Frage nach der Zuständigkeit des Gerichtshofs auf. 19 Die deutsche und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission machen insoweit geltend, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der Vorlagefragen, die darauf abzielten, dass der Gerichtshof unmittelbar Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention auslege, so wie sie gestellt seien, nicht zuständig. 20 Der Gerichtshof kann angesichts der Tatsache, dass die Genfer Flüchtlingskonvention keine Klausel enthält, die ihm eine Zuständigkeit zuweist, eine Auslegung der Bestimmungen – hier Art. 31 – dieser Konvention, um die er ersucht wird, nur vornehmen, wenn eine solche Wahrnehmung seiner Aufgaben von Art. 267 AEUV gedeckt ist (Urteil TNT Express Nederland, C‑533/08, EU:C:2010:243, Rn. 58). 21 Nach ständiger Rechtsprechung erstreckt sich aber die Befugnis zu Auslegungen im Wege der Vorabentscheidung, wie sie sich aus der letztgenannten Vorschrift ergibt, nur auf die Rechtsvorschriften, die zum Unionsrecht gehören (Urteil TNT Express Nederland, EU:C:2010:243, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). 22 In Bezug auf internationale Übereinkünfte steht fest, dass diejenigen, die von der Europäischen Union geschlossen worden sind, integrierender Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind und daher Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein können. Dagegen ist der Gerichtshof grundsätzlich nicht dafür zuständig, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens internationale Übereinkünfte auszulegen, die zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten geschlossen worden sind (Urteil TNT Express Nederland, EU:C:2010:243, Rn. 60 und 61 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 23 Nur wenn und soweit die Union die Zuständigkeiten übernommen hat, die zuvor von den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich einer nicht von der Union geschlossenen internationalen Übereinkunft ausgeübt wurden, und die Bestimmungen dieser Übereinkunft damit für die Union bindend geworden sind, ist der Gerichtshof für die Auslegung einer solchen Übereinkunft zuständig (Urteil TNT Express Nederland, EU:C:2010:243, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung). 24 Im Rahmen der Errichtung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wurden zwar mehrere Rechtstexte der Union im Anwendungsbereich der Genfer Flüchtlingskonvention angenommen, doch steht im vorliegenden Fall fest, dass bestimmte Zuständigkeiten in diesem Bereich bei den Mitgliedstaaten verblieben sind, insbesondere, was den von Art. 31 dieser Konvention abgedeckten Bereich betrifft. Der Gerichtshof kann daher für eine unmittelbare Auslegung des Art. 31 oder irgendeines anderen Artikels der Genfer Flüchtlingskonvention nicht zuständig sein. 25 Der Umstand, dass Art. 78 AEUV klarstellt, dass die gemeinsame Politik im Bereich Asyl mit der Genfer Flüchtlingskonvention im Einklang stehen muss, und dass Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union betont, dass das Recht auf Asyl nach Maßgabe dieser Konvention und des Protokolls vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge gewährleistet wird, kann die in der vorstehenden Randnummer getroffene Feststellung der Unzuständigkeit des Gerichtshofs nicht in Frage stellen. 26 Auch wenn außerdem, wie bereits in Rn. 71 des Urteils B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661) entschieden, ein eindeutiges Unionsinteresse daran besteht, dass zur Vermeidung künftiger Auslegungsdivergenzen die Bestimmungen der internationalen Übereinkünfte, die in das nationale Recht und in das Unionsrecht übernommen worden sind, unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie herangezogen werden, einheitlich ausgelegt werden, ist festzustellen, dass Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Text des Unionsrechts übernommen wurde, obschon mehrere unionsrechtliche Bestimmungen auf ihn Bezug nehmen. 27 Die Kommission weist insoweit in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hin, dass Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2004/83 auf Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention verweise. 28 Der Gerichtshof hat zwar in den Urteilen Bolbol (C‑31/09, EU:C:2010:351) und Abed El Karem El Kott u. a. (C‑364/11, EU:C:2012:826) seine Zuständigkeit für die Auslegung derjenigen Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention bejaht, auf die in den Bestimmungen des Unionsrechts verwiesen wird, doch ist festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen keine Vorschrift des Unionsrechts nennt, in der auf Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention verwiesen würde, und insbesondere Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2004/83 nicht erwähnt. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass das Vorabentscheidungsersuchen nichts enthält, was die Annahme zuließe, dass die letztgenannte Bestimmung im Rahmen des Ausgangsverfahrens erheblich wäre. 29 Nach alledem ist die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung von Art. 31 der Genfer Flüchtlingskonvention in der vorliegenden Rechtssache nicht gegeben. 30 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der vom Oberlandesgericht Bamberg zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht zuständig ist. Kosten 31 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Oberlandesgericht Bamberg in der Rechtssache C‑481/13 mit Entscheidung vom 29. August 2013 zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht zuständig. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 5. Juni 2014.#Bashir Mohamed Ali Mahdi.#Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad.#Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 15 – Inhaftnahme – Haftverlängerung – Verpflichtungen der Verwaltungs- oder Justizbehörde – Gerichtliche Nachprüfung – Fehlen von Identitätsdokumenten bei einem Drittstaatsangehörigen – Hindernisse für den Vollzug der Abschiebungsentscheidung – Weigerung der Botschaft des betreffenden Drittstaats, ein Identitätsdokument auszustellen, das die Rückkehr des Angehörigen dieses Staates ermöglicht – Fluchtgefahr – Hinreichende Aussicht auf Abschiebung – Mangelnde Kooperationsbereitschaft – Etwaige Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, ein vorläufiges Dokument über den Status des Betroffenen auszustellen.#Rechtssache C‑146/14 PPU.
62014CJ0146
ECLI:EU:C:2014:1320
2014-06-05T00:00:00
Szpunar, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62014CJ0146 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 5. Juni 2014 (*1) „Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr — Richtlinie 2008/115/EG — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Art. 15 — Inhaftnahme — Haftverlängerung — Verpflichtungen der Verwaltungs- oder Justizbehörde — Gerichtliche Nachprüfung — Fehlen von Identitätsdokumenten bei einem Drittstaatsangehörigen — Hindernisse für den Vollzug der Abschiebungsentscheidung — Weigerung der Botschaft des betreffenden Drittstaats, ein Identitätsdokument auszustellen, das die Rückkehr des Angehörigen dieses Staates ermöglicht — Fluchtgefahr — Hinreichende Aussicht auf Abschiebung — Mangelnde Kooperationsbereitschaft — Etwaige Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, ein vorläufiges Dokument über den Status des Betroffenen auszustellen“ In der Rechtssache C‑146/14 PPU betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 28. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren Bashir Mohamed Ali Mahdi erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat, aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 28. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen, aufgrund der Entscheidung der Dritten Kammer vom 8. April 2014, diesem Antrag stattzugeben, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Mai 2014, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der bulgarischen Regierung, vertreten durch E. Petranova und D. Drambozova als Bevollmächtigte, — des Direktor na Direktsia „Migratsia“ pri Ministerstvo na vatreshnite raboti, vertreten durch D. Petrov als Bevollmächtigten, — der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou‑Durande und S. Petrova als Bevollmächtigte, nach Anhörung des Generalanwalts folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines auf Betreiben des Direktor na Direktsia „Migratsia“ pri Ministerstvo na vatreshnite raboti (Direktor der Direktion „Migration“ des Innenministeriums, im Folgenden: Direktor) eingeleiteten Verwaltungsverfahrens, in dem der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia) von Amts wegen über die Fortdauer der Haft von Herrn Mahdi, einem sudanesischen Staatsangehörigen, im Sonderzentrum der genannten Direktion für die vorübergehende Unterbringung von Ausländern in Busmantsi in der Stolichna obshtina (Hauptstadtgemeinde) (im Folgenden: Sonderzentrum Busmantsi) entscheiden soll. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Die Richtlinie 2008/115 wurde insbesondere auf der Grundlage von Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EG (jetzt Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV) erlassen. In ihren Erwägungsgründen 6, 11 bis 13, 16, 17 und 24 heißt es: „(6) Die Mitgliedstaaten sollten gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird. Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts sollten Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten. … … (11) Um die Interessen der Betroffenen wirksam zu schützen, sollte für Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr eine Reihe gemeinsamer rechtlicher Mindestgarantien gelten. Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, sollten die erforderliche Prozesskostenhilfe erhalten. Die Mitgliedstaaten sollten in ihrem einzelstaatlichen Recht festlegen, in welchen Fällen Prozesskostenhilfe als erforderlich gelten soll. (12) Die Situation von Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, sollte geregelt werden. Die Festlegungen hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums dieser Personen sollten nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getroffen werden. Die betreffenden Personen sollten eine schriftliche Bestätigung erhalten, damit sie im Falle administrativer Kontrollen oder Überprüfungen ihre besondere Situation nachweisen können. Die Mitgliedstaaten sollten hinsichtlich der Gestaltung und des Formats der schriftlichen Bestätigung über einen breiten Ermessensspielraum verfügen und auch die Möglichkeit haben, sie in aufgrund dieser Richtlinie getroffene Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr aufzunehmen. (13) Der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Wirksamkeit unterliegen. Für den Fall einer Rückführung sollten Mindestverhaltensregeln aufgestellt werden; … … (16) Das Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung sollte nur begrenzt zum Einsatz kommen und sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Eine Inhaftnahme ist nur gerechtfertigt, um die Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen und wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen. (17) In Haft genommene Drittstaatsangehörige sollten eine menschenwürdige Behandlung unter Beachtung ihrer Grundrechte und im Einklang mit dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht erfahren. … … (24) Die Richtlinie wahrt die Grundrechte und Grundsätze, die vor allem in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] verankert sind.“ 4 Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2008/115 lautet: „Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschafts- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“ 5 In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2008/115 heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke … 7. ‚Fluchtgefahr‘: das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten; ….“ 6 Art. 6 Abs. 4 dieser Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In diesem Fall wird keine Rückkehrentscheidung erlassen. Ist bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen, so ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.“ 7 Art. 15 („Inhaftnahme“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt: „(1)   Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn a) Fluchtgefahr besteht oder b) die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern. Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden. (2)   Die Inhaftnahme wird von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde angeordnet. Die Inhaftnahme wird schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet. Wurde die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so gilt Folgendes: a) [E]ntweder lässt der betreffende Mitgliedstaat die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme so schnell wie möglich nach Haftbeginn innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüfen, b) oder der Mitgliedstaat räumt den betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht ein zu beantragen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird, wobei so schnell wie möglich nach Beginn des betreffenden Verfahrens eine Entscheidung zu ergehen hat. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen. Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen. (3)   Die Inhaftnahme wird in jedem Fall – entweder auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen oder von Amts wegen – in gebührenden Zeitabständen überprüft. Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen. (4)   Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen. (5)   Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf. (6)   Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern: a) mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder b) Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.“ Bulgarisches Recht 8 Die Richtlinie 2008/115 wurde durch das Gesetz über die Ausländer in der Republik Bulgarien (Zakon za chuzhdentsite v Republika Balgaria, DV Nr. 153 vom 23. Dezember 1998) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (DV Nr. 108 vom 17. Dezember 2013) (im Folgenden: Ausländergesetz) in bulgarisches Recht umgesetzt. 9 Art. 44 Abs. 5 des Ausländergesetzes sieht vor: „Ist der Ausländer daran gehindert, unverzüglich das Land zu verlassen oder in ein anderes Land einzureisen, muss er auf Anordnung der Behörde, die die Verfügung erlassen hat, mit der die Verwaltungszwangsmaßnahme verhängt wurde, wöchentlich nach Maßgabe der Anwendungsverordnung zu diesem Gesetz bei der Gebietsstelle des Innenministeriums an seinem Wohnort erscheinen, sofern nicht die Hindernisse für den Vollzug der Rückführung oder Ausweisung weggefallen sind und Maßnahmen für eine sofortige Abschiebung getroffen worden sind.“ 10 Nach Art. 44 Abs. 6 des Ausländergesetzes kann, wenn eine Verwaltungszwangsmaßnahme gegen einen Ausländer nicht vollzogen werden kann, weil seine Identität nicht feststeht, der Betreffende den Vollzug der Verfügung, mit der die Maßnahme verhängt wird, behindert oder offenkundige Fluchtgefahr besteht, die Behörde, die die Verfügung erlassen hat, die zwangsweise Unterbringung des Ausländers in einem Zentrum für die vorübergehende Unterbringung von Ausländern anordnen, um die Rückführung zur Grenze der Republik Bulgarien oder die Ausweisung durchzuführen. 11 Art. 44 Abs. 8 des Ausländergesetzes bestimmt: „Die Unterbringung dauert bis zum Wegfall der in Abs. 6 genannten Umstände, jedoch nicht länger als sechs Monate. Die zuständigen Behörden … prüfen einmal monatlich gemeinsam mit dem Direktor …, ob die Voraussetzungen für eine zwangsweise Unterbringung … vorliegen. Ausnahmsweise kann die Dauer der Unterbringung zusätzlich auf bis zu zwölf Monate verlängert werden, wenn der Betreffende die Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden verweigert oder sich die Übermittlung der für die Rückführung oder Ausweisung erforderlichen Unterlagen verzögert. Wird angesichts der konkreten Umstände des Falles festgestellt, dass aus rechtlichen oder technischen Gründen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht, ist der Betreffende unverzüglich freizulassen.“ 12 Nach Art. 46a Abs. 1 des Ausländergesetzes kann die Anordnung der zwangsweisen Unterbringung in einem Sonderzentrum innerhalb von 14 Tagen ab dem tatsächlichen Beginn der Unterbringung nach Maßgabe der Verwaltungsprozessordnung (Administrativnoprotsesualen kodeks) angefochten werden. 13 Art. 46a Abs. 2 dieses Gesetzes sieht vor: „Das Gericht nach Abs. 1 prüft den Rechtsbehelf in öffentlicher Sitzung und erlässt seine Entscheidung innerhalb eines Monats ab Einleitung des Verfahrens. Der Betreffende ist nicht zum Erscheinen verpflichtet. Die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts kann beim Varhoven administrativen sad [Oberster Verwaltungsgerichtshof] angefochten werden, der innerhalb von zwei Monaten entscheidet.“ 14 Art. 46a Abs. 3 und 4 des Ausländergesetzes bestimmt: „(3)   Der Leiter des Sonderzentrums für die vorübergehende Unterbringung von Ausländern legt alle sechs Monate eine Liste der Ausländer vor, die dort seit mehr als sechs Monaten untergebracht sind, weil ihrer Abschiebung Hindernisse entgegenstehen. Die Liste wird an das Verwaltungsgericht des Ortes gesandt, in dem sich das Sonderzentrum befindet. (4)   Nach jeweils sechs Monaten Unterbringung im Sonderzentrum für die vorübergehende Unterbringung von Ausländern entscheidet das Gericht von Amts wegen oder auf Antrag des betreffenden Ausländers in nichtöffentlicher Sitzung durch Beschluss über die Fortdauer, Ersetzung oder Beendigung der Unterbringung. Der Beschluss des Gerichts ist nach Maßgabe der Verwaltungsprozessordnung anfechtbar.“ 15 Nach § 1 Nr. 4c der Ergänzungsbestimmungen zum Ausländergesetz besteht „Fluchtgefahr bei einem Ausländer, gegen den eine Verwaltungszwangsmaßnahme erlassen wurde“, wenn angesichts der tatsächlichen Umstände der begründete Verdacht besteht, dass der Betreffende versuchen wird, sich dem Vollzug der Maßnahme zu entziehen. Eine solche Gefahr kann nach diesen Bestimmungen aus dem Umstand folgen, dass der Betreffende unter der von ihm angegebenen Wohnanschrift nicht auffindbar ist, dass frühere Verstöße gegen die öffentliche Ordnung oder frühere Verurteilungen des Betreffenden vorliegen – ungeachtet einer Resozialisierung –, dass der Betreffende das Land nicht innerhalb der ihm gesetzten Frist für eine freiwillige Ausreise verlassen hat, dass er eindeutig gezeigt hat, dass er der gegen ihn erlassenen Maßnahme nicht nachkommen wird, dass er falsche oder keine Papiere besitzt, dass er falsche Angaben gemacht hat, dass er bereits geflohen ist und/oder dass er ein Einreiseverbot nicht beachtet hat. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 16 Herr Mahdi wurde am 9. August 2013 an einem Grenzposten in Bregovo in Bulgarien festgenommen. Er besaß keine Identitätsdokumente, gab aber an, er heiße Bashir Mohamed Ali Mahdi und sei sudanesischer Staatsangehöriger. 17 Mit Verfügungen vom selben Tag wurden gegen Herrn Mahdi die Verwaltungszwangsmaßnahmen „Rückführung eines Ausländers zur Grenze“ und „Verbot der Einreise eines Ausländers in die Republik Bulgarien“ verhängt. 18 Aufgrund dieser Verfügungen wurde Herr Mahdi am nächsten Tag, dem 10. August 2013, im Sonderzentrum Busmantsi untergebracht, bis der Vollzug der Verwaltungszwangsmaßnahmen möglich wäre, d. h., bis er Papiere erhalten würde, die ihm die Ausreise aus Bulgarien ermöglichten. 19 Am 12. August 2013 unterschrieb Herr Mahdi bei den bulgarischen Verwaltungsbehörden eine Erklärung, wonach er freiwillig nach Sudan zurückkehren wollte. 20 Mit Schreiben vom 13. August 2013 unterrichtete der Direktor die Botschaft der Republik Sudan über die gegen Herrn Mahdi getroffenen Maßnahmen und seine Unterbringung im Sonderzentrum Busmantsi. 21 In der Folge fand zu einem in den Akten nicht genannten Zeitpunkt ein Treffen zwischen einem Vertreter dieser Botschaft und Herrn Mahdi statt, bei dem der Vertreter die Identität des Betroffenen bestätigte, es aber ablehnte, ihm ein Identitätsdokument auszustellen, das ihm die Ausreise aus Bulgarien ermöglichen würde. Diese Ablehnung wurde offenkundig darauf gestützt, dass Herr Mahdi nicht nach Sudan zurückkehren wollte. Der Betroffene erklärte anschließend gegenüber den bulgarischen Behörden, dass er nicht freiwillig nach Sudan zurückkehren wolle. Der Vertreter der Botschaft der Republik Sudan scheint gegenüber dem vorlegenden Gericht erklärt zu haben, dass es unter diesen Umständen nicht möglich sei, ein Reisedokument auszustellen, wenn Herr Mahdi nicht freiwillig in sein Herkunftsland zurückkehren wolle. 22 Am 16. August 2013 gab Frau Ruseva, eine bulgarische Staatsangehörige, eine notarielle Erklärung ab, wonach gewährleistet war, dass Herr Mahdi während seines Aufenthalts in Bulgarien über Mittel zur Bestreitung des eigenen Unterhalts und über eine Unterkunft verfüge, und beantragte beim Direktor, Herrn Mahdi gegen Zahlung einer Kaution freizulassen. Diese Erklärung wurde am 26. August 2013 von den Polizeibehörden überprüft und bestätigt. 23 Am 27. August 2013 schlug der Direktor seinem Vorgesetzten angesichts der Erklärung von Frau Ruseva vor, die Anordnung der zwangsweisen Unterbringung von Herrn Mahdi aufzuheben und ihm eine weniger intensive Zwangsmaßnahme, und zwar das „wöchentliche Erscheinen bei der Gebietsstelle des Innenministeriums am Wohnort“ aufzuerlegen, bis die Hindernisse für den Vollzug der Rückführungsentscheidung wegfielen. 24 Am 9. September 2013 wurde dieser Vorschlag mit der Begründung abgelehnt, dass Herr Mahdi nicht legal nach Bulgarien eingereist sei, dass er keinen Aufenthaltstitel für Bulgarien besitze, dass die nationale Flüchtlingsagentur ihm am 29. Dezember 2012 die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft versagt habe und dass er mit dem Überqueren der Staatsgrenze zwischen Bulgarien und Serbien außerhalb der dafür vorgesehenen Stellen eine Straftat begangen habe. 25 Weder gegen die Anordnung der zwangsweisen Unterbringung noch gegen die Weigerung, diese Anordnung durch die vom Direktor vorgeschlagenen weniger intensiven Zwangsmaßnahmen zu ersetzen, wurde ein Rechtsbehelf eingelegt. 26 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Botschaft der Republik Sudan bisher kein Identitätsdokument ausgestellt hat, das Herrn Mahdi die Ausreise aus Bulgarien ermöglichen würde, und dass Herr Mahdi nach wie vor im Sonderzentrum Busmantsi untergebracht ist. 27 Das Ausgangsverfahren wurde durch ein Schreiben des Direktors eingeleitet, das um den 9. Februar 2014 am Ende des ersten Haftzeitraums von sechs Monaten beim vorlegenden Gericht eingereicht wurde und mit dem beantragt wurde, von Amts wegen auf der Grundlage von Art. 46a Abs. 3 und 4 des Ausländergesetzes die Fortdauer der Haft von Herrn Mahdi anzuordnen. 28 Das vorlegende Gericht erläutert, dass nach Art. 46a Abs. 3 und 4 des Ausländergesetzes der Leiter eines Sonderzentrums dem Verwaltungsgericht des Ortes, in dem sich das Zentrum befinde, alle sechs Monate eine Liste der Ausländer vorlege, die seit mehr als sechs Monaten dort untergebracht seien, weil ihrer Abschiebung Hindernisse entgegenstünden. Nach Ablauf von jeweils sechs Monaten Unterbringung in einem Sonderzentrum entscheide das Verwaltungsgericht von Amts wegen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ob die Unterbringung des Betreffenden zu verlängern sei, Ersatzmaßnahmen zu erlassen seien oder die Unterbringung zu beenden sei. 29 Das vorlegende Gericht wirft in diesem Zusammenhang u. a. die Frage auf, ob das im bulgarischen Recht vorgesehene Verwaltungsverfahren der Überprüfung der Unterbringung in einer Hafteinrichtung mit dem Unionsrecht und insbesondere mit den Erfordernissen der Richtlinie 2008/115 vereinbar ist. 30 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts hängt die Art der Kontrolle, die es vornehmen könne, davon ab, ob es als Gericht oder als Verwaltungsbehörde handle. Insbesondere könne es, wenn es als Gericht entscheide, nicht in der Sache entscheiden und die ursprüngliche Entscheidung, mit der die Unterbringung in einer Hafteinrichtung angeordnet worden sei, nicht überprüfen, da seine Rolle nach bulgarischem Verfahrensrecht auf die Prüfung der Gründe für die Verlängerung der Haft des Betroffenen beschränkt sei, wie sie im Schreiben des Direktors, das das Ausgangsverfahren in Gang gesetzt habe, dargelegt worden seien. Das Gericht wirft außerdem Fragen zur Fluchtgefahr in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens auf, in dem der Betroffene, der keine Identitätsdokumente besitze, gegenüber den bulgarischen Behörden erklärt habe, er wolle nicht in sein Herkunftsland zurückkehren. Weiter stellt das vorlegende Gericht Überlegungen zum Verhalten des Betroffenen an. Fraglich sei, ob der Umstand, dass der Betroffene keine Identitätsdokumente besitze, als mangelnde Kooperationsbereitschaft im Abschiebungsverfahren angesehen werden könne. Aufgrund all dieser Umstände ist sich das vorlegende Gericht nicht sicher, ob eine Verlängerung der Haft von Herrn Mahdi gerechtfertigt wäre. 31 Der Administrativen sad Sofia-grad hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 6 und 47 der Charta sowie mit dem Recht auf gerichtliche Überprüfung und effektiven gerichtlichen Rechtsschutz dahin auszulegen, dass: a) wenn eine Verwaltungsbehörde nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats zur monatlichen Überprüfung der Inhaftnahme verpflichtet ist, ohne dass ausdrücklich eine Pflicht zum Erlass einer Verwaltungsmaßnahme besteht, und sie dem Gericht von Amts wegen eine Liste der wegen Abschiebungshindernissen über die gesetzlich bestimmte Höchstdauer der erstmaligen Haft hinaus inhaftierten Drittstaatsangehörigen vorlegen muss, die Verwaltungsbehörde verpflichtet ist, entweder zum Zeitpunkt des Ablaufs des in der individuellen Entscheidung über die erstmalige Inhaftnahme festgelegten Zeitraums eine ausdrückliche Maßnahme der Überprüfung der Inhaftnahme im Hinblick auf die im Unionsrecht vorgesehenen Gründe für die Verlängerung des Haftzeitraums zu erlassen oder den Betreffenden freizulassen; b) wenn das nationale Recht des Mitgliedstaats eine Befugnis des Gerichts vorsieht, nach Ablauf der im nationalen Recht vorgesehenen Höchstdauer der erstmaligen Inhaftierung für die Zwecke der Abschiebung die Verlängerung des Zeitraums der Haft anzuordnen, sie durch eine weniger intensive Maßnahme zu ersetzen oder die Freilassung des Drittstaatsangehörigen anzuordnen, das Gericht in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme der Überprüfung der Inhaftnahme, die rechtliche und tatsächliche Gründe für die Notwendigkeit einer Verlängerung des Haftzeitraums und dessen Länge anführt, zu prüfen hat, indem es über die Fortdauer der Haft, ihre Ersetzung oder die Freilassung des Betreffenden in der Sache entscheidet; c) er es dem Gericht erlaubt, die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme der Überprüfung der Inhaftnahme, die nur die Gründe anführt, aus denen die Entscheidung, einen Drittstaatsangehörigen abzuschieben, nicht vollzogen werden kann, im Hinblick auf die im Unionsrecht vorgesehenen Gründe für die Verlängerung des Haftzeitraums zu prüfen, indem es allein auf der Grundlage der von der Verwaltungsbehörde angeführten Tatsachen und vorgelegten Beweise sowie der vom Drittstaatsangehörigen vorgebrachten Einwände und Tatsachen den Streit durch Entscheidung über die Fortdauer der Haft, ihre Ersetzung oder die Freilassung des Betreffenden in der Sache entscheidet? 2. Ist Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen, dass der im nationalen Recht vorgesehene eigenständige Haftverlängerungsgrund, dass „der Betreffende … keine Identitätsdokumente [hat]“, unter dem Gesichtspunkt des Unionsrechts als unter beide Fälle des Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie subsumierbar zulässig ist, wenn nach dem nationalen Recht des Mitgliedstaats aufgrund des genannten Umstands von der begründeten Annahme ausgegangen werden kann, dass der Betreffende versuchen wird, den Vollzug der Abschiebungsentscheidung zu umgehen, was wiederum eine Fluchtgefahr im Sinne des Rechts dieses Mitgliedstaats darstellt? 3. Ist Art. 15 Abs. 1 Buchst. a und b und Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit ihren Erwägungsgründen 2 und 13 über die Achtung der Grundrechte und der Menschenwürde von Drittstaatsangehörigen sowie die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen, dass er es zulässt, auf eine begründete Fluchtgefahr aufgrund der Umstände zu schließen, dass der Betreffende keine Identitätsdokumente hat, illegal die Staatsgrenze überquert hat und erklärt, dass er nicht in sein Herkunftsland zurückkehren will, obwohl er zuvor eine Erklärung über die freiwillige Rückkehr in sein Land ausgefüllt und richtige Angaben über seine Identität gemacht hat, wobei diese Umstände unter den Begriff „Fluchtgefahr“ beim Adressaten einer Rückkehrentscheidung im Sinne der Richtlinie fallen, der im nationalen Recht als die auf der Grundlage von Tatsachen bestehende begründete Annahme definiert wird, dass der Betreffende versuchen wird, den Vollzug der Rückkehrentscheidung zu umgehen? 4. Ist Art. 15 Abs. 1 Buchst. a und b, 4 und 6 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit ihren Erwägungsgründen 2 und 13 über die Achtung der Grundrechte und der Menschenwürde von Drittstaatsangehörigen sowie die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen, dass: a) der Drittstaatsangehörige keine Kooperationsbereitschaft bei der Vorbereitung des Vollzugs der Entscheidung über seine Rückkehr in sein Herkunftsland zeigt, wenn er gegenüber einem Bediensteten der Botschaft dieses Landes mündlich bekundet, dass er nicht in sein Herkunftsland zurückkehren will, obwohl er zuvor eine Erklärung über die freiwillige Rückkehr ausgefüllt und richtige Angaben über seine Identität gemacht hat, und dass Verzögerungen bei der Übermittlung der Unterlagen durch einen Drittstaat vorliegen und eine hinreichende Aussicht auf Vollzug der Rückkehrentscheidung besteht, wenn unter diesen Umständen die Botschaft dieses Landes nicht das für die Reise des Betreffenden in sein Herkunftsland notwendige Dokument ausstellt, obwohl sie die Identität des Betreffenden bestätigt hat; b) im Fall der wegen Nichtbestehens einer hinreichenden Aussicht auf Vollzug einer Abschiebungsentscheidung erfolgenden Freilassung eines Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente hat, illegal die Staatsgrenze überquert hat und erklärt, dass er nicht in sein Herkunftsland zurückkehren will, davon auszugehen ist, dass der Mitgliedstaat zur Ausstellung eines vorläufigen Dokuments über den Status des Betreffenden verpflichtet ist, wenn die Botschaft des Herkunftslands unter diesen Umständen nicht das für die Reise des Betreffenden in sein Herkunftsland notwendige Dokument ausstellt, obwohl sie die Identität des Betreffenden bestätigt hat? Zum Eilverfahren 32 Der Administrativen sad Sofia-grad hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. 33 Das vorlegende Gericht hat diesen Antrag damit begründet, dass der im Ausgangsverfahren betroffene Drittstaatsangehörige inhaftiert sei und dass seine Situation unter die Bestimmungen von Titel V des AEU-Vertrags über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts falle. Angesichts der Situation von Herrn Mahdi seien die Antworten des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen von entscheidender Bedeutung für die Frage, ob der Betroffene im Sonderzentrum Busmantsi bleiben oder freigelassen werden müsse. Es sei angezeigt, so schnell wie möglich über die Verlängerung der Haft des Betroffenen zu entscheiden. 34 Hierzu ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsverfahren die Auslegung der Richtlinie 2008/115 betrifft, die unter Titel V Kapitel 3 des AEU-Vertrags fällt. Das Ersuchen ist daher geeignet, dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 107 seiner Verfahrensordnung unterworfen zu werden. 35 Zweitens ist festzustellen, dass, wie das vorlegende Gericht betont, Herr Mahdi derzeit inhaftiert ist und die Entscheidung des Ausgangsverfahrens zu seiner sofortigen Freilassung führen kann. 36 Aus diesen Gründen hat die Dritte Kammer des Gerichtshofs auf Bericht des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben. Zu den Vorlagefragen Zu Frage 1a 37 Mit Frage 1a möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 im Licht der Art. 6 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Entscheidung, die eine zuständige Behörde bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft eines Drittstaatsangehörigen über die Fortdauer der Haft erlässt, in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Entscheidung angegeben sind. 38 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass im Einklang mit Art. 79 Abs. 2 AEUV das Ziel der Richtlinie 2008/115, wie es sich aus deren Erwägungsgründen 2 und 11 ergibt, die Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik ist, die auf gemeinsamen Normen und rechtlichen Garantien beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden. 39 Die durch diese Richtlinie eingeführten Verfahren zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sind somit gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten auf die Rückführung dieser Drittstaatsangehörigen anwendbar sind. Die Mitgliedstaaten verfügen in mehrfacher Hinsicht über ein Ermessen, wenn sie die Bestimmungen der Richtlinie unter Berücksichtigung der Besonderheiten des nationalen Rechts umsetzen. 40 Nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 sollten die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird. Ebenfalls nach diesem Erwägungsgrund und im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts sollten Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf der Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten. 41 Nach Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 ist die erstmalige Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen, bei der die Haftdauer sechs Monate nicht überschreiten darf, von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde schriftlich unter Angabe der der Haftentscheidung zugrunde liegenden sachlichen und rechtlichen Gründe anzuordnen (vgl. in diesem Sinne Urteil G. und R., C‑383/13 PPU, EU:C:2013:533, Rn. 29). 42 Nach Art. 15 Abs. 6 der genannten Richtlinie kann diese erstmalige Haft im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängert werden, wenn bestimmte materielle Voraussetzungen vorliegen. Überschreitet die Haftdauer sechs Monate, ist dies gemäß Art. 15 Abs. 5 der Richtlinie als längere Haftdauer im Sinne von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie anzusehen. 43 Ferner bestimmt Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115, dass die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen in jedem Fall – entweder auf Antrag des Betreffenden oder von Amts wegen – in gebührenden Zeitabständen zu überprüfen ist. Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen. 44 Aus der Gesamtheit dieser Bestimmungen geht hervor, dass das einzige ausdrücklich in Art. 15 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Erfordernis bezüglich des Erlasses einer schriftlichen Maßnahme dasjenige nach Art. 15 Abs. 2 ist, nämlich die schriftliche Anordnung der Inhaftnahme unter Angabe der tatsächlichen und rechtlichen Gründe. Dieses Erfordernis des Erlasses einer schriftlichen Entscheidung ist so zu verstehen, dass es sich zwangsläufig auf jede Entscheidung über die Haftverlängerung bezieht, denn zum einen sind die Inhaftnahme und die Haftverlängerung vergleichbar, weil dem betreffenden Drittstaatsangehörigen durch beide zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder zur Durchführung seiner Abschiebung die Freiheit entzogen wird, und zum anderen muss dieser Drittstaatsangehörige in beiden Fällen in der Lage sein, die Gründe für die ihm gegenüber getroffene Entscheidung zu erfahren. 45 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist diese Verpflichtung zur Mitteilung der Gründe sowohl erforderlich, um es dem betreffenden Drittstaatsangehörigen zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, den zuständigen Richter anzurufen, als auch, um diesen vollständig in die Lage zu versetzen, die Rechtmäßigkeit der fraglichen Entscheidung zu kontrollieren (vgl. in diesem Sinne Urteile Heylens u. a., 222/86, EU:C:1987:442, Rn. 15, sowie Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 337). 46 Jede andere Auslegung von Art. 15 Abs. 2 und 6 der Richtlinie 2008/115 würde dazu führen, dass es für einen Drittstaatsangehörigen schwieriger wäre, die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der seine Haft verlängert wird, in Frage zu stellen als die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der seine erstmalige Inhaftnahme angeordnet wird, wodurch das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzt würde. 47 Art. 15 der Richtlinie 2008/115 verlangt jedoch nicht, dass eine schriftliche „Maßnahme der Überprüfung“ erlassen wird, wie das vorlegende Gericht dies in Frage 1a formuliert. Die Behörden, die die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 1 dieser Richtlinie in gebührenden Zeitabständen überprüfen, sind nicht verpflichtet, bei jeder Überprüfung eine ausdrückliche Maßnahme zu erlassen, die in schriftlicher Form ergeht und eine Darstellung ihrer tatsächlichen und rechtlichen Gründe enthält. 48 Wenn die Behörde, die bei Ablauf der nach Art. 15 Abs. 5 der Richtlinie 2008/115 zulässigen Höchstdauer der erstmaligen Haft mit einem Überprüfungsverfahren befasst wird, über die Fortdauer der Haft entscheidet, ist sie allerdings verpflichtet, ihre Entscheidung schriftlich unter Angabe der Gründe zu erlassen. In einem solchen Fall erfolgen die Überprüfung der Inhaftnahme und der Erlass einer Entscheidung über die Fortdauer der Haft im selben Verfahrensabschnitt. Folglich muss diese Entscheidung die Erfordernisse des Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 erfüllen. 49 Weder aus dem Vorabentscheidungsersuchen noch aus den von der bulgarischen Regierung in der Sitzung abgegebenen Erklärungen wird deutlich, ob die Liste des Direktors, die dem vorlegenden Gericht bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft zugesandt wurde, eine Entscheidung über die Fortdauer der Haft des Betroffenen enthält. Sollte der Direktor mit dieser Liste u. a. über die Fortdauer der Haft entschieden haben, muss die Liste ebenfalls die in Rn. 48 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernisse erfüllen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die insoweit notwendigen Prüfungen durchzuführen. Eine solche Entscheidung muss nach Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 jedenfalls der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen. 50 Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung in Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften über die Verfahrensmodalitäten bezüglich der Maßnahme der Haftüberprüfung die Mitgliedstaaten gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie dafür zuständig bleiben, diese Modalitäten unter Gewährleistung der Achtung der Grundrechte und der vollen Wirksamkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen über diese Maßnahme zu regeln (vgl. entsprechend Urteil N., C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 41). 51 Folglich untersagt das Unionsrecht nicht, dass eine nationale Regelung unter Wahrung dieser Grundsätze vorsieht, dass die Behörde, die die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gemäß Art. 15 Abs. 3 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 in gebührenden Zeitabständen überprüft, nach jeder Überprüfung eine ausdrückliche Maßnahme erlassen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Maßnahme angegeben sind. Eine solche Verpflichtung würde sich ausschließlich aus dem nationalen Recht ergeben. 52 Demnach ist auf Frage 1a zu antworten, dass Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 im Licht der Art. 6 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass jede Entscheidung, die eine zuständige Behörde bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft eines Drittstaatsangehörigen über die Fortdauer der Haft erlässt, in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Entscheidung angegeben sind. Zu den Fragen 1b und 1c 53 Mit den Fragen 1b und 1c möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 6 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Kontrolle, die die mit einem Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen befasste Justizbehörde vorzunehmen hat, dieser erlauben muss, im jeweiligen Einzelfall in der Sache darüber zu entscheiden, ob die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu verlängern ist, ob sie durch eine weniger intensive Zwangsmaßnahme ersetzt werden kann oder ob der Drittstaatsangehörige freizulassen ist, wobei die Justizbehörde dementsprechend befugt ist, sich auf die von der antragstellenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Tatsachen und Beweise sowie auf eine etwaige Stellungnahme des Drittstaatsangehörigen zu stützen. 54 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass Art. 15 der Richtlinie 2008/115 unbedingt und hinreichend genau ist, so dass es keiner weiteren besonderen Gesichtspunkte bedarf, um seine Umsetzung durch die Mitgliedstaaten zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil El Dridi, C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 47). 55 Wie aus den Erwägungsgründen 13, 16, 17 und 24 der Richtlinie 2008/115 hervorgeht, ist jede angeordnete Inhaftnahme, die unter diese Richtlinie fällt, in den Bestimmungen des Kapitels IV der Richtlinie streng geregelt, damit zum einen die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele und zum anderen die Wahrung der Grundrechte der betreffenden Drittstaatsangehörigen gewährleistet ist. 56 Wie in Rn. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, ergibt sich außerdem eindeutig aus dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115, dass die Überprüfung jeder längeren Haft eines Drittstaatsangehörigen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen muss. Eine Justizbehörde, die über die Möglichkeit einer Verlängerung der erstmaligen Haft entscheidet, muss diese Haft somit zwingend kontrollieren, auch wenn die Behörde, die sie angerufen hat, diese Kontrolle nicht ausdrücklich beantragt hat und auch wenn die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen bereits von der Behörde überprüft wurde, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hatte. 57 Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 regelt allerdings nicht, welcher Art diese Kontrolle sein muss. Daher ist an die Grundsätze des Art. 15 dieser Richtlinie zu erinnern, die in einem Verfahren wie dem im Ausgangsfall fraglichen Anwendung finden und deshalb von einer Justizbehörde bei der Kontrolle zu berücksichtigen sind. 58 Erstens ergibt sich aus den in Art. 15 Abs. 6 dieser Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen, dass die erstmalige Haft nur verlängert werden darf, wenn die Abschiebungsmaßnahme trotz der angemessenen Bemühungen der Mitgliedstaaten wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten wahrscheinlich länger dauern wird. Eine solche Verlängerung ist im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht anzuordnen und darf nicht über zwölf Monate hinausgehen. 59 Zweitens ist Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit deren Art. 15 Abs. 4 zu lesen, wonach, wenn sich herausstellt, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht mehr gegeben sind, die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen nicht länger gerechtfertigt und dieser unverzüglich freizulassen ist. 60 Zum ersten Erfordernis nach Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass nur dann vom Fortbestand einer „hinreichenden Aussicht auf Abschiebung“ im Sinne dieser Bestimmung ausgegangen werden kann, wenn zum Zeitpunkt der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haft durch das nationale Gericht eine tatsächliche Aussicht auf erfolgreichen Vollzug der Abschiebung unter Berücksichtigung der in Art. 15 Abs. 5 und 6 dieser Richtlinie festgelegten Zeiträume besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Kadzoev, C‑357/09 PPU, EU:C:2009:741, Rn. 65). 61 Das zweite Erfordernis nach Art. 15 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 besteht in einer Überprüfung der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen, die als Grundlage für die ursprüngliche Entscheidung, den betreffenden Drittstaatsangehörigen zu inhaftieren, gedient haben. Die Behörde, die darüber entscheidet, ob die Haft dieses Drittstaatsangehörigen zu verlängern oder ob er freizulassen ist, muss somit erstens prüfen, ob im konkreten Fall ausreichende, aber weniger intensive Zwangsmaßnahmen als die Haft wirksam angewandt werden können, zweitens, ob bei dem Drittstaatsangehörigen Fluchtgefahr besteht, und drittens, ob er die Vorbereitung seiner Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgeht oder behindert. 62 Eine Justizbehörde, die über einen Antrag auf Haftverlängerung entscheidet, muss folglich in der Lage sein, über alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu befinden, die relevant für die Feststellung sind, ob eine Haftverlängerung unter Berücksichtigung der in den Rn. 58 bis 61 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernisse gerechtfertigt ist, was eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Umstände des jeweiligen Falles erfordert. Wenn die ursprünglich angeordnete Inhaftnahme unter Berücksichtigung dieser Erfordernisse nicht mehr gerechtfertigt ist, muss die zuständige Justizbehörde in der Lage sein, die Entscheidung der Verwaltungsbehörde oder gegebenenfalls der Justizbehörde, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hat, durch ihre eigene Entscheidung zu ersetzen und über die Möglichkeit zu befinden, eine Ersatzmaßnahme oder die Freilassung des betreffenden Drittstaatsangehörigen anzuordnen. Zu diesem Zweck muss die Justizbehörde, die über einen Antrag auf Haftverlängerung entscheidet, in der Lage sein, sowohl die tatsächlichen Umstände und Beweise zu berücksichtigen, die von der Verwaltungsbehörde angeführt werden, die die erstmalige Inhaftnahme angeordnet hat, als auch jede etwaige Stellungnahme des Drittstaatsangehörigen. Außerdem muss es ihr möglich sein, jeden anderen für ihre Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls sie dies für erforderlich hält. Folglich können die Befugnisse der Justizbehörde im Rahmen einer Kontrolle keinesfalls auf die von der betreffenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Umstände beschränkt werden. 63 Jede andere Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2008/115 würde dazu führen, dass Art. 15 Abs. 4 und 6 die praktische Wirksamkeit genommen und die nach Art. 15 Abs. 3 Satz 2 erforderliche gerichtliche Kontrolle inhaltlich ausgehöhlt wird, wodurch die Erreichung der mit der Richtlinie verfolgten Ziele gefährdet würde. 64 Folglich ist auf die Fragen 1b und 1c zu antworten, dass Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass die Kontrolle, die die mit einem Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen befasste Justizbehörde vorzunehmen hat, dieser erlauben muss, im jeweiligen Einzelfall in der Sache darüber zu entscheiden, ob die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu verlängern ist, ob sie durch eine weniger intensive Zwangsmaßnahme ersetzt werden kann oder ob der Drittstaatsangehörige freizulassen ist; die Justizbehörde ist dementsprechend befugt, sich auf die von der antragstellenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Tatsachen und Beweise sowie auf die ihr eventuell während dieses Verfahrens unterbreiteten Tatsachen, Beweise und Stellungnahmen zu stützen. Zu den Fragen 2 und 3 65 Mit den Fragen 2 und 3, die zusammen zu erörtern sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach ein erster Haftzeitraum von sechs Monaten bereits deswegen verlängert werden kann, weil der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt und daher Fluchtgefahr bei ihm besteht. 66 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Fluchtgefahr in Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie 2008/115 definiert ist als das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten. 67 Zweitens ist das Bestehen einer solchen Fluchtgefahr einer der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich angeführten Gründe, die es rechtfertigen, Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, in Haft zu nehmen, um ihre Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen. Wie in Rn. 61 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, kann nach dieser Bestimmung eine solche Inhaftnahme nur erfolgen, wenn in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können. 68 Drittens kann, wie in Rn. 58 des vorliegenden Urteils erläutert worden ist, eine Haftverlängerung nach Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 nur dann angeordnet werden, wenn die Abschiebungsmaßnahme trotz der angemessenen Bemühungen der Mitgliedstaaten wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten wahrscheinlich länger dauern wird; der Umstand, dass der Betroffene keine Identitätsdokumente besitzt, wird nicht genannt. 69 Schließlich ist in Rn. 61 des vorliegenden Urteils festgestellt worden, dass jeder Entscheidung über die Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen und damit über das Vorliegen der in Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 genannten tatsächlichen Umstände eine Überprüfung der materiellen Voraussetzungen vorausgehen muss, die als Grundlage für die erstmalige Inhaftnahme des betreffenden Drittstaatsangehörigen gedient haben, was voraussetzt, dass die Justizbehörde bei der nach Art. 15 Abs. 3 Satz 2 dieser Richtlinie erforderlichen Prüfung die Umstände beurteilt, die zur ursprünglichen Feststellung einer Fluchtgefahr geführt haben. 70 Im Übrigen muss, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, jede Beurteilung in Bezug auf eine Fluchtgefahr eine individuelle Prüfung des Falles des Betroffenen zur Grundlage haben (vgl. Urteil Sagor, C‑430/11, EU:C:2012:777, Rn. 41). Außerdem sollten nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 die Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf der Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden. 71 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das bulgarische Recht in § 1 Nr. 4c der Ergänzungsbestimmungen zum Ausländergesetz bestimmt, dass bei einem Ausländer, gegen den eine Verwaltungszwangsmaßnahme erlassen wurde, Fluchtgefahr besteht, wenn angesichts der tatsächlichen Umstände der begründete Verdacht besteht, dass der Betroffene versuchen wird, sich dem Vollzug der Maßnahme zu entziehen. Die objektiven Kriterien, die eine solche Gefahr begründen können, sind in § 1 Nr. 4c angeführt und umfassen u. a. den Umstand, dass der Betreffende kein Identitätsdokument besitzt. 72 Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, eine Beurteilung der tatsächlichen Umstände im Zusammenhang mit der Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen vorzunehmen, um bei der Überprüfung der in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 genannten Voraussetzungen festzustellen, ob, wie der Direktor im Ausgangsfall vorgeschlagen hat, eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam auf diesen Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann bzw. – falls sich das als nicht möglich erweisen sollte – ob weiterhin Fluchtgefahr besteht. Nur im Rahmen des letztgenannten Falles darf das vorlegende Gericht das Fehlen von Identitätsdokumenten berücksichtigen. 73 Demnach kann der Umstand, dass der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt, nicht bereits eine Haftverlängerung nach Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 rechtfertigen. 74 Folglich ist auf die Fragen 2 und 3 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach ein erster Haftzeitraum von sechs Monaten bereits deswegen verlängert werden kann, weil der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt. Es ist allein Sache des vorlegenden Gerichts, eine fallspezifische Beurteilung der tatsächlichen Umstände der betreffenden Sache vorzunehmen, um festzustellen, ob eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam auf den Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann oder ob Fluchtgefahr bei ihm besteht. Zu Frage 4a 75 Mit Frage 4a möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 6 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Drittstaatsangehöriger, der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens kein Identitätsdokument erhalten hat, das seine Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglicht hätte, „mangelnde Kooperationsbereitschaft“ im Sinne dieser Bestimmung zeigt. 76 Bezüglich der Situation von Herrn Mahdi steht fest, dass er keine Identitätsdokumente besitzt und dass die Botschaft der Republik Sudan es abgelehnt hat, ihm solche Dokumente auszustellen, die den Vollzug der Abschiebungsentscheidung ermöglicht hätten. 77 Mit Frage 4a wird der Gerichtshof somit um Aufschluss darüber ersucht, ob die Weigerung der Botschaft der Republik Sudan, Herrn Mahdi Identitätsdokumente auszustellen, nachdem dieser erklärt hatte, er wolle nicht in sein Herkunftsland zurückkehren, dem Betroffenen zugerechnet werden kann. Sollte dies bejaht werden, wird der Gerichtshof ersucht, klarzustellen, ob das Verhalten von Herrn Mahdi als mangelnde Kooperationsbereitschaft im Sinne von Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115 angesehen werden kann, was die Verlängerung der Haft des Betroffenen um höchstens zwölf Monate rechtfertigen würde. 78 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, die dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen festzustellen und daraus die Folgerungen für seine Entscheidung zu ziehen (vgl. u. a. Urteile WWF u. a., C‑435/97, EU:C:1999:418, Rn. 32, und Danosa, C‑232/09, EU:C:2010:674, Rn. 33). 79 Im Rahmen der Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten ist es nämlich grundsätzlich Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob in der bei ihm anhängigen Rechtssache die Tatbestandsvoraussetzungen für die Anwendung einer Norm des Unionsrechts erfüllt sind, wobei der Gerichtshof in seiner Entscheidung zu einem Vorabentscheidungsersuchen gegebenenfalls Klarstellungen vornehmen kann, um dem nationalen Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteile Haim, C‑424/97, EU:C:2000:357, Rn. 58, Vatsouras und Koupatantze, C‑22/08 und C‑23/08, EU:C:2009:344, Rn. 23, und Danosa, EU:C:2010:674, Rn. 34). 80 Der Gerichtshof hat daher die vom vorlegenden Gericht gestellten Vorabentscheidungsfragen nach der Auslegung des Unionsrechts zu beantworten, dem vorlegenden Gericht aber die Aufgabe zu belassen, die konkreten Umstände des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu überprüfen und insbesondere die Frage zu klären, ob das Fehlen von Identitätsdokumenten allein darauf beruht, dass Herr Mahdi seine Erklärung über die freiwillige Rückkehr zurückgenommen hat (vgl. entsprechend Urteil Danosa, EU:C:2010:674, Rn. 36). 81 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Herr Mahdi, wie sich dem Vorabentscheidungsersuchen entnehmen lässt, mit den bulgarischen Behörden hinsichtlich der Offenlegung seiner Identität und des Abschiebungsverfahrens kooperiert hat. Allerdings hat er seine Erklärung über die freiwillige Rückkehr zurückgenommen. 82 Der Begriff der mangelnden Kooperationsbereitschaft im Sinne von Art. 15 Abs.6 der Richtlinie 2008/115 erfordert aber, dass die Behörde, die über einen Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen entscheidet, zum einen sein Verhalten während des ersten Haftzeitraums untersucht, um festzustellen, ob er nicht mit den zuständigen Behörden hinsichtlich der Durchführung der Abschiebung zusammengearbeitet hat, und zum anderen prüft, ob die Abschiebung wegen dieses Verhaltens des Drittstaatsangehörigen wahrscheinlich länger dauern wird. Wenn die Abschiebung des Betroffenen aus einem anderen Grund länger als vorgesehen dauern wird oder gedauert hat, kann kein Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Drittstaatsangehörigen und der Dauer der Abschiebung und damit keine mangelnde Kooperationsbereitschaft des Betreffenden festgestellt werden. 83 Außerdem verlangt Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115, dass die betreffende Behörde, bevor sie prüft, ob der Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigt, nachweisen kann, dass die Abschiebung trotz ihrer angemessenen Bemühungen länger dauern wird als vorgesehen, was im Ausgangsfall erfordert, dass der betreffende Mitgliedstaat sich aktiv bemüht hat und immer noch bemüht, die Ausstellung von Identitätsdokumenten für diesen Drittstaatsangehörigen zu erreichen. 84 Die Feststellung, dass der betreffende Mitgliedstaat angemessene Bemühungen zur Durchführung der Abschiebung unternommen hat und dass der Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigt, setzt folglich eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Umstände des gesamten ersten Haftzeitraums voraus. Eine solche Prüfung betrifft Tatfragen, für die, wie bereits erwähnt, im Verfahren nach Art. 267 AEUV nicht der Gerichtshof, sondern das innerstaatliche Gericht zuständig ist (Urteil Merluzzi, 80/71, EU:C:1972:24, Rn. 10). 85 Demnach ist auf Frage 4a zu antworten, dass Art. 15 Abs. 6 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass bei einem Drittstaatsangehörigen, der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens kein Identitätsdokument erhalten hat, das seine Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglicht hätte, nur dann „mangelnde Kooperationsbereitschaft“ im Sinne dieser Bestimmung angenommen werden kann, wenn die Prüfung des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen während der Haft ergibt, dass er nicht bei der Durchführung der Abschiebung kooperiert hat und dass diese wegen dieses Verhaltens wahrscheinlich länger dauern wird als vorgesehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Zu Frage 4b 86 Mit Frage 4b möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente besitzt und von seinem Herkunftsland keine solchen Dokumente erhalten hat, einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, nachdem ein nationaler Richter diesen Drittstaatsangehörigen mit der Begründung freigelassen hat, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr im Sinne von Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie bestehe. 87 Wie aus dem in Rn. 38 des vorliegenden Urteils angeführten Ziel der Richtlinie 2008/115 folgt, hat diese nicht zum Zweck, die Voraussetzungen für den Aufenthalt illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, gegen die eine Rückkehrentscheidung nicht vollzogen werden kann oder konnte, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu regeln. 88 Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 erlaubt den Mitgliedstaaten jedoch, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen des Vorliegens eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. Der zwölfte Erwägungsgrund dieser Richtlinie wiederum sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, eine schriftliche Bestätigung ihrer Situation ausstellen sollten. Hinsichtlich der Gestaltung und des Formats der schriftlichen Bestätigung verfügen die Mitgliedstaaten über einen breiten Ermessensspielraum. 89 Folglich ist auf Frage 4b zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente besitzt und von seinem Herkunftsland keine solchen Dokumente erhalten hat, einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, nachdem ein nationaler Richter diesen Drittstaatsangehörigen mit der Begründung freigelassen hat, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr im Sinne von Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie bestehe. Der Mitgliedstaat hat dem Drittstaatsangehörigen jedoch in einem solchen Fall eine schriftliche Bestätigung seiner Situation auszustellen. Kosten 90 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist im Licht der Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass jede Entscheidung, die eine zuständige Behörde bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft eines Drittstaatsangehörigen über die Fortdauer der Haft erlässt, in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Entscheidung angegeben sind. 2. Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass die Kontrolle, die die mit einem Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen befasste Justizbehörde vorzunehmen hat, dieser erlauben muss, im jeweiligen Einzelfall in der Sache darüber zu entscheiden, ob die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu verlängern ist, ob sie durch eine weniger intensive Zwangsmaßnahme ersetzt werden kann oder ob der Drittstaatsangehörige freizulassen ist; die Justizbehörde ist dementsprechend befugt, sich auf die von der antragstellenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Tatsachen und Beweise sowie auf die ihr eventuell während dieses Verfahrens unterbreiteten Tatsachen, Beweise und Stellungnahmen zu stützen. 3. Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach ein erster Haftzeitraum von sechs Monaten bereits deswegen verlängert werden kann, weil der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt. Es ist allein Sache des vorlegenden Gerichts, eine fallspezifische Beurteilung der tatsächlichen Umstände der betreffenden Sache vorzunehmen, um festzustellen, ob eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam auf den Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann oder ob Fluchtgefahr bei ihm besteht. 4. Art. 15 Abs. 6 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass bei einem Drittstaatsangehörigen, der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens kein Identitätsdokument erhalten hat, das seine Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglicht hätte, nur dann „mangelnde Kooperationsbereitschaft“ im Sinne dieser Bestimmung angenommen werden kann, wenn die Prüfung des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen während der Haft ergibt, dass er nicht bei der Durchführung der Abschiebung kooperiert hat und dass diese wegen dieses Verhaltens wahrscheinlich länger dauern wird als vorgesehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. 5. Die Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente besitzt und von seinem Herkunftsland keine solchen Dokumente erhalten hat, einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, nachdem ein nationaler Richter diesen Drittstaatsangehörigen mit der Begründung freigelassen hat, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr im Sinne von Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie bestehe. Der Mitgliedstaat hat dem Drittstaatsangehörigen jedoch in einem solchen Fall eine schriftliche Bestätigung seiner Situation auszustellen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 13. Mai 2014.#Google Spain SL und Google Inc. gegen Agencia Española de Protección de Datos (AEPD) und Mario Costeja González.#Vorabentscheidungsersuchen der Audiencia Nacional.#Personenbezogene Daten – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung solcher Daten – Richtlinie 95/46/EG – Art. 2, 4, 12 und 14 – Sachlicher und räumlicher Anwendungsbereich – Internetsuchmaschinen – Verarbeitung von Daten, die in den Seiten einer Website enthalten sind – Suche, Indexierung und Speicherung solcher Daten – Verantwortlichkeit des Suchmaschinenbetreibers – Niederlassung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats – Umfang der Verpflichtungen des Suchmaschinenbetreibers und der Rechte der betroffenen Person – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 und 8.#Rechtssache C‑131/12.
62012CJ0131
ECLI:EU:C:2014:317
2014-05-13T00:00:00
Jääskinen, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62012CJ0131 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 13. Mai 2014 (*1) „Personenbezogene Daten — Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung solcher Daten — Richtlinie 95/46/EG — Art. 2, 4, 12 und 14 — Sachlicher und räumlicher Anwendungsbereich — Internetsuchmaschinen — Verarbeitung von Daten, die in den Seiten einer Website enthalten sind — Suche, Indexierung und Speicherung solcher Daten — Verantwortlichkeit des Suchmaschinenbetreibers — Niederlassung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats — Umfang der Verpflichtungen des Suchmaschinenbetreibers und der Rechte der betroffenen Person — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 7 und 8“ In der Rechtssache C‑131/12 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Audiencia Nacional (Spanien) mit Entscheidung vom 27. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 9. März 2012, in dem Verfahren Google Spain SL, Google Inc. gegen Agencia Española de Protección de Datos (AEPD), Mario Costeja González erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), L. Bay Larsen, T. von Danwitz und M. Safjan, der Richter J. Malenovský, E. Levits, A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev, der Richterinnen M. Berger und A. Prechal sowie des Richters E. Jarašiūnas, Generalanwalt: N. Jääskinen, Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Februar 2013, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der Google Spain SL und der Google Inc., vertreten durch F. González Díaz, J. Baño Fos und B. Holles, abogados, — von Herrn Costeja González, vertreten durch J. Muñoz Rodríguez, abogado, — der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten, — der griechischen Regierung, vertreten durch E.‑M. Mamouna und K. Boskovits als Bevollmächtigte, — der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato, — der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Kunnert und C. Pesendorfer als Bevollmächtigte, — der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und M. Szpunar als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Martínez del Peral und B. Martenczuk als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juni 2013 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. b und d, Art. 4 Abs. 1 Buchst. a und c, Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. L 281, S. 31) sowie von Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Google Spain SL (im Folgenden: Google Spain) und der Google Inc. auf der einen Seite und der Agencia Española de Protección de Datos (AEPD) (spanische Datenschutzagentur, im Folgenden: AEPD) und Herrn Costeja González auf der anderen Seite über eine Entscheidung der AEPD, mit der einer von Herrn Costeja González gegen die beiden genannten Gesellschaften erhobenen Beschwerde stattgegeben und Google Inc. angewiesen wurde, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Herrn Costeja González betreffende personenbezogene Daten aus ihrem Index zu entfernen und den Zugang zu diesen Daten in Zukunft zu verhindern. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Gegenstand der Richtlinie 95/46 ist nach ihrem Art. 1 der Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere der Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten sowie die Beseitigung der Hemmnisse für den freien Verkehr personenbezogener Daten; in den Erwägungsgründen 2, 10, 18 bis 20 und 25 der Richtlinie heißt es: „(2) Die Datenverarbeitungssysteme stehen im Dienste des Menschen; sie haben, ungeachtet der Staatsangehörigkeit oder des Wohnorts der natürlichen Personen, deren Grundrechte und ‑freiheiten und insbesondere deren Privatsphäre zu achten und … zum Wohlergehen der Menschen beizutragen. … (10) Gegenstand der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über die Verarbeitung personenbezogener Daten ist die Gewährleistung der Achtung der Grundrechte und ‑freiheiten, insbesondere des auch in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und in den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts anerkannten Rechts auf die Privatsphäre. Die Angleichung dieser Rechtsvorschriften darf deshalb nicht zu einer Verringerung des durch diese Rechtsvorschriften garantierten Schutzes führen, sondern muss im Gegenteil darauf abzielen, in der Gemeinschaft ein hohes Schutzniveau sicherzustellen. … (18) Um zu vermeiden, dass einer Person der gemäß dieser Richtlinie gewährleistete Schutz vorenthalten wird, müssen auf jede in der Gemeinschaft erfolgte Verarbeitung personenbezogener Daten die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats angewandt werden. Es ist angebracht, auf die Verarbeitung, die von einer Person, die dem in dem Mitgliedstaat niedergelassenen für die Verarbeitung Verantwortlichen unterstellt ist, vorgenommen werden, die Rechtsvorschriften dieses Staates anzuwenden. (19) Eine Niederlassung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats setzt die effektive und tatsächliche Ausübung einer Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung voraus. Die Rechtsform einer solchen Niederlassung, die eine Agentur oder eine Zweigstelle sein kann, ist in dieser Hinsicht nicht maßgeblich. Wenn der Verantwortliche im Hoheitsgebiet mehrerer Mitgliedstaaten niedergelassen ist, insbesondere mit einer Filiale, muss er vor allem zu Vermeidung von Umgehungen sicherstellen, dass jede dieser Niederlassungen die Verpflichtungen einhält, die im jeweiligen einzelstaatlichen Recht vorgesehen sind, das auf ihre jeweiligen Tätigkeiten anwendbar ist. (20) Die Niederlassung des für die Verarbeitung Verantwortlichen in einem Drittland darf dem Schutz der Personen gemäß dieser Richtlinie nicht entgegenstehen. In diesem Fall sind die Verarbeitungen dem Recht des Mitgliedstaats zu unterwerfen, in dem sich die für die betreffenden Verarbeitungen verwendeten Mittel befinden, und Vorkehrungen zu treffen, um sicherzustellen, dass die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte und Pflichten tatsächlich eingehalten werden. … (25) Die Schutzprinzipien finden zum einen ihren Niederschlag in den Pflichten, die den [für die Verarbeitung verantwortlichen] Personen … obliegen; diese Pflichten betreffen insbesondere die Datenqualität, die technische Sicherheit, die Meldung bei der Kontrollstelle und die Voraussetzungen, unter denen eine Verarbeitung vorgenommen werden kann. Zum anderen kommen sie zum Ausdruck in den Rechten der Personen, deren Daten Gegenstand von Verarbeitungen sind, über diese informiert zu werden, Zugang zu den Daten zu erhalten, ihre Berichtigung verlangen bzw. unter gewissen Voraussetzungen Widerspruch gegen die Verarbeitung einlegen zu können.“ 4 Nach Art. 2 der Richtlinie 95/46 „[bezeichnet] [i]m Sinne dieser Richtlinie … der Ausdruck a) ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person (‚betroffene Person‘); als bestimmbar wird eine Person angesehen, die direkt oder indirekt identifiziert werden kann, insbesondere durch Zuordnung zu einer Kennnummer oder zu einem oder mehreren spezifischen Elementen, die Ausdruck ihrer physischen, physiologischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität sind; b) ‚Verarbeitung personenbezogener Daten‘ (‚Verarbeitung‘) jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Speichern, die Organisation, die Aufbewahrung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Benutzung, die Weitergabe durch Übermittlung, Verbreitung oder jede andere Form der Bereitstellung, die Kombination oder die Verknüpfung sowie das Sperren, Löschen oder Vernichten; … d) ‚für die Verarbeitung Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder jede andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet. Sind die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten in einzelstaatlichen oder gemeinschaftlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften festgelegt, so können der für die Verarbeitung Verantwortliche bzw. die spezifischen Kriterien für seine Benennung durch einzelstaatliche oder gemeinschaftliche Rechtsvorschriften bestimmt werden; …“ 5 Art. 3 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Richtlinie 95/46 lautet: „Diese Richtlinie gilt für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nicht automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einer Datei gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.“ 6 Art. 4 („Anwendbares einzelstaatliches Recht“) der Richtlinie 95/46 lautet: „(1)   Jeder Mitgliedstaat wendet die Vorschriften, die er zur Umsetzung dieser Richtlinie erlässt, auf alle Verarbeitungen personenbezogener Daten an, a) die im Rahmen der Tätigkeiten einer Niederlassung ausgeführt werden, die der für die Verarbeitung Verantwortliche im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats besitzt. Wenn der Verantwortliche eine Niederlassung im Hoheitsgebiet mehrerer Mitgliedstaaten besitzt, ergreift er die notwendigen Maßnahmen, damit jede dieser Niederlassungen die im jeweils anwendbaren einzelstaatlichen Recht festgelegten Verpflichtungen einhält; b) die von einem für die Verarbeitung Verantwortlichen ausgeführt werden, der nicht in seinem Hoheitsgebiet, aber an einem Ort niedergelassen ist, an dem das einzelstaatliche Recht dieses Mitgliedstaats gemäß dem internationalen öffentlichen Recht Anwendung findet; c) die von einem für die Verarbeitung Verantwortlichen ausgeführt werden, der nicht im Gebiet der Gemeinschaft niedergelassen ist und zum Zwecke der Verarbeitung personenbezogener Daten auf automatisierte oder nicht automatisierte Mittel zurückgreift, die im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats belegen sind, es sei denn, dass diese Mittel nur zum Zweck der Durchfuhr durch das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft verwendet werden. (2)   In dem in Absatz 1 Buchstabe c) genannten Fall hat der für die Verarbeitung Verantwortliche einen im Hoheitsgebiet des genannten Mitgliedstaats ansässigen Vertreter zu benennen, unbeschadet der Möglichkeit eines Vorgehens gegen den für die Verarbeitung Verantwortlichen selbst.“ 7 Art. 6 in Kapitel II Abschnitt I („Grundsätze in Bezug auf die Qualität der Daten“) der Richtlinie 95/46 lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten a) nach Treu und Glauben und auf rechtmäßige Weise verarbeitet werden; b) für festgelegte eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zweckbestimmungen nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden. Die Weiterverarbeitung von Daten zu historischen, statistischen oder wissenschaftlichen Zwecken ist im Allgemeinen nicht als unvereinbar mit den Zwecken der vorausgegangenen Datenerhebung anzusehen, sofern die Mitgliedstaaten geeignete Garantien vorsehen; c) den Zwecken entsprechen, für die sie erhoben und/oder weiterverarbeitet werden, dafür erheblich sind und nicht darüber hinausgehen; d) sachlich richtig und, wenn nötig, auf den neuesten Stand gebracht sind; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit im Hinblick auf die Zwecke, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet werden, nichtzutreffende oder unvollständige Daten gelöscht oder berichtigt werden; e) nicht länger, als es für die Realisierung der Zwecke, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet werden, erforderlich ist, in einer Form aufbewahrt werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen ermöglicht. Die Mitgliedstaaten sehen geeignete Garantien für personenbezogene Daten vor, die über die vorgenannte Dauer hinaus für historische, statistische oder wissenschaftliche Zwecke aufbewahrt werden. (2)   Der für die Verarbeitung Verantwortliche hat für die Einhaltung des Absatzes 1 zu sorgen.“ 8 Art. 7 in Kapitel II Abschnitt II („Grundsätze in Bezug auf die Zulässigkeit der Verarbeitung von Daten“) der Richtlinie 95/46 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten lediglich erfolgen darf, wenn eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist: … f) die Verarbeitung ist erforderlich zur Verwirklichung des berechtigten Interesses, das von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder von dem bzw. den Dritten wahrgenommen wird, denen die Daten übermittelt werden, sofern nicht das Interesse oder die Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die gemäß Artikel 1 Absatz 1 geschützt sind, überwie[g]en.“ 9 Art. 9 („Verarbeitung personenbezogener Daten und Meinungsfreiheit“) der Richtlinie 95/46 lautet: „Die Mitgliedstaaten sehen für die Verarbeitung personenbezogener Daten, die allein zu journalistischen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgt, Abweichungen und Ausnahmen von diesem Kapitel sowie von den Kapiteln IV und VI nur insofern vor, als sich dies als notwendig erweist, um das Recht auf Privatsphäre mit den für die Freiheit der Meinungsäußerung geltenden Vorschriften in Einklang zu bringen.“ 10 Art. 12 („Auskunftsrecht“) der Richtlinie 96/46 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten garantieren jeder betroffenen Person das Recht, vom für die Verarbeitung Verantwortlichen Folgendes zu erhalten: … b) je nach Fall die Berichtigung, Löschung oder Sperrung von Daten, deren Verarbeitung nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie entspricht, insbesondere wenn diese Daten unvollständig oder unrichtig sind; …“ 11 Art. 14 („Widerspruchsrecht der betroffenen Person“) der Richtlinie 95/46 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten erkennen das Recht der betroffenen Person an, a) zumindest in den Fällen von Artikel 7 Buchstaben e) und f) jederzeit aus überwiegenden, schutzwürdigen, sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen dagegen Widerspruch einlegen zu können, dass sie betreffende Daten verarbeitet werden; dies gilt nicht bei einer im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen entgegenstehenden Bestimmung. Im Fall eines berechtigten Widerspruchs kann sich die vom für die Verarbeitung Verantwortlichen vorgenommene Verarbeitung nicht mehr auf diese Daten beziehen; …“ 12 Art. 28 („Kontrollstelle“) der Richtlinie 95/46 bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass eine oder mehrere öffentliche Stellen beauftragt werden, die Anwendung der von den Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen einzelstaatlichen Vorschriften in ihrem Hoheitsgebiet zu überwachen. … (3)   Jede Kontrollstelle verfügt insbesondere über: — Untersuchungsbefugnisse, wie das Recht auf Zugang zu Daten, die Gegenstand von Verarbeitungen sind, und das Recht auf Einholung aller für die Erfüllung ihres Kontrollauftrags erforderlichen Informationen; — wirksame Einwirkungsbefugnisse, wie beispielsweise … die Befugnis, die Sperrung, Löschung oder Vernichtung von Daten oder das vorläufige oder endgültige Verbot einer Verarbeitung anzuordnen … — … Gegen beschwerende Entscheidungen der Kontrollstelle steht der Rechtsweg offen. (4)   Jede Person oder ein sie vertretender Verband kann sich zum Schutz der die Person betreffenden Rechte und Freiheiten bei der Verarbeitung personenbezogener Daten an jede Kontrollstelle mit einer Eingabe wenden. Die betroffene Person ist darüber zu informieren, wie mit der Eingabe verfahren wurde. … (6)   Jede Kontrollstelle ist im Hoheitsgebiet ihres Mitgliedstaats für die Ausübung der ihr gemäß Absatz 3 übertragenen Befugnisse zuständig, unabhängig vom einzelstaatlichen Recht, das auf die jeweilige Verarbeitung anwendbar ist. Jede Kontrollstelle kann von einer Kontrollstelle eines anderen Mitgliedstaats um die Ausübung ihrer Befugnisse ersucht werden. Die Kontrollstellen sorgen für die zur Erfüllung ihrer Kontrollaufgaben notwendige gegenseitige Zusammenarbeit, insbesondere durch den Austausch sachdienlicher Informationen. …“ Spanisches Recht 13 Die Richtlinie 95/46 wurde im spanischen Recht durch die Ley Orgánica 15/1999 de Protección de Datos de Carácter Personal (Ley Orgánica zum Schutz personenbezogener Daten) vom 13. Dezember 1999 (BOE Nr. 298 vom 14. Dezember 1999, S. 43088) umgesetzt. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 14 Herr Costeja González, der die spanische Staatsangehörigkeit besitzt und seinen Wohnsitz in Spanien hat, erhob am 5. März 2010 bei der AEPD gegen die La Vanguardia Ediciones SL, die Herausgeberin einer insbesondere in Katalonien (Spanien) weitverbreiteten Tageszeitung (im Folgenden: La Vanguardia), sowie gegen Google Spain und Google Inc. eine Beschwerde, der Folgendes zugrunde lag: Bei Eingabe seines Namens in die Suchmaschine des Google-Konzerns (im Folgenden: Google Search) wurden den Internetnutzern Links zu zwei Seiten der Tageszeitung La Vanguardia vom 19. Januar bzw. 9. März 1998 angezeigt, die eine Anzeige enthielten, in der unter Nennung des Namens von Herrn Costeja González auf die Versteigerung eines Grundstücks im Zusammenhang mit einer wegen Forderungen der Sozialversicherung erfolgten Pfändung hingewiesen wurde. 15 Herr Costeja González beantragte, La Vanguardia anzuweisen, entweder die genannten Seiten zu löschen oder zu ändern, so dass die ihn betreffenden personenbezogen Daten dort nicht mehr angezeigt würden, oder zum Schutz der Daten von bestimmten, von den Suchmaschinen zur Verfügung gestellten technischen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Er beantragte ferner, Google Spain oder Google Inc. anzuweisen, ihn betreffende personenbezogene Daten zu löschen oder zu verbergen, so dass diese weder in den Suchergebnissen noch in Links zu La Vanguardia erschienen. Herr Costeja González behauptete in diesem Zusammenhang, dass die Pfändung, von der er betroffen gewesen sei, seit Jahren vollständig erledigt sei und keine Erwähnung mehr verdiene. 16 Mit Entscheidung vom 30. Juli 2010 wies die AEPD die Beschwerde, soweit sie sich gegen La Vanguardia richtete, mit der Begründung zurück, die Veröffentlichung der betreffenden Informationen durch diese Gesellschaft sei rechtlich gerechtfertigt gewesen, da sie auf Anordnung des Arbeits- und Sozialministeriums und mit dem Ziel einer höchstmöglichen Publizität der Zwangsversteigerung und somit einer höchstmöglichen Zahl an Bietern erfolgt sei. 17 Soweit sie sich gegen Google Spain und Google Inc. richtete, wurde der Beschwerde hingegen stattgegeben. Die AEPD begründete dies damit, dass Suchmaschinenbetreiber eine Datenverarbeitung vornähmen, für die sie verantwortlich seien, und als Mittler der Informationsgesellschaft fungierten; sie unterlägen deshalb den Datenschutzvorschriften. Die AEPD sei befugt, gegenüber Suchmaschinenbetreibern die Entfernung der Daten und das Verbot des Zugangs zu bestimmten Daten anzuordnen, wenn durch das Aufspüren und die Verbreitung der Daten das Grundrecht auf Datenschutz und die Würde der betroffenen Personen im weiteren Sinne, was auch den bloßen Willen der betroffenen Person umfasse, dass Dritte keine Kenntnis von diesen Daten hätten, beeinträchtigt werden könnten. Diese Verpflichtung könne unmittelbar die Suchmaschinenbetreiber treffen, ohne dass die Daten oder Informationen auf der betreffenden Website entfernt werden müssten, insbesondere wenn die Beibehaltung der Informationen auf der Website durch eine Gesetzesvorschrift gerechtfertigt sei. 18 Gegen diese Entscheidung haben Google Spain und Google Inc. bei der Audiencia Nacional zwei gesonderte Klagen erhoben; die Audiencia Nacional hat die beiden Verfahren verbunden. 19 Die Audiencia Nacional führt in der Vorlageentscheidung aus, in den beiden Verfahren stelle sich die Frage, welche Verpflichtungen die Suchmaschinenbetreiber hinsichtlich des Schutzes personenbezogener Daten von betroffenen Personen träfen, die nicht wollten, dass bestimmte auf Websites Dritter veröffentlichte Informationen, die sie betreffende personenbezogene Daten enthielten, mit denen die Informationen ihnen zugeordnet werden könnten, lokalisiert, indexiert und den Internetnutzern unbegrenzt zur Verfügung gestellt würden. Die Antwort auf diese Frage hänge davon ab, wie die Richtlinie 95/46 im Kontext solcher Technologien, die nach ihrer Bekanntmachung aufgekommen seien, auszulegen sei. 20 Die Audiencia Nacional hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Zum räumlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 95/46 und somit der spanischen Rechtsvorschriften über den Schutz personenbezogener Daten: a) Besteht eine „Niederlassung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46, wenn eine oder mehrere der nachstehenden Fallgestaltungen vorliegen: — wenn das die Suchmaschine betreibende Unternehmen in einem Mitgliedstaat für die Förderung des Verkaufs der Werbeflächen der Suchmaschine und diesen Verkauf selbst eine Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft gründet, deren Tätigkeit auf die Einwohner dieses Staats ausgerichtet ist, oder — wenn die Muttergesellschaft eine in diesem Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft als ihre Vertreterin und für zwei konkrete Dateien mit den Daten ihrer Werbekunden als für die Verarbeitung Verantwortliche benennt oder — wenn die in einem Mitgliedstaat ansässige Niederlassung oder Tochtergesellschaft Beschwerden und Anordnungen, die von den betroffenen Personen bzw. den zuständigen Behörden an sie gerichtet werden, um zu erwirken, dass das Recht auf Schutz personenbezogener Daten beachtet wird, an die außerhalb der Europäischen Union ansässige Muttergesellschaft weiterleitet, auch wenn diese Zusammenarbeit freiwillig erfolgt? b) Ist Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen, dass ein „Rückgriff“ auf „Mittel, die im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats belegen sind“, gegeben ist, — wenn eine Suchmaschine „Webcrawler“ oder Indexierungsbots einsetzt, um Informationen auf Websites, die auf Servern in diesem Mitgliedstaat gehostet sind, zu lokalisieren und zu indexieren, oder — eine länderspezifische Domain eines Mitgliedstaats nutzt und Suche und Suchergebnisse an der Sprache dieses Mitgliedstaats ausrichtet? c) Kann die vorübergehende Speicherung der durch die Internetsuchmaschinen indexierten Informationen als Rückgriff auf Mittel im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 95/46 betrachtet werden? Wenn ja: Kann davon ausgegangen werden, dass dieses Anknüpfungskriterium erfüllt ist, wenn sich das Unternehmen aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit weigert, den Ort offenzulegen, an dem es die Indexe speichert? d) Unabhängig von der Antwort auf die vorstehenden Fragen und insbesondere für den Fall, dass der Gerichtshof der Auffassung sein sollte, dass die in Art. 4 der Richtlinie vorgesehenen Anknüpfungskriterien nicht erfüllt sind: Ist die Richtlinie 95/46 im Licht des Art. 8 der Charta in dem Mitgliedstaat anzuwenden, in dem sich der Schwerpunkt des Konflikts befindet und die Rechte der Unionsbürger am wirksamsten geschützt werden können? 2. In Bezug auf die Tätigkeit der Suchmaschinen als Anbieter von Inhalten unter dem Blickwinkel der Richtlinie 95/46: a) Zur Tätigkeit von Google Search als Anbieterin von Inhalten, die darin besteht, von Dritten ins Internet gestellte oder dort veröffentlichte Informationen zu finden, automatisch zu indexieren, vorübergehend zu speichern und schließlich den Internetnutzern in einer bestimmten Rangfolge zur Verfügung zu stellen: Fällt, wenn die genannten Informationen personenbezogene Daten Dritter enthalten, eine solche Tätigkeit unter den Begriff „Verarbeitung personenbezogener Daten“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46? b) Bei Bejahung der vorstehenden Frage, ebenfalls im Zusammenhang mit einer Tätigkeit wie der zuvor beschriebenen: Ist Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen, dass das Unternehmen, das Google Search betreibt, hinsichtlich der auf den von ihr indexierten Websites befindlichen Daten der „für die Verarbeitung Verantwortliche“ ist? c) Bei Bejahung der vorstehenden Frage: Kann die AEPD zum Schutz der durch Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 gewährleisteten Rechte Google Search unmittelbar anweisen, von Dritten veröffentlichte Informationen aus ihren Indexen zu entfernen, ohne sich zuvor oder gleichzeitig an den Inhaber der Website, die diese Informationen enthält, wenden zu müssen? d) Bei Bejahung der vorstehenden Frage: Entfällt die Verpflichtung der Suchmaschinenbetreiber zum Schutz der genannten Rechte, wenn die in den personenbezogenen Daten enthaltenen Informationen von Dritten rechtmäßig veröffentlicht worden sind und sich nach wie vor auf der ursprünglichen Website befinden? 3. Zur Tragweite des Rechts auf Löschung und/oder auf Widerspruch gegen die Verarbeitung die eigene Person betreffender Daten in Verbindung mit dem Recht auf Vergessenwerden: Sind das Recht auf Löschung und Sperrung personenbezogener Daten gemäß Art. 12 Buchst. b der Richtlinie 95/46 und das Recht auf Widerspruch gegen eine Verarbeitung gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen, dass sich die betroffene Person an die Suchmaschinenbetreiber wenden kann, um die Indexierung auf sie bezogener Informationen zu verhindern, die auf Websites Dritter veröffentlicht sind, und sie sich hierzu auf ihren Willen berufen kann, dass sie den Internetnutzern nicht bekannt werden, wenn sie der Ansicht ist, dass sie ihr schaden können, oder sie sich wünscht, dass sie vergessen werden, selbst wenn es sich um Informationen handelt, die von Dritten rechtmäßig veröffentlicht wurden? Zu den Vorlagefragen Zu Frage 2 Buchst. a und b (sachlicher Anwendungsbereich der Richtlinie 95/46) 21 Mit Frage 2 Buchst. a und b, die als Erste zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen ist, dass die Tätigkeit einer Suchmaschine als Anbieterin von Inhalten, die darin besteht, von Dritten ins Internet gestellte oder dort veröffentlichte Informationen zu finden, automatisch zu indexieren, vorübergehend zu speichern und schließlich den Internetnutzern in einer bestimmten Rangfolge zur Verfügung zu stellen, sofern die Informationen personenbezogene Daten enthalten, als „Verarbeitung personenbezogener Daten“ im Sinne der genannten Bestimmung einzustufen ist. Wenn ja, möchte das vorlegende Gericht ferner wissen, ob Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen ist, dass der Suchmaschinenbetreiber im Sinne dieser Bestimmung als für eine solche Verarbeitung personenbezogener Daten „Verantwortlicher“ anzusehen ist. 22 Google Spain und Google Inc. vertreten die Auffassung, die Tätigkeit der Suchmaschinen sei nicht als Verarbeitung der Daten, die auf den in der Suchergebnisliste angezeigten Internetseiten Dritter erschienen, anzusehen, da Suchmaschinen sämtliche im Internet verfügbaren Informationen verarbeiteten, ohne zwischen personenbezogenen Daten und anderen Informationen zu unterscheiden. Selbst wenn diese Tätigkeit als „Datenverarbeitung“ einzustufen sein sollte, könne der Suchmaschinenbetreiber nicht als für die Verarbeitung „Verantwortlicher“ angesehen werden, da er keine Kenntnis von den personenbezogen Daten und keine Kontrolle über sie habe. 23 Herr Costeja González, die spanische, die italienische, die österreichische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission sind hingegen der Ansicht, dass die Tätigkeit der Suchmaschinen ganz klar eine „Datenverarbeitung“ im Sinne der Richtlinie 95/46 umfasse, die sich von der, die von den Herausgebern der Websites ausgeführt werde, unterscheide und anderen Zwecken diene als diese. Der Suchmaschinenbetreiber sei, weil er über die Zwecke und Mittel der von ihm ausgeführten Datenverarbeitung entscheide, der für diese „Verantwortliche“. 24 Nach Auffassung der griechischen Regierung stellt die Tätigkeit der Suchmaschinen zwar eine Datenverarbeitung im Sinne der Richtlinie dar; da Suchmaschinen lediglich als Mittler fungierten, könnten die Unternehmen, die sie betrieben, aber nicht als „Verantwortliche“ angesehen werden, es sei denn, dass sie Daten in einem „Zwischenspeicher“ oder „Cache“ länger speicherten, als es technisch erforderlich sei. 25 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 die „Verarbeitung personenbezogener Daten“ definiert als „jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Speichern, die Organisation, die Aufbewahrung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Benutzung, die Weitergabe durch Übermittlung, Verbreitung oder jede andere Form der Bereitstellung, die Kombination oder die Verknüpfung sowie das Sperren, Löschen oder Vernichten“. 26 Speziell zum Internet hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Vorgang, der darin besteht, personenbezogene Daten auf eine Internetseite zu stellen, als eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 anzusehen ist (vgl. Urteil Lindqvist, C‑101/01, EU:C:2003:596, Rn. 25). 27 Bei der Tätigkeit, um die es im Ausgangsverfahren geht, ist unstreitig, dass sich unter den Daten, die von den Suchmaschinen gefunden, indexiert, gespeichert und den Nutzern zur Verfügung gestellt werden, auch Informationen über bestimmte oder bestimmbare natürliche Personen, also „personenbezogene Daten“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie, befinden. 28 Indem er das Internet automatisch, kontinuierlich und systematisch auf die dort veröffentlichten Informationen durchforstet, „erhebt“ der Suchmaschinenbetreiber mithin personenbezogene Daten, die er dann mit seinen Indexierprogrammen „ausliest“, „speichert“ und „organisiert“, auf seinen Servern „aufbewahrt“ und gegebenenfalls in Form von Ergebnislisten an seine Nutzer „weitergibt“ und diesen „bereitstellt“. Diese Vorgänge sind in Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 ausdrücklich und ohne Einschränkung genannt, so dass sie als „Verarbeitung“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen sind, ohne dass es darauf ankommt, ob der Suchmaschinenbetreiber dieselben Vorgänge auch bei anderen Arten von Informationen ausführt und ob er zwischen diesen Informationen und personenbezogenen Daten unterscheidet. 29 Daran ändert auch nichts, dass die personenbezogenen Daten bereits im Internet veröffentlicht worden sind und von der Suchmaschine nicht verändert werden. 30 Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass die in Art. 2 Buchst. b der Richtlinien 95/46 genannten Vorgänge auch dann als Verarbeitung personenbezogener Daten einzustufen sind, wenn sie ausschließlich Informationen enthalten, die genau so bereits in den Medien veröffentlicht worden sind. Eine allgemeine Ausnahme von der Anwendung der Richtlinie 95/46 in solchen Fällen würde die Richtlinie nämlich weitgehend leerlaufen lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, EU:C:2008:727, Rn. 48 und 49). 31 Im Übrigen ergibt sich aus der Begriffsbestimmung in Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46, dass die Veränderung personenbezogener Daten zwar eine Verarbeitung im Sinne der Richtlinie ist, die anderen dort genannten Vorgänge dagegen keineswegs eine Veränderung dieser Daten erfordern. 32 Zur Frage, ob der Suchmaschinenbetreiber bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, die von der Suchmaschine im Rahmen einer Tätigkeit wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ausgeführt wird, als „für die Verarbeitung Verantwortlicher“ anzusehen ist, ist festzustellen, dass Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 den „für die Verarbeitung Verantwortlichen“ definiert als „die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder jede andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet“. 33 Über die Zwecke und Mittel der genannten Tätigkeit und somit der in deren Rahmen vom Suchmaschinenbetreiber selbst ausgeführten Verarbeitung personenbezogener Daten entscheidet aber der Suchmaschinenbetreiber, so dass er als für diese Verarbeitung „Verantwortlicher“ im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 anzusehen ist. 34 Im Übrigen ließe es sich nicht nur nicht mit dem klaren Wortlaut, sondern auch nicht mit dem Ziel der genannten Bestimmung, durch eine weite Bestimmung des Begriffs des „Verantwortlichen“ einen wirksamen und umfassenden Schutz der betroffenen Personen zu gewährleisten, vereinbaren, den Suchmaschinenbetreiber deshalb von diesem Begriff auszunehmen, weil die auf den Internetseiten Dritter veröffentlichten personenbezogenen Daten nicht seiner Kontrolle unterliegen. 35 Insoweit ist festzustellen, dass sich die Verarbeitung personenbezogener Daten, die im Rahmen der Tätigkeit einer Suchmaschine ausgeführt wird, von der unterscheidet, die von den Herausgebern von Websites, die diese Daten auf einer Internetseite einstellen, vorgenommen wird, und zusätzlich zu dieser erfolgt. 36 Außerdem ist unstreitig, dass diese Tätigkeit der Suchmaschinen maßgeblichen Anteil an der weltweiten Verbreitung personenbezogener Daten hat, da sie diese jedem Internetnutzer zugänglich macht, der eine Suche anhand des Namens der betreffenden Person durchführt, und zwar auch denjenigen, die die Internetseite, auf der diese Daten veröffentlicht sind, sonst nicht gefunden hätten. 37 Zudem kann die Organisation und Aggregation der im Internet veröffentlichten Informationen, die von den Suchmaschinen mit dem Ziel durchgeführt wird, ihren Nutzern den Zugang zu diesen Informationen zu erleichtern, bei einer anhand des Namens einer natürlichen Person durchgeführten Suche dazu führen, dass die Nutzer der Suchmaschinen mit der Ergebnisliste einen strukturierten Überblick über die zu der betreffenden Person im Internet zu findenden Informationen erhalten, anhand dessen sie ein mehr oder weniger detailliertes Profil der Person erstellen können. 38 Durch die Tätigkeit einer Suchmaschine können die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und Schutz personenbezogener Daten somit erheblich beeinträchtigt werden, und zwar zusätzlich zur Tätigkeit der Herausgeber von Websites; als derjenige, der über die Zwecke und Mittel dieser Tätigkeit entscheidet, hat der Suchmaschinenbetreiber daher in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass die Tätigkeit den Anforderungen der Richtlinie 95/46 entspricht, damit die darin vorgesehenen Garantien ihre volle Wirksamkeit entfalten können und ein wirksamer und umfassender Schutz der betroffenen Personen, insbesondere ihres Rechts auf Achtung ihres Privatlebens, tatsächlich verwirklicht werden kann. 39 Schließlich ist festzustellen, dass der Umstand, dass die Herausgeber von Websites die Möglichkeit haben, den Suchmaschinenbetreibern u. a. mit Hilfe von Ausschlussprotokollen wie „robot.txt“ oder Codes wie „noindex“ oder „noarchive“ zu signalisieren, dass eine bestimmte auf ihrer Website veröffentlichte Information ganz oder teilweise von den automatischen Indexen der Suchmaschinen ausgeschlossen werden soll, nicht bedeutet, dass das Fehlen eines solchen Hinweises seitens der Herausgeber von Websites den Suchmaschinenbetreiber von seiner Verantwortung für die von ihm im Rahmen der Tätigkeit der Suchmaschinen vorgenommene Verarbeitung personenbezogener Daten befreite. 40 Dies ändert nämlich nichts daran, dass der Suchmaschinenbetreiber über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung personenbezogener Daten entscheidet. Selbst wenn die genannte Möglichkeit der Herausgeber von Websites bedeuten sollte, dass sie gemeinsam mit dem Suchmaschinenbetreiber über die Mittel der Verarbeitung personenbezogener Daten entscheiden, nimmt dies dem Suchmaschinenbetreiber nichts von seiner Verantwortung, da Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 ausdrücklich vorsieht, dass die Entscheidung über die Mittel „allein oder gemeinsam mit anderen“ erfolgen kann. 41 Somit ist auf Frage 2 Buchst. a und b zu antworten, dass Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen ist, dass die Tätigkeit einer Suchmaschine, die darin besteht, von Dritten ins Internet gestellte oder dort veröffentlichte Informationen zu finden, automatisch zu indexieren, vorübergehend zu speichern und schließlich den Internetnutzern in einer bestimmten Rangfolge zur Verfügung zu stellen, sofern die Informationen personenbezogene Daten enthalten, als „Verarbeitung personenbezogener Daten“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 einzustufen ist und dass der Betreiber dieser Suchmaschine als für diese Verarbeitung „Verantwortlicher“ im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 anzusehen ist. Zu Frage 1 Buchst. a bis d (räumlicher Anwendungsbereich der Richtlinie 95/46) 42 Mit Frage 1 Buchst. a bis d möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die nationalen Rechtsvorschriften, mit denen die Richtlinie 95/46 umgesetzt wurde, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens angewandt werden können. 43 Das vorlegende Gericht hat insoweit folgende Tatsachen festgestellt: — Google Search wird weltweit über die Website „www.google.com“ angeboten. Für viele Länder gibt es lokale, an die jeweilige Landessprache angepasste Versionen. Die spanischsprachige Version von Google Search wird über die seit dem 16. September 2003 registrierte Website „www.google.es“ angeboten. Google Search ist in Spanien eine der am meisten verwendeten Suchmaschinen. — Google Search wird von Google Inc., der Muttergesellschaft des Google-Konzerns mit Sitz in den Vereinigten Staaten, betrieben. — Google Search indexiert die Websites der ganzen Welt, u. a. die Websites in Spanien. Die Informationen, die von seinen „Webcrawlern“ oder Indexierungsbots – Computerprogrammen zum systematischen und automatischen Auffinden und Durchsuchen des Inhalts von Internetseiten – indexiert werden, werden vorübergehend auf Servern gespeichert, von denen nicht bekannt ist, in welchem Staat sie sich befinden, da diese Information aus Wettbewerbsgründen geheim gehalten wird. — Google Search beschränkt sich nicht darauf, Zugang zu den Inhalten der indexierten Websites zu gewähren, sondern zieht aus dieser Tätigkeit Gewinn, indem es für Unternehmen, die diese Funktion nutzen möchten, um den Internetnutzern ihre Waren oder Dienstleistungen anzubieten, gegen Entgelt Werbeanzeigen einbettet, die mit den von den Internetnutzern eingegebenen Suchwörtern verknüpft sind. — Der Google-Konzern bedient sich seiner Tochtergesellschaft Google Spain, um Werbung für den Verkauf der Werbeflächen auf der Website „www.google.com“ zu machen. Die Gesellschaft wurde am 3. September 2003 gegründet und hat eigene Rechtspersönlichkeit; ihr Sitz befindet sich in Madrid (Spanien). Als Handelsvertreter des Google-Konzerns in Spanien wendet sich Google Spain im Wesentlichen an in Spanien ansässige Unternehmen. Gesellschaftszweck ist die Förderung, Erleichterung und Durchführung des Verkaufs von Produkten und Diensten der Onlinewerbung an Dritte und das entsprechende Marketing. — Google Inc. hat für zwei von ihr bei der AEPD angemeldete Dateien mit den ihre Werbekunden betreffenden personenbezogenen Daten Google Spain als für die Verarbeitung in Spanien Verantwortlicher angegeben. 44 Konkret sind für das vorlegende Gericht in erster Linie der Begriff „Niederlassung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 und der Begriff „Rückgriff auf Mittel, die im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats belegen sind“, im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie fraglich. Zu Frage 1 Buchst. a 45 Mit Frage 1 Buchst. a möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen ist, dass im Sinne dieser Bestimmung eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der Tätigkeiten einer Niederlassung, die der für die Verarbeitung Verantwortliche im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats besitzt, ausgeführt wird, wenn eine oder mehrere der drei nachstehenden Voraussetzungen erfüllt sind: — der Suchmaschinenbetreiber gründet in einem Mitgliedstaat für die Förderung des Verkaufs der Werbeflächen der Suchmaschine und diesen Verkauf selbst eine Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft, deren Tätigkeit auf die Einwohner dieses Staates ausgerichtet ist, — die Muttergesellschaft benennt eine in diesem Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft als ihre Vertreterin und für zwei spezifische Dateien mit den Daten ihrer Werbekunden als für die Verarbeitung Verantwortliche und/oder — die in einem Mitgliedstaat ansässige Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft leitet Beschwerden und Anordnungen, die von den betroffenen Personen bzw. den zuständigen Behörden an sie gerichtet werden, um zu erwirken, dass das Recht auf Schutz personenbezogener Daten beachtet wird, an die außerhalb der Union ansässige Muttergesellschaft weiter, auch wenn diese Zusammenarbeit freiwillig erfolgt. 46 Zur ersten dieser drei Voraussetzungen führt das vorlegende Gericht aus, Google Search werde von Google Inc. betrieben und verwaltet; es sei nicht erwiesen, dass Google Spain in Spanien eine Tätigkeit ausübe, die unmittelbar mit der Indexierung oder Speicherung von in Websites Dritter enthaltener Informationen oder Daten zusammenhänge. Die Tätigkeit des Verkaufs der Werbeflächen und der Förderung dieses Verkaufs, um die sich für Spanien Google Spain kümmere, stelle aber den wesentlichen Teil der geschäftlichen Tätigkeit des Google-Konzerns dar; es könne davon ausgegangen werden, dass diese Tätigkeit eng mit Google Search zusammenhänge. 47 Herr Costeja González, die spanische, die italienische, die österreichische und die polnische Regierung sowie die Kommission sind der Ansicht, dass Google Spain wegen der untrennbaren Verbindung, die zwischen ihrer Tätigkeit und der der von Google Inc. betriebenen Suchmaschine bestehe, als Niederlassung von Google Inc. anzusehen sei; die Verarbeitung personenbezogener Daten werde im Rahmen der Tätigkeiten dieser Niederlassung ausgeführt. Google Spain, Google Inc. und die griechische Regierung meinen hingegen, Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 finde auf die Fallgestaltung der ersten der drei vom vorlegenden Gericht angeführten Voraussetzungen keine Anwendung. 48 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass es im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 95/46 heißt, dass „[e]ine Niederlassung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats … die effektive und tatsächliche Ausübung einer Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung voraus[setzt]“ und „[d]ie Rechtsform einer solchen Niederlassung, die eine Agentur oder eine Zweigstelle sein kann, … in dieser Hinsicht nicht maßgeblich [ist]“. 49 Dass Google Spain in Spanien effektiv und tatsächlich eine Tätigkeit mittels einer festen Einreichung ausübt, ist aber unstreitig. Google Spain verfügt außerdem über eigene Rechtspersönlichkeit, so dass sie eine Tochtergesellschaft von Google Inc. in Spanien und somit eine „Niederlassung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 darstellt. 50 Diese Bestimmung setzt ferner voraus, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten durch den für die Verarbeitung Verantwortlichen „im Rahmen der Tätigkeiten“ einer Niederlassung ausgeführt wird, die dieser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats besitzt. 51 Google Spain und Google Inc. sind der Ansicht, diese Voraussetzung sei im vorliegenden Fall nicht erfüllt, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verarbeitung personenbezogener Daten ausschließlich von Google Inc. ausgeführt werde, die Google Search betreibe, ohne dass Google Spain daran in irgendeiner Weise mitwirke; die Tätigkeit von Google Spain beschränke sich auf die Unterstützung der Tätigkeit des Google-Konzerns auf dem Gebiet der Werbung, die von seinem Suchmaschinendienst verschieden sei. 52 Wie insbesondere die spanische Regierung und die Kommission geltend machen, verlangt Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 aber nicht, dass die in Rede stehende Verarbeitung personenbezogener Daten „von“ der betreffenden Niederlassung selbst ausgeführt wird, sondern lediglich, dass sie „im Rahmen der Tätigkeiten“ der Niederlassung ausgeführt wird. 53 Außerdem kann diese Wendung im Hinblick auf das Ziel der Richtlinie 95/46, nämlich bei der Verarbeitung personenbezogener Daten einen wirksamen und umfassenden Schutz der Grundfreiheiten und Grundrechte natürlicher Personen, insbesondere des Rechts auf Privatleben, zu gewährleisten, nicht eng ausgelegt werden (vgl. entsprechend Urteil L'Oréal u. a., C‑324/09, EU:C:2011:474, Rn. 62 und 63). 54 Insoweit ergibt sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 18 bis 20 und Art. 4 der Richtlinie 95/46, dass der Unionsgesetzgeber vermeiden wollte, dass der gemäß der Richtlinie gewährleistete Schutz einer Person vorenthalten und umgangen wird, und deshalb einen besonders weiten räumlichen Anwendungsbereich vorgesehen hat. 55 Im Hinblick auf dieses Ziel der Richtlinie 95/46 und den Wortlaut ihres Art. 4 Abs. 1 Buchst. a ist davon auszugehen, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten, die für den Dienst einer Suchmaschine wie Google Search erfolgt, die von einem Unternehmen betrieben wird, das seinen Sitz in einem Drittstaat hat, jedoch in einem Mitgliedstaat über eine Niederlassung verfügt, „im Rahmen der Tätigkeiten“ dieser Niederlassung ausgeführt wird, wenn diese die Aufgabe hat, in dem Mitgliedstaat für die Förderung des Verkaufs der angebotenen Werbeflächen der Suchmaschine, mit denen die Dienstleistung der Suchmaschine rentabel gemacht werden soll, und diesen Verkauf selbst zu sorgen. 56 Unter solchen Umständen sind nämlich die Tätigkeiten des Suchmaschinenbetreibers und die seiner Niederlassung in dem betreffenden Mitgliedstaat untrennbar miteinander verbunden, da die die Werbeflächen betreffenden Tätigkeiten das Mittel darstellen, um die in Rede stehende Suchmaschine wirtschaftlich rentabel zu machen, und die Suchmaschine gleichzeitig das Mittel ist, das die Durchführung dieser Tätigkeiten ermöglicht. 57 Wie in den Rn. 26 bis 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, stellt bereits die Anzeige personenbezogener Daten auf einer Seite mit Suchergebnissen eine Verarbeitung dieser Daten dar. Da aber zusammen mit den Ergebnissen auf derselben Seite die mit den Suchbegriffen verknüpften Werbeanzeigen angezeigt werden, ist festzustellen, dass die in Rede stehende Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der Werbetätigkeit erfolgt, die von der Niederlassung, die der für die Verarbeitung Verantwortliche im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats – im vorliegenden Fall in Spanien – besitzt, ausgeübt wird. 58 Daher kann es nicht angehen, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten, die zum Betrieb der Suchmaschine ausgeführt wird, den in der Richtlinie 95/46 vorgesehenen Verpflichtungen und Garantien entzogen wird, was die praktische Wirksamkeit der Richtlinie und den wirksamen und umfassenden Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen, die mit ihr gewährleistet werden sollen, einschränken würde (vgl. entsprechend Urteil L'Oréal u. a., EU:C:2011:474, Rn. 62 und 63), insbesondere des Rechts auf Schutz der Privatsphäre bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, dem die Richtlinie eine besondere Bedeutung beimisst, wie u. a. aus ihrem Art. 1 Abs. 1 und ihren Erwägungsgründen 2 und 10 hervorgeht (vgl. in diesem Sinne Urteile Österreichischer Rundfunk u. a., C‑465/00, C‑138/01 und C‑139/01, EU:C:2003:294, Rn. 70, Rijkeboer, C‑553/07, EU:C:2009:293, Rn. 47, und IPI, C‑473/12, EU:C:2013:715, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 59 Da die erste der drei vom vorlegenden Gericht angeführten Voraussetzungen bereits für die Feststellung genügt, dass eine Niederlassung wie Google Spain das Kriterium des Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 erfüllt, brauchen die beiden anderen Voraussetzungen nicht geprüft zu werden. 60 Somit ist auf Frage 1 Buchst. a zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen ist, dass im Sinne dieser Bestimmung eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der Tätigkeiten einer Niederlassung, die der für die Verarbeitung Verantwortliche im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats besitzt, ausgeführt wird, wenn der Suchmaschinenbetreiber in einem Mitgliedstaat für die Förderung des Verkaufs der Werbeflächen der Suchmaschine und diesen Verkauf selbst eine Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft gründet, deren Tätigkeit auf die Einwohner dieses Staates ausgerichtet ist. Zu Frage 1 Buchst. b, c und d 61 In Anbetracht der Antwort auf Frage 1 Buchst. a ist Frage 1 Buchst. b, c und d nicht zu beantworten. Zu Frage 2 Buchst. c und d (Umfang der Verantwortlichkeit des Suchmaschinenbetreibers nach der Richtlinie 95/46) 62 Mit Frage 2 Buchst. c und d möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass der Suchmaschinenbetreiber zur Wahrung der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Rechte dazu verpflichtet ist, von der Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand des Namens einer Person durchgeführte Suche angezeigt wird, Links zu von Dritten veröffentlichten Internetseiten mit Informationen zu dieser Person zu entfernen, auch wenn der Name oder die Informationen auf diesen Internetseiten nicht vorher oder gleichzeitig gelöscht werden und gegebenenfalls auch dann, wenn ihre Veröffentlichung auf den Internetseiten als solche rechtmäßig ist. 63 Google Spain und Google Inc. sind der Ansicht, dass Anträge auf Löschung von Informationen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an den Herausgeber der betreffenden Website zu richten seien, da dieser die Verantwortung für die Veröffentlichung der Informationen übernehme, die Rechtmäßigkeit der Veröffentlichung beurteilen könne und über die wirksamsten und am wenigsten beeinträchtigenden Mittel zur Unzugänglichmachung der Informationen verfüge. Außerdem werde den Grundrechten der Websiteherausgeber, der anderen Internetnutzer und des Suchmaschinenbetreibers nicht hinreichend Rechnung getragen, wenn Letzterer angewiesen werde, im Internet veröffentlichte Informationen aus seinen Indexen zu entfernen. 64 Die österreichische Regierung vertritt die Auffassung, eine nationale Kontrollstelle könne nur dann anordnen, dass der Suchmaschinenbetreiber von Dritten veröffentlichte Informationen aus seinen Dateien lösche, wenn vorher festgestellt worden sei, dass die betreffenden Daten rechtswidrig oder unzutreffend seien, oder die betroffene Person beim Herausgeber der Website, auf der die Informationen veröffentlicht worden seien, mit Erfolg Widerspruch eingelegt habe. 65 Herr Costeja González, die spanische, die italienische und die polnische Regierung sowie die Kommission vertreten die Auffassung, die nationale Behörde könne den Betreiber einer Suchmaschine unmittelbar anweisen, aus seinen Indexen und seinem Zwischenspeicher Informationen zu entfernen, die von Dritten veröffentlichte personenbezogene Daten enthielten, ohne sich vorher oder gleichzeitig an den Herausgeber der Website wenden zu müssen, auf der sich die Informationen befänden. Nach Auffassung von Herrn Costeja González, der spanischen und der italienischen Regierung sowie der Kommission kommt es für die Verpflichtungen des Suchmaschinenbetreibers aus der Richtlinie 95/46 ferner nicht darauf an, dass die Informationen rechtmäßig veröffentlicht worden sind und sich nach wie vor auf der ursprünglichen Internetseite befinden. Nach Auffassung der polnischen Regierung dagegen kann dieser Umstand den Suchmaschinenbetreiber von seinen Verpflichtungen befreien. 66 Zunächst ist zu beachten, dass die Richtlinie 95/46, wie sich aus ihrem Art. 1 und ihrem 10. Erwägungsgrund ergibt, darauf abzielt, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten, insbesondere der Privatsphäre, natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil IPI, EU:C:2013:715, Rn. 28). 67 Nach dem 25. Erwägungsgrund der Richtlinie 95/46 finden die in der Richtlinie vorgesehenen Schutzprinzipien zum einen ihren Niederschlag in den Pflichten, die den für die Verarbeitung verantwortlichen Personen obliegen und insbesondere die Datenqualität, die technische Sicherheit, die Meldung bei der Kontrollstelle und die Voraussetzungen, unter denen eine Verarbeitung vorgenommen werden kann, betreffen, und kommen zum anderen in den Rechten der Personen, deren Daten Gegenstand von Verarbeitungen sind, über diese informiert zu werden, Zugang zu den Daten zu erhalten, ihre Berichtigung verlangen bzw. unter gewissen Voraussetzungen Widerspruch gegen die Verarbeitung einlegen zu können, zum Ausdruck. 68 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Bestimmungen der Richtlinie 95/46, soweit sie Verarbeitungen personenbezogener Daten betreffen, die zu Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten und insbesondere des Rechts auf Achtung des Privatlebens führen können, im Licht der Grundrechte auszulegen sind, die nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, und nun in der Charta verankert sind (vgl. u. a. Urteile Connolly/Kommission, C‑274/99 P, EU:C:2001:127, Rn. 37, und Österreichischer Rundfunk u. a., EU:C:2003:294, Rn. 68). 69 So garantiert Art. 7 der Charta das Recht auf Achtung des Privatlebens, und Art. 8 der Charta proklamiert ausdrücklich das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten. In den Abs. 2 und 3 des letztgenannten Artikels wird präzisiert, dass diese Daten nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden dürfen, dass jede Person das Recht hat, Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu erhalten und die Berichtigung der Daten zu erwirken, und dass die Einhaltung dieser Vorschriften von einer unabhängigen Stelle überwacht wird. Diese Erfordernisse werden insbesondere durch die Art. 6, 7, 12, 14 und 28 der Richtlinie 95/46 durchgeführt. 70 Nach Art. 12 Buchst. b der Richtlinie 95/46 garantieren die Mitgliedstaaten jeder betroffenen Person das Recht, vom für die Verarbeitung Verantwortlichen je nach Fall die Berichtigung, Löschung oder Sperrung von Daten zu erhalten, deren Verarbeitung nicht den Bestimmungen der Richtlinie entspricht, insbesondere wenn diese Daten unvollständig oder unrichtig sind. Da diese letztgenannte Präzisierung in Bezug auf die Nichterfüllung bestimmter in Art. 6 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 95/46 genannter Erfordernisse exemplarischen, und nicht abschließenden Charakter hat, kann eine Verarbeitung auch deshalb nicht den Bestimmungen der Richtlinie entsprechen und somit für die betroffene Person das in Art. 12 Buchst. b der Richtlinie garantierte Recht begründen, weil andere Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Verarbeitung personenbezogener Daten gemäß der Richtlinie nicht erfüllt sind. 71 Jede Verarbeitung personenbezogener Daten muss – vorbehaltlich der in Art. 13 der Richtlinie 95/46 zugelassenen Ausnahmen – den in Art. 6 der Richtlinie aufgestellten Grundsätzen in Bezug auf die Qualität der Daten und einem der in Art. 7 der Richtlinie aufgeführten Grundsätze in Bezug auf die Zulässigkeit der Verarbeitung von Daten genügen (vgl. Urteile Österreichischer Rundfunk u. a., EU:C:2003:294, Rn. 65; ASNEF und FECEMD, C‑468/10 und C‑469/10, EU:C:2011:777, Rn. 26, und Worten, C‑342/12, EU:C:2013:355, Rn. 33). 72 Vorbehaltlich besonderer Vorschriften, die die Mitgliedstaaten für die Verarbeitung personenbezogener Daten für historische, statistische oder wissenschaftliche Zwecke vorsehen können, hat der für die Verarbeitung Verantwortliche nach dem Wortlaut des genannten Art. 6 der Richtlinie 95/46 dafür zu sorgen, dass die personenbezogenen Daten „nach Treu und Glauben und auf rechtmäßige Weise verarbeitet werden“, „für festgelegte eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zweckbestimmungen nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden“, „den Zwecken entsprechen, für die sie erhoben und/oder weiterverarbeitet werden, dafür erheblich sind und nicht darüber hinausgehen“, „sachlich richtig und, wenn nötig, auf den neuesten Stand gebracht sind“ und „nicht länger, als es für die Realisierung der Zwecke, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet werden, erforderlich ist, in einer Form aufbewahrt werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen ermöglicht“. Der für die Verarbeitung Verantwortliche hat insofern alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit Daten, die die Anforderungen der genannten Bestimmung nicht erfüllen, gelöscht oder berichtigt werden. 73 Was die Zulässigkeit gemäß Art. 7 der Richtlinie 95/46 angeht, kommt für eine von einem Suchmaschinenbetreiber ausgeführte Verarbeitung, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, als Zulässigkeitsgrund Art. 7 Buchst. f der Richtlinie in Betracht. 74 Nach dieser Bestimmung ist die Verarbeitung personenbezogener Daten zulässig, wenn sie zur Verwirklichung des berechtigten Interesses, das von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder von dem bzw. den Dritten wahrgenommen wird, denen die Daten übermittelt werden, erforderlich ist, sofern nicht das Interesse oder die Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, insbesondere ihr Recht auf Schutz der Privatsphäre bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, die gemäß Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie geschützt sind, überwiegen. Die Anwendung von Art. 7 Buchst. f der Richtlinie 95/46 erfordert also eine Abwägung der jeweiligen einander gegenüberstehenden Rechte und Interessen, in deren Rahmen die Bedeutung der Rechte der betroffenen Person, die sich aus den Art. 7 und 8 der Charta ergeben, zu berücksichtigen ist (vgl. Urteil ASNEF und FECEMD, EU:C:2011:777, Rn. 38 und 40). 75 Ob eine Verarbeitung den Bestimmungen von Art. 6 und Art. 7 Buchst. f der Richtlinie 95/46 entspricht, kann im Rahmen eines Antrags gemäß Art. 12 Buchst. b der Richtlinie geprüft werden; unter bestimmten Voraussetzungen kann die betroffene Person darüber hinaus aber auch ihr Widerspruchsrecht gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie ausüben. 76 Nach dem genannten Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 erkennen die Mitgliedstaaten das Recht der betroffenen Person an, zumindest in den Fällen von Art. 7 Buchst. e und f der Richtlinie jederzeit aus überwiegenden, schutzwürdigen, sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen dagegen Widerspruch einlegen zu können, dass sie betreffende Daten verarbeitet werden, wobei dies nicht bei einer im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen entgegenstehenden Bestimmung gilt. Bei der im Rahmen von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vorzunehmenden Abwägung lassen sich somit spezieller alle Umstände der konkreten Situation der betroffenen Person berücksichtigen. Im Fall eines berechtigten Widerspruchs kann sich die vom für die Verarbeitung Verantwortlichen vorgenommene Verarbeitung nicht mehr auf diese Daten beziehen. 77 Anträge gemäß Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 können von der betroffenen Person unmittelbar an den für die Verarbeitung Verantwortlichen gerichtet werden, der dann sorgfältig ihre Begründetheit zu prüfen und die Verarbeitung der betreffenden Daten gegebenenfalls zu beenden hat. Gibt der für die Verarbeitung Verantwortliche den Anträgen nicht statt, kann sich die betroffene Person an die Kontrollstelle oder das zuständige Gericht wenden, damit diese die erforderlichen Überprüfungen vornehmen und den für die Verarbeitung Verantwortlichen entsprechend anweisen, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. 78 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich nach Art. 28 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 95/46 jede Person zum Schutz ihrer Rechte und Freiheiten bei der Verarbeitung personenbezogener Daten an jede Kontrollstelle mit einer Eingabe wenden kann und jede Kontrollstelle über Untersuchungsbefugnisse und wirksame Einwirkungsbefugnisse verfügt, aufgrund deren sie u. a. die Sperrung, Löschung oder Vernichtung von Daten oder das vorläufige oder endgültige Verbot einer Verarbeitung personenbezogener Daten anordnen kann. 79 Wird die Kontrollstelle oder das zuständige Gericht mit einem Antrag wie dem des Ausgangsverfahrens befasst, sind die Bestimmungen der Richtlinie 95/46 über die Rechte der betroffenen Person im Licht der vorstehenden Erwägungen auszulegen und anzuwenden. 80 Wie bereits in den Rn. 36 bis 38 des vorliegenden Urteils ausgeführt, kann eine von einem Suchmaschinenbetreiber ausgeführte Verarbeitung personenbezogener Daten wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und Schutz personenbezogener Daten erheblich beeinträchtigen, wenn die Suche mit dieser Suchmaschine anhand des Namens einer natürlichen Person durchgeführt wird, da diese Verarbeitung es jedem Internetnutzer ermöglicht, mit der Ergebnisliste einen strukturierten Überblick über die zu der betreffenden Person im Internet zu findenden Informationen zu erhalten, die potenziell zahlreiche Aspekte von deren Privatleben betreffen und ohne die betreffende Suchmaschine nicht oder nur sehr schwer hätten miteinander verknüpft werden können, und somit ein mehr oder weniger detailliertes Profil der Person zu erstellen. Zudem wird die Wirkung des Eingriffs in die genannten Rechte der betroffenen Person noch durch die bedeutende Rolle des Internets und der Suchmaschinen in der modernen Gesellschaft gesteigert, die den in einer Ergebnisliste enthaltenen Informationen Ubiquität verleihen (vgl. in diesem Sinne Urteil eDate Advertising u. a., C‑509/09 und C‑161/10, EU:C:2011:685, Rn. 45). 81 Wegen seiner potenziellen Schwere kann ein solcher Eingriff nicht allein mit dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers an der Verarbeitung der Daten gerechtfertigt werden. Da sich die Entfernung von Links aus der Ergebnisliste aber je nach der Information, um die es sich handelt, auf das berechtigte Interesse von potenziell am Zugang zu der Information interessierten Internetnutzern auswirken kann, ist in Situationen wie der des Ausgangsverfahrens ein angemessener Ausgleich u. a. zwischen diesem Interesse und den Grundrechten der betroffenen Person aus den Art. 7 und 8 der Charta zu finden. Zwar überwiegen die durch diese Artikel geschützten Rechte der betroffenen Person im Allgemeinen gegenüber dem Interesse der Internetnutzer; der Ausgleich kann in besonders gelagerten Fällen aber von der Art der betreffenden Information, von deren Sensibilität für das Privatleben der betroffenen Person und vom Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information abhängen, das u. a. je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt, variieren kann. 82 Nach der Beurteilung der Anwendungsvoraussetzungen von Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46, die die Kontrollstelle oder das zuständige Gericht vorzunehmen haben, wenn sie mit einem Antrag wie dem des Ausgangsverfahrens befasst werden, können sie den Suchmaschinenbetreiber anweisen, aus der Liste mit den Ergebnissen einer anhand des Namens einer Person durchgeführten Suche Links zu von Dritten veröffentlichten Seiten mit Informationen über diese Person zu entfernen, ohne dass eine solche Anordnung voraussetzt, dass der Name und die Informationen vorher oder gleichzeitig vom Herausgeber der Internetseite, auf der sie veröffentlicht worden sind, freiwillig oder auf Anordnung der Kontrollstelle oder des Gerichts von dieser Seite entfernt werden. 83 Wie bereits in den Rn. 35 bis 38 des vorliegenden Urteils ausgeführt, hat der Suchmaschinenbetreiber, da die im Rahmen der Tätigkeit einer Suchmaschine ausgeführte Datenverarbeitung sich von der unterscheidet, die von den Herausgebern von Websites ausgeführt worden ist, zusätzlich zu dieser erfolgt und die Grundrechte der betroffenen Person zusätzlich beeinträchtigt, als für die Verarbeitung Verantwortlicher in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass die Verarbeitung den Anforderungen der Richtlinie 95/46 genügt, so dass die von dieser vorgesehenen Garantien ihre volle Wirkung entfalten können. 84 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, da auf einer Website veröffentlichte Informationen leicht auf anderen Websites wiedergegeben werden können und die für die Veröffentlichung Verantwortlichen nicht immer dem Unionsrecht unterliegen, ein wirksamer und umfassender Schutz der betroffenen Personen nicht erreicht werden könnte, wenn diese vorher oder parallel bei den Herausgebern der Websites die Löschung der sie betreffenden Informationen erwirken müssten. 85 Außerdem kann die vom Herausgeber einer Website in Form der Veröffentlichung von Informationen zu einer natürlichen Person ausgeführte Verarbeitung gegebenenfalls „allein zu journalistischen … Zwecken“ erfolgen, so dass für sie nach Art. 9 der Richtlinie 95/46 Ausnahmen von den Erfordernissen der Richtlinie gelten, während dies bei einer vom Betreiber einer Suchmaschine ausgeführten Verarbeitung nicht der Fall ist. Mithin ist nicht auszuschließen, dass die betroffene Person unter bestimmten Umständen die Rechte gemäß Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 gegen den Suchmaschinenbetreiber, aber nicht gegen den Herausgeber der Website geltend machen kann. 86 Schließlich ist festzustellen, dass der Zulässigkeitsgrund gemäß Art. 7 der Richtlinie 95/46 für die Veröffentlichung personenbezogener Daten auf einer Website nicht unbedingt derselbe ist wie für die Tätigkeit der Suchmaschinen; selbst wenn dies der Fall ist, kann die nach Art. 7 Buchst. f und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie vorzunehmende Interessenabwägung je nachdem, ob es sich um die vom Suchmaschinenbetreiber oder die von dem Herausgeber der Internetseite ausgeführte Verarbeitung handelt, verschieden ausfallen, da sowohl die berechtigten Interessen, die die Verarbeitungen rechtfertigen, verschieden sein können als auch die Folgen, die die Verarbeitungen für die betroffene Person, insbesondere für ihr Privatleben, haben, nicht zwangsläufig dieselben sind. 87 Die Aufnahme einer Internetseite und der darin über eine Person enthaltenen Informationen in die Liste mit den Ergebnissen einer anhand des Namens der betreffenden Person durchgeführten Suche kann die Zugänglichkeit der Informationen für Internetnutzer, die eine Suche zu der Person durchführen, nämlich erheblich erleichtern und eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Informationen spielen. Sie kann mithin einen stärkeren Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens der betroffenen Person darstellen als die Veröffentlichung durch den Herausgeber der Internetseite. 88 Somit ist auf Frage 2 Buchst. c und d zu antworten, dass Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass der Suchmaschinenbetreiber zur Wahrung der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Rechte, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind, dazu verpflichtet ist, von der Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand des Namens einer Person durchgeführte Suche angezeigt wird, Links zu von Dritten veröffentlichten Internetseiten mit Informationen zu dieser Person zu entfernen, auch wenn der Name oder die Informationen auf diesen Internetseiten nicht vorher oder gleichzeitig gelöscht werden und gegebenenfalls auch dann, wenn ihre Veröffentlichung auf den Internetseiten als solche rechtmäßig ist. Zu Frage 3 (Umfang der durch die Richtlinie 95/46 garantierten Rechte der betroffenen Person) 89 Mit Frage 3 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass die betroffene Person vom Suchmaschinenbetreiber verlangen kann, von der Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand ihres Namens durchgeführte Suche angezeigt wird, Links zu von Dritten rechtmäßig veröffentlichten Internetseiten mit wahrheitsgemäßen Informationen über sie zu entfernen, weil diese Informationen ihr schaden können oder weil sie möchte, dass sie nach einer gewissen Zeit „vergessen“ werden. 90 Nach Auffassung von Google Spain, Google Inc., der griechischen, der österreichischen und der polnischen Regierung sowie der Kommission ist diese Frage zu verneinen. Google Spain, Google Inc., die polnische Regierung und die Kommission machen insoweit geltend, Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 gewährten den betroffenen Personen nur unter der Voraussetzung Rechte, dass die betreffende Verarbeitung nicht den Bestimmungen der Richtlinie entspreche, oder aus überwiegenden, schutzwürdigen, sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen, und nicht bereits, weil die Verarbeitung ihnen ihrer Auffassung nach schaden könne oder sie möchten, dass die Daten, die Gegenstand der Verarbeitung seien, dem Vergessen anheimfallen. Nach Auffassung der griechischen und der österreichischen Regierung hat sich die betroffene Person an den Herausgeber der Website zu wenden. 91 Herr Costeja González sowie die spanische und die italienische Regierung vertreten die Auffassung, die betroffene Person könne der Indexierung der sie betreffenden personenbezogenen Daten durch eine Suchmaschine widersprechen, wenn die Verbreitung der Daten mit Hilfe der Suchmaschine ihr schade und ihre Grundrechte auf Schutz personenbezogener Daten und Achtung des Privatlebens, die das „Recht auf Vergessenwerden“ umfassten, gegenüber den berechtigten Interessen des Suchmaschinenbetreibers und dem allgemeinen Interesse an der Informationsfreiheit überwögen. 92 Zu Art. 12 Buchst. b der Richtlinie 95/46, der voraussetzt, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten nicht den Bestimmungen der Richtlinie entspricht, ist festzustellen, dass die Verarbeitung, wie bereits in Rn. 72 des vorliegenden Urteils ausgeführt, den Bestimmungen der Richtlinie nicht nur nicht entsprechen kann, weil die Daten sachlich unrichtig sind, sondern u. a. auch, weil sie nicht den Zwecken der Verarbeitung entsprechen, dafür nicht erheblich sind oder darüber hinausgehen, nicht auf den neuesten Stand gebracht sind oder länger als erforderlich aufbewahrt werden, es sei denn ihre Aufbewahrung ist für historische, statistische oder wissenschaftliche Zwecke erforderlich. 93 Aus diesen in Art. 6 Abs. 1 Buchst. c bis e der Richtlinie 95/46 enthaltenen Anforderungen ergibt sich, dass auch eine ursprünglich rechtmäßige Verarbeitung sachlich richtiger Daten im Laufe der Zeit nicht mehr den Bestimmungen der Richtlinie entsprechen kann, wenn die Daten für die Zwecke, für die sie erhoben oder verarbeitet worden sind, nicht mehr erforderlich sind. Das ist insbesondere der Fall, wenn sie diesen Zwecken in Anbetracht der verstrichenen Zeit nicht entsprechen, dafür nicht oder nicht mehr erheblich sind oder darüber hinausgehen. 94 Wird somit auf einen Antrag der betroffenen Person gemäß Art. 12 Buchst. b der Richtlinie 95/46 festgestellt, dass die Einbeziehung von Links zu von Dritten rechtmäßig veröffentlichten Internetseiten, die wahrheitsgemäße Informationen zu ihrer Person enthalten, in die Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand ihres Namens durchgeführte Suche angezeigt wird, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mit Art. 6 Abs. 1 Buchst. c bis e der Richtlinie vereinbar ist, weil sich herausstellt, dass die Informationen in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls den Zwecken der in Rede stehenden Verarbeitung durch den Suchmaschinenbetreiber nicht entsprechen, dafür nicht oder nicht mehr erheblich sind oder darüber hinausgehen, müssen die betreffenden Informationen und Links der Ergebnisliste gelöscht werden. 95 Zu den Anträgen gemäß Art. 12 Buchst. b der Richtlinie 95/46 wegen Nichtbeachtung der Voraussetzungen des Art. 7 Buchst. f der Richtlinie und den Anträgen gemäß Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie ist festzustellen, dass jede Verarbeitung personenbezogener Daten während der gesamten Dauer ihrer Ausführung nach Art. 7 zulässig sein muss. 96 Somit ist im Rahmen der Beurteilung solcher Anträge, die gegen eine Verarbeitung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende gerichtet sind, u. a. zu prüfen, ob die betroffene Person ein Recht darauf hat, dass die Information über sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr durch eine Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand ihres Namens durchgeführte Suche angezeigt wird, mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wird. Die Feststellung eines solchen Rechts setzt nicht voraus, dass der betroffenen Person durch die Einbeziehung der betreffenden Information in die Ergebnisliste ein Schaden entsteht. 97 Da die betroffene Person in Anbetracht ihrer Grundrechte aus den Art. 7 und 8 der Charta verlangen kann, dass die betreffende Information der breiten Öffentlichkeit nicht mehr durch Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste zur Verfügung gestellt wird, ist, wie sich insbesondere aus Rn. 81 des vorliegenden Urteils ergibt, davon auszugehen, dass diese Rechte grundsätzlich nicht nur gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, die Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche zu finden, überwiegen. Dies wäre jedoch nicht der Fall, wenn sich aus besonderen Gründen – wie der Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben – ergeben sollte, dass der Eingriff in die Grundrechte dieser Person durch das überwiegende Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, über die Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste Zugang zu der betreffenden Information zu haben, gerechtfertigt ist. 98 In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der es darum geht, dass in der Ergebnisliste, die der Internetnutzer erhält, wenn er mit Google Search eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person durchführt, Links zu Seiten des Onlinearchivs einer Tageszeitung angezeigt werden, die Anzeigen enthalten, die sich unter Nennung des Namens der betroffenen Person auf die Versteigerung eines Grundstücks im Zusammenhang mit einer wegen Forderungen der Sozialversicherung erfolgten Pfändung beziehen, ist davon auszugehen, dass die betroffene Person wegen der Sensibilität der in diesen Anzeigen enthaltenen Informationen für ihr Privatleben und weil die ursprüngliche Veröffentlichung der Anzeigen 16 Jahre zurückliegt, ein Recht darauf hat, dass diese Informationen nicht mehr durch eine solche Ergebnisliste mit ihrem Namen verknüpft werden. Da im vorliegenden Fall offenbar keine besonderen Gründe vorliegen, die ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit daran rechtfertigten, im Rahmen einer Suche anhand des Namens der betroffenen Person Zugang zu den genannten Informationen zu erhalten – was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist –, kann die Person nach Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 die Entfernung der Links aus der Ergebnisliste verlangen. 99 Somit ist auf Frage 3 zu antworten, dass Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 dahin auszulegen sind, dass im Rahmen der Beurteilung der Anwendungsvoraussetzungen dieser Bestimmungen u. a. zu prüfen ist, ob die betroffene Person ein Recht darauf hat, dass die Information über sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr durch eine Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand ihres Namens durchgeführte Suche angezeigt wird, mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wird, wobei die Feststellung eines solchen Rechts nicht voraussetzt, dass der betroffenen Person durch die Einbeziehung der betreffenden Information in die Ergebnisliste ein Schaden entsteht. Da die betroffene Person in Anbetracht ihrer Grundrechte aus den Art. 7 und 8 der Charta verlangen kann, dass die betreffende Information der breiten Öffentlichkeit nicht mehr durch Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste zur Verfügung gestellt wird, überwiegen diese Rechte grundsätzlich nicht nur gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu der Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche. Dies wäre jedoch nicht der Fall, wenn sich aus besonderen Gründen – wie der Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben – ergeben sollte, dass der Eingriff in die Grundrechte dieser Person durch das überwiegende Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, über die Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste Zugang zu der betreffenden Information zu haben, gerechtfertigt ist. Kosten 100 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr ist dahin auszulegen, dass die Tätigkeit einer Suchmaschine, die darin besteht, von Dritten ins Internet gestellte oder dort veröffentlichte Informationen zu finden, automatisch zu indexieren, vorübergehend zu speichern und schließlich den Internetnutzern in einer bestimmten Rangfolge zur Verfügung zu stellen, sofern die Informationen personenbezogene Daten enthalten, als „Verarbeitung personenbezogener Daten“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 einzustufen ist und dass der Betreiber dieser Suchmaschinen als für diese Verarbeitung „Verantwortlicher“ im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 anzusehen ist. 2. Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 ist dahin auszulegen, dass im Sinne dieser Bestimmung eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der Tätigkeiten einer Niederlassung ausgeführt wird, die der für die Verarbeitung Verantwortliche im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats besitzt, wenn der Suchmaschinenbetreiber in einem Mitgliedstaat für die Förderung des Verkaufs der Werbeflächen der Suchmaschine und diesen Verkauf selbst eine Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft gründet, deren Tätigkeit auf die Einwohner dieses Staates ausgerichtet ist. 3. Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 sind dahin auszulegen, dass der Suchmaschinenbetreiber zur Wahrung der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Rechte, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind, dazu verpflichtet ist, von der Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand des Namens einer Person durchgeführte Suche angezeigt wird, Links zu von Dritten veröffentlichten Internetseiten mit Informationen zu dieser Person zu entfernen, auch wenn der Name oder die Informationen auf diesen Internetseiten nicht vorher oder gleichzeitig gelöscht werden und gegebenenfalls auch dann, wenn ihre Veröffentlichung auf den Internetseiten als solche rechtmäßig ist. 4. Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 sind dahin auszulegen, dass im Rahmen der Beurteilung der Anwendungsvoraussetzungen dieser Bestimmungen u. a. zu prüfen ist, ob die betroffene Person ein Recht darauf hat, dass die Information über sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr durch eine Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand ihres Namens durchgeführte Suche angezeigt wird, mit ihrem Namen in Verbindung gebracht wird, wobei die Feststellung eines solchen Rechts nicht voraussetzt, dass der betroffenen Person durch die Einbeziehung der betreffenden Information in die Ergebnisliste ein Schaden entsteht. Da die betroffene Person in Anbetracht ihrer Grundrechte aus den Art. 7 und 8 der Charta verlangen kann, dass die betreffende Information der breiten Öffentlichkeit nicht mehr durch Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste zur Verfügung gestellt wird, überwiegen diese Rechte grundsätzlich nicht nur gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu der Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche. Dies wäre jedoch nicht der Fall, wenn sich aus besonderen Gründen – wie der Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben – ergeben sollte, dass der Eingriff in die Grundrechte dieser Person durch das überwiegende Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, über die Einbeziehung in eine derartige Ergebnisliste Zugang zu der betreffenden Information zu haben, gerechtfertigt ist. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Spanisch.
Beschluss des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 27. Februar 2014.#Georges Erny gegen Daimler AG - Werk Wörth.#Vorabentscheidungsersuchen des Arbeitsgerichts Ludwigshafen am Rhein.#Berichtigung eines Urteils.#Rechtssache C-172/11.
62011CO0172
ECLI:EU:C:2014:157
2014-02-27T00:00:00
Gerichtshof
BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) 27. Februar 2014(*) „Urteilsberichtigung“ In der Rechtssache C‑172/11 REC betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Arbeitsgericht Ludwigshafen am Rhein (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. April 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 11. April 2011, in dem Verfahren Georges Erny gegen Daimler AG – Werk Wörth erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas (Berichterstatter), D. Šváby und C. Vajda, Generalanwalt: P. Cruz Villalón, Kanzler: A. Calot Escobar, nach Anhörung des Generalanwalts folgenden Beschluss 1        Am 28. Juni 2012 hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) das Urteil Erny (C‑172/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht) erlassen. 2        Dieses Urteil enthält in seiner deutschen Sprachfassung Schreibfehler, die nach Art. 103 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs von Amts wegen zu berichtigen sind. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) beschlossen, die deutsche Sprachfassung des Urteils Erny wie folgt zu berichtigen: 1.      Die Rn. 34 des Urteils vom 28. Juni 2012, Erny (C‑172/11), ist in ihrer deutschen Sprachfassung wie folgt zu berichtigen: „Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68 dahin auszulegen sind, dass sie Bestimmungen in Tarif- und Einzelarbeitsverträgen entgegenstehen, nach denen bei der Berechnung eines vom Arbeitgeber im Rahmen einer Regelung über die Altersteilzeit gezahlten Aufstockungsbetrags wie des im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden die vom Arbeitnehmer im Beschäftigungsmitgliedstaat geschuldete Lohnsteuer bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage für diesen Aufstockungsbetrag fiktiv abgezogen wird, obwohl nach einem Besteuerungsabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen Besoldungen, Löhne und vergleichbare Entgelte, die Arbeitnehmern gezahlt werden, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, in deren Wohnsitzmitgliedstaat besteuert werden. Wenn ja, möchte das vorlegende Gericht wissen, wie sich dies auf die Berechnung des diesen Arbeitnehmern geschuldeten Aufstockungsbetrags auswirkt.“ 2.      Die Rn. 54 dieses Urteils ist in ihrer deutschen Sprachfassung wie folgt zu berichtigten: „Somit ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68 Bestimmungen in Tarif- und Einzelarbeitsverträgen entgegenstehen, nach denen bei der Berechnung eines vom Arbeitgeber im Rahmen einer Regelung über die Altersteilzeit gezahlten Aufstockungsbetrags wie des im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden die vom Arbeitnehmer im Beschäftigungsmitgliedstaat geschuldete Lohnsteuer bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage für diesen Aufstockungsbetrag fiktiv abgezogen wird, obwohl nach einem Besteuerungsabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen Besoldungen, Löhne und vergleichbare Entgelte, die Arbeitnehmern gezahlt werden, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, in deren Wohnsitzmitgliedstaat besteuert werden. Solche Bestimmungen sind nach Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68 nichtig. Art. 45 AEUV und die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1612/68 belassen den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern die Freiheit der Wahl unter den verschiedenen Lösungen, die zur Verwirklichung des jeweiligen Ziels der Bestimmungen geeignet sind.“ 3.      Der Tenor dieses Urteils ist in seiner deutschen Sprachfassung wie folgt zu berichtigen: „Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft stehen Bestimmungen in Tarif- und Einzelarbeitsverträgen entgegen, nach denen bei der Berechnung eines vom Arbeitgeber im Rahmen einer Regelung über die Altersteilzeit gezahlten Aufstockungsbetrags wie des im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden die vom Arbeitnehmer im Beschäftigungsmitgliedstaat geschuldete Lohnsteuer bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage für diesen Aufstockungsbetrag fiktiv abgezogen wird, obwohl nach einem Besteuerungsabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen Besoldungen, Löhne und vergleichbare Entgelte, die Arbeitnehmern gezahlt werden, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, in deren Wohnsitzmitgliedstaat besteuert werden. Solche Bestimmungen sind nach Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68 nichtig. Art. 45 AEUV und die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1612/68 belassen den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern die Freiheit der Wahl unter den verschiedenen Lösungen, die zur Verwirklichung des jeweiligen Ziels der Bestimmungen geeignet sind.“ 4.      Die Urschrift des vorliegenden Beschlusses wird mit der Urschrift des berichtigten Urteils verbunden. Ein Hinweis auf den Beschluss ist am Rand der Urschrift des Urteils anzubringen. Unterschriften * Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 6. März 2014.#Cruciano Siragusa gegen Regione Sicilia – Soprintendenza Beni Culturali e Ambientali di Palermo.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts – Durchführung des Unionsrechts – Anwendungsbereich des Unionsrechts – Hinreichender Zusammenhang – Fehlen – Unzuständigkeit des Gerichtshofs.#Rechtssache C‑206/13.
62013CJ0206
ECLI:EU:C:2014:126
2014-03-06T00:00:00
Gerichtshof, Kokott
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62013CJ0206 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer) 6. März 2014 (*1) „Vorabentscheidungsersuchen — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts — Durchführung des Unionsrechts — Anwendungsbereich des Unionsrechts — Hinreichender Zusammenhang — Fehlen — Unzuständigkeit des Gerichtshofs“ In der Rechtssache C‑206/13 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Italien) mit Entscheidung vom 14. Februar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 18. April 2013, in dem Verfahren Cruciano Siragusa gegen Regione Sicilia – Soprintendenza Beni Culturali e Ambientali di Palermo erlässt DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Juhász sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter) und D. Šváby, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato, — der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte, — der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und C. Schillemans als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Pignataro-Nolin und C. Zadra als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Siragusa und der Regione Sicilia – Soprintendenza Beni Culturali e Ambientali di Palermo (Region Sizilien – Direktion für Kultur- und Naturerbe von Palermo) wegen der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands des Grundstücks von Herrn Siragusa. Rechtlicher Rahmen 3 Das vorlegende Gericht führt aus, dass der Eigentümer von Land, das in einem Landschaftsschutzgebiet liege, dort keinen Eingriff ohne Genehmigung der zuständigen Behörde vornehmen dürfe. 4 Art. 146 Abs. 1 und 2 des Gesetzesdekrets Nr. 42 vom 22. Januar 2004 (Codice dei beni culturali e del paesaggio [Kodex der Kultur- und Landschaftsgüter], im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 42/04) in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung bestimmt, dass der Eigentümer von gesetzlich geschützten Liegenschaften sie nicht zerstören und keine Änderungen durchführen darf, mit denen die geschützten landschaftlichen Werte beeinträchtigt werden. Vor der Durchführung von Änderungen hat er eine Genehmigung zu beantragen. Führt er die Änderungen ohne vorherige Genehmigung durch, kann die Verwaltung die Änderungen gemäß Art. 167 Abs. 4 und 5 nachträglich genehmigen, wenn die durchgeführte Baumaßnahme mit den geschützten landschaftlichen Werten vereinbar ist. 5 Art. 167 des Gesetzesdekrets Nr. 42/04 bestimmt die Folgen einer Verletzung der in dem Gesetzesdekret festgelegten Verpflichtungen. Nach Art. 167 Abs. 4 des Gesetzesdekrets stellt die zuständige Behörde in folgenden Fällen fest, ob die betreffenden Arbeiten mit den Belangen des Landschaftsschutzes vereinbar sind: „a) bei Arbeiten, die ohne Landschaftsschutzgenehmigung oder abweichend von dieser durchgeführt wurden, wenn durch sie weder Nutzflächen oder Volumen neu geschaffen noch ordnungsgemäß geschaffene Nutzflächen oder Volumen vergrößert wurden“. 6 In Fällen, in denen es sich um keine Arbeiten handelt, durch die Nutzflächen oder Volumen neu geschaffen oder ordnungsgemäß geschaffene Nutzflächen oder Volumen vergrößert wurden und eine Landschaftsverträglichkeit festgestellt wird, hat die zuwiderhandelnde Person ein Bußgeld zu zahlen. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 7 Der Kläger im Ausgangsverfahren ist Eigentümer einer Liegenschaft in einem Landschaftsschutzgebiet. An dieser nahm er ohne vorherige Genehmigung Änderungen vor, für die er bei der Gemeinde Trabia – nach Zustimmung der zuständigen Soprintendenza Beni Culturali e Ambientali di Palermo – eine nachträgliche Baugenehmigung beantragte. 8 Die letztgenannte Behörde erließ am 4. April 2011 eine Anordnung, durch die ihm die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands der Örtlichkeiten mittels Entfernung aller unerlaubt ausgeführten Bauten binnen einer Frist von 120 Tagen ab Empfang dieses Schreibens aufgegeben wurde. Dies wurde damit begründet, dass für die in Rede stehenden Bauten eine Feststellung der Landschaftsverträglichkeit gemäß den Art. 167 und 181 des Gesetzesdekrets Nr. 42/04 nicht möglich sei, da es sich um Bauten handle, die eine Vergrößerung des Volumens bewirkt hätten. 9 Der Kläger im Ausgangsverfahren hat vor dem vorlegenden Gericht Klage gegen die besagte Anordnung erhoben. 10 Das vorlegende Gericht macht geltend, dass im Unionsrecht der Bereich des Landschaftsschutzes im Verhältnis zum Bereich des Umweltschutzes nicht selbständig und begrifflich getrennt, sondern Teil dieses Bereichs sei. Es verweist insoweit auf: — Art. 2 Abs. 3 Buchst. a des Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten, das im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17. Februar 2005 genehmigt worden ist (ABl. L 124, S. 1, im Folgenden: Übereinkommen von Aarhus), — die Verordnung (EG) Nr. 1367/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. September 2006 über die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von Aarhus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten auf Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft (ABl. L 264, S. 13), — Art. 2 Nr. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates (ABl. L 41, S. 26) und — die Art. 1 und 3 der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S. 1). 11 Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass der Schutz der Umwelt ein Bereich sei, der nach Art. 3 Abs. 3 und Art. 21 Abs. 2 Buchst. f EUV sowie nach den Art. 4 Abs. 2 Buchst. e, 11, 114 und 191 AEUV in die Zuständigkeit der Europäischen Union falle. 12 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts begründen die im System des Landschaftsschutzes vorgesehenen Verpflichtungen für private Tätigkeiten nicht notwendigerweise absolute Bauverbote. Daraus folge, dass nicht jede Bautätigkeit, selbst in Fällen, die eine Zunahme des Volumens mit sich brächten, immer und in jedem Fall die durch das Landschaftsschutzrecht geschützten Werte beeinträchtige. 13 Die Feststellung, dass eine nachträgliche Genehmigung gegen Zahlung einer Geldbuße erteilt werden könne, ließe sich im konkreten Fall treffen, wenn das Gesetzesdekret Nr. 42/04 keinen starren und abstrakten Ausschluss von Bauten vorsähe, durch die Nutzflächen oder Volumen neu geschaffen oder ordnungsgemäß geschaffene Nutzflächen oder Volumen vergrößert worden seien. Auch in einem solchen Fall könne nämlich der Landschaftsschutz bei einer konkreten Beurteilung mit der Erhaltung des Bauwerks vereinbar sein. 14 Das vorlegende Gericht wirft deshalb die Frage auf, ob Art. 167 des Gesetzesdekrets Nr. 42/04 dadurch, dass er auf der Grundlage einer Vermutung eine bestimmte Kategorie von Bauten von der Feststellung der Landschaftsverträglichkeit ausschließe und sie der Sanktion einer Abrissanordnung unterwerfe, eine nicht gerechtfertigte und unverhältnismäßige Beeinträchtigung des durch Art. 17 der Charta garantierten Eigentumsrechts darstellen könne, wenn dieser Artikel dahin auszulegen wäre, dass Beschränkungen des Eigentumsrechts nur bei positiver Feststellung eines tatsächlich und nicht nur abstrakt entgegenstehenden Interesses auferlegt werden dürften. Das vorlegende Gericht verweist ferner auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts. 15 Das Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Stehen Art. 17 der Charta und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als allgemeiner Grundsatz des Rechts der Europäischen Union der Anwendung einer nationalen Regelung entgegen, die wie Art. 167 Abs. 4 Buchst. a des Gesetzesdekrets Nr. 42/04 die Möglichkeit der nachträglichen Erteilung einer Landschaftsschutzgenehmigung für alle menschlichen Eingriffe ausschließt, die zu einer Vergrößerung von Flächen und Volumen führen, und zwar unabhängig von der konkreten Feststellung der Vereinbarkeit solcher Eingriffe mit den Werten des Landschaftsschutzes des spezifischen betroffenen Orts? Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 16 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 17 der Charta und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie Art. 167 Abs. 4 Buchst. a des Gesetzesdekrets Nr. 42/04 entgegenstehen. 17 Alle Verfahrensbeteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, vertreten die Auffassung, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefrage mangels eines hinreichenden Zusammenhangs mit dem Unionsrecht nicht zuständig ist. Sie erinnern zudem daran, dass es Aufgabe des vorlegenden Gerichts sei, den Zusammenhang zwischen den Bestimmungen des Unionsrechts, dessen Auslegung begehrt werde, und Art. 167 Abs. 4 Buchst. a des Gesetzesdekrets Nr. 42/04 zu erläutern. 18 Die Europäische Kommission hat dennoch jeden einzelnen der vom vorlegenden Gericht angeführten Rechtsakte geprüft und trägt insoweit vor: — Der Beschluss 2005/370 beschränke sich darauf, das Übereinkommen von Aarhus in die Rechtsordnung der Union aufzunehmen, und stelle eine Maßnahme der Union dar, die keine Umsetzungsregelung der Mitgliedstaaten erfordere. — Die Verordnung Nr. 1367/2006 richte sich nicht an die Mitgliedstaaten, sondern an die Einrichtungen der Union, und weise keinen Zusammenhang zum Sachverhalt im Ausgangsverfahren, erst recht aber nicht zum Gesetzesdekret Nr. 42/04 auf. — Gleiches gelte für die Richtlinie 2003/4 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen. — Aus den Unterlagen ergebe sich nicht, dass die Richtlinie 2011/92 für den Ausgangsrechtsstreit relevant sei, da die von Herrn Siragusa durchgeführten Arbeiten offenbar nicht die Frage berührten, ob die Richtlinie möglicherweise wegen des Fehlens einer Umweltverträglichkeitsprüfung nicht eingehalten worden sei. — Art. 3 Abs. 3 EUV und Art. 21 Abs. 2 Buchst. f EUV richteten sich an die Union und nicht an die Mitgliedstaaten. — Art. 4 Abs. 2 Buchst. e AEUV betreffe die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Union und sei in dem Teil enthalten, der den Grundsätzen gewidmet sei. — Art. 11 AEUV richte sich ebenfalls an die Union. — Art. 114 AEUV betreffe die Unionsorgane und nicht die Mitgliedstaaten. — Selbst wenn man davon ausginge, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung wegen des Norminhalts von Art. 191 AEUV in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle, habe doch der Gerichtshof bereits klargestellt, dass Art. 191 AEUV, da er sich auf das Tätigwerden der Union beziehe, als solcher nicht von Einzelnen herangezogen werden könne, um die Anwendung einer nationalen Regelung, die in einem zur Umweltpolitik gehörenden Bereich ergangen sei, zu verhindern, sofern keine auf der Grundlage von Art. 192 AEUV erlassene Unionsregelung anwendbar sei, die speziell den betreffenden Fall abdecke (Urteil vom 9. März 2010, ERG u. a., C-378/08, Slg. 2010, I-1919, Rn. 46). 19 Insoweit ist daran zu erinnern, dass gemäß Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs das Vorabentscheidungsersuchen eine Darstellung der Gründe, aus denen sich für das vorlegende Gericht Zweifel bei der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts ergeben haben, und den Zusammenhang enthalten muss, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt. Diese Darstellung sowie die nach Art. 94 Buchst. a der Verfahrensordnung erforderliche kurze Darstellung des maßgeblichen Sachverhalts müssen es dem Gerichtshof ermöglichen, außer der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens seine Zuständigkeit für die Beantwortung der gestellten Frage zu prüfen. 20 Laut Art. 51 Abs. 1 der Charta gelten deren Bestimmungen für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Art. 6 Abs. 1 EUV sowie Art. 51 Abs. 2 der Charta stellen klar, dass die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der Charta in keiner Weise erweitert werden. Somit hat der Gerichtshof im Licht der Charta das Unionsrecht in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten zu prüfen (Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a., C-256/11, Slg. 2011, I-11315, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). 21 Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass er eine nationale Regelung, die nicht in den Rahmen des Unionsrechts fällt, nicht im Hinblick auf die Charta beurteilen kann. Fällt eine solche Regelung hingegen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, so hat der Gerichtshof, wenn er im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens angerufen wird, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungskriterien an die Hand zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof sichert (vgl. Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). 22 Diese Definition des Anwendungsbereichs der Grundrechte der Union wird durch die Erläuterungen zu Art. 51 der Charta bestätigt, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta für deren Auslegung zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, DEB, C-279/09, Slg. 2010, I-13849, Rn. 32). Gemäß diesen Erläuterungen gilt die Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln. 23 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts betrifft das Ausgangsverfahren eine Anordnung, die Herrn Siragusa die Entfernung aller nach einem Gesetz über den Schutz von Kultur- und Landschaftsgütern unerlaubt ausgeführten Bauten auferlegt. Ein solches Verfahren weise im Umweltbereich einen Zusammenhang mit dem Unionsrecht auf, da der Landschaftsschutz, den das in Rede stehende nationale Gesetz bezwecke, Teil des Umweltschutzes sei. Das vorlegende Gericht nennt diesbezüglich verschiedene Bestimmungen des Unionsrechts im Umweltbereich. 24 Es ist jedoch auch zu bedenken, dass der Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 der Charta einen hinreichenden Zusammenhang von einem gewissen Grad verlangt, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Mai 1997, Kremzow, C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 16). 25 Um festzustellen, ob eine nationale Regelung die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 der Charta betrifft, ist u. a. zu prüfen, ob mit ihr eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr nicht andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ferner, ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann (vgl. Urteile vom 18. Dezember 1997, Annibaldi, C-309/96, Slg. 1997, I-7493, Rn. 21 bis 23, vom 8. November 2012, Iida, C‑40/11, Rn. 79, und vom 8. Mai 2013, Ymeraga u. a., C‑87/12, Rn. 41). 26 Der Gerichtshof hat insbesondere festgestellt, dass die Grundrechte der Union im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar sind, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich keine Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den im Ausgangsverfahren fraglichen Sachverhalt schaffen (vgl. Urteil vom 13. Juni 1996, Maurin, C-144/95, Slg. 1996, I-2909, Rn. 11 und 12). 27 Wie die Verfahrensbeteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, geltend gemacht haben, erlegen weder die Bestimmungen des EU-Vertrags noch des AEU-Vertrags, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, noch die Regelung über das Übereinkommen von Aarhus, noch die Richtlinien 2003/4 und 2011/92 den Mitgliedstaaten bestimmte Verpflichtungen im Hinblick auf den Landschaftsschutz auf, wie es das italienische Recht tut. 28 Die Ziele dieser Regelungen und des Gesetzesdekrets Nr. 42/04 sind nicht die gleichen, auch wenn die Landschaft ein Faktor ist, der bei der Umweltverträglichkeitsprüfung gemäß der Richtlinie 2011/92 berücksichtigt wird, und zu den Aspekten gehört, die bei den Umweltinformationen, um die es im Übereinkommen von Aarhus, der Verordnung Nr. 1367/2006 und der Richtlinie 2003/4 geht, berücksichtigt werden. 29 Der Gerichtshof hat im Urteil Annibaldi, auf das sich die Erläuterungen zu Art. 51 der Charta beziehen, entschieden, dass der alleinige Umstand, dass ein nationales Gesetz das Funktionieren einer gemeinsamen Agrarmarktorganisation mittelbar beeinflussen kann, keinen hinreichenden Zusammenhang zu begründen vermag (Urteil Annibaldi, Rn. 22; siehe auch Urteil Kremzow, Rn. 16). 30 Insoweit lässt nichts den Schluss zu, dass die maßgeblichen Bestimmungen des Gesetzesdekrets Nr. 42/04 im Ausgangsverfahren in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen. Diese Bestimmungen stellen nämlich keine Durchführung des Rechts der Union dar, was die vom vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen betroffene Sache von derjenigen unterscheidet, die zum Urteil vom 15. Januar 2013, Križan u. a. (C‑416/10), geführt hat, auf das sich das vorlegende Gericht bezieht. 31 Überdies ist dem Ziel des Grundrechtsschutzes im Unionsrecht Rechnung zu tragen, das darin besteht, sicherzustellen, dass die Grundrechte in den Tätigkeitsbereichen der Union nicht verletzt werden, sei es infolge von Handlungen der Union oder infolge der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten. 32 Die Verfolgung dieses Ziels liegt in der Notwendigkeit begründet, zu verhindern, dass der Grundrechtsschutz, der je nach dem betreffenden nationalen Recht unterschiedlich sein kann, den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft, 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 3, und vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, Rn. 60). Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich jedoch nicht, dass ein solches Risiko in der vorliegenden Sache im Ausgangsverfahren besteht. 33 Aus alledem folgt, dass die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung von Art. 17 der Charta nicht dargetan ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, Omalet, C-245/09, Slg. 2010, I-13771, Rn. 18, sowie Beschlüsse vom 1. März 2011, Chartry, C-457/09, Slg. 2011, I-819, Rn. 25 und 26, vom 10. Mai 2012, Corpul Naţional al Poliţiştilor, C‑134/12, Rn. 15, vom 7. Februar 2013, Pedone, C‑498/12, Rn. 15, und vom 7. November 2013, SC Schuster & Co Ecologic, C‑371/13, Rn. 18). 34 Was den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit anbelangt, so ist dieser Teil der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, die durch eine nationale Regelung zu wahren sind, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt oder dieses durchführt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Februar 1982, Zuckerfabrik Franken, 77/81, Slg. 1982, 681, Rn. 22, vom 16. Mai 1989, Buet und EBS, 382/87, Slg. 1989, 1235, Rn. 11, vom 2. Juni 1994, Exportslachterijen van Oordegem, C-2/93, Slg. 1994, I-2283, Rn. 20, und vom 2. Dezember 2010, Vandorou u. a., C-422/09, C-425/09 und C-426/09, Slg. 2010, I-12411, Rn. 65). 35 Da das vorlegende Gericht nicht durch die Darlegung eines hinreichenden Zusammenhangs aufgezeigt hat, dass Art. 167 Abs. 4 Buchst. a des Gesetzesdekrets Nr. 42/04 in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt oder dieses durchführt, ist im vorliegenden Fall auch die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Auslegung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht dargetan. 36 Daher ist festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der vom Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia gestellten Frage nicht zuständig ist. Kosten 37 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt: Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Tribunale amministrativo regionale per la Sicilia (Italien) gestellten Frage nicht zuständig. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 10. Dezember 2013.#Shamso Abdullahi gegen Bundesasylamt.#Vorabentscheidungsersuchen des Asylgerichtshofs.#Vorabentscheidungsersuchen – Gemeinsames Europäisches Asylsystem – Verordnung (EG) Nr. 343/2003 – Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats – Kontrolle der Einhaltung der Kriterien, nach denen sich die Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrags richtet – Umfang der gerichtlichen Kontrolle.#Rechtssache C‑394/12.
62012CJ0394
ECLI:EU:C:2013:813
2013-12-10T00:00:00
Gerichtshof, Cruz Villalón
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62012CJ0394 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 10. Dezember 2013 (*1) „Vorabentscheidungsersuchen — Gemeinsames Europäisches Asylsystem — Verordnung (EG) Nr. 343/2003 — Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats — Kontrolle der Einhaltung der Kriterien, nach denen sich die Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrags richtet — Umfang der gerichtlichen Kontrolle“ In der Rechtssache C‑394/12 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Asylgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 21. August 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 27. August 2012, in dem Verfahren Shamso Abdullahi gegen Bundesasylamt erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz, E. Juhász, A. Borg Barthet, C. G. Fernlund und J. L. da Cruz Vilaça, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), G. Arestis und J. Malenovský, der Richterin A. Prechal sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. Vajda, Generalanwalt: P. Cruz Villalón, Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Mai 2013, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Frau Abdullahi, vertreten durch die Rechtsanwälte E. Daigneault und R. Seidler, — der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte, — der griechischen Regierung, vertreten durch G. Papagianni, L. Kotroni und M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte, — der französischen Regierung, vertreten durch S. Menez als Bevollmächtigten, — der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato, — der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér, G. Koós und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte, — der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Beeko als Bevollmächtigte im Beistand von S. Lee, Barrister, — der schweizerischen Regierung, vertreten durch D. Klingele als Bevollmächtigten, — der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und M. Condou‑Durande als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juli 2013 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 10, 16, 18 und 19 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Abdullahi, einer somalischen Staatsangehörigen, und dem Bundesasylamt wegen der Frage, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, den Frau Abdullahi beim Bundesasylamt gestellt hat. Rechtlicher Rahmen Genfer Flüchtlingskonvention 3 Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt durch das am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (im Folgenden: Protokoll von 1967). 4 Alle Mitgliedstaaten sowie die Republik Island, das Fürstentum Liechtenstein, das Königreich Norwegen und die Schweizerische Eidgenossenschaft sind Vertragsparteien der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls von 1967. Die Europäische Union ist weder Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention noch des Protokolls von 1967, aber die Art. 78 AEUV und 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sehen vor, dass das Recht auf Asyl u. a. nach Maßgabe dieser Konvention und dieses Protokolls gewährleistet wird. Unionsrecht 5 Zur Verwirklichung des vom Europäischen Rat auf seiner Tagung in Straßburg am 8. und 9. Dezember 1989 gesetzten Ziels der Harmonisierung ihrer Asylpolitiken unterzeichneten die Mitgliedstaaten am 15. Juni 1990 in Dublin das Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags (ABl. 1997, C 254, S. 1, im Folgenden: Dubliner Übereinkommen). Dieses Übereinkommen trat für die zwölf ursprünglichen Unterzeichnerstaaten am 1. September 1997, für die Republik Österreich und das Königreich Schweden am 1. Oktober 1997 und für die Republik Finnland am 1. Januar 1998 in Kraft. 6 Die Schlussfolgerungen der Tagung des Europäischen Rates in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 sahen u. a. die Errichtung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vor. 7 Mit dem Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 wurde Art. 63 in den EG-Vertrag aufgenommen, der der Europäischen Gemeinschaft die Zuständigkeit für den Erlass der vom Europäischen Rat in Tampere empfohlenen Maßnahmen zuwies. Der Erlass von Art. 63 EG erlaubte es insbesondere, zwischen den Mitgliedstaaten mit Ausnahme des Königreichs Dänemark das Dubliner Übereinkommen durch die Verordnung Nr. 343/2003 zu ersetzen, die am 17. März 2003 in Kraft trat. 8 Auf dieser Rechtsgrundlage wurden außerdem verschiedene Richtlinien erlassen, so die — Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, mit Berichtigung im ABl. 2005, L 204, S. 24), die durch die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, S. 9) ersetzt wurde, und die — Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13, mit Berichtigung im ABl. 2006, L 236, S. 35), die durch die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180, S. 60) ersetzt wurde. Verordnung Nr. 343/2003 9 Die Erwägungsgründe 3 und 4 der Verordnung Nr. 343/2003 lauten: „(3) Entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere sollte dieses System auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen. (4) Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden.“ 10 Nach ihrem Art. 1 legt die Verordnung Nr. 343/2003 die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur Anwendung gelangen. 11 Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 lautet: „Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.“ 12 Um die Bestimmung des „zuständigen Mitgliedstaats“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 zu ermöglichen, legen die Art. 6 bis 14 der Verordnung in deren Kapitel III („Rangfolge der Kriterien“) in einer Rangfolge stehende objektive Kriterien fest, die sich auf unbegleitete Minderjährige, die Einheit der Familie, die Ausstellung eines Aufenthaltstitels oder Visums, die illegale Einreise in einen Mitgliedstaat oder den illegalen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat, die ordnungsmäßige Einreise in einen Mitgliedstaat und Asylanträge im internationalen Transitbereich eines Flughafens beziehen. 13 Art. 10 der Richtlinie Nr. 343/2003 bestimmt: „(1)   Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 18 Absatz 3 genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 [des Rates vom 11. Dezember 2000 über die Einrichtung von ‚Eurodac‘ für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des Dubliner Übereinkommens (ABl. L 316, S. 1)] festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. (2)   Ist ein Mitgliedstaat nicht oder gemäß Absatz 1 nicht länger zuständig und wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 18 Absatz 3 genannten Verzeichnissen festgestellt, dass der Asylbewerber – der illegal in die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten eingereist ist oder bei dem die Umstände der Einreise nicht festgestellt werden können – sich zum Zeitpunkt der Antragstellung zuvor während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens fünf Monaten in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig. Hat der Asylbewerber sich für Zeiträume von mindestens fünf Monaten in verschiedenen Mitgliedstaaten aufgehalten, so ist der Mitgliedstaat, wo dies zuletzt der Fall war, für die Prüfung des Asylantrags zuständig.“ 14 Nach Art. 13 dieser Verordnung ist, wenn sich anhand der Rangfolge der in der Verordnung aufgeführten Kriterien kein Mitgliedstaat bestimmen lässt, der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig. 15 Art. 16 der Verordnung Nr. 343/2003 sieht vor: „(1)   Der Mitgliedstaat, der nach der vorliegenden Verordnung zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, ist gehalten: a) einen Asylbewerber, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Artikel 17 bis 19 aufzunehmen; b) die Prüfung des Asylantrags abzuschließen; … (2)   Erteilt ein Mitgliedstaat dem Antragsteller einen Aufenthaltstitel, so fallen diesem Mitgliedstaat die Verpflichtungen nach Absatz 1 zu. (3)   Die Verpflichtungen nach Absatz 1 erlöschen, wenn der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hat, es sei denn, der Drittstaatsangehörige ist im Besitz eines vom zuständigen Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltstitels. …“ 16 Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er nach Art. 17 der Verordnung Nr. 343/2003 so bald wie möglich, in jedem Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Einreichung des Antrags, den anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Asylbewerber aufzunehmen. 17 Art. 18 der Verordnung Nr. 343/2003 bestimmt: „(1)   Der ersuchte Mitgliedstaat nimmt die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet über das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers innerhalb von zwei Monaten, nachdem er mit dem Gesuch befasst wurde. (2)   In dem in dieser Verordnung geregelten Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, werden Beweismittel und Indizien verwendet. (3)   Entsprechend dem Verfahren gemäß Artikel 27 Absatz 2 werden zwei Verzeichnisse erstellt und regelmäßig überprüft, wobei die Beweismittel und Indizien nach folgenden Kriterien angegeben werden: a) Beweismittel: i) Hierunter fallen förmliche Beweismittel, die insoweit über die Zuständigkeit nach dieser Verordnung entscheiden, als sie nicht durch Gegenbeweise widerlegt werden. ii) Die Mitgliedstaaten stellen dem in Artikel 27 vorgesehenen Ausschuss nach Maßgabe der im Verzeichnis der förmlichen Beweismittel festgelegten Klassifizierung Muster der verschiedenen Arten der von ihren Verwaltungen verwendeten Dokumente zur Verfügung. b) Indizien: i) Hierunter fallen einzelne Anhaltspunkte, die, obwohl sie anfechtbar sind, in einigen Fällen nach der ihnen zugebilligten Beweiskraft ausreichen können. ii) Ihre Beweiskraft hinsichtlich der Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags wird von Fall zu Fall bewertet. (4)   Das Beweiserfordernis sollte nicht über das für die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung erforderliche Maß hinausgehen. (5)   Liegen keine förmlichen Beweismittel vor, erkennt der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit an, wenn die Indizien kohärent, nachprüfbar und hinreichend detailliert sind, um die Zuständigkeit zu begründen. … (7)   Wird innerhalb der Frist von zwei Monaten gemäß Absatz 1 bzw. der Frist von einem Monat gemäß Absatz 6 keine Antwort erteilt, ist davon auszugehen, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.“ 18 Art. 19 Abs. 1 bis 4 der Verordnung Nr. 343/2003 sieht vor: „(1)   Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme eines Antragstellers zu, so teilt der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, dem Antragsteller die Entscheidung, den Asylantrag nicht zu prüfen, sowie die Verpflichtung, den Antragsteller an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, mit. (2)   Die Entscheidung nach Absatz 1 ist zu begründen. Die Frist für die Durchführung der Überstellung ist anzugeben, und gegebenenfalls der Zeitpunkt und der Ort zu nennen, zu dem bzw. an dem sich der Antragsteller zu melden hat, wenn er sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt. Gegen die Entscheidung kann ein Rechtsbehelf eingelegt werden. Ein gegen die Entscheidung eingelegter Rechtsbehelf hat keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist. (3)   Die Überstellung des Antragstellers von dem Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den nationalen Rechtsvorschriften des ersteren Mitgliedstaats nach Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. … (4)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, so geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber flüchtig ist.“ 19 Die Verordnung Nr. 343/2003 wurde aufgehoben und ersetzt durch die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) (ABl. L 180, S. 31). Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 20 Art. 3 („Bearbeitung eines Aufnahmegesuchs“) der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 343/2003 (ABl. L 222, S. 3) lautet: „(1)   Die im Gesuch angeführten rechtlichen und faktischen Argumente werden anhand der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 und der in Anhang II der vorliegenden Verordnung enthaltenen Liste der Beweismittel und Indizien geprüft. (2)   Unbeschadet der Kriterien und Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 343/2003, die im Gesuch geltend gemacht werden, überprüft der ersuchte Mitgliedstaat innerhalb der in Artikel 18 Absätze 1 und 6 der genannten Verordnung festgesetzten Fristen auf umfassende und objektive Weise und unter Berücksichtigung sämtlicher ihm unmittelbar und mittelbar verfügbaren Informationen, ob seine Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags begründet ist. Wenn diese Überprüfungen ergeben, dass die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats zumindest aufgrund eines Kriteriums der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 begründet ist, muss dieser seine Zuständigkeit anerkennen.“ 21 Art. 4 („Behandlung eines Wiederaufnahmegesuchs“) der Verordnung Nr. 1560/2003 lautet: „Stützt sich ein Wiederaufnahmegesuch auf Daten, die die Eurodac-Zentraleinheit zur Verfügung gestellt und die der ersuchende Mitgliedstaat nach Maßgabe von Artikel 4 Absatz 6 der Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 geprüft hat, erkennt der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit an, sofern die von ihm durchgeführten Überprüfungen nicht ergeben haben, dass seine Zuständigkeit gemäß Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 2 bzw. Artikel 16 Absätze 2, 3 oder 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 erloschen ist. Das Erlöschen der Zuständigkeit nach diesen Bestimmungen kann ausschließlich aufgrund von Tatsachenbeweisen oder umfassenden und nachprüfbaren Erklärungen des Asylbewerbers geltend gemacht werden.“ 22 Art. 5 („Ablehnende Antwort“) der Verordnung Nr. 1560/2003 lautet: „(1)   Vertritt der ersuchte Mitgliedstaat nach Prüfung der Unterlagen die Auffassung, dass sich aus ihnen nicht seine Zuständigkeit ableiten lässt, erläutert er in seiner ablehnenden Antwort an den ersuchenden Mitgliedstaat ausführlich sämtliche Gründe, die zu der Ablehnung geführt haben. (2)   Vertritt der ersuchende Mitgliedstaat die Auffassung, dass die Ablehnung auf einem Irrtum beruht, oder kann er sich auf weitere Unterlagen berufen, ist er berechtigt, eine neuerliche Prüfung seines Gesuchs zu verlangen. Diese Möglichkeit muss binnen drei Wochen nach Erhalt der ablehnenden Antwort in Anspruch genommen werden. Der ersuchte Mitgliedstaat erteilt binnen zwei Wochen eine Antwort. Durch dieses zusätzliche Verfahren ändern sich in keinem Fall die in Artikel 18 Absätze 1 und 6 und Artikel 20 Absatz 1 Buchstabe b) der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vorgesehenen Fristen.“ 23 Art. 14 („Schlichtung“) der Verordnung Nr. 1560/2003 lautet: „(1)   Besteht zwischen den Mitgliedstaaten anhaltende Uneinigkeit über die Notwendigkeit einer Überstellung oder einer Zusammenführung gemäß Artikel 15 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 oder über den Mitgliedstaat, in dem die Zusammenführung der betreffenden Personen stattfinden soll, können sie das in Absatz 2 des vorliegenden Artikels genannte Schlichtungsverfahren in Anspruch nehmen. (2)   Das Schlichtungsverfahren wird auf Ersuchen eines der an dieser Meinungsverschiedenheit beteiligten Mitgliedstaaten an den Vorsitzenden des durch Artikel 27 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 eingesetzten Ausschusses eingeleitet. Mit der Inanspruchnahme des Schlichtungsverfahrens verpflichten sich die beteiligten Mitgliedstaaten, die vorgeschlagene Lösung weitestgehend zu berücksichtigen. Der Ausschussvorsitzende benennt drei Mitglieder des Ausschusses, die drei nicht an der Angelegenheit beteiligte Mitgliedstaaten vertreten. Diese nehmen die Argumente der Parteien in schriftlicher oder mündlicher Form entgegen und schlagen nach diesbezüglichen Beratungen, gegebenenfalls nach Abstimmung, binnen eines Monats eine Lösung vor. Der Ausschussvorsitzende oder sein Stellvertreter führt bei diesen Beratungen den Vorsitz. Er kann seine Haltung erläutern, nimmt jedoch nicht an der Abstimmung teil. Die vorgeschlagene Lösung ist endgültig und kann – ungeachtet dessen, ob sie von den Parteien angenommen oder abgelehnt wurde – nicht angefochten werden.“ 24 Der vorstehend wiedergegebene Art. 14 der Verordnung Nr. 1560/2003 wurde durch die Verordnung Nr. 604/2013 aufgehoben, aber sein Inhalt in Art. 37 der Verordnung Nr. 604/2013 übernommen. Richtlinie 2005/85 25 Der 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85 lautet: „Diese Richtlinie betrifft nicht die Verfahren im Rahmen der [Verordnung Nr. 343/2003].“ Österreichisches Recht 26 Art. 18 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005) (BGBl I Nr. 100/2005) lautet: „Das Bundesasylamt und der Asylgerichtshof haben in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt und überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 27 Frau Abdullahi ist eine 22-jährige somalische Staatsangehörige. Sie reiste im April 2011 mit dem Flugzeug nach Syrien ein, durchquerte sodann im Juli 2011 die Türkei und reiste anschließend mit einem Boot illegal nach Griechenland ein. Frau Abdullahi stellte keinen Asylantrag bei der griechischen Regierung. Mit der Hilfe von Schleppern erreichte sie zusammen mit anderen Personen über eine Route, die durch die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Serbien und Ungarn führte, schließlich Österreich. In Österreich wurde sie nahe der ungarischen Grenze von österreichischen Polizeibeamten angehalten, die – auch durch Befragung anderer Beteiligter – ihren eben beschriebenen Reiseweg feststellten. 28 In Österreich stellte Frau Abdullahi am 29. August 2011 bei der zuständigen Verwaltungsbehörde, dem Bundesasylamt, einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 7. September 2011 richtete das Bundesasylamt gemäß Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 ein Aufnahmeersuchen an Ungarn, das dieses mit Schreiben vom 29. September 2011 annahm. Ungarn begründete diese Entscheidung damit, dass nach den von der Republik Österreich übermittelten Angaben Frau Abdullahis und den allgemein verfügbaren Informationen über die Reiserouten illegaler Einwanderer genügende Belege dafür vorlägen, dass Frau Abdullahi aus Serbien illegal nach Ungarn eingereist sei und sich von dort aus direkt nach Österreich begeben habe. 29 Mit Bescheid vom 30. September 2011 wies das Bundesasylamt den Asylantrag von Frau Abdullahi in Österreich als unzulässig zurück und wies sie nach Ungarn aus. 30 Dagegen erhob Frau Abdullahi eine Beschwerde, der der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 5. Dezember 2011 wegen Verfahrensfehlern stattgab. Zur Begründung führte der Asylgerichtshof aus, es sei in der Beschwerde Kritik an den Zuständen im Asylwesen in Ungarn im Hinblick auf Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) über das Verbot der Folter sowie unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung geübt worden und das Bundesasylamt habe die Lage in Ungarn anhand nicht mehr aktueller Quellen beurteilt. 31 Nach dieser Entscheidung des Asylgerichtshofs setzte das Bundesasylamt das Verwaltungsverfahren fort. Mit Bescheid vom 26. Januar 2012 wies es den Asylantrag erneut als unzulässig zurück und sprach wiederum die Ausweisung von Frau Abdullahi nach Ungarn aus. Zur Begründung gab das Bundesasylamt an, es habe zur Lage in Ungarn nunmehr aktualisierte Feststellungen getroffen, aus denen sich ergebe, dass eine Überstellung nach Ungarn Frau Abdullahi nicht in ihren Rechten aus Art. 3 EMRK verletzen würde. 32 Hiergegen erhob Frau Abdullahi am 13. Februar 2012 ein weiteres Mal eine Beschwerde an den Asylgerichtshof. Sie machte nun erstmals geltend, dass der für den Asylantrag zuständige Mitgliedstaat nicht Ungarn sei, sondern die Hellenische Republik. Da aber die Zustände in diesem Mitgliedstaat unter bestimmten Aspekten menschenunwürdig seien, habe Österreich das Asylverfahren selbst durchzuführen. 33 Die österreichischen Behörden leiteten weder ein Verfahren zur Konsultation der Hellenischen Republik ein, noch richteten sie an diese ein Aufnahmeersuchen. 34 Der Asylgerichtshof wies die Beschwerde von Frau Abdullahi mit Erkenntnis vom 14. Februar 2012 als unbegründet ab, da nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 Ungarn der für die Prüfung des Asylantrags zuständige Mitgliedstaat sei. 35 Frau Abdullahi rief daraufhin den Verfassungsgerichtshof an, wofür sie im Wesentlichen ihre Rüge wiederholte, dass nicht Ungarn der zuständige Mitgliedstaat sei, sondern die Hellenische Republik. Mit Erkenntnis vom 27. Juni 2012 (U 350/12‑12) hob der Verfassungsgerichtshof die Entscheidung des Asylgerichtshofs vom 14. Februar 2012 auf. Zur Begründung verwies der Verfassungsgerichtshof auf ein am selben Tag von ihm erlassenes Erkenntnis (U 330/12‑12), das einen gleichartigen Sachverhalt betraf. In Letzterem bezeichnete der Verfassungsgerichtshof die Auffassung des Asylgerichtshofs, auf die dieser seine Billigung der Ausweisung von Frau Abdullahi nach Ungarn gestützt hatte und wonach eine einmal nach Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 begründete Zuständigkeit (hier der Hellenischen Republik) bereits durch eine kurzfristige Ausreise in einen Drittstaat (wie hier nach Mazedonien und Serbien) wieder erlösche, als „zweifelhaft“. Der Verfassungsgerichtshof führte aus, dass sich der Asylgerichtshof zwar, um Ungarn als den zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen, auf Literaturmeinungen österreichischer und deutscher Kommentare zu der Verordnung Nr. 343/2003 gestützt habe, es aber in Österreich auch gegenteilige Literaturmeinungen gebe. Der Verfassungsgerichtshof meinte, dass die Ausreise von Frau Abdullahi in einen Drittstaat die Verpflichtung der Hellenischen Republik zur Aufnahme gemäß Art. 16 Abs. 3 der Verordnung Nr. 343/2003 wohl nur dann hätte erlöschen lassen, wenn Frau Abdullahi das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen hätte. Auch der Verweis auf das Urteil des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-13905), führe nicht weiter, weil der diesem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt mit dem hier fraglichen nicht vergleichbar sei. 36 Der Verfassungsgerichtshof war der Ansicht, dass diese Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung hätte vorgelegt werden müssen. Er hob deshalb das Erkenntnis des Asylgerichtshofs mit der Begründung auf, dass dieser das Recht von Frau Abdullahi auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt habe. 37 Diese Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 27. Juni 2012 wurde am 10. Juli 2012 dem Asylgerichtshof zugestellt, bei dem das Verfahren seither wieder anhängig ist. 38 Das vorlegende Gericht betont, der Verfassungsgerichtshof habe erkennen lassen, dass der von einem Mitgliedstaat erteilten Zustimmung kein uneingeschränktes Gewicht zukommen solle, und wendet sich daher als Erstes dieser Frage zu. Es meint, dass eine Prüfung der Zuständigkeit des Mitgliedstaats zwangsläufig einen extensiven Umfang annähme, der mit der gebotenen Raschheit der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats in einem Spannungsverhältnis stünde. Im Übrigen begründe die Verordnung Nr. 343/2003, auch wenn nach dieser dem Asylbewerber ein Rechtsbehelf gegen seine Überstellung zustehen müsse, kein Recht darauf, dass das Asylverfahren in einem bestimmten von ihm gewünschten Mitgliedstaat geführt werde. Nach dem System der Verordnung Nr. 343/2003 hätten nur die Mitgliedstaaten untereinander subjektive – und einklagbare – Rechte auf Einhaltung der Zuständigkeitskriterien. Auch könne sich die Entscheidung eines nationalen Gerichts, dass ein anderer Mitgliedstaat zuständig sei, gegenüber diesem als praktisch nicht mehr durchsetzbar erweisen, weil die in der Verordnung vorgesehenen Fristen bereits abgelaufen seien. 39 Zweitens erörtert der Asylgerichtshof die etwaige Zuständigkeit der Hellenischen Republik, falls es auf die Zustimmung von Ungarn nicht mehr ankommen solle. Er zieht aus den Randnrn. 44 und 45 des Urteils vom 3. Mai 2012, Kastrati u. a. (C‑620/10), den Schluss, dass Art. 16 Abs. 3 der Verordnung Nr. 343/2003, wonach die Verpflichtungen des zuständigen Mitgliedstaats erlöschten, wenn der Asylbewerber das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten für mindestens drei Monate verlassen habe, nicht anwendbar sei, wenn noch kein Asylantrag eingebracht worden sei. Hinzu komme, dass diese Bestimmung systematisch unter den Verfahrensbestimmungen der Verordnung eingeordnet und nicht Teil von deren Kapitel III sei, welches die materiellen Zuständigkeitskriterien regele. Auch die Verordnung Nr. 1560/2003 nenne den Art. 16 Abs. 3 der Verordnung Nr. 343/2003 nur in ihrem Art. 4, der die Prüfung von Wiederaufnahmegesuchen betreffe, jedoch nicht in ihrem Art. 3, der die Prüfung von Aufnahmegesuchen regele. Wenn schließlich der Reiseweg des Asylbewerbers und die Daten seiner Ein- und Ausreisen in und aus der Union geprüft werden müssten, so könnten sich Verzögerungen und schwierig zu klärende Beweisfragen ergeben, was die Verfahrensdauer verlängern würde und damit auch die Phase der Unsicherheit für den Schutzsuchenden. 40 Drittens hebt das vorlegende Gericht hervor, dass im Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, wenn die Hellenische Republik als der zuständige Staat bestimmt würde, eine Überstellung dorthin wegen der systemischen Mängel des Asylverfahrens in diesem Staat nicht möglich wäre. Im Ergebnis stünde es damit jedem Asylbewerber frei, einen beliebigen Mitgliedstaat als Zielstaat zu wählen, der das Asylverfahren inhaltlich zu führen hätte. Dies stünde mit den Zielen der Verordnung Nr. 343/2003 in einem Spannungsverhältnis. Es sei darum zu erwägen, bereits in diesem Stadium der Zuständigkeitsprüfung die Hellenische Republik von dieser auszunehmen. Eine andere Möglichkeit wäre die Berücksichtigung Ungarns bei der Prüfung der „nachrangigen Kriterien“, wie es in Randnr. 96 des Urteils N. S. u. a. heiße. Dabei werfe aber die Interpretation des Wortes „nachrangig“ Fragen auf. 41 Vor diesem Hintergrund hat der Asylgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist Art. 19 der Verordnung Nr. 343/2003 in Verbindung mit Art. 18 der Verordnung Nr. 343/2003 so auszulegen, dass mit der Zustimmung eines Mitgliedstaats nach diesen Bestimmungen dieser Mitgliedstaat jener ist, der im Sinne des Art. 16 Abs. 1 Einleitungssatz der Verordnung Nr. 343/2003 zur Prüfung des Asylantrags zuständig ist, oder muss die nationale Überprüfungsinstanz unionsrechtlich, wenn sie im Zuge eines Verfahrens über einen Rechtsbehelf nach Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 – unabhängig von dieser Zustimmung – zur Anschauung gelangt, dass ein anderer Staat gemäß dem Kapitel III der Verordnung Nr. 343/2003 der zuständige Mitgliedstaat wäre (auch wenn an diesen Staat kein Aufnahmeersuchen gerichtet wurde oder er keine Zustimmung erklärt), die Zuständigkeit dieses anderen Mitgliedstaats für ihr Verfahren zur Entscheidung über den Rechtsbehelf als verbindlich feststellen? Bestehen insofern subjektive Rechte jedes Asylwerbers auf Prüfung seines Asylantrags durch einen bestimmten nach diesen Zuständigkeitskriterien zuständigen Mitgliedstaat? 2. Ist Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 so auszulegen, dass der Mitgliedstaat, in welchem eine erste illegale Einreise erfolgt („erster Mitgliedstaat“), bei Verwirklichung folgenden Sachverhalts seine Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrags eines Drittstaatsangehörigen anzuerkennen hat: Ein Drittstaatsangehöriger reist aus einem Drittstaat kommend illegal in den betreffenden ersten Mitgliedstaat ein. Er stellt dort keinen Asylantrag. Er reist sodann in einen Drittstaat aus. Nach weniger als drei Monaten reist er aus einem Drittstaat in einen anderen Mitgliedstaat der EU („zweiter Mitgliedstaat“) illegal ein. Aus diesem zweiten Mitgliedstaat begibt er sich sogleich direkt weiter in einen dritten Mitgliedstaat und stellt dort seinen ersten Asylantrag. Zu diesem Zeitpunkt sind weniger als zwölf Monate seit der illegalen Einreise in den ersten Mitgliedstaat vergangen. 3. Ist unabhängig von der Beantwortung der Frage 2, wenn es sich bei dem dort genannten „ersten Mitgliedstaat“ um einen Mitgliedstaat, dessen Asylsystem festgestellte systemische Mängel aufweist, die jenen im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Januar 2011 (M. S. S., Rechtssache 30696/09) beschriebenen gleichkommen, handelt, eine andere Beurteilung des primär zuständigen Mitgliedstaats im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003, ungeachtet des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, geboten? Kann etwa im Besonderen davon ausgegangen werden, dass ein Aufenthalt in einem solchen Mitgliedstaat von vornherein nicht geeignet ist, einen zuständigkeitsbegründenden Sachverhalt im Sinne des Art. 10 der Verordnung Nr. 343/2003 darzustellen? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 42 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, einem Asylbewerber das Recht einzuräumen, im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung gemäß Art. 19 Abs. 1 dieser Verordnung die Überprüfung der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu verlangen und sich auf eine fehlerhafte Anwendung der in Kapitel III der Verordnung genannten Kriterien zu berufen. Erklärungen vor dem Gerichtshof 43 Frau Abdullahi und die Europäische Kommission machen geltend, dass die Überprüfungsinstanz die Einhaltung der Zuständigkeitskriterien kontrollieren müsse. Sie verweisen auf den vierten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 343/2003, wonach die Methode der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats „auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren [sollte]“. 44 Frau Abdullahi ist der Ansicht, dass die Verordnung Nr. 343/2003 mit der Festlegung objektiver Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auch subjektive Rechtspositionen der Asylbewerber geschaffen habe. Diese hätten einen Anspruch darauf, dass die rechtsrichtige Anwendung dieser Kriterien unter Berücksichtigung etwaiger zuständigkeitsbeendender Sachverhalte überprüft werde. Diese Auslegung stünde in Einklang mit den Erfordernissen des Art. 47 der Charta. Eine etwaige Einschränkung dieser Rechtsmäßigkeitskontrolle – etwa lediglich die Prüfung von Willkür – könne der Verordnung Nr. 343/2003 nicht entnommen werden. 45 Nach Auffassung der Kommission, die sich ebenfalls auf Art. 47 der Charta stützt, folgt aus der gebotenen Wirksamkeit des Rechtsbehelfs nach Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003, dass der Asylbewerber die Frage der Rechtmäßigkeit seiner Überstellung an den ersuchten Mitgliedstaat überprüfen lassen könne. Dazu zähle die Frage, ob die Rangfolge der in der Verordnung vorgesehenen Kriterien oder Fristen richtig angewendet worden sei. Der Asylbewerber könne aber auch Gründe für die Annahme darlegen, dass für ihn in dem Staat, in den er überstellt werden solle, die ernste Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta bestehe. Komme die Überprüfungsinstanz zu dem Ergebnis, dass die bekämpfte Entscheidung nicht rechtmäßig sei, dann habe sie diese abzuändern oder aufzuheben und selbst jenen Mitgliedstaat zu benennen, den sie für die Prüfung des Asylantrags für zuständig halte. Der Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt worden sei, habe dann ein weiteres Mal das Verfahren gemäß den Art. 17 bis 19 der Verordnung Nr. 343/2003 einzuleiten. 46 Die griechische Regierung, die ungarische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs und die schweizerische Regierung meinen dagegen, gemäß Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 könne sich der Rechtsbehelf nur gegen die Entscheidung richten, den Antrag nicht zu prüfen, sowie gegen die Verpflichtung zur Überstellung. Er könne nur auf die Verletzung konkreter Rechte gestützt werden, wie etwa Grundrechtsverletzungen in dem Mitgliedstaat, in den die Überstellung erfolgen solle, oder den Schutz der Einheit der Familie. Die griechische Regierung, die ungarische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs heben die Verzögerungen hervor, die sich aus Ermittlungen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats oder Konsultationen eines anderen Mitgliedstaats ergäben, während die Verordnung Nr. 343/2003 eine rasche Bearbeitung von Asylanträgen gewährleisten solle. Sei der mit der Verordnung Nr. 343/2003 verfolgte Zweck, nämlich die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags zuständigen Staates, einmal erreicht, so seien solche Ermittlungen nicht mehr gerechtfertigt. Antwort des Gerichtshofs 47 Die Frage betrifft die Auslegung der Verordnung Nr. 343/2003 und die Rechte, die Asylbewerbern aus dieser Verordnung erwachsen, die einen der Bausteine des von der Europäischen Union errichteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems bildet. 48 Insoweit ist daran zu erinnern, dass gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV die Verordnung allgemeine Geltung hat, in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt. Daher kann sie schon nach ihrer Rechtsnatur und ihrer Funktion im Rechtsquellensystem des Gemeinschaftsrechts Rechte der Einzelnen begründen, die die nationalen Gerichte schützen müssen (Urteile vom 10. Oktober 1973, Variola, 34/73, Slg. 1973, 981, Randnr. 8, vom 17. September 2002, Muñoz und Superior Fruiticola, C-253/00, Slg. 2002, I-7289, Randnr. 27, und vom 14. Juli 2011, Bureau National Interprofessionnel du Cognac, C-4/10 und C-27/10, Slg. 2011, I-6131, Randnr. 40). 49 Es ist zu klären, in welchem Umfang die Bestimmungen in Kapitel III der Verordnung Nr. 343/2003 tatsächlich Rechte der Asylbewerber begründen, die die nationalen Gerichte schützen müssen. 50 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 343/2003 nur einen Rechtsbehelf in ihrem Art. 19 Abs. 2 vorsieht. Nach dieser Bestimmung kann der Asylbewerber einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einlegen, einen Antrag nicht zu prüfen und den Asylbewerber in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. Im Übrigen wird im 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/85, die insbesondere in ihrem Kapitel V die Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit der Prüfung von Asylanträgen regelt, hervorgehoben, dass diese Richtlinie nicht die Verfahren im Rahmen der Verordnung Nr. 343/2003 betrifft. 51 Was die Reichweite des in Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 vorgesehenen Rechtsbehelfs angeht, so sind bei der Auslegung dieser Verordnung nicht nur der Wortlaut ihrer Bestimmungen, sondern auch ihr allgemeiner Aufbau, ihre Ziele und ihr Kontext zu berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere die Entwicklung, der sie im Zusammenhang mit dem System, in das sie sich einfügt, unterworfen war. 52 Unter diesem Aspekt ist zum einen zu beachten, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem in einem Kontext entworfen wurde, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen (Urteil N. S. u. a., Randnr. 78). 53 Gerade aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens hat der Unionsgesetzgeber die Verordnung Nr. 343/2003 erlassen, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrags zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem „forum shopping“ zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezweckt, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen (Urteil N. S. u. a., Randnr. 79). 54 Zum anderen wurden die für Asylanträge geltenden Regelungen in weitem Umfang auf Unionsebene harmonisiert, so insbesondere jüngst durch die Richtlinien 2011/95 und 2013/32. 55 Der von einem Asylbewerber gestellte Antrag wird daher weitgehend nach den gleichen Regelungen geprüft werden, welcher Mitgliedstaat auch immer für seine Prüfung nach der Verordnung Nr. 343/2003 zuständig ist. 56 Im Übrigen bezeugen verschiedene Bestimmungen der Verordnungen Nr. 343/2003 und 1560/2003 die Absicht des Unionsgesetzgebers, für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats organisatorische Vorschriften festzulegen, die die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, so wie dies im Dubliner Übereinkommen geschehen war (vgl. entsprechend Urteile vom 13. Juni 2013, Unanimes u. a., C‑671/11 bis C‑676/11, Randnr. 28, und Syndicat OP 84, C‑3/12, Randnr. 29). 57 So sollen Art. 3 Abs. 2 (sogenannte Souveränitätsklausel) und Art. 15 Abs. 1 (humanitäre Klausel) der Verordnung Nr. 343/2003 die Prärogativen der Mitgliedstaaten wahren, das Recht auf Asylgewährung unabhängig von dem Mitgliedstaat auszuüben, der nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien für die Prüfung eines Antrags zuständig ist. Da es sich dabei um fakultative Bestimmungen handelt, räumen sie den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen ein (vgl. in diesem Sinne Urteile N. S. u. a., Randnr. 65, und vom 6. November 2012, K, C‑245/11, Randnr. 27). 58 Im gleichen Sinne gestattet es Art. 23 der Verordnung Nr. 343/2003 den Mitgliedstaaten, untereinander bilaterale Verwaltungsvereinbarungen bezüglich der praktischen Modalitäten der Durchführung der Verordnung zu treffen, die insbesondere die Vereinfachung der Verfahren und die Verkürzung der Fristen für die Übermittlung und Prüfung von Gesuchen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Asylbewerbern zum Gegenstand haben können. Weiter sieht Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1560/2003 – jetzt Art. 37 der Verordnung Nr. 604/2013 – vor, dass die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen, in denen sie über die Anwendung der Verordnung Nr. 343/2003 nicht einig sind, ein Schlichtungsverfahren in Anspruch nehmen können, an dem Mitglieder eines Ausschusses, die drei nicht an der Angelegenheit beteiligte Mitgliedstaaten vertreten, beteiligt sind, aber in dessen Rahmen eine Anhörung des Asylbewerbers nicht vorgesehen ist. 59 Schließlich besteht einer der Hauptzwecke der Verordnung Nr. 343/2003, wie aus ihren Erwägungsgründen 3 und 4 hervorgeht, in der Schaffung einer klaren und praktikablen Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden. 60 Im vorliegenden Fall handelt es sich bei der angefochtenen Entscheidung um die von dem Mitgliedstaat, in dem die Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens ihren Asylantrag gestellt hat, getroffene Entscheidung, diesen Antrag nicht zu prüfen und die Betroffene in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen. Dieser zweite Mitgliedstaat hat der Aufnahme der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 343/2003 festgelegten Kriteriums zugestimmt, d. h. als der Mitgliedstaat der ersten Einreise der Beschwerdeführerin des Ausgangsverfahrens in das Unionsgebiet. In einer solchen Situation, in der der Mitgliedstaat der Aufnahme zustimmt, kann unter Berücksichtigung der oben in den Randnrn. 52 und 53 wiedergegebenen Erwägungen der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteile N. S. u. a., Randnrn. 94 und 106, und vom 14. November 2013, Puid, C‑4/11, Randnr. 30). 61 Wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, erlaubt indessen kein Anhaltspunkt die Annahme, dass dies im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits der Fall ist. 62 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat der Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat, d. h. als der Mitgliedstaat der ersten Einreise des Asylbewerbers in das Unionsgebiet, der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden. Zur zweiten und zur dritten Frage 63 Da die beiden anderen Vorlagefragen nur für den Fall gestellt worden sind, dass der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, der Asylbewerber könne eine Überprüfung der Bestimmung des für seinen Asylantrag zuständigen Mitgliedstaats verlangen, sind diese Fragen nicht zu beantworten. Kosten 64 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat der Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat, d. h. als der Mitgliedstaat der ersten Einreise des Asylbewerbers in das Gebiet der Europäischen Union, der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 12. November 2013. # Wünsche Handelsgesellschaft International mbH & Co. KG gegen Europäische Kommission. # Zollunion - Einfuhr von Pilzkonserven aus China - Beschluss, mit dem festgestellt wird, dass es nicht gerechtfertigt ist, die Einfuhrabgaben zu erlassen - Art. 220 Abs. 2 Buchst. b und Art. 239 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 - Erkennbarer Irrtum der Zollbehörden - Offensichtliche Fahrlässigkeit des Einführers - Vertrauensschutz - Verhältnismäßigkeit - Ordnungsgemäße Verwaltung - Gleichbehandlung. # Rechtssache T-147/12.
62012TJ0147
ECLI:EU:T:2013:587
2013-11-12T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung 2013 -00000
EUR-Lex - CELEX:62012TJ0147 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62012TJ0147 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62012TJ0147 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop