Titel
stringlengths
0
1.98k
Untertitel
stringclasses
1 value
CELEX-Nummer
stringlengths
11
15
Ausgangsdokument
stringclasses
1 value
Verfahrensnummer
stringclasses
1 value
Ursprünglicher Verweis
stringclasses
1 value
Verabschiedete Rechtsakte
stringclasses
1 value
Letzte konsolidierte Fassung
stringclasses
1 value
Verfahrensstand
stringclasses
1 value
ECLI-Identifikator
stringlengths
0
19
Umgesetzte(r) Rechtsakt(e)
stringclasses
1 value
Datum des Dokuments
timestamp[s]date
2010-01-12 00:00:00
2025-07-23 00:00:00
Autor
stringclasses
60 values
In-Kraft-Indikator
stringclasses
1 value
Seitenzahl
stringclasses
1 value
Fundstelle im Amtsblatt
stringclasses
173 values
Unnamed: 16
stringclasses
1 value
Text
stringlengths
1.29k
986k
Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 27. Juni 2024.#Gestore dei Servizi Energetici SpA - GSE gegen Erg Eolica Ginestra Srl u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Richtlinie 2009/28/EG – Art. 1 – Art. 3 Abs. 3 Buchst. a – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 16 – Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen – Änderung der anwendbaren Förderregelung – Gewährung der betreffenden Förderung in Abhängigkeit vom Abschluss von Verträgen.#Rechtssache C-148/23.
62023CJ0148
ECLI:EU:C:2024:555
2024-06-27T00:00:00
Rantos, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62023CJ0148 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer) 27. Juni 2024 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Richtlinie 2009/28/EG – Art. 1 – Art. 3 Abs. 3 Buchst. a – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 16 – Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen – Änderung der anwendbaren Förderregelung – Gewährung der betreffenden Förderung in Abhängigkeit vom Abschluss von Verträgen“ In der Rechtssache C‑148/23 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 27. Februar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 10. März 2023, in dem Verfahren Gestore dei Servizi Energetici SpA – GSE gegen Erg Eolica Ginestra Srl, Erg Eolica Campania SpA, Erg Eolica Fossa del Lupo Srl, Erg Eolica Amaroni Srl, Erg Eolica Adriatica Srl, Erg Eolica San Vincenzo Srl, Erg Eolica San Circeo Srl, Erg Eolica Faeto Srl, Green Vicari Srl, Erg Wind Energy Srl, Erg Wind Sicilia 3 Srl, Erg Wind Sicilia 6 Srl, Erg Wind 4 Srl, Erg Wind 6 Srl, Erg Wind Sicilia 5 Srl, Erg Wind 2000 Srl, Erg Wind Sicilia 2 Srl, Erg Wind Sardegna Srl, Erg Wind Sicilia 4 Srl, Enel Hydro Appennino Centrale Srl, vormals Erg Hydro Srl, Erg Power Generation SpA, Ministero dello Sviluppo economico erlässt DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen, der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Siebten Kammer und der Richterin M. L. Arastey Sahún, Generalanwalt: A. Rantos, Kanzler: A. Juhász-Tóth, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Februar 2024, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Gestore dei Servizi Energetici SpA – GSE, vertreten durch F. Degni, P. R. Molea und A. Pugliese, Avvocati, – der Erg Eolica Ginestra Srl, der Erg Eolica Campania SpA, der Erg Eolica Fossa del Lupo Srl, der Erg Eolica Amaroni Srl, der Erg Eolica Adriatica Srl, der Erg Eolica San Vincenzo Srl, der Erg Eolica San Circeo Srl, der Erg Eolica Faeto Srl, der Green Vicari Srl, der Erg Wind Energy Srl, der Erg Wind Sicilia 3 Srl, der Erg Wind Sicilia 6 Srl, der Erg Wind 4 Srl, der Erg Wind 6 Srl, der Erg Wind Sicilia 5 Srl, der Erg Wind 2000 Srl, der Erg Wind Sicilia 2 Srl, der Erg Wind Sardegna Srl, der Erg Wind Sicilia 4 Srl, der Enel Hydro Appennino Centrale Srl, vormals Erg Hydro Srl, und der Erg Power Generation SpA, vertreten durch E. Bruti Liberati, A. Canuti und P. Tanferna, Avvocati, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. G. V. Delbono, S. Fiorentino und P. Garofoli, Avvocati dello Stato, – der Europäischen Kommission, vertreten durch B. De Meester und G. Gattinara als Bevollmächtigte, aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung zum einen der Art. 1 und 3 der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG (ABl. 2009, L 140, S. 16) im Licht der Erwägungsgründe 8, 14 und 25 dieser Richtlinie sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes und zum anderen von Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gestore dei Servizi Energetici SpA – GSE, der Verwaltungsgesellschaft für Energiedienstleistungen in Italien, auf der einen Seite und 21 Unternehmen, die Strom aus anderen erneuerbaren Quellen als Fotovoltaik erzeugen, nämlich der Erg Eolica Ginestra Srl, der Erg Eolica Campania SpA, der Erg Eolica Fossa del Lupo Srl, der Erg Eolica Amaroni Srl, der Erg Eolica Adriatica Srl, der Erg Eolica San Vincenzo Srl, der Erg Eolica San Circeo Srl, der Erg Eolica Faeto Srl, der Green Vicari Srl, der Erg Wind Energy Srl, der Erg Wind Sicilia 3 Srl, der Erg Wind Sicilia 6 Srl, der Erg Wind 4 Srl, der Erg Wind 6 Srl, der Erg Wind Sicilia 5 Srl, der Erg Wind 2000 Srl, der Erg Wind Sicilia 2 Srl, der Erg Wind Sardegna Srl, der Erg Wind Sicilia 4 Srl, der Enel Hydro Appennino Centrale Srl, vormals Erg Hydro Srl, und der Erg Power Generation SpA, sowie dem Ministero dello Sviluppo economico (Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, Italien) auf der anderen Seite über die Ersetzung einer Förderregelung für Erzeuger solchen Stroms durch eine andere, die diese Erzeuger zwingt, einen Vertrag mit GSE zu schließen, um in den Genuss letzterer Förderregelung kommen zu können. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 8, 14 und 25 der Richtlinie 2009/28 wird ausgeführt: „(8) In der Mitteilung der [Europäischen] Kommission vom 10. Januar 2007‚Fahrplan für erneuerbare Energien – Erneuerbare Energien im 21. Jahrhundert: größere Nachhaltigkeit in der Zukunft‘ wurde dargelegt, dass 20 % als Ziel für den Gesamtanteil von Energie aus erneuerbaren Quellen und 10 % als Ziel für Energie aus erneuerbaren Quellen im Verkehrssektor angemessene und erreichbare Ziele wären und dass ein Rahmen, der verbindliche Ziele enthält, den Unternehmen die langfristige Sicherheit geben dürfte, die sie benötigen, um vernünftige und nachhaltige Investitionen in den Sektor der erneuerbaren Energie zu tätigen, mit denen die Abhängigkeit von importierten fossilen Brennstoffen verringert und die Nutzung neuer Energietechnologien gefördert werden kann. Dabei handelt es sich um Ziele im Zusammenhang mit der Erhöhung der Energieeffizienz um 20 % bis 2020, die gemäß der vom Europäischen Rat im März 2007 und vom Europäischen Parlament in seiner Entschließung vom 31. Januar 2008 zu jenem Aktionsplan gebilligten Mitteilung der Kommission vom 19. Oktober 2006 mit dem Titel ‚Aktionsplan für Energieeffizienz: das Potenzial ausschöpfen‘ angestrebt wird. … (14) Mit den verbindlichen nationalen Zielen wird in erster Linie der Zweck verfolgt, Investitionssicherheit zu schaffen und die kontinuierliche Entwicklung von Technologien für die Erzeugung von Energie aus allen Arten erneuerbarer Quellen zu fördern. Es ist daher nicht angebracht, die Entscheidung über die Verbindlichkeit eines Ziels bis zum Eintritt eines Ereignisses in der Zukunft zu verschieben. … (25) Die Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Potenziale im Bereich der erneuerbaren Energie und wenden auf nationaler Ebene unterschiedliche Regelungen zur Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen an. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten wendet Förderregelungen an, bei denen Vorteile ausschließlich für in ihrem Hoheitsgebiet erzeugte Energie aus erneuerbaren Quellen gewährt werden. Damit nationale Förderregelungen ungestört funktionieren können, müssen die Mitgliedstaaten deren Wirkung und Kosten entsprechend ihrem jeweiligen Potenzial kontrollieren können. Ein wichtiger Faktor bei der Verwirklichung des Ziels dieser Richtlinie besteht darin, das ungestörte Funktionieren der nationalen Förderregelungen, wie nach der Richtlinie 2001/77/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2001 zur Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen im Elektrizitätsbinnenmarkt (ABl. 2001, L 283, S. 33)], zu gewährleisten, damit das Vertrauen der Investoren erhalten bleibt und die Mitgliedstaaten wirksame nationale Maßnahmen im Hinblick auf die Erfüllung der Ziele konzipieren können. …“ 4 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2009/28 lautet: „Mit dieser Richtlinie wird ein gemeinsamer Rahmen für die Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen vorgeschrieben. In ihr werden verbindliche nationale Ziele für den Gesamtanteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch und für den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen im Verkehrssektor festgelegt. Gleichzeitig werden Regeln für statistische Transfers zwischen Mitgliedstaaten, gemeinsame Projekte zwischen Mitgliedstaaten und mit Drittländern, Herkunftsnachweise, administrative Verfahren, Informationen und Ausbildung und Zugang zum Elektrizitätsnetz für Energie aus erneuerbaren Quellen aufgestellt. Ferner werden Kriterien für die Nachhaltigkeit von Biokraftstoffen und flüssigen Biobrennstoffen vorgeschrieben.“ 5 In Art. 3 („Verbindliche nationale Gesamtziele und Maßnahmen auf dem Gebiet der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen“) dieser Richtlinie heißt es: „(1)   Jeder Mitgliedstaat sorgt dafür, dass sein … Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch im Jahr 2020 mindestens seinem nationalen Gesamtziel für den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen in diesem Jahr gemäß der dritten Spalte der Tabelle in Anhang I Teil A entspricht. Diese verbindlichen nationalen Gesamtziele müssen mit dem Ziel in Einklang stehen, bis 2020 mindestens 20 % des Bruttoendenergieverbrauchs der [Europäischen] Gemeinschaft durch Energie aus erneuerbaren Quellen zu decken. Um die in diesem Artikel aufgestellten Ziele leichter erreichen zu können, fördern die Mitgliedstaaten Energieeffizienz und Energieeinsparungen. (2)   Die Mitgliedstaaten treffen Maßnahmen, um effektiv zu gewährleisten, dass ihr Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen den im indikativen Zielpfad in Anhang I Teil B angegebenen Anteil erreicht oder übersteigt. (3)   Zur Erfüllung der in den Absätzen 1 und 2 genannten Ziele können die Mitgliedstaaten unter anderem folgende Maßnahmen anwenden: a) Förderregelungen; …“ Italienisches Recht Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 79/1999 6 Mit dem Decreto legislativo n. 79 – Attuazione della direttiva 96/92/CE recante norme comuni per il mercato interno dell’energia elettrica (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 79 – Umsetzung der Richtlinie 96/92/EG betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt) vom 16. März 1999 (GURI Nr. 75 vom 31. März 1999, S. 8) hatte die Italienische Republik eine Regelung zur Förderung der Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Quellen errichtet, mit der sie Importeuren und Erzeugern von Strom aus nicht erneuerbaren Quellen vorgab, im Folgejahr in das nationale Netz eine Quote Strom aus erneuerbaren Quellen einzuspeisen oder alternativ die entsprechende Quote oder die entsprechenden darauf entfallenden Rechte in Form sogenannter „Grüner Zertifikate“, die Erzeugern solchen Stroms erteilt werden, ganz oder teilweise bei anderen Erzeugern zu erwerben, sofern diese solchen Strom in das Netz einspeisen (im Folgenden: Grüne-Zertifikate-Regelung). Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 28/2011 7 Das Decreto legislativo no 28 – Attuazione della direttiva 2009/28/CE sulla promozione dell’uso dell’energia da fonti rinnovabili, recante modifica e successiva abrogazione delle direttive 2001/77/CE e 2003/30/CE (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 28 – Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG) vom 3. März 2011 (GURI Nr. 71 vom 28. März 2011, Ordentliche Beilage zur GURI Nr. 81, im Folgenden: gesetzesvertretendes Dekret Nr. 28/2011), das am 29. März 2011 in Kraft trat, sieht vor, dass die Grüne-Zertifikate-Regelung ab 2013 schrittweise abgeschafft und ab 2016 durch eine Förderregelung ersetzt wird, die auf der Gewährung von Einspeisefördertarifen beruht (im Folgenden: Einspeisefördertarif-Regelung). 8 Art. 24 dieses gesetzesvertretenden Dekrets sieht vor: „(1)   Die Stromerzeugung aus nach dem 31. Dezember 2012 in Betrieb genommenen Anlagen, die aus erneuerbaren Quellen gespeist werden, wird über die Instrumente und auf der Grundlage der allgemeinen Kriterien des Absatzes 2 sowie der besonderen Kriterien der Absätze 3 und 4 gefördert. … (2)   Die Stromerzeugung aus den in Absatz 1 genannten Anlagen wird auf der Grundlage der folgenden allgemeinen Kriterien gefördert: … d) die Förderleistungen werden über privatrechtliche Verträge, die zwischen GSE und der für die Anlage verantwortlichen Person auf der Grundlage eines von der Autorità per l’energia elettrica e il gas [(AEEG) (Strom- und Gasbehörde, Italien), nunmehr Autorità di regolazione per energia, reti e ambiente (ARERA) (Regulierungsbehörde für Energie, Netze und Umwelt, Italien),] aufgesetzten Mustervertrags geschlossen werden, innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des ersten der in Absatz 5 genannten Dekrete gewährt; … (5)   Durch Dekrete des Ministro dello Sviluppo economico [(Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Italien)], die im Einvernehmen mit dem Ministro dell’Ambiente e della Tutela del Territorio e del Mare [(Minister für Umwelt, Landschafts- und Meeresschutz, Italien)] sowie, hinsichtlich der Anforderungsprofile, dem Ministro delle Politiche agricole e forestali [(Minister für Land‑ und Forstwirtschaftspolitik, Italien)] und nach Anhörung der [AEEG] und der Conferenza unificata [(Gemeinsame Konferenz, Italien)] im Sinne des Artikels 8 des Decreto legislativo Nr. 281 [(gesetzesvertretendes Dekret Nr. 281)] vom 28. August 1997 erlassen werden, werden die Durchführungsbestimmungen zu den in diesem Artikel vorgesehenen Förderregelungen unter Beachtung der Kriterien der Absätze 2, 3 und 4 festgelegt. Die Dekrete regeln insbesondere: … c) die Modalitäten für den Übergang vom alten zum neuen Fördermechanismus. Insbesondere werden die Modalitäten festgelegt, nach denen der Anspruch auf Grüne Zertifikate für die Jahre nach 2015, auch bei nicht aus erneuerbaren Quellen gespeisten Anlagen, in den Anspruch auf Zugang zu einer Förderung entsprechend der Typologie des Absatzes 3 für die Restlaufzeit des Anspruchs auf Grüne Zertifikate umgewandelt wird, so dass die Rentabilität der getätigten Investitionen gewährleistet ist. …“ 9 Art. 25 Abs. 4 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 sieht vor, dass GSE jährlich die für die Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen in den Jahren 2011 bis 2015 erteilten Grünen Zertifikate zurücknimmt, die etwa über die Zertifikate hinausgehen, die für die Erfüllung der die Abnahmeverpflichtung für erneuerbare Energie betreffenden Quote erforderlich sind. Der Rücknahmepreis für die vorstehend genannten Zertifikate beträgt 78 % des Preises nach Art. 2 Abs. 148 der Legge n. 244 – Disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (Legge finanziaria 2008) (Gesetz Nr. 244 – Bestimmungen über die Aufstellung des jährlichen und mehrjährigen Staatshaushalts [Haushaltsgesetz 2008]) vom 24. Dezember 2007 (GURI Nr. 300 vom 28. Dezember 2007, Ordentliche Beilage zur GURI Nr. 285). Dekret vom 6. Juli 2012 10 Der Minister für wirtschaftliche Entwicklung erließ im Einvernehmen mit dem Minister für Umwelt, Landschafts- und Meeresschutz und dem Minister für Land‑ und Forstwirtschaftspolitik das Decreto – Attuazione dell’art. 24 del decreto legislativo 3 marzo 2011, n. 28, recante incentivazione della produzione di energia elettrica da impianti a fonti rinnovabili diversi dai fotovoltaici (Dekret – Durchführung von Art. 24 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28 vom 3. März 2011, Förderung der Stromerzeugung aus Anlagen, die aus anderen erneuerbaren Quellen als Fotovoltaik gespeist werden) vom 6. Juli 2012 (GURI Nr. 159 vom 10. Juli 2012, Ordentliche Beilage zur GURI Nr. 143, im Folgenden: Dekret vom 6. Juli 2012). 11 Art. 19 („Umwandlung des Anspruchs auf Grüne Zertifikate in eine Förderung“) des Dekrets vom 6. Juli 2012 sieht vor: „(1)   Für die Stromerzeugung aus bis zum 31. Dezember 2012 in Betrieb genommenen Anlagen, die aus erneuerbaren Quellen gespeist werden, … hinsichtlich deren der Anspruch auf Grüne Zertifikate erworben wurde, wird für die Restlaufzeit des Anspruchs nach 2015 [ein Einspeisetarif] I in Bezug auf die Nettoerzeugung gewährt, die nach den zuvor geltenden einschlägigen Bestimmungen gefördert wurde. [Mathematische Formel zur Berechnung des Einspeisetarifs I] …“ 12 In Art. 20 („Bestimmungen über die Rücknahme der Grünen Zertifikate, die für die Erzeugung der Jahre bis 2015 erteilt wurden“) dieses Dekrets heißt es: „(1)   Für die Erteilung und Rücknahme der Grünen Zertifikate für die Erzeugung der Jahre 2012 bis 2015 gelten in Durchführung von Artikel 24 Absatz 5 Buchstabe c Satz 1 des gesetzesvertretenden Dekrets [Nr. 28/2011] die folgenden Absätze. (2)   Auf Antrag des Erzeugers erteilt GSE vierteljährlich Grüne Zertifikate für die Erzeugung des vorangegangenen Quartals, ausgehend von den Messungen, die die Netzbetreiber GSE monatlich auf der Grundlage eines eigens dazu bestimmten Verfahrens übermitteln, das von GSE innerhalb von 60 Tagen nach Inkrafttreten des vorliegenden Dekrets veröffentlicht wird. (3)   … GSE [nimmt] auf Antrag des Inhabers zu dem in Artikel 25 Absatz 4 des gesetzesvertretenden Dekrets [Nr. 28/2011] festgelegten Preis … nach folgender Maßgabe zurück: … b) die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des ersten Halbjahrs 2012 bis zum 31. März 2013 und die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des zweiten Halbjahrs 2012 bis zum 30. September 2013; c) die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des ersten Quartals 2013 bis zum 31. Dezember 2013; die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des zweiten Quartals 2013 bis zum 31. März 2014; die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des dritten Quartals 2013 bis zum 30. Juni 2014; die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des vierten Quartals 2013 bis zum 30. September 2014; d) die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des ersten Quartals 2014 bis zum 30. September 2014; die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des zweiten Quartals 2014 bis zum 31. Dezember 2014; die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des dritten Quartals 2014 bis zum 31. März 2015; die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des vierten Quartals 2014 bis zum 30. Juni 2015; e) die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des ersten Quartals 2015 bis zum 30. September 2015; die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des zweiten Quartals 2015 bis zum 31. Dezember 2015; die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des dritten Quartals 2015 bis zum 31. März 2016; die Grünen Zertifikate für die Erzeugung des vierten Quartals 2015 bis zum 30. Juni 2016. …“ 13 Art. 21 Abs. 8 des Dekrets sieht vor: „Für jede einzelne Anlage obliegt es dem Verantwortlichen, nach Erlangung des Anspruchs auf Zugang zu den Fördermechanismen des vorliegenden Dekrets einen privatrechtlichen Vertrag mit GSE zu schließen. GSE übermittelt der [AEEG] die erforderlichen Angaben, damit diese innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten des vorliegenden Dekrets den Mustervertrag im Sinne des Artikels 24 Absatz 2 Buchstabe d des gesetzesvertretenden Dekrets [Nr. 28/2011] aufsetzen kann.“ 14 Art. 30 („Übergang vom alten zum neuen Fördermechanismus“) des Dekrets vom 6. Juli 2012 bestimmt: „(1)   Zum Schutz laufender Investitionen und zur Sicherstellung eines schrittweisen Übergangs vom alten zum neuen Mechanismus kann für Anlagen, die bis zum 30. April 2013 bzw., was allein für aus Abfällen im Sinne des Artikels 8 Absatz 4 Buchstabe c gespeiste Anlagen gilt, bis zum 30. Juni 2013 in Betrieb genommen werden, unter folgenden Bedingungen und Umständen alternativ zu dem mit dem vorliegenden Dekret eingeführten Fördermechanismus für einen anderen Fördermechanismus optiert werden: … b) für Anlagen, die innerhalb der Frist des Absatzes 1 in Betrieb genommen werden, gelten die Werte der Einspeisetarife und der Multiplikationskoeffizienten für Grüne Zertifikate gemäß den Tabellen 1 und 2 im Anhang des Gesetzes Nr. 244 von 2007 in geänderter Fassung und gemäß Absatz 382quater der Legge n. 296 [– Disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (Gesetz Nr. 296 – Bestimmungen über die Aufstellung des jährlichen und mehrjährigen Staatshaushalts) vom 27. Dezember 2006 (GURI Nr. 299 vom 27. Dezember 2006, Ordentliche Beilage Nr. 244)] in geänderter Fassung, wie sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des vorliegenden Dekrets anwendbar sind; diese Werte werden ab Januar 2013 bzw., was allein für aus Abfällen im Sinne des Artikels 8 Absatz 4 Buchstabe c gespeiste Anlagen gilt, ab Mai um 3 % pro Monat herabgesetzt. … (2)   Anlagen im Sinne des Absatzes 1 bedürfen einer vor dem Inkrafttreten des vorliegenden Dekrets datierenden Genehmigung. …“ Musterverträge 15 Mit dem Beschluss Nr. 207/2013/R/EFR vom 16. Mai 2013 billigte die AEEG den Entwurf eines Mustervertrags mit dem Titel „Fonti energetiche rinnovabili“ (Vertrag über erneuerbare Energiequellen, im Folgenden: FER-Vertrag), der von GSE für die Zwecke der Gewährung der im Dekret vom 6. Juli 2012 vorgesehenen Fördermaßnahmen vorformuliert worden war. Der Beschluss wurde am 17. Mai 2013 auf der Website der AEEG veröffentlicht. 16 Am 20. April 2016 veröffentlichte GSE auf ihrer Website den Entwurf eines Mustervertrags mit dem Titel „Gestione Riconoscimento Incentivo“ (Mustervertrag über die Verwaltung der Zuerkennung einer Fördermaßnahme, im Folgenden: GRIN-Vertrag). Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 17 Die 21 oben in Rn. 2 genannten Gesellschaften (im Folgenden: Berufungsbeklagte des Ausgangsverfahrens) sind Eigentümerinnen von Anlagen zur Erzeugung von Strom aus anderen erneuerbaren Quellen als Fotovoltaik, die eine Förderung für die Erzeugung dieses Stroms nach der Grüne-Zertifikate-Regelung erhielten und daher Grüne Zertifikate an andere Marktteilnehmer verkaufen konnten, damit deren Verpflichtung nachgekommen wird, eine bestimmte Menge solchen Stroms in das italienische Stromsystem einzuspeisen. 18 Infolge des Erlasses des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 und des Dekrets vom 6. Juli 2012, die die Ersetzung der Grüne-Zertifikate-Regelung durch die Einspeisefördertarif-Regelung vorsehen, erhoben diese Eigentümerinnen Klage beim Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien), mit der sie die Rechtmäßigkeit des GRIN-Vertrags in Frage stellten, den sie mit GSE schließen mussten, um den Übergang zwischen den beiden Regelungen zu vollziehen. 19 Das angerufene Gericht gab ihrer Klage mit der Begründung statt, dass weder das gesetzesvertretende Dekret Nr. 28/2011 noch das Dekret vom 6. Juli 2012 ausdrücklich vorgesehen hätten, dass für diesen Übergang der Abschluss eines Vertrags mit GSE erforderlich sei. Die in Art. 24 Abs. 2 Buchst. d des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 vorgesehene Obliegenheit, einen „privatrechtlichen Vertrag“ abzuschließen, um in den Genuss der Einspeisefördertarif-Regelung zu kommen, gelte nur für die Betreiber von aus erneuerbaren Quellen gespeisten Anlagen, die nach dem 31. Dezember 2012 in Betrieb genommen worden seien, nicht aber für die Betreiber von Anlagen wie denjenigen der klagenden Eigentümerinnen, die vor diesem Zeitpunkt in Betrieb genommen worden seien und deren Betreiber von der Grüne-Zertifikate-Regelung profitiert hätten. 20 GSE legte gegen die Entscheidung des Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium) Berufung beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, ein. 21 Vorab weist dieses Gericht im Wesentlichen darauf hin, dass sich aus seiner Rechtsprechung und der Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) ergebe, dass entgegen dem, was im ersten Rechtszug entschieden worden sei, die Obliegenheit zum Abschluss eines Vertrags mit GSE, um in den Genuss der Einspeisefördertarif-Regelung kommen zu können, sowohl für Betreiber gelte, deren Anlagen bis zum 31. Dezember 2012 in Betrieb genommen worden seien, als auch für Betreiber, deren Anlagen nach dem 31. Dezember 2012 in Betrieb genommen worden seien. Somit habe GSE vorbehaltlich der erforderlichen Änderungen, die sich aus den Besonderheiten des Übergangs ergäben, den von der AEEG gebilligten FER-Vertrag oder den an dessen Stelle tretenden GRIN-Vertrag verwenden können, um die Gewährung der tariflichen Fördermaßnahmen an die Betreiber von bis zum 31. Dezember 2012 in Betrieb genommenen Anlagen daran zu knüpfen. 22 Allerdings könnte, so das vorlegende Gericht, die Ansicht vertreten werden, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, indem sie von den Betreibern, die von der Grüne-Zertifikate-Regelung profitierten, den Abschluss eines Vertrags mit GSE verlange, um in den Genuss der Einspeisefördertarif-Regelung kommen zu können, einseitig die rechtlichen Bedingungen verändert habe, auf die die Berufungsbeklagten des Ausgangsverfahrens ihre Wirtschaftstätigkeit gestützt hätten, was dem Ziel der Richtlinie 2009/28, Investitionssicherheit zu schaffen, zuwiderlaufen könnte. 23 Die Obliegenheit der betroffenen Unternehmen, einen solchen Vertrag abzuschließen, stehe nämlich nicht am Ende einer freien Verhandlung. Außerdem würden die Unternehmen durch diesen Vertrag zusätzlich gebunden. Der Vertrag sehe nämlich nicht nur vor, dass die Grünen Zertifikate dieser Unternehmen auf der Grundlage einer mathematischen Formel in eine tarifliche Förderung umgewandelt würden, sondern enthalte u. a. die Verpflichtung der Unternehmen zur Anbringung neuer Fernablesegeräte, um GSE die Erhebung der Messdaten zu ermöglichen (Art. 5 des GRIN-Vertrags), Beschränkungen der Abtretung von Forderungen (Art. 7 und 8 des GRIN-Vertrags), die Befugnis von GSE, die Fördermaßnahmen im Fall des Verkaufs der betreffenden Anlage an einen Dritten einseitig zu ändern oder zu kündigen (Art. 9 Abs. 2 des GRIN-Vertrags), die Möglichkeit für GSE, den Vertrag beim bloßen Vorliegen unwahrer Angaben zu kündigen (Art. 12 des GRIN-Vertrags), und das Recht von GSE, den Vertrag zu kündigen oder ruhen zu lassen (Art. 13 Abs. 3 und 4 des GRIN-Vertrags). 24 Durch die einseitige Änderung der rechtlichen Bedingungen, auf die die Berufungsbeklagten des Ausgangsverfahrens ihre Wirtschaftstätigkeit gestützt hätten, könnte die Obliegenheit zum Abschluss eines solchen Vertrags sowohl dem Ziel der Richtlinie 2009/28, wie es sich aus ihren Erwägungsgründen 8, 14 und 25 sowie aus ihren Art. 1 und 3 ergebe, nämlich Investitionssicherheit zu schaffen, als auch dem Grundsatz des Vertrauensschutzes zuwiderlaufen. 25 Es sei zweifelhaft, dass vertreten werden könne, dass im vorliegenden Fall ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer ohne Weiteres in der Lage gewesen wäre, die Entwicklung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung und das Risiko, dass infolgedessen etwa seinen Interessen möglicherweise abträgliche Maßnahmen erlassen würden, genau vorherzusehen. Anders als in den Rechtssachen, in denen das Urteil vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche (Anie) u. a. (C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280), ergangen sei, habe die zuvor geltende Regelung keinen für die Wirtschaftsteilnehmer hinreichend deutlichen Hinweis darauf enthalten, dass die Fördermaßnahmen der Grüne-Zertifikate-Regelung geändert oder abgeschafft werden könnten. 26 Im Übrigen könnte, so das vorlegende Gericht, im vorliegenden Fall auch ein Eingriff in die in Art. 16 der Charta verankerte unternehmerische Freiheit vorliegen. Zum einen könnte die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nämlich als Eingriff in die Vertragsfreiheit der Betreiber von Anlagen, die von der Grüne-Zertifikate-Regelung profitierten, angesehen werden, da der Gesetzgeber diese Regelung durch die Einspeisefördertarif-Regelung ersetzt und den besagten Betreibern neue Bedingungen für die Inanspruchnahme der letztgenannten Regelung vorgegeben habe, obwohl sie ihre Wirtschaftstätigkeit für einen Zeitraum geplant und eingerichtet hätten, der für eine angemessene Dauer hätte stabil bleiben müssen. Zum anderen beeinträchtige diese nationale Regelung das Recht jedes Unternehmens, in den Grenzen der Verantwortlichkeit für seine Handlungen frei über seine wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen verfügen zu können. 27 Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Sind die Richtlinie 2009/28, insbesondere die Erwägungsgründe 8, 14 und 25 und die Art. 1 und 3, sowie Art. 16 der Charta im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 und des Dekrets vom 6. Juli 2012 in ihrer Auslegung in der ständigen Rechtsprechung des Consiglio di Stato (Staatsrat) entgegenstehen, die die Gewährung von Förderleistungen – auch im Fall von aus erneuerbaren Quellen gespeisten Stromerzeugungsanlagen, die bis zum 31. Dezember 2012 in Betrieb genommen wurden – vom Abschluss privatrechtlicher Verträge zwischen GSE und dem für die Anlage Verantwortlichen abhängig macht? Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens 28 GSE macht geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig, da es für den Ausgangsrechtsstreit nicht entscheidungserheblich sei. Infolge der von ihr erhobenen Unzulässigkeitseinrede, die auf der fehlenden Beschwer der Berufungsbeklagten des Ausgangsverfahrens durch den von ihnen angefochtenen GRIN-Vertrag gründe, sei der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Rechtsbehelf vom vorlegenden Gericht für unzulässig zu erklären oder es müsse sonst ein Prozessurteil ergehen. 29 Insoweit ist daran zu erinnern, dass im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein das mit dem Rechtsstreit befasste nationale Gericht, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 22. Februar 2024, Consejería de Presidencia, Justicia e Interior de la Comunidad de Madrid u. a., C‑59/22, C‑110/22 und C‑159/22, EU:C:2024:149, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 22. Februar 2024, Consejería de Presidencia, Justicia e Interior de la Comunidad de Madrid u. a., C‑59/22, C‑110/22 und C‑159/22, EU:C:2024:149, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Es kommt dem Gerichtshof daher weder zu, zu prüfen, ob die Vorlageentscheidung den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspricht, noch, die Beurteilung der Zulässigkeit des im Ausgangsverfahren eingelegten Rechtsbehelfs durch das vorlegende Gericht in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Folglich kann das Vorabentscheidungsersuchen nicht deshalb für unzulässig erklärt werden, weil GSE vor dem vorlegenden Gericht geltend gemacht hat, dass der im Ausgangsverfahren eingelegte Rechtsbehelf unzulässig sei oder sonst die Voraussetzungen für ein Prozessurteil vorlägen. Zur Vorlagefrage 33 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 1 und 3 der Richtlinie 2009/28 im Licht der Erwägungsgründe 8, 14 und 25 dieser Richtlinie sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes und Art. 16 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die in einem Kontext, in dem eine nationale Regelung zur Förderung von Strom aus erneuerbaren Quellen, die auf in das nationale Netz einzuspeisenden Quoten solchen Stroms und der Erteilung Grüner Zertifikate an die ihn erzeugenden Unternehmen beruht, durch eine auf der Gewährung von Einspeisefördertarifen für diese Unternehmen beruhende nationale Regelung zur Förderung dieses Stroms ersetzt wird, die Inanspruchnahme der letztgenannten Regelung vom Abschluss eines Vertrags über die Bedingungen für die Gewährung dieser Förderung zwischen einem solchen Unternehmen und einer mit der Verwaltung und Überwachung der letztgenannten Regelung betrauten staatlich kontrollierten Stelle abhängig macht, und zwar auch für die Unternehmen, die in Anbetracht des Zeitpunkts der Inbetriebnahme ihrer Anlagen von der auf Quoten und der Erteilung Grüner Zertifikate beruhenden nationalen Förderregelung profitierten. 34 Insoweit geht aus Art. 1 der Richtlinie 2009/28 hervor, dass sie zum Gegenstand hat, einen gemeinsamen Rahmen für die Förderung von Energie aus erneuerbaren Quellen vorzuschreiben, indem in ihr u. a. verbindliche nationale Ziele für den Anteil von Energie aus solchen Quellen am Bruttoendenergieverbrauch festgelegt werden. Im Einklang damit legt Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie zu erfüllende Ziele fest, die zum einen darin bestehen, dass für jeden Mitgliedstaat sein Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch im Jahr 2020 mindestens seinem nationalen Gesamtziel gemäß Anhang I Teil A der Richtlinie entspricht, und zum anderen darin, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen treffen, um effektiv zu gewährleisten, dass ihr Anteil von Energie aus solchen Quellen den im indikativen Zielpfad in Anhang I Teil B der Richtlinie angegebenen Anteil erreicht oder übersteigt. 35 Wie sich aus den Erwägungsgründen 8 und 14 der Richtlinie 2009/28 ergibt, dürfte die Festlegung dieses gemeinsamen Rahmens und dieser Ziele den Unternehmen die langfristige Sicherheit geben, die sie benötigen, um vernünftige und nachhaltige Investitionen in den Sektor der erneuerbaren Energie zu tätigen, mit denen die kontinuierliche Entwicklung und Nutzung neuer Technologien für die Erzeugung von Energie aus allen Arten erneuerbarer Quellen gefördert werden kann. 36 Nach Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2009/28 in Verbindung mit deren 25. Erwägungsgrund können die Mitgliedstaaten Förderregelungen anwenden, um die genannten Ziele zu erfüllen, und müssen, damit diese Förderregelungen ungestört funktionieren können, deren Wirkung und Kosten entsprechend ihrem jeweiligen Potenzial im Bereich der erneuerbaren Energie kontrollieren können, da dieses Potenzial von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ist. Im selben Erwägungsgrund wird auch hervorgehoben, dass die Gewährleistung des ungestörten Funktionierens der nationalen Förderregelungen, wie nach der Richtlinie 2001/77, ein wichtiger Faktor für den Erhalt des Vertrauens der Investoren und bei der Verwirklichung des Ziels der Richtlinie 2009/28 ist. 37 So ist es zwar wichtig, den Unternehmen eine gewisse Beständigkeit zuzusichern, damit nachhaltige Investitionen in den Sektor der erneuerbaren Energien getätigt werden, die zu einer Steigerung des Verbrauchs dieser Energien beitragen werden, doch wird den Unternehmen eine solche Zusicherung zuteil, indem zum einen ein gemeinsamer Rahmen mit verbindlichen Zielen für den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch in den einzelnen Mitgliedstaaten vorgeschrieben wird und indem zum anderen das ungestörte Funktionieren der Förderregelungen gewährleistet wird, die die Mitgliedstaaten zur Förderung der Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen erlassen. 38 Die in den Erwägungsgründen 8 und 14 der Richtlinie 2009/28 anerkannte Notwendigkeit, Investitionssicherheit zu schaffen, kann jedoch als solche nicht den Beurteilungsspielraum beeinträchtigen, der den Mitgliedstaaten in Art. 3 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie im Licht ihres 25. Erwägungsgrundes eingeräumt wird, um wirksame und somit nicht zu kostspielige Förderregelungen zu erlassen und beizubehalten, die es ihnen ermöglichen, die verbindlichen Ziele der Richtlinie im Bereich des Verbrauchs von Energie aus erneuerbaren Quellen zu erfüllen. In der Tat bedeutet nach der Rechtsprechung der Beurteilungsspielraum, über den die Mitgliedstaaten verfügen, wenn es um die Maßnahmen geht, die sie zur Erfüllung dieser Ziele für geeignet halten, dass es ihnen freisteht, Förderregelungen zu erlassen, zu ändern oder zu streichen, sofern u. a. diese Ziele erfüllt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche [Anie] u. a., C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280, Rn. 28, und Beschluss vom 1. März 2022, Milis Energy u. a., C‑306/19, C‑512/19, C‑595/19 und C‑608/20 bis C‑611/20, EU:C:2022:164, Rn. 30). 39 Folglich hindert die Richtlinie 2009/28 an sich nicht daran, dass der italienische Gesetzgeber die Grüne-Zertifikate-Regelung durch die Einspeisefördertarif-Regelung ersetzt und damit für manche Unternehmen der Vorteil endet, den sie aus der ersten Regelung zogen, und sie die Obliegenheit trifft, mit GSE – einer vollständig unter staatlicher Kontrolle stehenden Stelle, die mit der Verwaltung und Überwachung der Gewährung von Fördermaßnahmen gemäß einer nationalen Regelung zur Förderung der Erzeuger von Strom aus erneuerbaren Quellen betraut ist – einen Vertrag zu schließen, um in den Genuss der zweiten Regelung kommen zu können, sofern diese zweite Regelung es der Italienischen Republik ermöglicht, ihre mit der Richtlinie 2009/28 festgelegten Ziele für den Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch zu erfüllen. 40 Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Mitgliedstaaten jedoch, wenn sie Maßnahmen zur Umsetzung des Unionsrechts erlassen, ihren Beurteilungsspielraum unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts ausüben, zu denen u. a. die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gehören (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2019, Coöperatieve Producentenorganisatie en Beheersgroep Texel, C‑386/18, EU:C:2019:1122, Rn. 55, und vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche [Anie] u. a., C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit diesen Grundsätzen vereinbar ist, da der Gerichtshof, wenn er im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV entscheidet, darauf beschränkt ist, dem vorlegenden Gericht alle unionsrechtlichen Auslegungshinweise zu geben, die es diesem ermöglichen können, die Frage der Vereinbarkeit zu beurteilen. Das vorlegende Gericht kann zu diesem Zweck alle relevanten Gesichtspunkte berücksichtigen, die aus Wortlaut, Zweck oder Aufbau der betreffenden Rechtsvorschriften hervorgehen (Urteil vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche [Anie] u. a., C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, kann ihm der Gerichtshof jedoch im Geiste der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten alle Hinweise geben, die er für eine solche Beurteilung der Vereinbarkeit für erforderlich hält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2023, Viterra Hungary, C‑366/22, EU:C:2023:876, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Insoweit ist, was als Erstes die Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit betrifft, daran zu erinnern, dass dieser Grundsatz gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Insbesondere verlangt er, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 223 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Diese Erfordernisse sind jedoch weder dahin zu verstehen, dass sie den nationalen Gesetzgeber darin hindern, im Rahmen einer von ihm erlassenen Norm einen abstrakten Rechtsbegriff zu verwenden, noch dahin, dass sie gebieten, dass in einer solchen abstrakten Norm die verschiedenen konkreten Fälle genannt werden, auf die sie angewandt werden kann, sofern der Gesetzgeber nicht alle diese Fälle im Voraus bestimmen kann (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 224 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Folglich verletzt die Tatsache, dass ein Gesetzgebungsakt den Stellen, die mit seiner Durchführung betraut sind, ein Ermessen verleiht, als solche nicht das Erfordernis der Vorhersehbarkeit, sofern der Umfang dieses Ermessens und die Modalitäten seiner Ausübung im Hinblick auf das in Rede stehende legitime Ziel hinreichend deutlich festgelegt sind, um angemessenen Schutz vor Willkür zu bieten (Urteil vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 225 und die dort angeführte Rechtsprechung). 45 Im vorliegenden Fall scheinen, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, die Bestimmungen des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 und des Dekrets vom 6. Juli 2012 die schrittweise Abschaffung der Grüne-Zertifikate-Regelung und ihre Ersetzung durch die Einspeisefördertarif-Regelung sowie die Modalitäten der schrittweisen Abschaffung und Ersetzung klar und bestimmt festzulegen. 46 Art. 24 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 sieht nämlich vor, dass nach dem 31. Dezember 2012 in Betrieb genommene Stromerzeugungsanlagen, die aus erneuerbaren Quellen gespeist werden, bei Erfüllung bestimmter Kriterien in den Genuss einer Förderregelung kommen können, die auf Einspeisefördertarifen beruht. Für bis zum 31. Dezember 2012 in Betrieb genommene Anlagen, die aus erneuerbaren Quellen gespeist werden, regelt außerdem Art. 19 des Dekrets vom 6. Juli 2012 die Modalitäten für die Umwandlung der Ansprüche auf Grüne Zertifikate in Ansprüche auf Einspeisefördertarife ab dem 1. Januar 2016. Art. 25 Abs. 4 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 und Art. 20 des Dekrets vom 6. Juli 2012 regeln die Bedingungen für die Rücknahme von Grünen Zertifikaten, die für die Erzeugung der Jahre bis 2015 erteilt wurden. Schließlich sieht Art. 30 des Dekrets vom 6. Juli 2012 in Bezug auf bis zum 30. April 2013 in Betrieb genommene Anlagen die Möglichkeit vor, beim Übergang vom alten zum neuen Fördermechanismus für einen speziellen Fördermechanismus zu optieren. 47 Ferner ist in Art. 24 Abs. 2 Buchst. d des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 und in Art. 21 Abs. 8 des Dekrets vom 6. Juli 2012 klar geregelt, dass die Gewährung der Einspeisefördertarife den Abschluss eines Vertrags zwischen GSE und der für die Anlage verantwortlichen Person erfordert. 48 Die Anwendung dieser Bestimmungen war für alle Erzeuger von Strom aus erneuerbaren Quellen unabhängig davon vorhersehbar, ob ihre Anlagen bis zum oder nach dem 31. Dezember 2012 in Betrieb genommen wurden, da das gesetzesvertretende Dekret Nr. 28/2011 und das Dekret vom 6. Juli 2012 vor Beginn des Zeitraums vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2015, in dem die Grüne-Zertifikate-Regelung schrittweise durch die Einspeisefördertarif-Regelung ersetzt werden sollte, erlassen wurden. 49 Zu den Klauseln des Vertrags, der von Unternehmen mit GSE geschlossen werden muss, um die Einspeisefördertarif-Regelung in Anspruch nehmen zu können, ist festzustellen, dass die AEEG am 16. Mai 2013 gemäß Art. 24 Abs. 2 Buchst. d des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 8 des Dekrets vom 6. Juli 2012 auf Vorschlag von GSE einen Mustervertrag, nämlich den FER-Vertrag, beschloss. Darüber hinaus veröffentlichte GSE am 20. April 2016 den Entwurf des GRIN-Vertrags, der den FER-Vertrag ablösen sollte. 50 Was den GRIN-Vertrag betrifft, der Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist, erscheinen dessen Klauseln auf den ersten Blick klar und vorhersehbar im Sinne der oben in Rn. 42 angeführten Rechtsprechung. 51 Wie nämlich GSE und die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen geltend machen, scheinen die Klauseln des GRIN-Vertrags inhaltlich den Bestimmungen des FER-Vertrags bzw. den Bestimmungen des für die Erzeuger von Strom aus erneuerbaren Quellen in Italien geltenden Regelungsrahmens, insbesondere jenen des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 und des Dekrets vom 6. Juli 2012, zu entsprechen oder daraus hervorzugehen. Sollte das vorlegende Gericht diese Beurteilung nach Überprüfung bestätigen, müsste der Inhalt dieser Klauseln als vorhersehbar im Sinne der oben in Rn. 42 angeführten Rechtsprechung angesehen werden. 52 Die besagte Beurteilung wird nicht zwangsläufig dadurch in Frage gestellt, dass manche dieser Klauseln, wie sich aus Rn. 23 des vorliegenden Urteils ergibt, GSE ein gewisses Ermessen einräumen, u. a. bei der einseitigen Änderung oder Kündigung des betreffenden Vertrags im Fall des Verkaufs der Anlage an Dritte oder bei der einseitigen Kündigung oder dem einseitigen Ruhenlassen des Vertrags im Fall wesentlicher Abweichungen der Beschaffenheit der betreffenden Anlage von der angegebenen Beschaffenheit. 53 Wie sich nämlich aus Rn. 44 des vorliegenden Urteils ergibt, wird das vorlegende Gericht nur dann einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit feststellen können, wenn es zu dem Schluss gelangt, dass der Umfang und die Modalitäten der Ausübung dieses Ermessens von GSE im Hinblick auf das in Rede stehende legitime Ziel nicht hinreichend festgelegt sind, um angemessenen Schutz vor Willkür zu bieten. 54 Was als Zweites die Beachtung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes als Ausfluss des Grundsatzes der Rechtssicherheit betrifft, kann sich nach ständiger Rechtsprechung jeder Wirtschaftsteilnehmer auf diesen Grundsatz berufen, bei dem eine nationale Behörde, insbesondere aufgrund bestimmter Zusicherungen, die sie ihm gegeben hat, begründete Erwartungen geweckt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Avicarvil Farms, C‑443/21, EU:C:2022:899, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ist jedoch ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer in der Lage, den Erlass einer Maßnahme, die seine Interessen berühren kann, vorherzusehen, so kann er sich im Fall ihres Erlasses nicht auf diesen Grundsatz berufen. Zudem sind die Wirtschaftsteilnehmer nicht berechtigt, auf den Fortbestand einer bestehenden Situation zu vertrauen, die die nationalen Behörden im Rahmen ihres Ermessens ändern können (Urteil vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche [Anie] u. a., C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Vorbehaltlich der Beurteilung durch das vorlegende Gericht geht im vorliegenden Fall aus der Akte des Gerichtshofs nicht hervor, dass die italienischen Behörden vor dem Erlass des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 und des Dekrets vom 6. Juli 2012 irgendeine Maßnahme ergriffen oder irgendeine Zusicherung gegeben hätten, die bei Wirtschaftsteilnehmern wie den Berufungsbeklagten des Ausgangsverfahrens begründete Erwartungen hinsichtlich der Beibehaltung der Grüne-Zertifikate-Regelung hätte wecken können. 56 Im Übrigen räumte die Richtlinie 2009/28, wie oben in Rn. 38 ausgeführt, den italienischen Behörden einen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Änderung oder Abschaffung der Förderregelungen ein, die zur Erfüllung der in dieser Richtlinie aufgestellten Ziele im Bereich der Energie aus erneuerbaren Quellen eingeführt wurden. 57 Demnach mussten umsichtige und besonnene Wirtschaftsteilnehmer in der Lage sein, vorherzusehen, dass die italienischen Behörden von diesem Beurteilungsspielraum Gebrauch machen könnten. Sie durften daher nicht berechtigt auf die Beibehaltung einer Förderregelung, die die Erteilung Grüner Zertifikate vorsieht, und auf das Unterbleiben der Auferlegung neuer Verpflichtungen oder Obliegenheiten vertrauen, wie z. B. derjenigen zum Abschluss eines Vertrags mit GSE, um in den Genuss eines Einspeisefördertarifs für den von ihnen aus erneuerbaren Quellen erzeugten Strom kommen zu können. 58 Was genauer die Obliegenheit zum Abschluss des GRIN-Vertrags betrifft, ist – ebenfalls vorbehaltlich der Beurteilung durch das vorlegende Gericht – nicht ersichtlich, dass die Erzeuger, deren Anlagen vor dem 31. Dezember 2012 in Betrieb waren, irgendeine Zusicherung dahin hatten, dass diese Obliegenheit für sie nicht gelten würde, um in den Genuss eines Einspeisefördertarifs zu gelangen. Vielmehr geht, wie das vorlegende Gericht ausführt, sowohl aus seiner Rechtsprechung als auch aus der Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) hervor, dass Art. 24 Abs. 2 Buchst. d des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 28/2011 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 8 des Dekrets vom 6. Juli 2012 dahin auszulegen ist, dass danach die besagte Obliegenheit sowohl für die Erzeuger, deren Anlagen nach dem 31. Dezember 2012 in Betrieb genommen wurden, als auch für die Erzeuger mit an diesem Datum schon in Betrieb befindlichen Anlagen gilt, um einen Einspeisefördertarif in Anspruch nehmen zu können. 59 Was den Wortlaut des GRIN-Vertrags anbelangt, ist davon auszugehen, dass er für die genannten Erzeuger vorhersehbar war, sofern festgestellt werden kann, dass er im Wesentlichen dem Inhalt der Bestimmungen des mit dem Beschluss der AEEG vom 16. Mai 2013 angenommenen FER-Vertrags und des für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Quellen in Italien geltenden Regelungsrahmens entspricht, was vom vorlegenden Gericht zu überprüfen sein wird. 60 Daher durften die Berufungsbeklagten des Ausgangsverfahrens, deren Anlagen bis zum 31. Dezember 2012 in Betrieb genommen worden waren und denen die Grüne-Zertifikate-Regelung zugutekam, nicht berechtigt auf die Beibehaltung dieser Regelung sowie darauf vertrauen, dass sie mit GSE keinen Vertrag wie den GRIN-Vertrag schließen müssten, um in den Genuss der an die Stelle der Grüne-Zertifikate-Regelung tretenden Einspeisefördertarif-Regelung zu kommen. 61 Was als Drittes die Auslegung von Art. 16 der Charta betrifft, ist erstens festzustellen, dass er unter Berücksichtigung von Art. 51 Abs. 1 der Charta im vorliegenden Fall gilt, da das gesetzesvertretende Dekret Nr. 28/2011 und das Dekret vom 6. Juli 2012 die Richtlinie 2009/28 in italienisches Recht umsetzen. 62 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 16 der Charta, der die unternehmerische Freiheit betrifft, die Freiheit, eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, die Freiheit, in den Grenzen der unternehmerischen Verantwortlichkeit für die eigenen Handlungen über die unternehmenseigenen wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Ressourcen verfügen zu können, und die Vertragsfreiheit schützt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche [Anie] u. a., C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280, Rn. 56 und 62 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 63 Vorbehaltlich der Beurteilung durch das vorlegende Gericht ist aber nicht ersichtlich, dass die Ersetzung der Grüne-Zertifikate-Regelung durch die mit dem gesetzesvertretenden Dekret Nr. 28/2011 und dem Dekret vom 6. Juli 2012 vorgesehene Einspeisefördertarif-Regelung die Freiheit der von der Grüne-Zertifikate-Regelung profitierenden Unternehmen, eine Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, beeinträchtigen würde. Insbesondere scheint diese Ersetzung nicht das Recht dieser Unternehmen zu beeinträchtigen, frei über ihre wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Ressourcen zu verfügen. 64 Eine Beschränkung dieses Rechts liegt nämlich insoweit u. a. in der Pflicht, Maßnahmen zu ergreifen, die für einen Wirtschaftsteilnehmer unter Umständen mit erheblichen Kosten verbunden sind, beträchtliche Auswirkungen auf die Ausgestaltung seiner Tätigkeiten haben oder schwierige und komplexe technische Lösungen erfordern (Urteil vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche [Anie] u. a., C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Übergang zwischen den betreffenden Regelungen scheint aber nicht mit erheblichen Kosten verbunden zu sein, schwierige und komplexe technische Lösungen zu erfordern oder beträchtliche Auswirkungen auf die Tätigkeiten der Berufungsbeklagten des Ausgangsverfahrens zu haben. 65 Zu der in Art. 16 der Charta verankerten Vertragsfreiheit ist daran zu erinnern, dass es dabei u. a. um die freie Wahl eines Geschäftspartners und die Freiheit geht, den Preis für eine bestimmte Leistung festzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, Federazione nazionale delle imprese elettrotecniche ed elettroniche [Anie] u. a., C‑798/18 und C‑799/18, EU:C:2021:280, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 66 Im vorliegenden Fall scheint diese Freiheit jedoch nicht dadurch beeinträchtigt, dass die von der Grüne-Zertifikate-Regelung profitierenden Unternehmen mit GSE einen Vertrag wie den GRIN-Vertrag schließen müssen, um in den Genuss von Einspeisefördertarifen kommen zu können. 67 In Anbetracht der Anhaltspunkte in der Akte des Gerichtshofs scheint dieser Vertrag nämlich nur ein Instrument zur Durchführung der Einspeisefördertarif-Regelung durch GSE zu sein, bei der es sich, wie oben in Rn. 39 ausgeführt, um eine vollständig unter staatlicher Kontrolle stehende Stelle handelt, die mit der Verwaltung und Überwachung der Gewährung von Fördermaßnahmen betraut ist. Der Vertrag scheint nur akzessorisch zu einer Verwaltungsentscheidung über den Zugang zu den Vorteilen der tariflichen Fördermaßnahmen zu sein und keine Auswirkung auf die Höhe der betreffenden Förderung zu haben, da diese durch den geltenden Regelungsrahmen festgelegt und damit nicht verhandelbar ist. 68 Unter diesen Umständen ist es gerechtfertigt, dass die Unternehmen ihren Vertragspartner nicht wählen können und über keine Verhandlungsmacht in Bezug auf den Inhalt des GRIN-Vertrags oder die Höhe der Förderung verfügen. Die Vertragsfreiheit dieser Unternehmen beschränkt sich berechtigterweise auf die Entscheidung, ob sie die Bestimmungen dieses Vertrags akzeptieren oder nicht. 69 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 1 und 3 der Richtlinie 2009/28 im Licht der Erwägungsgründe 8, 14 und 25 dieser Richtlinie sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes und Art. 16 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die in einem Kontext, in dem eine nationale Regelung zur Förderung von Strom aus erneuerbaren Quellen, die auf in das nationale Netz einzuspeisenden Quoten solchen Stroms und der Erteilung Grüner Zertifikate an die ihn erzeugenden Unternehmen beruht, durch eine auf der Gewährung von Einspeisefördertarifen für diese Unternehmen beruhende nationale Regelung zur Förderung dieses Stroms ersetzt wird, die Inanspruchnahme der letztgenannten Regelung vom Abschluss eines Vertrags über die Bedingungen für die Gewährung dieser Förderung zwischen einem solchen Unternehmen und einer mit der Verwaltung und Überwachung der letztgenannten Regelung betrauten staatlich kontrollierten Stelle abhängig macht, und zwar auch für die Unternehmen, die in Anbetracht des Zeitpunkts der Inbetriebnahme ihrer Anlagen von der auf Quoten und der Erteilung Grüner Zertifikate beruhenden nationalen Förderregelung profitierten. Kosten 70 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt: Die Art. 1 und 3 der Richtlinie 2009/28/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen und zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinien 2001/77/EG und 2003/30/EG, betrachtet im Licht der Erwägungsgründe 8, 14 und 25 dieser Richtlinie sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, und Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die in einem Kontext, in dem eine nationale Regelung zur Förderung von Strom aus erneuerbaren Quellen, die auf in das nationale Netz einzuspeisenden Quoten solchen Stroms und der Erteilung Grüner Zertifikate an die ihn erzeugenden Unternehmen beruht, durch eine auf der Gewährung von Einspeisefördertarifen für diese Unternehmen beruhende nationale Regelung zur Förderung dieses Stroms ersetzt wird, die Inanspruchnahme der letztgenannten Regelung vom Abschluss eines Vertrags über die Bedingungen für die Gewährung dieser Förderung zwischen einem solchen Unternehmen und einer mit der Verwaltung und Überwachung der letztgenannten Regelung betrauten staatlich kontrollierten Stelle abhängig macht, und zwar auch für die Unternehmen, die in Anbetracht des Zeitpunkts der Inbetriebnahme ihrer Anlagen von der auf Quoten und der Erteilung Grüner Zertifikate beruhenden nationalen Förderregelung profitierten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 30. Januar 2024.#NG gegen Direktor na Glavna direktsia „Natsionalna politsia“ pri Ministerstvo na vatreshnite raboti - Sofia.#Vorabentscheidungsersuchen des Varhoven administrativen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zum Zweck der Bekämpfung von Straftaten – Richtlinie (EU) 2016/680 – Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e – Datenminimierung – Beschränkung der Speicherung – Art. 5 – Angemessene Fristen für die Löschung oder regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit der Speicherung – Art. 10 – Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten – Unbedingte Erforderlichkeit – Art. 16 Abs. 2 und 3 – Recht auf Löschung – Einschränkung der Verarbeitung – Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Rechtskräftig verurteilte und später rehabilitierte natürliche Person – Frist für die Datenspeicherung bis zum Tod – Kein Recht auf Löschung oder Einschränkung der Verarbeitung – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-118/22.
62022CJ0118
ECLI:EU:C:2024:97
2024-01-30T00:00:00
Gerichtshof, Pikamäe
62022CJ0118 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 30. Januar 2024 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zum Zweck der Bekämpfung von Straftaten – Richtlinie (EU) 2016/680 – Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e – Datenminimierung – Beschränkung der Speicherung – Art. 5 – Angemessene Fristen für die Löschung oder regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit der Speicherung – Art. 10 – Verarbeitung biometrischer und genetischer Daten – Unbedingte Erforderlichkeit – Art. 16 Abs. 2 und 3 – Recht auf Löschung – Einschränkung der Verarbeitung – Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Rechtskräftig verurteilte und später rehabilitierte natürliche Person – Frist für die Datenspeicherung bis zum Tod – Kein Recht auf Löschung oder Einschränkung der Verarbeitung – Verhältnismäßigkeit“ In der Rechtssache C‑118/22 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 10. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Februar 2022, in dem Verfahren NG gegen Direktor na Glavna direktsia „Natsionalna politsia“ pri Ministerstvo na vatreshnite raboti – Sofia, Beteiligte: Varhovna administrativna prokuratura, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten N. Piçarra, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, der Richter M. Ilešič und J.‑C. Bonichot, der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen, N. Wahl und D. Gratsias (Berichterstatter), Generalanwalt: P. Pikamäe, Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Februar 2023, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von NG, vertreten durch P. Kuyumdzhiev, Advokat, – der bulgarischen Regierung, vertreten durch M. Georgieva, T. Mitova und E. Petranova als Bevollmächtigte, – der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte, – von Irland, vertreten durch M. Browne, A. Joyce und M. Tierney als Bevollmächtigte im Beistand von D. Fennelly, BL, – der spanischen Regierung, vertreten durch A. Ballesteros Panizo und J. Rodríguez de la Rúa Puig als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch A. Hanje als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, D. Łukowiak und J. Sawicka als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, C. Georgieva, H. Kranenborg und F. Wilman als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Juni 2023 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (ABl. 2016, L 119, S. 89, berichtigt in ABl. 2021, L 74, S. 36) in Verbindung mit Art. 13 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3 dieser Richtlinie. 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NG und dem Direktor na Glavna direktsia „Natsionalna politsia“ pri Ministerstvo na vatreshnite raboti – Sofia (Direktor der Generaldirektion „Nationale Polizei“ beim Ministerium für Innere Angelegenheiten, Bulgarien, im Folgenden: DGPN) wegen dessen Ablehnung des Antrags von NG, ihn aus dem nationalen Register zu streichen, in das die bulgarischen Polizeibehörden Personen eintragen, die wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat verfolgt werden (im Folgenden: Polizeiregister), wobei der Antrag auf eine Rehabilitierung nach der rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung dieser Person gestützt wird. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 11, 14, 26, 27, 37, 47 und 104 der Richtlinie 2016/680 heißt es: „(11) … [Den] Bereichen [der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit sollte] durch eine Richtlinie Rechnung getragen werden, die spezifische Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, enthält, wobei den Besonderheiten dieser Tätigkeiten Rechnung getragen wird. … … (14) Da diese Richtlinie nicht für die Verarbeitung personenbezogener Daten gelten sollte, die im Rahmen einer nicht unter das Unionsrecht fallenden Tätigkeit erfolgt, sollten die nationale Sicherheit betreffende Tätigkeiten … nicht als Tätigkeiten betrachtet werden, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen. … (26) … Es sollte … sichergestellt werden, dass nicht übermäßige personenbezogene Daten erhoben werden und sie nicht länger aufbewahrt werden, als dies für den Zweck, zu dem sie verarbeitet werden, erforderlich ist. Personenbezogene Daten sollten nur verarbeitet werden dürfen, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann. Um sicherzustellen, dass die Daten nicht länger als nötig gespeichert werden, sollte der Verantwortliche Fristen für ihre Löschung oder regelmäßige Überprüfung vorsehen. … (27) Zur Verhütung, Ermittlung und Verfolgung von Straftaten müssen die zuständigen Behörden personenbezogene Daten, die im Zusammenhang mit der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung einer bestimmten Straftat erhoben wurden, auch in einem anderen Kontext verarbeiten können, um sich ein Bild von den kriminellen Handlungen machen und Verbindungen zwischen verschiedenen aufgedeckten Straftaten herstellen zu können. … (37) Personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, verdienen einen besonderen Schutz, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten können. … … (47) … Eine natürliche Person sollte auch das Recht auf Einschränkung der Verarbeitung besitzen, … wenn die personenbezogenen Daten für Beweiszwecke weiter aufbewahrt werden müssen. Insbesondere sollte statt der Löschung personenbezogener Daten die Verarbeitung eingeschränkt werden, wenn in einem konkreten Fall berechtigter Grund zu der Annahme besteht, dass eine Löschung die berechtigten Interessen der betroffenen Person beeinträchtigen könnte. In einem solchen Fall sollten Daten mit Einschränkungsmarkierung nur zu dem Zweck verarbeitet werden, der ihrer Löschung entgegenstand. … … (104) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta [der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)] anerkannt wurden und im AEUV verankert sind, insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten sowie dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren. Die Einschränkungen dieser Rechte stehen im Einklang mit Artikel 52 Absatz 1 der Charta, da sie erforderlich sind, um den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und der Freiheiten anderer zu entsprechen.“ 4 Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) Abs. 1 dieser Richtlinie lautet: „Diese Richtlinie enthält Bestimmungen zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit.“ 5 Art. 2 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 und 3 der Richtlinie sieht vor: „(1)   Diese Richtlinie gilt für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken. … (3)   Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten a) im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, …“ 6 Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck: … 2. ‚Verarbeitung‘ jeden … Vorgang oder jede … Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie … die Speicherung …; …“ 7 Art. 4 („Grundsätze in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten“) Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten … c) dem Verarbeitungszweck entsprechen, maßgeblich und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, nicht übermäßig sind, … e) nicht länger, als es für die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, erforderlich ist, in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen ermöglicht, …“ 8 Art. 5 („Fristen für die Speicherung und Überprüfung“) dieser Richtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass für die Löschung von personenbezogenen Daten oder eine regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit ihrer Speicherung angemessene Fristen vorzusehen sind. Durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen ist sicherzustellen, dass diese Fristen eingehalten werden.“ 9 In Art. 10 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) der Richtlinie heißt es: „Die Verarbeitung … von genetischen Daten [und] biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person … ist nur dann erlaubt, wenn sie unbedingt erforderlich ist und vorbehaltlich geeigneter Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person erfolgt …“ 10 Nach Art. 13 („Der betroffenen Person zur Verfügung zu stellende oder zu erteilende Informationen“) Abs. 2 der Richtlinie sehen die Mitgliedstaaten zusätzlich zu den in Abs. 1 genannten Informationen durch Rechtsvorschriften vor, dass der Verantwortliche der betroffenen Person in besonderen Fällen zusätzliche Informationen erteilt, die in diesem Abs. 2 aufgezählt werden, um die Ausübung der Rechte dieser Person zu ermöglichen. Zu diesen zusätzlichen Informationen gehören insbesondere nach Abs. 2 Buchst. b die Dauer, für die die personenbezogenen Daten gespeichert werden, oder, falls dies nicht möglich ist, die Kriterien für die Festlegung dieser Dauer. Überdies führt Art. 13 Abs. 3 der Richtlinie 2016/680 die Gründe auf, aus denen die Mitgliedstaaten Gesetzgebungsmaßnahmen erlassen können, nach denen die Unterrichtung der betroffenen Person gemäß Abs. 2 aufgeschoben oder eingeschränkt werden kann. 11 Art. 14 („Auskunftsrecht der betroffenen Person“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt: „Vorbehaltlich des Artikels 15 sehen die Mitgliedstaaten vor, dass die betroffene Person das Recht hat, von dem Verantwortlichen eine Bestätigung darüber zu erhalten, ob sie betreffende personenbezogene Daten verarbeitet werden; ist dies der Fall, so hat sie das Recht, Auskunft über personenbezogene Daten und zu folgenden Informationen zu erhalten: … d) falls möglich die geplante Dauer, für die die personenbezogenen Daten gespeichert werden oder, falls dies nicht möglich ist, die Kriterien für die Festlegung dieser Dauer, …“ 12 Art. 16 („Recht auf Berichtigung oder Löschung personenbezogener Daten und Einschränkung der Verarbeitung“) Abs. 2 und 3 der Richtlinie bestimmt: „(2)   Die Mitgliedstaaten verlangen vom Verantwortlichen, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, und sehen vor, dass die betroffene Person das Recht hat, von dem Verantwortlichen die Löschung von sie betreffenden personenbezogenen Daten unverzüglich zu verlangen, wenn die Verarbeitung gegen die nach den Artikeln 4, 8 und 10 erlassenen Vorschriften verstößt oder wenn die personenbezogenen Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung gelöscht werden müssen, der der Verantwortliche unterliegt. (3)   Anstatt die personenbezogenen Daten zu löschen, kann der Verantwortliche deren Verarbeitung einschränken, wenn a) die betroffene Person die Richtigkeit der personenbezogenen Daten bestreitet und die Richtigkeit oder Unrichtigkeit nicht festgestellt werden kann, oder b) die personenbezogenen Daten für Beweiszwecke weiter aufbewahrt werden müssen. …“ 13 Nach Art. 20 („Datenschutz durch Technikgestaltung und datenschutzfreundliche Voreinstellungen“) der Richtlinie sehen die Mitgliedstaaten vor, dass der Verantwortliche geeignete technische und organisatorische Maßnahmen trifft, um den Anforderungen dieser Richtlinie zu genügen und die Rechte der betroffenen Personen zu schützen und insbesondere zu gewährleisten, dass durch Voreinstellung grundsätzlich nur personenbezogene Daten, deren Verarbeitung für den jeweiligen bestimmten Verarbeitungszweck erforderlich ist, verarbeitet werden. 14 Art. 29 („Sicherheit der Verarbeitung“) Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass der Verantwortliche und der Auftragsverarbeiter unter Berücksichtigung des Stands der Technik, der Implementierungskosten und der Art, des Umfangs, der Umstände und der Zwecke der Verarbeitung sowie der unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere des Risikos für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen geeignete technische und organisatorische Maßnahmen treffen, um ein dem Risiko angemessenes Schutzniveau zu gewährleisten, insbesondere im Hinblick auf die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne von Artikel 10.“ Bulgarisches Recht Strafgesetzbuch 15 Art. 82 Abs. 1 des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch, DV Nr. 26 vom 2. April 1968) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht vor: „Die verhängte Strafe wird nicht vollstreckt, wenn folgender Zeitraum verstrichen ist: 1. 20 Jahre, wenn es sich bei der Strafe um lebenslängliche Freiheitsstrafe ohne die Möglichkeit einer Umwandlung oder um lebenslängliche Freiheitsstrafe handelt; 2. 15 Jahre, wenn es sich bei der verhängten Strafe um eine Freiheitsstrafe von mehr als zehn Jahren handelt; 3. zehn Jahre, wenn es sich bei der Strafe um eine Freiheitsstrafe von drei bis zehn Jahren handelt; 4. fünf Jahre, wenn die Freiheitsstrafe weniger als drei Jahre Freiheitsstrafe beträgt, und 5. zwei Jahre in allen anderen Fällen.“ 16 Art. 85 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs bestimmt: „Durch die Rehabilitierung wird die Verurteilung gelöscht und werden die Wirkungen, die die Gesetze an die Verurteilung selbst knüpfen, für die Zukunft aufgehoben, sofern nicht durch Gesetz oder Erlass etwas anderes bestimmt ist.“ 17 Art. 88a des Strafgesetzbuchs lautet wie folgt: „Ist seit Verbüßung der Strafe eine der in Art. 82 Abs. 1 genannten Frist entsprechende Frist verstrichen und hat der Verurteilte keine neuerliche vorsätzliche Offizialstraftat begangen, für die eine Freiheitsstrafe vorgesehen ist, so werden die Verurteilung und ihre Folgen ungeachtet jeglicher Bestimmung in einem anderen Gesetz oder einem anderen Erlass gelöscht.“ Gesetz über das Ministerium für Innere Angelegenheiten 18 Art. 26 des Zakon za Ministerstvo na vatreshnite raboti (Gesetz über das Ministerium für Innere Angelegenheiten, DV Nr. 53 vom 27. Juni 2014) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über das Ministerium für Innere Angelegenheiten) sieht vor: „(1)   Bei der Verarbeitung personenbezogener Daten im Zusammenhang mit Maßnahmen zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Kriminalitätsbekämpfung, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zur Durchführung von Strafverfahren können die Behörden des Ministeriums für Innere Angelegenheiten … 3. alle erforderlichen Kategorien personenbezogener Daten verarbeiten; … (2)   Die Fristen für die Speicherung der in Abs. 1 genannten Daten bzw. für die periodische Überprüfung der Notwendigkeit ihrer Speicherung werden durch den Minister für Innere Angelegenheiten festgelegt. Diese Daten werden darüber hinaus aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung bzw. Anordnung oder einer Entscheidung der Kommission für den Schutz personenbezogener Daten gelöscht.“ 19 Art. 27 des Gesetzes über das Ministerium für Innere Angelegenheiten bestimmt: „Daten aus einer auf der Grundlage von Art. 68 vorgenommenen polizeilichen Registrierung von Personen werden nur zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Kriminalitätsbekämpfung und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung verwendet.“ 20 In Art. 68 dieses Gesetzes heißt es: „(1)   Die Polizeibehörden nehmen eine polizeiliche Registrierung von Personen vor, die wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat verfolgt werden. Die Untersuchungsbehörden sind verpflichtet, die für die Registrierung durch die Polizeibehörden erforderlichen Maßnahmen zu treffen. (2)   Die polizeiliche Registrierung ist eine Art der Verarbeitung personenbezogener Daten der in Abs. 1 genannten Personen, die unter den Voraussetzungen dieses Gesetzes erfolgt. (3)   Für die Zwecke der polizeilichen Registrierung nehmen die Polizeibehörden Folgendes vor: 1. Erhebung personenbezogener Daten gemäß Art. 18 des Gesetzes über die bulgarischen Identitätsdokumente; 2. Abnahme von Fingerabdrücken und Aufnahme von Lichtbildern; 3. Entnahme von Proben zur Erstellung eines DNA-Profils. … (6)   Die Streichung der polizeilichen Registrierung erfolgt auf der Grundlage einer schriftlichen Anordnung des für die Verarbeitung personenbezogener Daten Verantwortlichen oder der von diesem ermächtigten Beamten von Amts wegen oder auf begründeten schriftlichen Antrag der registrierten Person, wenn 1. die Registrierung unter Verstoß gegen das Gesetz erfolgt ist; 2. das Strafverfahren eingestellt wird, außer in den Fällen nach Art. 24 Abs. 3 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung); 3. das Strafverfahren zu einem rechtskräftigen Freispruch geführt hat; 4. die Person von ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit befreit und eine verwaltungsstrafrechtliche Sanktion gegen sie verhängt worden ist; 5. die Person verstorben ist, wobei in diesem Fall der Antrag von ihren Rechtsnachfolgern gestellt werden kann. …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 21 NG wurde gemäß Art. 68 des Gesetzes über das Ministerium für Innere Angelegenheiten im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen falscher Zeugenaussage (Straftat nach Art. 290 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs) polizeilich registriert. Am Ende dieses Ermittlungsverfahrens wurde Anklage gegen ihn erhoben, und mit Urteil vom 28. Juni 2016, das im Rechtsmittelverfahren durch Urteil vom 2. Dezember 2016 bestätigt worden ist, wurde er dieser Straftat für schuldig befunden und zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr verurteilt. Nach Verbüßung dieser Strafe wurde NG am 14. März 2020 nach Art. 82 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 88a Strafgesetzbuch rehabilitiert. 22 Am 15. Juli 2020 stellte NG auf der Grundlage dieser Rehabilitierung bei der zuständigen Territorialverwaltung des Ministeriums für Innere Angelegenheiten einen Antrag auf Streichung seiner polizeilichen Registrierung. 23 Mit Verfügung vom 2. September 2020 lehnte der DGPN diesen Antrag ab, da er der Auffassung war, dass eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung auch im Fall der Rehabilitierung nicht zu den für die polizeiliche Registrierung geltenden Streichungsgründen zähle; diese würden in Art. 68 Abs. 6 des Gesetzes über das Ministerium für Innere Angelegenheiten abschließend aufgeführt. 24 Mit Entscheidung vom 2. Februar 2021 wies der Administrativen sad Sofia grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien) die von NG gegen diese Verfügung des DGPN erhobene Klage im Wesentlichen aus Gründen ab, die jenen des DGPN entsprachen. 25 NG legte beim vorlegenden Gericht, dem Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien), Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein. Der Hauptrechtsmittelgrund wird aus einem Verstoß gegen den Grundsatz hergeleitet, der sich aus den Art. 5, 13 und 14 der Richtlinie 2016/680 ergebe und wonach die Verarbeitung personenbezogener Daten durch Speicherung nicht von unbeschränkter Dauer sein dürfe. Im Wesentlichen trägt NG vor, dies sei aber de facto der Fall, wenn die betroffene Person, nachdem sie ihre Strafe verbüßt habe und rehabilitiert worden sei, niemals die Löschung der personenbezogenen Daten erwirken könne, die im Zusammenhang mit der Straftat erhoben worden seien, derentwegen sie rechtskräftig verurteilt worden sei, da für die polizeiliche Registrierung im Fall einer Rehabilitierung kein Streichungsgrund einschlägig sei. 26 Insoweit weist das vorlegende Gericht erstens darauf hin, dass die polizeiliche Registrierung eine Verarbeitung personenbezogener Daten zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Zwecken sei und daher in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie falle. 27 Zweitens gehöre die Rehabilitierung nicht zu den für die polizeiliche Registrierung geltenden Streichungsgründen, die in Art. 68 Abs. 6 des Gesetzes über das Ministerium für Innere Angelegenheiten abschließend aufgeführt würden, und kein anderer dieser Gründe könne in dieser Konstellation herangezogen werden, so dass es der betroffenen Person unmöglich sei, in einem solchen Fall die Streichung ihrer Registrierung zu erwirken. 28 Drittens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 auf Garantien Bezug nehme, die dazu dienten, dass nicht übermäßige personenbezogene Daten erhoben und sie nicht länger aufbewahrt würden, als dies für den Zweck, zu dem sie verarbeitet würden, erforderlich sei; dem genannten Erwägungsgrund zufolge müsse der Verantwortliche Fristen für ihre Löschung oder regelmäßige Überprüfung vorsehen. Außerdem leitet das vorlegende Gericht aus dem 34. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ab, dass die Verarbeitung zu den in ihrem Art. 1 Abs. 1 genannten Zwecken Vorgänge der Beschränkung, Löschung oder Vernichtung dieser Daten umfassen sollte. Diese Grundsätze spiegeln sich seiner Ansicht nach in Art. 5 sowie in Art. 13 Abs. 2 und 3 der Richtlinie wider. 29 Insoweit hegt das vorlegende Gericht Zweifel, ob die in der vorstehenden Randnummer genannten Ziele nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die dazu führen, dass die zuständigen Behörden ein „praktisch unbeschränktes Recht“ auf Datenverarbeitung zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Zwecken haben, und die – für die betroffene Person – den Verlust ihres Rechts auf Einschränkung der Verarbeitung oder Löschung ihrer Daten nach sich ziehen. 30 Unter diesen Umständen hat der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Lässt die Auslegung von Art. 5 der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit deren Art. 13 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3 nationale Gesetzgebungsmaßnahmen zu, die zu einem praktisch unbeschränkten Recht auf Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung und/oder zur Abschaffung des Rechts der betroffenen Person auf Einschränkung der Verarbeitung, Löschen oder Vernichtung ihrer Daten führen? Zur Vorlagefrage 31 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 15. Juli 2021, Ministrstvo za obrambo, C‑742/19, EU:C:2021:597, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Im vorliegenden Fall beruht die Frage des vorlegenden Gerichts darauf, dass, wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen und den Angaben der bulgarischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ergibt, in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation, in der eine Person rechtskräftig verurteilt wurde, selbst nach deren Rehabilitation keiner der im Gesetz über das Ministerium für Innere Angelegenheiten abschließend aufgeführten Gründe einschlägig ist, die die Löschung der personenbezogenen Daten im Polizeiregister rechtfertigen, so dass diese Daten in dem genannten Register gespeichert bleiben und von den Behörden, die Zugang dazu haben, ohne jegliche zeitliche Beschränkung bis zum Eintritt des Todes dieser Person verarbeitet werden dürfen. 33 Insoweit geht zunächst aus der Vorlageentscheidung, namentlich aus den in Rn. 27 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Erwägungen, und aus dem Wortlaut der Vorlagefrage selbst hervor, dass sich das vorlegende Gericht insbesondere fragt, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Wie im 104. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 hervorgehoben, sind die mit dieser Richtlinie vorgenommenen Einschränkungen des in Art. 8 der Charta vorgesehenen Rechts auf Schutz personenbezogener Daten sowie der durch die Art. 7 bzw. 47 der Charta geschützten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens, auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht im Einklang mit den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta auszulegen, zu denen die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gehört. 34 Sodann nimmt das vorlegende Gericht in seiner Frage zu Recht auf Art. 5 der Richtlinie Bezug, der die angemessenen Fristen für die Löschung von personenbezogenen Daten bzw. für die regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit ihrer Speicherung betrifft. Da der genannte Art. 5 einen engen Zusammenhang sowohl mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e als auch mit Art. 16 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie aufweist, ist die Vorlagefrage so zu verstehen, dass sie sich auch auf diese beiden Bestimmungen bezieht. 35 Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften die Speicherung u. a. von biometrischen und genetischen Daten vorsehen, die zu den besonderen Kategorien personenbezogener Daten gehören, deren Verarbeitung speziell durch Art. 10 der Richtlinie 2016/680 geregelt wird, ist ferner davon auszugehen, dass die Vorlagefrage auch die Auslegung dieser Bestimmung betrifft. 36 Schließlich geht die Relevanz einer Auslegung von Art. 13 der Richtlinie 2016/680 aus dem Vorabentscheidungsersuchen nur in Bezug auf dessen Abs. 2 Buchst. b klar hervor. Zwar spiegelt, wie das vorlegende Gericht ausführt, sein Abs. 3 auch die u. a. im 26. Erwägungsgrund dieser Richtlinie genannten Grundsätze wider. Der dem Gerichtshof vorgelegten Akte ist jedoch nicht zu entnehmen, dass es im Ausgangsverfahren auch um eine Gesetzgebungsmaßnahme gehe, nach der die Unterrichtung der betroffenen Person im Sinne von Abs. 3 aufgeschoben oder einschränkt werden könne. 37 Nach alledem ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit ihren Art. 5 und 10, ihrem Art. 13 Abs. 2 Buchst. b und ihrem Art. 16 Abs. 2 und 3 sowie im Licht der Art. 7 und 8 der Charta dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass die Polizeibehörden zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung personenbezogene und insbesondere biometrische und genetische Daten, die wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat rechtskräftig verurteilte Personen betreffen, speichern, und zwar bis zum Tod der betroffenen Person und auch im Fall ihrer Rehabilitierung, ohne ihr im Übrigen das Recht auf Löschung dieser Daten oder gegebenenfalls auf Einschränkung von deren Verarbeitung zuzuerkennen. 38 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich die Vorlagefrage auf eine Verarbeitung personenbezogener Daten zu Zwecken bezieht, die gemäß Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 in deren Anwendungsbereich fallen. Aus dem in der Vorlageentscheidung angeführten Art. 27 des Gesetzes über das Ministerium für Innere Angelegenheiten geht jedoch hervor, dass die im Polizeiregister gespeicherten Daten auch im Rahmen des Schutzes der nationalen Sicherheit verarbeitet werden können, auf die die Richtlinie nach ihrem Art. 2 Abs. 3 Buchst. a im Licht ihres 14. Erwägungsgrundes keine Anwendung findet. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, sich zu vergewissern, dass die Speicherung der Daten des Klägers des Ausgangsverfahrens nicht geeignet ist, zu Zwecken des Schutzes der nationalen Sicherheit zu dienen, wobei dieser Art. 2 Abs. 3 Buchst. a eine Ausnahme von der Anwendung des Unionsrechts vorsieht, die eng auszulegen ist (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Es ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, die in den Art. 7 und 8 der Charta garantiert sind, keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen und gegen andere Grundrechte abgewogen werden müssen. Jegliche Einschränkung der Ausübung dieser Grundrechte muss gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt dieser Grundrechte achten sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Nach diesem Grundsatz dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Sie müssen sich auf das absolut Notwendige beschränken, und die die fraglichen Einschränkungen enthaltende Regelung muss klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung dieser Einschränkungen vorsehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 105 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Wie im 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 im Wesentlichen hervorgehoben wird, sind diese Anforderungen nicht erfüllt, wenn die fragliche dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in zumutbarer Weise ebenso wirksam durch andere Mittel erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen eingreifen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Zweitens müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie zuvörderst vorsehen, dass personenbezogene Daten dem Verarbeitungszweck entsprechen, maßgeblich und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, nicht übermäßig sind. Diese Bestimmung verlangt somit von den Mitgliedstaaten die Einhaltung des Grundsatzes der „Datenminimierung“, in dem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck gebracht wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Daher müssen insbesondere die Erhebung personenbezogener Daten im Rahmen eines Strafverfahrens und deren Speicherung durch die Polizeibehörden zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie genannten Zwecken – ebenso wie jede Verarbeitung, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt – diese Anforderungen erfüllen. Eine solche Speicherung stellt im Übrigen einen Eingriff in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten dar, unabhängig davon, ob die gespeicherten Informationen sensiblen Charakter haben, ob die Betroffenen durch diesen Eingriff Nachteile erlitten haben oder ob die gespeicherten Daten in der Folge verwendet werden (vgl. entsprechend Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Was namentlich die Verhältnismäßigkeit der Dauer der Speicherung dieser Daten betrifft, müssen die Mitgliedstaaten des Weiteren nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2016/680 vorsehen, dass diese Daten nicht länger, als es für die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, erforderlich ist, in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der betroffenen Personen ermöglicht. 44 In diesem Rahmen verpflichtet Art. 5 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten, für die Löschung personenbezogener Daten oder die regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit der Speicherung solcher Daten angemessene Fristen vorzusehen sowie durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen sicherzustellen, dass diese Fristen eingehalten werden. 45 Dem 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 zufolge soll diese Bestimmung gewährleisten, dass personenbezogene Daten gemäß den Anforderungen von Art. 4 Abs. 1 Buchst. e dieser Richtlinie nicht länger als erforderlich gespeichert werden. Zwar überlässt es die Richtlinie den Mitgliedstaaten, angemessene Fristen für die Dauer der Speicherung festzulegen und zu entscheiden, ob diese Fristen die Löschung dieser Daten oder die regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit ihrer Speicherung betreffen, vorausgesetzt, die Einhaltung dieser Fristen wird durch angemessene Verfahrensvorkehrungen sichergestellt. Für die „Angemessenheit“ dieser Fristen ist jedoch jedenfalls erforderlich, dass sie gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e der Richtlinie im Licht von Art. 52 Abs. 1 der Charta gegebenenfalls die Löschung der betreffenden Daten ermöglichen, wenn ihre Speicherung im Hinblick auf die Zwecke, die die Verarbeitung gerechtfertigt haben, nicht mehr erforderlich ist. 46 Um es den betroffenen Personen insbesondere zu ermöglichen, diese „Angemessenheit“ zu überprüfen und gegebenenfalls eine solche Löschung zu beantragen, sehen Art. 13 Abs. 2 Buchst. b und Art. 14 Buchst. d der Richtlinie 2016/680 vor, dass diese Personen grundsätzlich, falls dies möglich ist, über die Dauer, für die die sie betreffenden personenbezogenen Daten gespeichert werden, oder, falls dies nicht möglich ist, über die Kriterien für die Festlegung dieser Dauer informiert werden können. 47 Sodann stellt Art. 10 der Richtlinie 2016/680 eine spezifische Bestimmung dar, die die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten, insbesondere biometrischer und genetischer Daten, regelt. Diese Bestimmung soll insofern einen erhöhten Schutz der betroffenen Person gewährleisten, als bei den fraglichen Daten aufgrund ihrer besonderen Sensibilität und des Kontexts, in dem sie verarbeitet werden, erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten, wie etwa die in Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, auftreten können, wie sich aus dem 37. Erwägungsgrund der genannten Richtlinie ergibt (Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung). 48 Insbesondere stellt dieser Art. 10 das Erfordernis auf, dass die Verarbeitung sensibler Daten „nur“ dann erlaubt ist, „wenn sie unbedingt erforderlich ist“; hierin liegt eine verschärfte Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung solcher Daten, was u. a. bedeutet, dass die Einhaltung des Grundsatzes der „Datenminimierung“, wie er sich aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2016/680 ergibt, der in diesem Erfordernis eine spezifische Anwendung auf die genannten sensiblen Daten erfährt, besonders streng kontrolliert werden muss (vgl. in diese Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 117, 122 und 125). 49 Schließlich begründet Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie 2016/680 ein Recht auf Löschung von personenbezogenen Daten, wenn die Verarbeitung gegen die nach den Art. 4, 8 oder 10 dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften verstößt oder wenn diese Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung gelöscht werden müssen, der der Verantwortliche unterliegt. 50 Aus diesem Art. 16 Abs. 2 ergibt sich, dass das genannte Recht auf Löschung insbesondere dann ausgeübt werden kann, wenn unter Verstoß gegen die Bestimmungen des nationalen Rechts zur Umsetzung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e der Richtlinie sowie gegebenenfalls von deren Art. 10 die Speicherung der betreffenden Daten für die Zwecke ihrer Verarbeitung nicht oder nicht mehr erforderlich ist oder wenn diese Löschung erforderlich ist, um die hierfür vom nationalen Recht aufgrund von Art. 5 der Richtlinie festgelegte Frist einzuhalten. 51 Gemäß Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2016/680 muss das nationale Recht jedoch vorsehen, dass der Verantwortliche die Verarbeitung dieser Daten einschränkt, anstatt sie zu löschen, wenn die betroffene Person gemäß Buchst. a dieser Bestimmung die Richtigkeit der personenbezogenen Daten bestreitet und die Richtigkeit oder Unrichtigkeit nicht festgestellt werden kann oder wenn die personenbezogenen Daten gemäß Buchst. b zu Beweiszwecken weiter aufbewahrt werden müssen. 52 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die in den Rn. 41 bis 51 des vorliegenden Urteils untersuchten Bestimmungen der Richtlinie 2016/680 einen allgemeinen Rahmen festlegen, der u. a. gewährleisten kann, dass die Speicherung personenbezogener Daten und insbesondere deren Dauer auf das beschränkt werden, was sich im Hinblick auf die Zwecke, für die diese Daten gespeichert werden, als erforderlich erweist, wobei es den Mitgliedstaaten allerdings überlassen bleibt, unter Beachtung dieses Rahmens die konkreten Situationen, in denen der Schutz der Grundrechte der betroffenen Person die Löschung dieser Daten erfordert, und den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem diese Löschung zu erfolgen hat. Demgegenüber verlangen diese Bestimmungen, wie der Generalanwalt in Nr. 28 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, nicht, dass die Mitgliedstaaten absolute zeitliche Grenzen für die Speicherung personenbezogener Daten vorsehen, bei deren Überschreitung diese Daten automatisch gelöscht werden müssten. 53 Im vorliegenden Fall geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass die nach Art. 68 des Gesetzes über das Ministerium für Innere Angelegenheiten im Polizeiregister enthaltenen personenbezogenen Daten nur für operative Ermittlungen und insbesondere zum Abgleich mit anderen Daten gespeichert werden, die bei Ermittlungen wegen anderer Straftaten erhoben wurden. 54 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass sich für die in der vorstehenden Randnummer genannten Zwecke die Speicherung von Daten in einem Polizeiregister, die rechtskräftig verurteilte Personen betreffen, selbst dann noch als erforderlich erweisen kann, nachdem diese Verurteilung aus dem Vorstrafenregister gelöscht wurde und folglich die Wirkungen, die das nationale Recht an diese Verurteilung knüpft, aufgehoben wurden. Diese Personen können nämlich in andere Straftaten als diejenigen, derentwegen sie verurteilt wurden, verwickelt sein oder im Gegenteil durch einen Abgleich der von diesen Behörden gespeicherten Daten mit den in Verfahren zu diesen anderen Straftaten erhobenen Daten entlastet werden. 55 Mithin kann eine solche Speicherung zu der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung beitragen, die im 27. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 angeführt wird, wonach die zuständigen Behörden zur Verhütung, Ermittlung und Verfolgung von Straftaten personenbezogene Daten, die im Zusammenhang mit der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung einer bestimmten Straftat erhoben wurden, auch in einem anderen Kontext verarbeiten können müssen, um sich ein Bild von den kriminellen Handlungen machen und Verbindungen zwischen verschiedenen aufgedeckten Straftaten herstellen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 98). 56 Zweitens geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass in dem Polizeiregister die von den bulgarischen Rechtsvorschriften über Identitätsdokumente erfassten Daten über die betroffene Person, ihre Fingerabdrücke, ihr Lichtbild und eine Probe zur Erstellung eines DNA-Profils gespeichert werden; hinzu kommen ferner, wie die bulgarische Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, noch die Daten über die von der betroffenen Person begangenen Straftaten und ihre einschlägigen Verurteilungen. Diese verschiedenen Kategorien von Daten können sich als unerlässlich erweisen, um zu prüfen, ob die betroffene Person in andere Straftaten als diejenigen, derentwegen sie rechtskräftig verurteilt wurde, verwickelt ist. Folglich kann für diese Daten grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass sie im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2016/680 dem Verarbeitungszweck entsprechen und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, maßgeblich sind. 57 Drittens ist die Verhältnismäßigkeit einer solchen Speicherung im Hinblick auf ihre Zwecke auch unter Berücksichtigung der im nationalen Recht vorgesehenen geeigneten technischen und organisatorischen Maßnahmen zu beurteilen, die gemäß den Art. 20 und 29 dieser Richtlinie der Gewährleistung der Vertraulichkeit und Sicherheit der gespeicherten Daten im Hinblick auf Verarbeitungen dienen sollen, die den Anforderungen der Richtlinie 2016/680 zuwiderlaufen, und insbesondere der in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie genannten Maßnahmen, die sicherstellen, dass nur personenbezogene Daten, deren Verarbeitung für den jeweiligen bestimmten Verarbeitungszweck erforderlich ist, verarbeitet werden. 58 Was viertens die Dauer der Speicherung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden personenbezogenen Daten betrifft, so geht im vorliegenden Fall aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass nur im Fall einer rechtskräftigen Verurteilung der betroffenen Person wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat die Speicherung dieser Daten bis zum Tod dieser Person aufrechterhalten wird, während die nationalen Rechtsvorschriften in den übrigen Fällen die Streichung der Eintragungen der wegen einer solchen Straftat verfolgten Personen vorsehen. 59 Insoweit ist indessen festzustellen, dass der Begriff „vorsätzliche Offizialstraftat“ besonders allgemein gehalten ist und auf eine große Zahl von Straftaten unabhängig von ihrer Art und Schwere angewendet werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 129). 60 Wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 73 und 74 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist nicht bei allen Personen, die rechtskräftig wegen einer unter diesen Begriff fallenden Straftat verurteilt worden sind, das Risiko gleich hoch, in andere Straftaten verwickelt zu werden, was eine einheitliche Dauer der Speicherung der sie betreffenden Daten rechtfertigen würde. Somit rechtfertigt in bestimmten Fällen die von der verurteilten Person ausgehende Gefahr in Anbetracht von Faktoren wie Art und Schwere der begangenen Straftat oder fehlender Rückfälligkeit es nicht notwendigerweise, dass die sie betreffenden Daten bis zu ihrem Tod in dem hierfür vorgesehenen nationalen Polizeiregister belassen werden. In einem solchen Fall besteht zwischen den gespeicherten Daten und dem verfolgten Ziel kein notwendiger Zusammenhang mehr (vgl. entsprechend Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 205). Daher steht ihre Speicherung nicht im Einklang mit dem in Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2016/680 aufgestellten Grundsatz der Datenminimierung und überschreitet entgegen Art. 4 Abs. 1 Buchst. e dieser Richtlinie die für die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, erforderliche Dauer. 61 Insoweit ist klarzustellen, dass zwar, wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die Rehabilitierung einer solchen Person, die zur Löschung ihrer Verurteilung in ihrem Vorstrafenregister führt, wie im Ausgangsrechtsstreit geschehen, für sich genommen die Notwendigkeit der Speicherung ihrer Daten im Polizeiregister nicht entfallen lassen kann, da Letztere anderen Zwecken dient als der Übersicht über ihre Vorstrafen in diesem Register. Wenn jedoch wie im vorliegenden Fall eine solche Rehabilitierung nach den anwendbaren Bestimmungen des nationalen Strafrechts voraussetzt, dass während eines bestimmten Zeitraums nach Verbüßung der Strafe keine neuerliche vorsätzliche Offizialstraftat begangen wurde, kann diese Rehabilitierung ein Indiz dafür sein, dass von der betroffenen Person im Hinblick auf die Ziele der Bekämpfung der Kriminalität oder der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eine geringere Gefahr ausgeht, und somit einen Umstand darstellen, der die erforderliche Dauer einer solchen Speicherung zu verkürzen vermag. 62 Fünftens impliziert der in Art. 52 Abs. 1 der Charta verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung der verfolgten Zielsetzung und der Schwere der Einschränkung der Ausübung der betreffenden Grundrechte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 66). 63 Im vorliegenden Fall umfasst, wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Speicherung der personenbezogenen Daten im fraglichen Polizeiregister biometrische und genetische Daten. Es ist also hervorzuheben, dass in Anbetracht der erheblichen Risiken, die die Verarbeitung solcher sensiblen Daten für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen insbesondere im Zusammenhang mit den Aufgaben der zuständigen Behörden für die in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Zwecke darstellt, die besondere Bedeutung der verfolgten Zielsetzung anhand aller relevanten Gesichtspunkte zu beurteilen ist. Hierzu gehören insbesondere der Umstand, ob die Verarbeitung einer konkreten Zielsetzung dient, die mit der Verhütung von Straftaten oder Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit von einem gewissen Schweregrad, der Verfolgung solcher Straftaten oder dem Schutz vor solchen Bedrohungen zusammenhängt, sowie die besonderen Umstände, unter denen diese Verarbeitung erfolgt (Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 127). 64 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof festgestellt, dass nationale Rechtsvorschriften, die die systematische Erhebung biometrischer und genetischer Daten aller Personen vorsehen, die einer vorsätzlichen Offizialstraftat beschuldigt werden, grundsätzlich gegen die Anforderung der unbedingten Erforderlichkeit verstößt, die in Art. 10 der Richtlinie 2016/680 festgelegt ist und auf die in Rn. 48 des vorliegenden Urteils hingewiesen wurde. Solche Rechtsvorschriften können nämlich unterschiedslos und allgemein zur Erhebung biometrischer und genetischer Daten der meisten beschuldigten Personen führen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, ECLI:EU:C:2023:49, Rn. 128 und 129). 65 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederum entschieden, dass die allgemeine und unterschiedslose Befugnis zur Speicherung von Fingerabdrücken, biologischen Proben und DNA-Profilen der Personen, die im Verdacht stehen, Straftaten begangen zu haben, aber nicht verurteilt wurden – wie in der nationalen Regelung vorgesehen, um die es in der Rechtssache vor dem Gerichtshof für Menschenrechte ging –, keinen gerechten Ausgleich zwischen den betroffenen widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen zum Ausdruck bringt und dass die Speicherung dieser Daten daher als unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung ihres Privatlebens anzusehen ist und nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden kann, weshalb ein solcher Eingriff einen Verstoß gegen Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten darstellt (EGMR, 4. Dezember 2008, S und Marper/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2008:1204JUD003056204, §§ 125 und 126). 66 Zwar kann die Speicherung der biometrischen und genetischen Daten von bereits rechtskräftig verurteilten Personen einschließlich bis zum Tod dieser Personen unbedingt erforderlich im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 sein, insbesondere um ihre etwaige Verwicklung in andere Straftaten prüfen und somit die Täter, die diese Straftaten begangen haben, verfolgen und verurteilen zu können. Es ist nämlich zu berücksichtigen, welche Bedeutung diesen Daten für strafrechtliche Ermittlungen zukommt, und zwar auch viele Jahre nach der Tat, insbesondere wenn es sich bei diesen Straftaten um schwere Straftaten handelt (vgl. in diesem Sinne EGMR, 13. Februar 2020, Gaughran/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2020:0213JUD004524515, § 93). 67 Davon, dass die Speicherung biometrischer und genetischer Daten der Anforderung genügt, wonach sie im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 nur dann zu erlauben ist, „wenn sie unbedingt erforderlich“ ist, kann jedoch lediglich dann ausgegangen werden, wenn sie Art und Schwere der Straftat, die zur rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung geführt hat, oder andere Umstände wie etwa den besonderen Kontext, in dem diese Straftat begangen wurde, ihren etwaigen Zusammenhang mit anderen laufenden Verfahren oder aber den früheren Lebenswandel oder das Profil der verurteilten Person berücksichtigt. Falls nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden vorsehen, dass die im Polizeiregister eingetragenen biometrischen und genetischen Daten der betreffenden Personen im Fall ihrer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung bis zum Zeitpunkt des Todes dieser Personen gespeichert werden, greift daher der Anwendungsbereich dieser Speicherung, wie oben in den Rn. 59 und 60 festgestellt, im Hinblick auf die Zwecke, für die diese Daten verarbeitet werden, übermäßig weit. 68 Was sechstens zum einen die den Mitgliedstaaten auferlegte und in Art. 5 der Richtlinie 2016/680 genannte Verpflichtung betrifft, angemessene Fristen vorzusehen, so ist festzustellen, dass aus den in den Rn. 59, 60 und 67 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen und in Anbetracht der Anforderungen von Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e sowie von Art. 10 dieser Richtlinie eine Frist nur dann als „angemessen“ im Sinne von Art. 5 – insbesondere in Bezug auf die Speicherung der biometrischen und genetischen Daten jeder wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat rechtskräftig verurteilten Person – angesehen werden kann, wenn sie relevante Umstände wie die in Rn. 67 des vorliegenden Urteils genannten berücksichtigt, die eine solche Speicherungsdauer erforderlich machen können. 69 Folglich kann, auch wenn die Bezugnahme auf den Eintritt des Todes der betreffenden Person in den nationalen Rechtsvorschriften eine „Frist“ für die Löschung der gespeicherten Daten im Sinne von Art. 5 darstellen kann, eine solche Frist nur unter besonderen Umständen, die sie gebührend rechtfertigen, als „angemessen“ angesehen werden. Dies ist jedoch offensichtlich nicht der Fall, wenn sie allgemein und unterschiedslos auf jede rechtskräftig verurteilte Person anwendbar ist. 70 Zwar überlässt es Art. 5 der Richtlinie 2016/680, wie in Rn. 45 des vorliegenden Urteils ausgeführt, den Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob Fristen für die Löschung dieser Daten oder die regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit ihrer Speicherung vorzusehen sind. Aus derselben Randnummer geht jedoch auch hervor, dass es für die „Angemessenheit“ der Fristen für eine solche regelmäßige Überprüfung erforderlich ist, dass sie es gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e dieser Richtlinie im Licht von Art. 52 Abs. 1 der Charta ermöglichen, letztlich die in Rede stehenden Daten zu löschen, wenn ihre Speicherung nicht mehr notwendig ist. Aus den in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Gründen wird einem solchen Erfordernis nicht entsprochen, wenn wie im vorliegenden Fall die einzige Konstellation, für die die nationalen Rechtsvorschriften eine solche Löschung hinsichtlich einer wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat rechtskräftig verurteilten Person vorsehen, der Eintritt ihres Todes ist. 71 Was zum anderen die in Art. 16 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie vorgesehenen Garantien in Bezug auf die Voraussetzungen für das Recht auf Löschung und das Recht auf Beschränkung der Verarbeitung betrifft, so ergibt sich aus den Rn. 50 und 51 des vorliegenden Urteils, dass diese Bestimmungen auch nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die es einer wegen einer vorsätzlich begangenen Offizialstraftat rechtskräftig verurteilten Person nicht ermöglichen, diese Rechte auszuüben. 72 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e der Richtlinie 2016/680 in Verbindung mit ihren Art. 5 und 10, ihrem Art. 13 Abs. 2 Buchst. b und ihrem Art. 16 Abs. 2 und 3 sowie im Licht der Art. 7 und 8 der Charta dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass die Polizeibehörden zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung personenbezogene und insbesondere biometrische und genetische Daten, die wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat rechtskräftig verurteilte Personen betreffen, speichern, und zwar bis zum Tod der betroffenen Person und auch im Fall ihrer Rehabilitierung, ohne den Verantwortlichen zu verpflichten, regelmäßig zu überprüfen, ob diese Speicherung noch notwendig ist, und ohne dieser Person das Recht auf Löschung dieser Daten, sobald deren Speicherung für die Zwecke, für die sie verarbeitet worden sind, nicht mehr erforderlich ist, oder gegebenenfalls das Recht auf Beschränkung der Verarbeitung dieser Daten zuzuerkennen. Kosten 73 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 4 Abs. 1 Buchst. c und e der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates in Verbindung mit ihren Art. 5 und 10, ihrem Art. 13 Abs. 2 Buchst. b und ihrem Art. 16 Abs. 2 und 3 sowie im Licht der Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die vorsehen, dass die Polizeibehörden zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung personenbezogene und insbesondere biometrische und genetische Daten, die wegen einer vorsätzlichen Offizialstraftat rechtskräftig verurteilte Personen betreffen, speichern, und zwar bis zum Tod der betroffenen Person und auch im Fall ihrer Rehabilitierung, ohne den Verantwortlichen zu verpflichten, regelmäßig zu überprüfen, ob diese Speicherung noch notwendig ist, und ohne dieser Person das Recht auf Löschung dieser Daten, sobald deren Speicherung für die Zwecke, für die sie verarbeitet worden sind, nicht mehr erforderlich ist, oder gegebenenfalls das Recht auf Beschränkung der Verarbeitung dieser Daten zuzuerkennen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 11. Januar 2024.#Helene Hamers gegen Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (Cedefop).#Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Beamter – Untersuchung des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Nationales Strafverfahren – Nationale Entscheidung, mit der die Rechtsmittelführerin freigesprochen wird – Vorgetragene Schäden aufgrund des unrechtmäßigen Verhaltens des Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung (Cedefop) im Lauf des nationalen Strafverfahrens – Zurückweisung des Entschädigungsantrags der Rechtsmittelführerin – Aufhebungs- und Entschädigungsantrag – Art. 41 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Unparteilichkeitsgebot – Interessenkonflikt – Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte – Unschuldsvermutung – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Teilweise Aufhebung des angefochtenen Urteils.#Rechtssache C-111/22 P.
62022CJ0111
ECLI:EU:C:2024:5
2024-01-11T00:00:00
Ćapeta, Gerichtshof
EUR-Lex - CELEX:62022CJ0111 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62022CJ0111 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62022CJ0111 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. Dezember 2023.#Nordic Info BV gegen Belgische Staat.#Vorabentscheidungsersuchen der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 27 und 29 – Maßnahmen zur Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger aus Gründen der öffentlichen Gesundheit – Maßnahmen mit allgemeiner Geltung – Nationale Regelung, die zum einen ein Verbot der Ausreise aus dem nationalen Hoheitsgebiet für nicht wesentliche Reisen in Mitgliedstaaten vorsieht, die im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, und zum anderen die Verpflichtung für alle aus einem dieser Mitgliedstaaten in das nationale Hoheitsgebiet einreisenden Personen, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten – Schengener Grenzkodex – Art. 23 – Ausübung der polizeilichen Befugnisse im Bereich der öffentlichen Gesundheit – Gleichstellung mit der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen – Art. 25 – Möglichkeit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie – Kontrollen, die in einem Mitgliedstaat im Rahmen von Maßnahmen zum Verbot des Überschreitens der Grenzen zum Zweck nicht wesentlicher Reisen aus oder in Staaten des Schengen-Raums durchgeführt werden, die im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind.#Rechtssache C-128/22.
62022CJ0128
ECLI:EU:C:2023:951
2023-12-05T00:00:00
Emiliou, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62022CJ0128 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 5. Dezember 2023 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 27 und 29 – Maßnahmen zur Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger aus Gründen der öffentlichen Gesundheit – Maßnahmen mit allgemeiner Geltung – Nationale Regelung, die zum einen ein Verbot der Ausreise aus dem nationalen Hoheitsgebiet für nicht wesentliche Reisen in Mitgliedstaaten vorsieht, die im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, und zum anderen die Verpflichtung für alle aus einem dieser Mitgliedstaaten in das nationale Hoheitsgebiet einreisenden Personen, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten – Schengener Grenzkodex – Art. 23 – Ausübung der polizeilichen Befugnisse im Bereich der öffentlichen Gesundheit – Gleichstellung mit der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen – Art. 25 – Möglichkeit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie – Kontrollen, die in einem Mitgliedstaat im Rahmen von Maßnahmen zum Verbot des Überschreitens der Grenzen zum Zweck nicht wesentlicher Reisen aus oder in Staaten des Schengen-Raums durchgeführt werden, die im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind“ In der Rechtssache C‑128/22 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 7. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Februar 2022, in dem Verfahren Nordic Info BV gegen Belgische Staat erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos, E. Regan, F. Biltgen und Z. Csehi, der Richter J.–C. Bonichot, M. Safjan (Berichterstatter), S. Rodin, P. G. Xuereb, J. Passer und D. Gratsias sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec, Generalanwalt: N. Emiliou, Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Januar 2023, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Nordic Info BV, vertreten durch F. Emmerechts und R. Pockelé-Dilles, Advocaten, – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von L. De Brucker, E. Jacubowitz und P. de Maeyer, Advocaten, – der rumänischen Regierung, vertreten durch M. Chicu und E. Gane als Bevollmächtigte, – der norwegischen Regierung, vertreten durch V. Hauan, A. Hjetland, T. B. Leming, I. Thue und P. Wennerås als Bevollmächtigte, – der Schweizer Regierung, vertreten durch L. Lanzrein und N. Marville-Dosen als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti, J. Tomkin und F. Wilman als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 2023 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) sowie der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 272, S. 69) in der durch die Verordnung (EU) 2017/2225 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2017 (ABl. 2017, L 327, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Schengener Grenzkodex). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Nordic Info BV, einer Gesellschaft mit Sitz in Belgien, und dem Belgische Staat (Belgischer Staat) über den Ersatz des Schadens, der dieser Gesellschaft durch nationale Maßnahmen zur Beschränkung der Freizügigkeit entstanden sein soll, die während der Gesundheitskrise im Zusammenhang mit der Covid‑19-Pandemie erlassen worden waren. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2004/38 3 In den Erwägungsgründen 22, 25 bis 27 und 31 der Richtlinie 2004/38 heißt es: „(22) Der Vertrag sieht Beschränkungen des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vor. Um eine genauere Definition der Umstände und Verfahrensgarantien sicherzustellen, unter denen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen die Erlaubnis zur Einreise verweigert werden kann oder unter denen sie ausgewiesen werden können, sollte die vorliegende Richtlinie die Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind [ABl. 1964, 56, S. 850], ersetzen. … (25) Ferner sollten Verfahrensgarantien festgelegt werden, damit einerseits im Falle eines Verbots, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, ein hoher Schutz der Rechte des Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen gewährleistet ist und andererseits der Grundsatz eingehalten wird, dass behördliche Handlungen ausreichend begründet sein müssen. (26) Der Unionsbürger und seine Familienangehörigen, denen untersagt wird, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, müssen stets die Möglichkeit haben, den Rechtsweg zu beschreiten. (27) Im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten gegen die Begünstigten dieser Richtlinie kein Aufenthaltsverbot auf Lebenszeit verhängen dürfen, sollte bestätigt werden, dass ein Unionsbürger oder einer seiner Familienangehörigen, gegen den ein Mitgliedstaat ein Aufenthaltsverbot verhängt hat, nach einem angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber nach Ablauf von drei Jahren nach Vollstreckung des endgültigen Aufenthaltsverbots, einen neuen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots stellen kann. … (31) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und ‑freiheiten und den Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Dem in der Charta enthaltenen Diskriminierungsverbot zufolge sollten die Mitgliedstaaten diese Richtlinie ohne Diskriminierung zwischen den Begünstigten dieser Richtlinie etwa aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung umsetzen“. 4 Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2004/38 lautet: „Diese Richtlinie regelt a) die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen; b) das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten; c) die Beschränkungen der in den Buchstaben a) und b) genannten Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit.“ 5 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck 1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt; … 3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“ 6 Art. 3 („Berechtigte“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor: „Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“ 7 Art. 4 („Recht auf Ausreise“) der Richtlinie 2004/38 lautet: „(1)   Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. (2)   Für die Ausreise von Personen gemäß Absatz 1 darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden. (3)   Die Mitgliedstaaten stellen ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass aus, der ihre Staatsangehörigkeit angibt, und verlängern diese Dokumente. (4)   Der Reisepass muss zumindest für alle Mitgliedstaaten und die unmittelbar zwischen den Mitgliedstaaten liegenden Durchreiseländer gelten. Sehen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats keinen Personalausweis vor, so ist der Reisepass mit einer Gültigkeit von mindestens fünf Jahren auszustellen oder zu verlängern.“ 8 In Art. 5 („Recht auf Einreise“) dieser Richtlinie heißt es: „(1)   Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise. Für die Einreise von Unionsbürgern darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden. … (5)   Der Mitgliedstaat kann von dem Betroffenen verlangen, dass er seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats innerhalb eines angemessenen und nicht diskriminierenden Zeitraums meldet. Die Nichterfüllung dieser Meldepflicht kann mit verhältnismäßigen und nicht diskriminierenden Sanktionen geahndet werden.“ 9 Die Art. 6 und 7 der Richtlinie, die in deren Kapitel III über das Aufenthaltsrecht enthalten sind, betreffen das Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten bzw. das Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate. 10 Kapitel VI der Richtlinie 2004/38 regelt die „Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“ und umfasst die Art. 27 bis 33 dieser Richtlinie. 11 Art. 27 („Allgemeine Grundsätze“) der Richtlinie lautet: „(1)   Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden. (2)   Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. (3)   Um festzustellen, ob der Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt, kann der Aufnahmemitgliedstaat bei der Ausstellung der Anmeldebescheinigung oder – wenn es kein Anmeldesystem gibt – spätestens drei Monate nach dem Zeitpunkt der Einreise des Betroffenen in das Hoheitsgebiet oder nach dem Zeitpunkt, zu dem der Betroffene seine Anwesenheit im Hoheitsgebiet gemäß Artikel 5 Absatz 5 gemeldet hat, oder bei Ausstellung der Aufenthaltskarte den Herkunftsmitgliedstaat und erforderlichenfalls andere Mitgliedstaaten um Auskünfte über das Vorleben des Betroffenen in strafrechtlicher Hinsicht ersuchen, wenn er dies für unerlässlich hält. Diese Anfragen dürfen nicht systematisch erfolgen. Der ersuchte Mitgliedstaat muss seine Antwort binnen zwei Monaten erteilen. (4)   Der Mitgliedstaat, der den Reisepass oder Personalausweis ausgestellt hat, lässt den Inhaber des Dokuments, der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit aus einem anderen Mitgliedstaat ausgewiesen wurde, ohne jegliche Formalitäten wieder einreisen, selbst wenn der Personalausweis oder Reisepass ungültig geworden ist oder die Staatsangehörigkeit des Inhabers bestritten wird.“ 12 Art. 29 („Öffentliche Gesundheit“) der Richtlinie 2004/38 sieht vor: „(1)   Als Krankheiten, die eine die Freizügigkeit beschränkende Maßnahme rechtfertigen, gelten ausschließlich die Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation [(WHO)] und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen zum Schutz der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats getroffen werden. (2)   Krankheiten, die nach Ablauf einer Frist von drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Einreise auftreten, stellen keinen Ausweisungsgrund dar. (3)   Wenn ernsthafte Anhaltspunkte dies rechtfertigen, können die Mitgliedstaaten für die Personen, die zum Aufenthalt berechtigt sind, binnen drei Monaten nach der Einreise eine kostenlose ärztliche Untersuchung anordnen, um feststellen zu lassen, dass sie nicht an einer Krankheit im Sinne von Absatz 1 leiden. Diese ärztlichen Untersuchungen dürfen nicht systematisch angeordnet werden.“ 13 Art. 30 („Mitteilung der Entscheidungen“) dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Entscheidungen nach Artikel 27 Absatz 1 müssen dem Betroffenen schriftlich in einer Weise mitgeteilt werden, dass er deren Inhalt und Wirkung nachvollziehen kann. (2)   Dem Betroffenen sind die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der ihn betreffenden Entscheidung zugrunde liegen, genau und umfassend mitzuteilen, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstehen. (3)   In der Mitteilung ist anzugeben, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Betroffene einen Rechtsbehelf einlegen kann, innerhalb welcher Frist der Rechtsbehelf einzulegen ist und gegebenenfalls binnen welcher Frist er das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen hat. Außer in ordnungsgemäß begründeten dringenden Fällen muss die Frist zum Verlassen des Hoheitsgebiets mindestens einen Monat, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung, betragen.“ 14 In Art. 31 („Verfahrensgarantien“) der Richtlinie heißt es: „(1)   Gegen eine Entscheidung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit müssen die Betroffenen einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde des Aufnahmemitgliedstaats einlegen können. … (3)   Im Rechtsbehelfsverfahren sind die Rechtmäßigkeit der Entscheidung sowie die Tatsachen und die Umstände, auf denen die Entscheidung beruht, zu überprüfen. Es gewährleistet, dass die Entscheidung insbesondere im Hinblick auf die Erfordernisse gemäß Artikel 28 nicht unverhältnismäßig ist. (4)   Die Mitgliedstaaten können dem Betroffenen verbieten, sich während des anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens in ihrem Hoheitsgebiet aufzuhalten, dürfen ihn jedoch nicht daran hindern, sein Verfahren selbst zu führen, es sei denn, die öffentliche Ordnung oder Sicherheit können durch sein persönliches Erscheinen ernsthaft gestört werden oder der Rechtsbehelf richtet sich gegen die Verweigerung der Einreise in das Hoheitsgebiet.“ 15 Art. 32 („Zeitliche Wirkung eines Aufenthaltsverbots“) der Richtlinie sieht vor: „(1)   Personen, gegen die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ein Aufenthaltsverbot verhängt worden ist, können nach einem entsprechend den Umständen angemessenen Zeitraum, in jedem Fall aber drei Jahre nach Vollstreckung des nach dem Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß erlassenen endgültigen Aufenthaltsverbots einen Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbots unter Hinweis darauf einreichen, dass eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist, die das Aufenthaltsverbot gerechtfertigt haben. Der betreffende Mitgliedstaat muss binnen sechs Monaten nach Einreichung des Antrags eine Entscheidung treffen. (2)   Die Personen gemäß Absatz 1 sind nicht berechtigt, während der Prüfung ihres Antrags in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einzureisen.“ Schengener Grenzkodex 16 Die Erwägungsgründe 2 und 6 des Schengener Grenzkodex lauten: „(2) Der Erlass von Maßnahmen nach Artikel 77 Absatz 2 Buchstabe e [AEUV], die sicherstellen, dass Personen beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, ist Teil des Ziels der [Europäischen] Union nach Artikel 26 Absatz 2 AEUV, einen Raum ohne Binnengrenzen aufzubauen, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist. … (6) Grenzkontrollen liegen nicht nur im Interesse des Mitgliedstaats, an dessen Außengrenzen sie erfolgen, sondern auch im Interesse sämtlicher Mitgliedstaaten, die die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft haben. Grenzkontrollen sollten zur Bekämpfung der illegalen Zuwanderung und des Menschenhandels sowie zur Vorbeugung jeglicher Bedrohung der inneren Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit und der internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten beitragen.“ 17 Art. 1 („Gegenstand und Grundsätze“) des Schengener Grenzkodex bestimmt: „Diese Verordnung sieht vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten. Sie legt Regeln für die Grenzkontrollen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Union überschreiten.“ 18 Art. 2 Nrn. 1, 8, 10 bis 12 und 21 des Schengener Grenzkodex enthält folgende Begriffsbestimmungen: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck 1. ‚Binnengrenzen‘ a) die gemeinsamen Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen, b) die Flughäfen der Mitgliedstaaten für Binnenflüge, c) die See‑, Flussschifffahrts- und Binnenseehäfen der Mitgliedstaaten für regelmäßige interne Fährverbindungen; … 8. ‚Grenzübergangsstelle‘ einen von den zuständigen Behörden für das Überschreiten der Außengrenzen zugelassenen Ort des Grenzübertritts; … 10. ‚Grenzkontrollen‘ die an einer Grenze nach Maßgabe und für die Zwecke dieser Verordnung unabhängig von jedem anderen Anlass ausschließlich aufgrund des beabsichtigten oder bereits erfolgten Grenzübertritts durchgeführten Maßnahmen, die aus Grenzübertrittskontrollen und Grenzüberwachung bestehen; 11. ‚Grenzübertrittskontrollen‘ die Kontrollen, die an den Grenzübergangsstellen erfolgen, um festzustellen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen oder aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten ausreisen dürfen; 12. ‚Grenzüberwachung‘ die Überwachung der Grenzen zwischen den Grenzübergangsstellen und die Überwachung der Grenzübergangsstellen außerhalb der festgesetzten Verkehrsstunden, um zu vermeiden, dass Personen die Grenzübertrittskontrollen umgehen; … 21. ‚Gefahr für die öffentliche Gesundheit‘ eine Krankheit mit epidemischem Potenzial im Sinne der Internationalen Gesundheitsvorschriften der [WHO] und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen zum Schutz der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten getroffen werden“. 19 Art. 3 („Anwendungsbereich“) des Schengener Grenzkodex lautet: „Diese Verordnung findet Anwendung auf alle Personen, die die Binnengrenzen oder die Außengrenzen eines Mitgliedstaats überschreiten, unbeschadet a) der Rechte der Personen, die nach dem Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben; b) der Rechte der Flüchtlinge und Personen, die um internationalen Schutz ersuchen, insbesondere hinsichtlich der Nichtzurückweisung.“ 20 Art. 6 Abs. 1 Buchst. e des Schengener Grenzkodex sieht u. a. vor, dass Drittstaatsangehörige, die über eine Außengrenze in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen wollen, keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen dürfen. 21 In Bezug auf Kontrollen an den Außengrenzen schreibt Art. 8 Abs. 2 und 3 des Schengener Grenzkodex im Wesentlichen vor, zu überprüfen, ob Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, sowie Drittstaatsangehörige nicht, u. a., als Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit angesehen werden. 22 Art. 22 („Überschreiten der Binnengrenzen“) des Schengener Grenzkodex lautet: „Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“ 23 Art. 23 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) des Schengener Grenzkodex bestimmt: „Das Ausbleiben der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht: a) die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Im Sinne von Satz 1 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen i) keine Grenzkontrollen zum Ziel haben; ii) auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen; iii) in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet; iv) auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden; …“ 24 Art. 25 („Allgemeiner Rahmen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen“) des Schengener Grenzkodex lautet: „(1)   Ist im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht, so ist diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. Die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen darf in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist. (2)   Kontrollen an den Binnengrenzen werden nur als letztes Mittel und im Einklang mit den Artikeln 27, 28 und 29 wiedereingeführt. Wird ein Beschluss zur Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Artikel 27, 28 oder 29 in Betracht gezogen, so sind die in Artikel 26 beziehungsweise 30 genannten Kriterien in jedem einzelnen Fall zu Grunde zu legen. (3)   Hält die ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in dem betreffenden Mitgliedstaat über den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Zeitraum hinaus an, so kann dieser Mitgliedstaat die Kontrollen an seinen Binnengrenzen unter Zugrundelegung der in Artikel 26 genannten Kriterien und gemäß Artikel 27 aus den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Gründen und unter Berücksichtigung neuer Umstände für weitere Zeiträume von höchstens 30 Tagen verlängern. (4)   Der Gesamtzeitraum, innerhalb dessen Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt werden können, einschließlich etwaiger Verlängerungen nach Absatz 3 dieses Artikels, beträgt höchstens sechs Monate. Liegen außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 29 vor, so kann dieser Gesamtzeitraum gemäß Artikel 29 Absatz 1 auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden.“ 25 In Art. 26 („Kriterien für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen“), Art. 27 („Bei der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen anzuwendendes Verfahren nach Artikel 25“) und Art. 28 („Besonderes Verfahren für Fälle, die sofortiges Handeln erfordern“) des Schengener Grenzkodex sind die materiellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen festgelegt, die die Mitgliedstaaten erfüllen müssen, um gemäß Art. 25 vorübergehend wieder Kontrollen an den Binnengrenzen einführen zu können. Empfehlung (EU) 2020/912 26 Die Empfehlung (EU) 2020/912 des Rates vom 30. Juni 2020 zur vorübergehenden Beschränkung nicht unbedingt notwendiger Reisen in die [Europäische Union] und möglichen Aufhebung dieser Beschränkung (ABl. 2020, L 208, S. 1, berichtigt in ABl. 2021, L 327, S. 42) enthält einen Anhang II mit folgendem Inhalt: „Spezifische Kategorien von Reisenden, die eine wichtige Funktion ausüben oder deren Reise zwingend notwendig ist: i) Gesundheitspersonal, Gesundheitsforscher und Altenpflegepersonal; ii) Grenzgänger; iii) Saisonarbeiter in der Landwirtschaft; iv) Transportpersonal; v) Diplomaten, Personal internationaler Organisationen, von internationalen Organisationen eingeladene Personen, deren Anwesenheit für das reibungslose Funktionieren dieser Organisationen erforderlich ist, militärisches Personal, humanitäre Helfer und Katastrophenschutzkräfte in Ausübung ihrer Tätigkeit; vi) Passagiere im Transitverkehr; vii) Passagiere, die aus zwingenden familiären Gründen reisen; viii) Seeleute; ix) Personen, die internationalen Schutz oder Schutz aus anderen humanitären Gründen benötigen; x) Drittstaatsangehörige, die zu Studienzwecken einreisen; xi) hoch qualifizierte Arbeitnehmer aus Drittstaaten, deren Arbeitskraft aus wirtschaftlicher Sicht notwendig ist und deren Arbeit nicht aufgeschoben oder im Ausland ausgeführt werden kann.“ Belgisches Recht 27 Art. 18 des Ministerieel besluit houdende dringende maatregelen om de verspreiding van het coronavirus COVID‑19 te beperken (Ministerieller Erlass zur Festlegung von Dringlichkeitsmaßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus COVID‑19) vom 30. Juni 2020 (Belgisch Staatsblad vom 30. Juni 2020, S. 48715) in der durch Art. 3 des Ministerieel besluit houdende wijziging van het ministerieel besluit van 30 juni 2020 houdende dringende maatregelen om de verspreiding van het coronavirus COVID‑19 te beperken (Ministerieller Erlass zur Abänderung des Ministeriellen Erlasses vom 30. Juni 2020 zur Festlegung von Dringlichkeitsmaßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus COVID‑19) vom 10. Juli 2020 (Belgisch Staatsblad vom 10. Juli 2020, S. 51609) (im Folgenden: geänderter Ministerieller Erlass) bestimmte: „§ 1 – Nicht wesentliche Reisen aus Belgien heraus und nach Belgien sind verboten. § 2 – In Abweichung von § 1 und unbeschadet des Artikels 20 ist es erlaubt: 1. von Belgien aus in alle Länder der Europäischen Union, des Schengen-Raums und in das Vereinigte Königreich zu reisen und von diesen Ländern aus nach Belgien zu reisen, mit Ausnahme der als rote Zone bestimmten Gebiete, deren Liste auf der Website des Föderalen Öffentlichen Dienstes Auswärtige Angelegenheiten veröffentlicht ist, …“ 28 Art. 22 des geänderten Ministeriellen Erlasses sah vor: „Mit den in Artikel 187 des Gesetzes vom 15. Mai 2007 über die zivile Sicherheit vorgesehenen Strafen werden Verstöße gegen folgende Artikel geahndet: … – die Artikel 11, 16, 18, 19 und 21bis.“ 29 Art. 187 des Gesetzes vom 15. Mai 2007 über die zivile Sicherheit (Belgisch Staatsblad vom 31. Juli 2007) sieht vor: „Die Weigerung oder das Versäumnis, die in Anwendung der Artikel 181 § 1 und 182 angeordneten Maßnahmen zu befolgen, wird in Friedenszeiten mit einer Gefängnisstrafe von acht Tagen bis zu drei Monaten und mit einer Geldbuße von sechsundzwanzig bis zu fünfhundert Euro oder mit nur einer dieser Strafen bestraft. Der Minister oder gegebenenfalls der Bürgermeister beziehungsweise der Zonenkommandant kann außerdem die genannten Maßnahmen von Amts wegen auf Kosten der sich weigernden und säumigen Personen durchführen lassen.“ 30 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht ferner hervor, dass nicht wesentliche Reisen im Sinne von Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses definiert waren als andere Reisen als unbedingt notwendige Reisen, die unter den auf der Website info-coronavirus.be abrufbaren häufig gestellten Fragen (FAQ) angeführt waren und der Liste der unbedingt notwendigen Reisen in der Empfehlung 2020/912 entsprachen. 31 Aus diesen Akten geht auch hervor, dass sich jeder Reisende, der aus einer roten Zone im Sinne von Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses kam, Tests unterziehen und eine Quarantäne einhalten musste. Diese Verpflichtung war in Bestimmungen vorgesehen, die von der Flämischen Region, der Wallonischen Region, der Region Brüssel-Hauptstadt und der Deutschsprachigen Gemeinschaft erlassen worden waren. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 32 Am 11. März 2020 stufte die WHO die Epidemie des Coronavirus Covid‑19 als Pandemie ein und rief am 16. März 2020 die höchste Warnstufe in Bezug auf diese Pandemie aus. 33 Vor diesem Hintergrund erließ das Königreich Belgien am 10. Juli 2020 Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses, um nicht wesentliche Reisen mit als Abreise- bzw. Ankunftsort auf der einen Seite in Belgien und auf der anderen Seite in den Ländern der Union und des Schengen-Raums sowie im Vereinigten Königreich zu untersagen, sofern diese Länder in Anbetracht ihrer epidemiologischen Lage oder des Umfangs der von ihren Behörden ergriffenen restriktiven Gesundheitsmaßnahmen als „rote Zonen“ bestimmt worden waren. Zudem musste sich jeder Reisende, der aus einem solchen als rote Zone eingestuften Land kam, in Belgien einem Screeningtest unterziehen und eine Quarantäne einhalten. Die Liste der als rote Zonen bestimmten Länder konnte erstmals am 12. Juli 2020 auf der Website des Föderalen Öffentlichen Dienstes Auswärtige Angelegenheiten eingesehen werden. Schweden gehörte zu den als rote Zonen eingestuften Ländern. 34 Nach eigenen Angaben stornierte Nordic Info, eine auf Reisen nach und von Skandinavien spezialisierte Reiseagentur, alle für die Sommersaison von Belgien nach Schweden geplanten Reisen, um den belgischen Bestimmungen nachzukommen. Außerdem habe sie Maßnahmen ergriffen, um in Schweden befindliche Reisende bezüglich ihrer Rückkehr nach Belgien zu informieren und zu unterstützen. 35 Am 15. Juli 2020 wurde die in Rn. 33 des vorliegenden Urteils genannte Liste aktualisiert und Schweden in die orange Zone eingestuft, was bedeutete, dass Reisen nach und von dort nicht mehr verboten waren, sondern nur noch davon abgeraten wurde, und dass für die Einreise von Reisenden aus diesem Land in das belgische Hoheitsgebiet andere Regeln galten. 36 Da Nordic Info der Ansicht war, dass der Belgische Staat bei der Ausarbeitung des geänderten Ministeriellen Erlasses Fehler begangen habe, erhob sie bei der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr durch die Einführung und anschließende Änderung der in diesem Ministeriellen Erlass vorgesehenen Farbcodes entstanden sein soll. Der Belgische Staat beantragt, die Klage als unbegründet abzuweisen. 37 Konkret macht Nordic Info u. a. geltend, dass der Belgische Staat zum einen gegen die Richtlinie 2004/38 sowie gegen die nationalen Bestimmungen zur Umsetzung der Art. 27 bis 31 dieser Richtlinie und zum anderen gegen den Schengener Grenzkodex verstoßen habe. 38 In Bezug auf die Rüge eines Verstoßes gegen die Richtlinie 2004/38 weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Nordic Info zwar bei der Beschreibung ihres Schadens und in ihrem Vorbringen allgemein auf das Verbot der Ausreise aus dem belgischen Hoheitsgebiet, das belgischen Staatsangehörigen und nichtbelgischen Unionsbürgern mit Wohnsitz in Belgien sowie deren Familienangehörigen auferlegt wurde, und auf das Verbot der Einreise in dieses Hoheitsgebiet, das allen Unionsbürgern, belgischen und nichtbelgischen, sowie deren Familienangehörigen auferlegt wurde, abstellt, dieses Unternehmen jedoch nur die Rechtmäßigkeit zum einen des genannten Ausreiseverbots und zum anderen der Beschränkungen des Rechts auf Einreise in das genannte Hoheitsgebiet, die nichtbelgischen Unionsbürgern und deren Familienangehörigen auferlegt wurden und die darin bestanden, dass diese verpflichtet waren, sich bei der Einreise in dieses Hoheitsgebiet Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten, in Abrede stellt. 39 In diesem Zusammenhang sei zu klären, ob Art. 27 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 dieser Richtlinie zu lesen sei und somit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit nur Beschränkungen des Rechts auf Einreise rechtfertigen könne, oder ob diese beiden Bestimmungen vielmehr unabhängige Rechtfertigungsgründe enthielten, so dass die erste dieser Bestimmungen für sich genommen genüge, um Beschränkungen sowohl des Rechts auf Einreise als auch des Rechts auf Ausreise aus solchen Gründen zu rechtfertigen. 40 Unabhängig von der Auslegung von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, ob ein Mitgliedstaat auf der Grundlage dieser Bestimmungen eine nicht diskriminierende Maßnahme, wie sie mit Art. 18 der geänderten Ministeriellen Erlasses eingeführt wurde, in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung erlassen kann. Eine solche Möglichkeit könne aus der Feststellung abgeleitet werden, dass der die öffentliche Gesundheit betreffende Grund nicht in Art. 27 Abs. 2 dieser Richtlinie, sondern in Art. 29 der Richtlinie gesondert behandelt werde. 41 Für den Fall, dass die letztgenannte Frage verneint wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine solche allgemeine nicht diskriminierende Beschränkung unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf die Art. 20 und 21 AEUV und/oder auf einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts gestützt werden könnte, um das legitime Ziel der Bekämpfung einer Pandemie zu erreichen. 42 Im Rahmen ihrer Rüge eines Verstoßes gegen den Schengener Grenzkodex macht Nordic Info geltend, dass der geänderte Ministerielle Erlass, indem er vorsehe, dass Beschränkungen des Rechts auf Ausreise und des Rechts auf Einreise von den zuständigen belgischen Behörden kontrolliert und von Amts wegen umgesetzt werden könnten und dass die Nichtbeachtung solcher Beschränkungen von diesen Behörden mit Sanktionen belegt werden könne, auf die Einführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter Verstoß gegen die Art. 25 ff. des Schengener Grenzkodex hinauslaufe. Diese Bestimmungen erlaubten die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nämlich nur im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit, nicht aber im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Gesundheit. 43 Außerdem könnten die sich aus dem geänderten Ministeriellen Erlass ergebenden Maßnahmen nicht als unter Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex fallend angesehen werden, da die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen belgischen Behörden im vorliegenden Fall die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen gehabt habe und diese Befugnisse jedenfalls nur im Bereich der öffentlichen Sicherheit und nicht im Bereich der öffentlichen Gesundheit ausgeübt werden dürften. 44 Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob in Anbetracht der Argumente, die der Belgische Staat vor ihm vorgebracht hat, eine übertragbare Krankheit in Krisenzeiten einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen/inneren Sicherheit im Sinne der Art. 23 und 25 des Schengener Grenzkodex gleichgestellt werden kann, so dass in einer solchen Situation die Ausübung der polizeilichen Befugnisse und die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen auf der Grundlage jeder dieser Bestimmungen möglich sind. 45 Unter diesen Umständen hat die Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (niederländischsprachiges Gericht erster Instanz von Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind die Art. 2, 4, 5, 27 und 29 der Richtlinie 2004/38, mit denen die Art. 20 und 21 AEUV umgesetzt werden, dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats (vorliegend die Art. 18 und 22 des geänderten Ministeriellen Erlasses) nicht entgegenstehen, durch die mittels einer allgemeinen Maßnahme – belgischen Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen sowie Unionsbürgern, die im belgischen Hoheitsgebiet ansässig sind, und ihren Familienangehörigen ein grundsätzliches Ausreiseverbot bei nicht wesentliche Reisen aus Belgien in Länder der Europäischen Union und des Schengen-Raums, die nach einem auf der Grundlage epidemiologischer Daten ausgearbeiteten Farbcode rot markiert sind, auferlegt wird; – nicht belgischen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen (ob mit oder ohne Aufenthaltsrecht im belgischen Hoheitsgebiet) Einreisebeschränkungen (in Form von Quarantäne und Tests) bei nicht wesentliche Reisen aus Ländern der Europäischen Union und des Schengen-Raums, die nach einem auf der Grundlage epidemiologischer Daten ausgearbeiteten Farbcode rot markiert sind, nach Belgien auferlegt werden? 2. Sind die Art. 1, 3 und 22 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats (vorliegend die Art. 18 und 22 des geänderten Ministeriellen Erlasses) nicht entgegenstehen, mit der ein Ausreiseverbot für nicht wesentliche Reisen aus Belgien in Länder der Europäischen Union und des Schengen-Raums sowie ein Verbot der Einreise aus diesen Ländern nach Belgien verhängt werden, die nicht nur kontrolliert und mit Sanktionen belegt, sondern auch vom Minister, vom Bürgermeister und vom Zonenkommandant von Amts wegen umgesetzt werden können? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 46 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 15. Juli 2021, Ministrstvo za obrambo, C‑742/19, EU:C:2021:597, Rn. 31). 47 Im vorliegenden Fall ist erstens festzustellen, dass bei der Beantwortung der ersten Frage in Anbetracht dessen, dass zum einen Nordic Info nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts ihre Schadensersatzklage auf den Schaden stützt, der ihr im Zusammenhang mit organisierten Reisen zwischen Belgien und Schweden entstanden sein soll, und sich zum anderen diese Frage nur insoweit auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende belgische Regelung bezieht, als diese Unionsbürger und ihre Familienangehörigen betraf, nicht zu berücksichtigen ist, dass sich diese Regelung neben den Mitgliedstaaten der Union auch auf die nicht der Union angehörenden Länder des Schengen-Raums bezog. 48 Zweitens erwähnt das vorlegende Gericht in der ersten Frage zwar Art. 2 der Richtlinie 2004/38, doch ist die Auslegung dieser Bestimmung, die sich auf die Definition der in dieser Richtlinie verwendeten Begriffe beschränkt, als solche für die Beantwortung dieser Frage nicht erforderlich. 49 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen möchte, ob die Art. 27 und 29 in Verbindung mit den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung mit allgemeiner Geltung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie zum einen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit verbietet, von diesem Mitgliedstaat aus nicht wesentliche Reisen in andere Mitgliedstaaten zu unternehmen, die von diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage der restriktiven Gesundheitsmaßnahmen oder der epidemiologischen Lage in diesen anderen Mitgliedstaaten als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, und zum anderen Unionsbürgern, die nicht Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind, die Verpflichtung auferlegt, sich bei der Einreise aus einem dieser anderen Mitgliedstaaten in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten. 50 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, der zu deren Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) gehört und Art. 1 Buchst. c dieser Richtlinie konkretisiert, vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken dürfen, sofern diese Gründe nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden. 51 Art. 29 Abs. 1 der genannten Richtlinie, der speziell die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränkende Maßnahmen betrifft, stellt klar, dass nur bestimmte Krankheiten, nämlich Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der WHO und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten solche Maßnahmen rechtfertigen können, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen zum Schutz der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats – d. h., gemäß Art. 2 Nr. 3 der Richtlinie, des Mitgliedstaats, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben – getroffen werden. 52 Was erstens Krankheiten betrifft, die auf der Grundlage von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränkende Maßnahmen rechtfertigen können, ergibt sich aus dem Wortlaut dieser beiden Bestimmungen, dass ein Mitgliedstaat solche Maßnahmen zu nichtwirtschaftlichen Zwecken und unter Beachtung der in Kapitel VI dieser Richtlinie vorgesehenen Bedingungen ausschließlich aufgrund bestimmter Krankheiten treffen kann, die Gegenstand von Maßnahmen zum Schutz seiner eigenen Staatsangehörigen sind, nämlich Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der WHO und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten. 53 In diesem Rahmen kann ein Mitgliedstaat erst recht auf der Grundlage dieser Bestimmungen die Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen erlassen, um eine Bedrohung im Zusammenhang mit einer übertragbaren Infektionskrankheit zu bewältigen, die einen von der WHO anerkannten pandemischen Charakter aufweist. 54 Was das Ausgangsverfahren anbelangt, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die in Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses enthaltenen und die in Rn. 31 des vorliegenden Urteils genannten Maßnahmen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken erlassen wurden, sondern um die Ausbreitung der übertragbaren Infektionskrankheit des Covid‑19, die von der WHO am 11. März 2020 als Pandemie eingestuft worden war und während des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums noch immer als solche eingestuft war, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verhindern. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint es außerdem so zu sein, dass sich diese Maßnahmen in eine Reihe von Maßnahmen einfügen, die zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit die Bevölkerung dieses Mitgliedstaats vor der Ausbreitung dieser Krankheit im nationalen Hoheitsgebiet schützen sollten. Eine solche Krankheit scheint daher unter diesem Vorbehalt die in Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genannten Voraussetzungen für die Rechtfertigung von die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränkenden Maßnahmen zu erfüllen. 55 Was zweitens die Rechte betrifft, die durch die Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen nach den Art. 27 bis 32 der Richtlinie 2004/38 beeinträchtigt werden können, ergibt sich zum einen aus Art. 1 Buchst. a in Verbindung mit den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 sowie den Art. 20 und 21 AEUV, die mit dieser Richtlinie umgesetzt werden, dass die „Freizügigkeit“ das Recht umfasst, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben („Recht auf Ausreise“), und das Recht, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzureisen („Recht auf Einreise“). 56 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 aufgrund ihres klaren Wortlauts, der ausdrücklich die „Freizügigkeit“ nennt, beide Komponenten dieser Freiheit, nämlich das Recht auf Einreise und das Recht auf Ausreise, im Sinne der Art. 4 und 5 dieser Richtlinie abdecken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2012, Byankov, C‑249/11, EU:C:2012:608, Rn. 30 bis 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich kann weder der Umstand, dass die Art. 27 und 29 zu Kapitel VI („Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“) der genannten Richtlinie gehören, noch der Umstand, dass Art. 29 Abs. 2 und 3 dieser Richtlinie speziell die Beschränkungen des Rechts auf Einreise betrifft, dazu führen, dass der Anwendungsbereich von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 allein auf die das Recht auf Einreise betreffende Komponente der Freizügigkeit beschränkt wird. 57 Dies gilt umso mehr, als sich Beschränkungen des Rechts auf Einreise und des Rechts auf Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Gesundheit als unwirksam erweisen könnten, wenn entsprechende Beschränkungen des Rechts auf Ausreise nicht möglich wären. In einem solchen Fall könnte das mit Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verfolgte Ziel, das darin besteht, es den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, innerhalb der in dieser Richtlinie vorgesehenen Grenzen und Bedingungen die Freizügigkeit zu beschränken, um die Ausbreitung oder die Gefahr der Ausbreitung einer unter die zweitgenannte Bestimmung fallenden Krankheit zu verhüten, zu begrenzen oder einzudämmen, je nach den entsprechenden Umständen gefährdet werden. 58 Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass als „Beschränkungen“ der Freizügigkeit der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen alle Maßnahmen anzusehen sind, die die Ausübung dieser Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen (vgl. entsprechend Urteile vom 12. Juli 2012, Kommission/Spanien, C‑269/09, EU:C:2012:439, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Dezember 2016, Kommission/Portugal, C‑503/14, EU:C:2016:979, Rn. 40). 59 Unter diesen Umständen umfassen die die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahmen, die ein Mitgliedstaat aus Gründen der öffentlichen Gesundheit nach Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erlassen kann, nicht nur vollständige oder teilweise Einreise- oder Ausreiseverbote betreffend das nationale Hoheitsgebiet, wie etwa ein Verbot der Ausreise aus diesem Hoheitsgebiet, um nicht wesentliche Reisen zu unternehmen. Es kann sich erst recht auch um Maßnahmen handeln, die bewirken, dass das Recht der betroffenen Personen, in dieses Hoheitsgebiet einzureisen oder aus ihm auszureisen, behindert oder weniger attraktiv gemacht wird, wie etwa eine Verpflichtung für Einreisende, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten. 60 Was drittens die Personen betrifft, gegen die auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 die Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen erlassen werden können, ist darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie die Bedingungen für die Ausreise aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nicht nur für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, sondern auch für Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats regelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2012, Byankov, C‑249/11, EU:C:2012:608, Rn. 30 und 32). Dagegen regelt sie die Voraussetzungen für die Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nur für Angehörige anderer Mitgliedstaaten (vgl. u. a. Urteil vom 6. Oktober 2021, A [Grenzüberschreitung mit einem Vergnügungsboot], C‑35/20, EU:C:2021:813, Rn. 67 bis 69). 61 Im vorliegenden Fall fallen die vom vorlegenden Gericht in seiner ersten Frage genannten Kategorien von Personen, was das Verbot der Ausreise aus dem Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats bzw. die Beschränkungen der Einreise in dieses Hoheitsgebiet betrifft, in den persönlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/38. 62 Was viertens die Form der die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahmen betrifft, die auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erlassen werden können, ist festzustellen, dass weder Art. 27 Abs. 1 noch ihr Art. 29 Abs. 1 dieser Richtlinie dem entgegensteht, dass solche Maßnahmen in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung erlassen werden. 63 Da nämlich keine dieser beiden Bestimmungen im Unterschied zu Art. 27 Abs. 2 der genannten Richtlinie vorsieht, dass bei Beschränkungen dieser Freiheit „ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein [darf]“ und dass „[v]om Einzelfall losgelöste Begründungen … nicht zulässig [sind]“, ist festzustellen, dass Beschränkungen dieser Freiheit, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt sind, je nach den Umständen und insbesondere der Gesundheitslage als Rechtsakt mit allgemeiner Geltung erlassen werden können, der unterschiedslos jede Person betrifft, die sich in einer von diesem Rechtsakt erfassten Situation befindet. 64 Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass die unter Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fallenden Krankheiten, die allein die auf der Grundlage dieser Richtlinie getroffenen, die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahmen rechtfertigen können, schon aufgrund ihrer charakteristischen Merkmale ganze Bevölkerungen unabhängig von individuellen Verhaltensweisen betreffen können. 65 Was fünftens die Bedingungen und die Garantien betrifft, mit denen die auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38 getroffenen, die Freizügigkeit beschränkenden Maßnahmen einhergehen müssen, ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach Art. 27 Abs. 1 dieser Richtlinie der Mitgliedstaat, der solche Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erlässt, die Bestimmungen des Kapitels VI der Richtlinie, und zwar insbesondere deren Art. 30 bis 32, beachten muss. 66 Zwar beziehen sich die in diesen Art. 30 bis 32 verwendeten Begriffe und Ausdrücke auf beschränkende Maßnahmen, die in Form einer Einzelfallentscheidung erlassen werden. 67 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 73 und 115 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, müssen die in den genannten Art. 30 bis 32 vorgesehenen Bedingungen und Garantien jedoch auch im Fall beschränkender Maßnahmen gelten, die in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung erlassen werden. 68 Hierzu ist festzustellen, dass in den Erwägungsgründen 25 bis 27 der Richtlinie 2004/38, die deren Art. 30 bis 32 widerspiegeln, die Grundsätze und Gründe dargelegt sind, die den in diesen Bestimmungen genannten Bedingungen und Garantien zugrunde liegen. So heißt es im 25. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass diese Bedingungen und Garantien darauf abzielen, dass einerseits im Fall eines Verbots, in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen oder sich dort aufzuhalten, ein hoher Schutz der Rechte des Unionsbürgers und seiner Familienangehörigen gewährleistet ist und andererseits „der Grundsatz eingehalten wird, dass behördliche Handlungen ausreichend begründet sein müssen“. In den Erwägungsgründen 26 und 27 der Richtlinie heißt es in diesem Zusammenhang, dass „stets“ die Möglichkeit bestehen muss, den Rechtsweg zu beschreiten, und dass eine Überprüfung von Aufenthaltsverboten eines Mitgliedstaats im Hinblick auf ihre Aufhebung nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stets möglich sein muss. 69 Diese Erwägungsgründe bestätigen somit, dass ein Mitgliedstaat, wenn er bei der Umsetzung eines Unionsrechtsakts wie der Richtlinie 2004/38 Maßnahmen erlässt, die die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken, insbesondere erstens den Grundsatz der Rechtssicherheit beachten muss, der gebietet, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind, damit sie es den Betroffenen ermöglichen, den Umfang der ihnen durch die betreffende Vorschrift auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und diese ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. März 2019, Unareti, C‑702/17, EU:C:2019:233, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 17. November 2022, Avicarvil Farms, C‑443/21, EU:C:2022:899, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zweitens muss dieser Mitgliedstaat dem allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz einer guten Verwaltung nachkommen, der u. a. die Pflicht zur Begründung der von den nationalen Behörden erlassenen Handlungen und Entscheidungen vorsieht (Urteil vom 7. September 2021, Klaipėdos regiono atliekų tvarkymo centras, C‑927/19, EU:C:2021:700, Rn. 120 und die dort angeführte Rechtsprechung). Drittens muss er gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) das in deren Art. 47 Abs. 1 verankerte Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf achten, das u. a. das Recht vorsieht, Zugang zu einem Gericht zu erhalten, das über die Befugnis verfügt, die Achtung der durch das Unionsrecht garantierten Rechte sicherzustellen und zu diesem Zweck alle für die Streitigkeit relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen zu prüfen (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). 70 Die Gesamtheit der in den Art. 30 bis 32 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Bedingungen und Garantien stellt somit eine Umsetzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit, des Grundsatzes einer guten Verwaltung und des Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf dar, die sowohl für beschränkende Maßnahmen in Form von Einzelfallentscheidungen als auch in Form von Rechtsakten mit allgemeiner Geltung gelten. In diesem Zusammenhang und da, wie sich aus Rn. 62 des vorliegenden Urteils ergibt, Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 dieser Richtlinie es den Mitgliedstaaten gestatten, aus Gründen der öffentlichen Gesundheit die Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung zu erlassen, kann der Umstand, dass die genannten Art. 30 bis 32 Begriffe und Ausdrücke enthalten, die auf in Form einer Einzelfallentscheidung ergangene beschränkende Maßnahmen hindeuten, weder den Anwendungsbereich von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 dieser Richtlinie in Frage stellen noch bedeuten, dass sie nicht auf beschränkende Maßnahmen anwendbar sind, die in Form eines Rechtsakts mit allgemeiner Geltung getroffen werden. 71 Unter diesen Umständen ist zunächst festzustellen, dass nach Art. 30 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 jeder Rechtsakt mit allgemeiner Geltung, mit dem die Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränkende Maßnahmen erlassen werden, der Öffentlichkeit im Rahmen einer amtlichen Veröffentlichung des ihn erlassenden Mitgliedstaats und über eine ausreichende amtliche Verlautbarung in den Medien in der Weise mitzuteilen ist, dass der Inhalt und die Wirkungen dieses Rechtsakts ebenso verstanden werden können wie die genauen und vollständigen Gründe der öffentlichen Gesundheit, auf die dieser Rechtsakt gestützt wird, und die Rechtsbehelfe und Fristen für die Anfechtung des Rechtsakts konkret genannt werden. 72 Sodann muss der Rechtsakt mit allgemeiner Geltung, damit die in Art. 31 dieser Richtlinie genannten Verfahrensgarantien eingehalten werden, im Rahmen eines gerichtlichen und gegebenenfalls verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfs angefochten werden können. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das nationale Recht in dem Fall, dass es Personen, die sich in einer durch diesen Rechtsakt allgemein definierten Situation befinden, nicht erlaubt, die Gültigkeit eines solchen Rechtsakts unmittelbar im Rahmen eines eigenständigen Rechtsbehelfs zu bestreiten, zumindest – wie dies vorliegend der Fall zu sein scheint – die Möglichkeit vorsehen muss, diese Gültigkeit im Rahmen eines Rechtsbehelfs, dessen Ausgang davon abhängt, inzident zu bestreiten. 73 Des Weiteren ergibt sich aus Art. 30 Abs. 3 der Richtlinie, dass die Öffentlichkeit entweder in dem Rechtsakt selbst oder durch leicht zugängliche kostenlose amtliche Veröffentlichungen oder Websites darüber informiert werden muss, bei welchem Gericht oder bei welcher Verwaltungsbehörde der Rechtsakt mit allgemeiner Geltung gegebenenfalls angefochten werden kann, sowie über die jeweiligen Rechtsbehelfsfristen. 74 Zweitens müssen die Mitgliedstaaten, wie es im 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 heißt, diese Richtlinie unter Beachtung des in der Charta verankerten Diskriminierungsverbots umsetzen. Was das Ausgangsverfahren betrifft, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor und wurde von keiner Partei im Verfahren vor dem Gerichtshof geltend gemacht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden beschränkenden Maßnahmen unter Missachtung dieses Grundsatzes erlassen oder angewandt worden wären. 75 Sechstens und letztens sieht Art. 31 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38 vor, dass die Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat einen Rechtsbehelf bei einem Gericht und gegebenenfalls bei einer Behörde einlegen können müssen, um u. a. die Verhältnismäßigkeit einer Entscheidung bestreiten zu können, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit gegen sie ergangen ist. 76 Aus diesen Bestimmungen ergibt sich somit, dass jede die Freizügigkeit beschränkende Maßnahme, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit auf der Grundlage von Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erlassen wird, verhältnismäßig sein muss. Dieses Erfordernis ergibt sich auch aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, zu beachten, wenn sie einen Unionsrechtsakt wie die Richtlinie 2004/38 umsetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 31). 77 Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit gebietet konkret die Prüfung, ob Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erstens zur Erreichung der verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung, im vorliegenden Fall des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, geeignet sind, zweitens in dem Sinne auf das absolut Erforderliche beschränkt sind, dass diese Zielsetzung vernünftigerweise nicht ebenso wirksam mit anderen Mitteln, die die den Betroffenen garantierten Rechte und Freiheiten weniger beeinträchtigen, erreicht werden kann, und drittens nicht außer Verhältnis zu dieser Zielsetzung stehen, was insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung dieser Zielsetzung und der Schwere des Eingriffs in diese Rechte und Freiheiten impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 78 Bei der Beurteilung der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Bereich der öffentlichen Gesundheit durch einen Mitgliedstaat ist zu berücksichtigen, dass unter den vom AEU-Vertrag geschützten Gütern und Interessen die Gesundheit und das Leben von Menschen den höchsten Rang einnehmen und dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Da dieses Niveau sich von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten ein entsprechender Beurteilungsspielraum zuzuerkennen. Folglich bedeutet der Umstand, dass ein Mitgliedstaat Bestimmungen erlässt, die weniger streng sind als die in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen, nicht, dass Letztere unverhältnismäßig wären (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Oktober 2018, Roche Lietuva, C‑413/17, EU:C:2018:865, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. März 2021, Ordine Nazionale dei Biologi u. a., C‑96/20, EU:C:2021:191, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 79 Ferner ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Mitgliedstaaten, wenn das Vorliegen und der Umfang von Gefahren für die menschliche Gesundheit ungewiss sind, nach dem Vorsorgeprinzip die Möglichkeit haben müssen, Schutzmaßnahmen zu treffen, ohne abwarten zu müssen, bis das Vorliegen dieser Gefahren umfassend belegt ist. Insbesondere müssen die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen treffen können, die eine Gefahr für die Gesundheit weitest möglich verringern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 1. März 2018, CMVRO, C‑297/16, EU:C:2018:141, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 19. November 2020, B S und C A [Vermarktung von Cannabidiol (CBD)], C‑663/18, EU:C:2020:938, Rn. 90). 80 Außerdem müssen die Mitgliedstaaten, wenn sie beschränkende Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit erlassen, in der Lage sein, geeignete Beweise beizubringen, darzulegen, dass sie tatsächlich eine Untersuchung zur Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der fraglichen Maßnahmen durchgeführt haben, und alle sonstigen Nachweise zu erbringen, die ihre Argumentation stützen können. Eine solche Beweislast darf allerdings nicht so weit gehen, dass die zuständigen nationalen Behörden positiv belegen müssten, dass sich das legitime Ziel mit keiner anderen vorstellbaren Maßnahme unter den gleichen Bedingungen erreichen ließe (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Dezember 2015, Scotch Whisky Association u. a., C‑333/14, EU:C:2015:845, Rn. 54 und 55 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 81 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits und die Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, zu prüfen, ob die in der ersten Vorlagefrage genannten beschränkenden Maßnahmen dem in Rn. 77 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernis der Verhältnismäßigkeit genügten. Der Gerichtshof, der dazu aufgerufen ist, dem nationalen Gericht zweckdienliche Antworten zu geben, ist jedoch befugt, dem vorlegenden Gericht auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der vor ihm abgegebenen schriftlichen Erklärungen Hinweise zu geben, die diesem Gericht eine Entscheidung ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 72 und 73 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 82 Was erstens die Eignung solcher Maßnahmen zur Erreichung des Ziels des Schutzes der öffentlichen Gesundheit im Kontext einer von der WHO als Pandemie eingestuften Krankheit betrifft, wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob – in Anbetracht der zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit, d. h. im Juli 2020, allgemein anerkannten wissenschaftlichen Daten zum Covid‑19-Virus, der Entwicklung der Ansteckungen und der durch dieses Virus verursachten Todesfälle sowie unter Berücksichtigung des Grads der Unsicherheit, die insoweit herrschen konnte – der Erlass dieser Maßnahmen und die Kriterien für ihre Durchführung angesichts der Überlastung oder der Gefahr einer Überlastung des nationalen Gesundheitssystems sowie der Sommerperiode, die durch eine Zunahme der Freizeit- und Urlaubsreisen, die einen Anstieg der Ansteckungen befördern können, gekennzeichnet ist, geeignet waren, die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung des betreffenden Mitgliedstaats zu begrenzen oder sogar einzudämmen, wie dies sowohl die wissenschaftliche Gemeinschaft als auch die Unionsorgane und die WHO anzuerkennen schienen. 83 Das vorlegende Gericht wird auch zu berücksichtigen haben, dass sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden beschränkenden Maßnahmen in den Rahmen entsprechender Maßnahmen der anderen Mitgliedstaaten einfügten, die von der Union im Rahmen ihrer unterstützenden Zuständigkeiten nach Art. 168 AEUV im Bereich der Beobachtung, Meldung und Bekämpfung schwerer grenzüberschreitender Bedrohungen und schwerer Krankheiten begleitet und koordiniert wurden. 84 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass beschränkende Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nur dann als geeignet angesehen werden können, die Erreichung des verfolgten Ziels der öffentlichen Gesundheit zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, es zu erreichen, und wenn sie in kohärenter und systematischer Weise durchgeführt werden (Urteil vom 7. September 2022, Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung). 85 Hierzu ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 103 bis 105 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht zum einen festzustellen, dass die beschränkenden Maßnahmen, auf die sich die erste Vorlagefrage bezieht, dem Anliegen entsprochen zu haben scheinen, dieses Ziel zu erreichen, da sie Teil einer umfassenderen Strategie zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid‑19 in der Bevölkerung des betreffenden Mitgliedstaats waren, die auch andere Maßnahmen umfasste, nämlich beispielsweise – wie aus der Vorlageentscheidung und den schriftlichen Erklärungen der belgischen Regierung hervorgeht – Maßnahmen zur Isolierung infizierter Personen und zur Rückverfolgung ihrer Kontakte, Maßnahmen zur Begrenzung von Reisen innerhalb des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats sowie die Schließung von Veranstaltungsorten und Freizeiteinrichtungen sowie bestimmter Geschäfte. 86 Zum anderen scheinen die genannten beschränkenden Maßnahmen in kohärenter und systematischer Weise durchgeführt worden zu sein, da unstreitig ist, dass alle nicht wesentlichen Reisen zwischen Belgien und jedem anderen Mitgliedstaat, der nach für diese Staaten unterschiedslos geltenden Kriterien als Hochrisikogebiet eingestuft worden war, grundsätzlich verboten waren und jeder Reisende, der von einem solchen Mitgliedstaat aus nach Belgien einreiste, verpflichtet war, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten. 87 Was zweitens die Erforderlichkeit beschränkender Maßnahmen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden im Hinblick auf das verfolgte Ziel der öffentlichen Gesundheit betrifft, wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob diese Maßnahmen auf das absolut Erforderliche beschränkt wurden und ob es nicht Mittel gab, die die Freizügigkeit weniger beeinträchtigt hätten, aber ebenso wirksam gewesen wären, um dieses Ziel zu erreichen. 88 Insoweit ist zur Frage der Beschränkung dieser Maßnahmen auf das absolut Erforderliche festzustellen, dass die Maßnahme des Verbots der Ausreise nicht sämtliche Reisen der betroffenen Personen betraf, sondern nur nicht wesentliche Reisen dieser Personen, und zwar nur mit Ziel in Mitgliedstaaten, die als Hochrisikogebiete angesehen wurden, wobei die Liste dieser Länder, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, anhand der jeweils letzten damals verfügbaren Daten häufig aktualisiert wurde. Somit konnte jede Person, die sich in diesem Hoheitsgebiet aufhielt, noch frei zum einen nicht wesentliche Reisen in Mitgliedstaaten, die nicht als Hochrisikogebiete eingestuft waren, und zum anderen unbedingt notwendige Reisen im Sinne der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils genannten Liste in die als Hochrisikogebiete eingestuften Mitgliedstaaten unternehmen. Die belgische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass auch andere Reisen, einschließlich grenzüberschreitender Reisen, die in dieser Liste nicht aufgeführt seien, wie Fahrten zum Einkaufen von Lebensmitteln, als unbedingt notwendige Reisen angesehen worden seien, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist. 89 Außerdem scheinen die Screening- und Quarantänemaßnahmen, die jedem Reisenden auferlegt wurden, der aus einem als Hochrisikogebiet eingestuften Mitgliedstaat in das nationale Hoheitsgebiet einreiste, auf das absolut Erforderliche beschränkt gewesen zu sein, da sie präventiv und vorübergehend Reisende aus Mitgliedstaaten betrafen, in denen diese einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt waren, um infizierte Personen bei ihrer Einreise in das nationale Hoheitsgebiet zu erkennen und einer Ausbreitung des Virus durch potenziell ansteckende Personen vorzubeugen. 90 Was ferner die Frage betrifft, ob es weniger einschneidende, aber ebenso wirksame Maßnahmen gegeben hätte, ist auf den Beurteilungsspielraum hinzuweisen, über den die Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der öffentlichen Gesundheit aufgrund des in Rn. 79 des vorliegenden Urteils angeführten Vorsorgeprinzips verfügen. Unter diesen Umständen wird sich das vorlegende Gericht auf die Prüfung zu beschränken haben, ob es offensichtlich ist, dass unter Berücksichtigung insbesondere der Informationen, die zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit über das Covid‑19-Virus vorlagen, Maßnahmen wie die Verpflichtung zur räumlichen Distanzierung und/oder zum Tragen von Masken sowie die Verpflichtung eines jeden, regelmäßig Screeningtests vorzunehmen, genügt hätten, um das gleiche Ergebnis wie die beschränkenden Maßnahmen zu gewährleisten, auf die sich die erste Vorlagefrage bezieht (vgl. entsprechend Urteil vom 1. März 2018, CMVRO, C‑297/16, EU:C:2018:141, Rn. 70). 91 Insoweit wird das vorlegende Gericht zu berücksichtigen haben: die epidemiologische Lage in Belgien zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit, den Umfang der Überbeanspruchung oder Überlastung des belgischen Gesundheitssystems, die Gefahr eines unkontrollierbaren oder drastischen Anstiegs von Ansteckungen ohne die in der ersten Vorlagefrage genannten beschränkenden Maßnahmen, den Umstand, dass bestimmte Personen, die Träger der Krankheit waren, asymptomatisch sein, sich in der Inkubationszeit befinden oder sich bei Screeningtests als negativ erweisen konnten, die Notwendigkeit, möglichst viele Personen einzubeziehen, um die Ausbreitung der Krankheit in der Bevölkerung einzudämmen, und infizierte Personen zu isolieren, sowie die kombinierten Wirkungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden beschränkenden Maßnahmen und der in der vorstehenden Randnummer genannten Maßnahmen im Hinblick auf den Schutz der Bevölkerung. 92 Was drittens die Frage der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne von beschränkenden Maßnahmen wie den in der ersten Vorlagefrage genannten betrifft, wird das vorlegende Gericht zu prüfen haben, ob diese Maßnahmen – in Anbetracht der Auswirkungen, die sie auf die Freizügigkeit der Unionsbürger und von deren Familienangehörigen, auf deren durch Art. 7 der Charta garantiertes Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf die in Art. 16 der Charta verankerte unternehmerische Freiheit von juristischen Personen wie Nordic Info haben konnten – nicht außer Verhältnis zum verfolgten Ziel der öffentlichen Gesundheit standen. 93 Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung, wie das in Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 genannte Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, durch eine nationale Maßnahme nicht verfolgt werden darf, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie mit den von dieser Maßnahme betroffenen Grundrechten und Grundsätzen, wie sie in den Verträgen und der Charta verankert sind, in Einklang gebracht werden muss, und zwar, indem eine ausgewogene Gewichtung dieser dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung auf der einen und der fraglichen Rechte und Grundsätze auf der anderen Seite vorgenommen wird, um sicherzustellen, dass die durch diese Maßnahme verursachten Unannehmlichkeiten nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielsetzungen stehen. Daher ist die Möglichkeit, eine Einschränkung der durch die Art. 7 und 16 der Charta garantierten Grundrechte und des in Art. 3 Abs. 2 EUV, in den Art. 20 und 21 AEUV, wie sie durch die Richtlinie 2004/38 umgesetzt werden, sowie in Art. 45 der Charta verankerten Grundsatzes der Freizügigkeit zu rechtfertigen, in der Weise zu beurteilen, dass die Schwere des mit einer solchen Einschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die mit ihr verfolgte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 26. April 2022, Polen/Parlament und Rat, C‑401/19, EU:C:2022:297, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). 94 Das vorlegende Gericht wird im Ausgangsverfahren in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit des Verbots, aus dem belgischen Hoheitsgebiet auszureisen, um nicht wesentliche Reisen zu unternehmen, zu berücksichtigen haben, dass die so bewirkte Beschränkung der Freizügigkeit sowie des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nicht jegliche Ausreise aus diesem Hoheitsgebiet verhinderte, da sie auf nicht wesentliche Reisen – wie etwa, im vorliegenden Fall, Freizeit- bzw. Urlaubsreisen – beschränkt war, dass sie, wie aus der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Liste unbedingt notwendiger Reisen hervorgeht, Reisen, die aus zwingenden familiären Gründen gerechtfertigt waren, nicht verbot und dass die Ausreiseverbote aufgehoben wurden, sobald der betreffende Bestimmungsmitgliedstaat auf der Grundlage einer regelmäßigen Neubewertung seiner Lage nicht mehr als Hochrisikogebiet eingestuft wurde. 95 Des Weiteren ist in Bezug auf juristische Personen wie Nordic Info, deren unternehmerische Freiheit, insbesondere ihre Freiheit, Freizeit- und Urlaubsreisen zwischen Belgien und als Hochrisikogebiete eingestuften Mitgliedstaaten anzubieten, eingeschränkt wurde, vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht festzustellen, dass eine Maßnahme, die jede Ausreise aus dem belgischen Hoheitsgebiet, um nicht wesentliche Reisen zu unternehmen, verbietet, im Hinblick auf die verfolgte Zielsetzung des Schutzes der öffentlichen Gesundheit verhältnismäßig zu sein scheint, da es angesichts der ernsten gesundheitlichen Lage, die sich aus der Covid‑19-Pandemie ergab, nicht unvernünftig erschien, nicht wesentliche Reisen in solche Mitgliedstaaten vorübergehend zu verbieten, bis sich die gesundheitliche Lage in diesen Mitgliedstaaten verbessert hatte, so dass die Ausreise aus dem nationalen Hoheitsgebiet und gegebenenfalls die Rückkehr erkrankter Personen in dieses Hoheitsgebiet und damit die unkontrollierte Ausbreitung dieser Pandemie zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten sowie innerhalb dieses Hoheitsgebiets verhindert wurden. 96 Zur Verhältnismäßigkeit der obligatorischen Screening- und Quarantänemaßnahmen für Reisende, die aus einem als rote Zone eingestuften Mitgliedstaat nach Belgien einreisten, ist zum einen festzustellen, dass Screeningmaßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aufgrund der Schnelligkeit der Tests nur in begrenztem Maße in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens dieser Reisenden sowie das Recht auf Freizügigkeit eingreifen konnten, während sie zur Identifizierung von Personen, die Träger des Covid‑19-Virus waren, und damit zur Erreichung des Ziels beitrugen, die Ausbreitung dieses Virus zu begrenzen und einzudämmen. 97 Zum anderen beschränkte eine obligatorische Quarantäne, die jedem Reisenden auferlegt wurde, der aus einem als Hochrisikogebiet eingestuften Mitgliedstaat in das belgische Hoheitsgebiet einreiste, unabhängig davon, ob er mit dem Virus infiziert war oder nicht, zwar das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie die Bewegungsfreiheit, über die der Reisende infolge der Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit grundsätzlich verfügt, drastisch ein. Jedoch scheint eine solche Quarantäne, vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht, auch im Hinblick auf das Vorsorgeprinzip verhältnismäßig zu sein, da zum einen eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit bestand, dass ein solcher Reisender Träger dieses Virus war, und, insbesondere wenn er sich in der Inkubationsphase befand oder asymptomatisch war, ohne eine solche Quarantäne andere Personen außerhalb seines Haushalts anstecken würde, und zum anderen die Screeningtests sich als falsch negativ erweisen konnten. 98 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 27 und 29 in Verbindung mit den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung mit allgemeiner Geltung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie zum einen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit verbietet, von diesem Mitgliedstaat aus nicht wesentliche Reisen in andere Mitgliedstaaten zu unternehmen, die von diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage der restriktiven Gesundheitsmaßnahmen oder der epidemiologischen Lage in diesen anderen Mitgliedstaaten als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, und zum anderen Unionsbürgern, die nicht Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind, die Verpflichtung auferlegt, sich bei der Einreise aus einem dieser anderen Mitgliedstaaten in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten, sofern diese nationale Regelung alle in den Art. 30 bis 32 dieser Richtlinie genannten Bedingungen und Garantien, die in der Charta verankerten Grundrechte und Grundsätze, insbesondere das Diskriminierungsverbot, sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet. Zur zweiten Frage 99 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. So gesehen kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat. Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus allem, was das einzelstaatliche Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 20. April 2023, BVAEB [Anpassung der Ruhebezüge], C‑52/22, EU:C:2023:309, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 100 Aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts geht hervor, dass die zweite Frage im Zusammenhang mit zwei von Nordic Info vorgebrachten Argumenten gestellt wird, wonach die Kontrolle der Beschränkungen des Ein- und Ausreiserechts, die die belgische Regelung Personen auferlegte, die nicht wesentliche Reisen aus oder in andere, als Hochrisikogebiete eingestufte Staaten des Schengen-Raums unternahmen, zum einen einer Grenzübertrittskontrolle gleichkam und unter Verstoß gegen Art. 23 des Schengener Grenzkodex aus Gründen der öffentlichen Gesundheit durchgeführt wurde und zum anderen auf die Wiedereinführung einer Kontrolle an den Binnengrenzen im Schengen-Raum unter Verstoß gegen Art. 25 des Schengener Grenzkodex hinauslief. 101 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 22, 23 und 25 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie unter der Kontrolle der zuständigen Behörden und unter Androhung von Sanktionen das Überschreiten der Binnengrenzen dieses Mitgliedstaats, um nicht wesentliche Reisen aus oder in als Hochrisikogebiete eingestufte Staaten des Schengen-Raums zu unternehmen, verbietet. 102 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 67 Abs. 2 AEUV, der zu Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des AEUV-Vertrags gehört, die Union sicherstellt, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Nach Art. 77 Abs. 1 Buchst. a AEUV entwickelt die Union eine Politik, mit der sichergestellt werden soll, dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen ist, wie aus dem zweiten Erwägungsgrund des Schengener Grenzkodex hervorgeht, Teil des in Art. 26 AEUV genannten Ziels der Union, einen Raum ohne Binnengrenzen aufzubauen, in dem der freie Personenverkehr durch auf der Grundlage von Art. 77 Abs. 2 Buchst. e AEUV erlassene Rechtsakte der Union, wie den Schengener Grenzkodex, gewährleistet wird (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 48 und 49, sowie vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 30 und 31). 103 In diesem Zusammenhang wird in Art. 22 des Schengener Grenzkodex auf den Grundsatz hingewiesen, dass die Binnengrenzen im Sinne von Art. 2 Nr. 1 des Schengener Grenzkodex unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen. 104 Art. 23 („Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebiets“) Buchst. a des Schengener Grenzkodex bestimmt wiederum, dass das Ausbleiben der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nicht die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts berührt, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Somit verbietet diese Bestimmung in Verbindung mit Art. 2 Nr. 11 und Art. 22 des Schengener Grenzkodex zwar den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, ihre polizeilichen Befugnisse zur Durchführung von Kontrollen an den Grenzübergangsstellen im Sinne von Art. 2 Nr. 8 des Schengener Grenzkodex auszuüben, um zu überprüfen, ob die betreffenden Personen mit ihrem Fortbewegungsmittel und den von ihnen mitgeführten Sachen in das nationale Hoheitsgebiet einreisen oder aus diesem Hoheitsgebiet ausreisen dürfen, jedoch wahrt sie das Recht der Mitgliedstaaten, innerhalb des nationalen Hoheitsgebiets, einschließlich der Grenzgebiete, Kontrollen durchzuführen, die durch die Ausübung polizeilicher Befugnisse gerechtfertigt sind, sofern diese Ausübung nicht die gleiche Wirkung wie eine solche Überprüfung hat. 105 Des Weiteren ist festzustellen, dass Art. 25 des Schengener Grenzkodex die Möglichkeit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen der Union als Ausnahme von dem in Art. 22 des Schengener Grenzkodex festgelegten Grundsatz vorsieht, auf den in Rn. 103 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist. Auf der Grundlage dieses Art. 25 können die Mitgliedstaaten somit im Fall einer ernsthaften Bedrohung ihrer öffentlichen Ordnung oder ihrer inneren Sicherheit während bestimmter Höchstzeiträume vorübergehend Kontrollen an allen oder bestimmter Abschnitten ihrer Binnengrenzen, wie sie in Art. 2 Nr. 1 des Schengener Grenzkodex definiert sind, wiedereinführen, wobei diese Wiedereinführung nur als letztes Mittel erfolgen darf. In jedem Fall darf die Dauer einer solchen vorübergehenden Wiedereinführung nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung dieser Bedrohung unbedingt erforderlich ist, und muss in einem angemessenen Verhältnis zu dieser Bedrohung stehen, wobei die Art der zu diesem Zweck vorzunehmenden Bewertung und das zu befolgende Verfahren insbesondere in den Art. 26 bis 28 des Schengener Grenzkodex detailliert geregelt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2022, Landespolizeidirektion Steiermark [Höchstdauer von Kontrollen an den Binnengrenzen], C‑368/20 und C‑369/20, EU:C:2022:298, Rn. 54, 63, 67 und 68). 106 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten sowie aus den Angaben der belgischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung hervor, dass die nationalen Behörden zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit Kontrollen durchgeführt haben, um die Einhaltung des durch Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses aufgestellten Verbots des Überschreitens der Binnengrenzen zu überprüfen. 107 Außerdem hat die belgische Regierung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs ausgeführt, dass die Kontrollen der Ein- und Ausreiseverbote für das belgische Hoheitsgebiet zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit wie folgt durchgeführt worden seien: Auf Flughäfen und Bahnhöfen seien Reisende, die Flüge bzw. Verbindungen zwischen Belgien und als Hochrisikogebiete eingestuften Staaten des Schengen-Raums genutzt hätten, stichprobenartig kontrolliert worden, während auf den Straßen zu den normalen Arbeitszeiten stichprobenartige Grenzkontrollen von mobilen Teams durchgeführt worden seien, wobei der Personenbeförderung in Bussen besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden sei. 108 Die Europäische Kommission hat ihrerseits im Verfahren vor dem Gerichtshof angegeben, am 4. Juni 2020 eine Mitteilung des Königreichs Belgien erhalten zu haben, aus der hervorgehe, dass dieser Mitgliedstaat während des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums die Durchführung von Kontrollen an den Binnengrenzen eingestellt habe. 109 Unter diesen Umständen wird das vorlegende Gericht zum einen zu prüfen haben, ob, wenn die Kontrollen des in Rn. 33 des vorliegenden Urteils genannten Verbots des Überschreitens der Grenzen innerhalb des belgischen Hoheitsgebiets einschließlich Grenzgebieten durchgeführt wurden, die Ausübung der polizeilichen Befugnisse, aufgrund deren diese Kontrollen durchgeführt wurden, nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen im Sinne von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex hatte, und zum anderen, ob das Königreich Belgien, als diese Kontrollen an den Binnengrenzen durchgeführt wurden, sämtliche in den Art. 25 bis 28 des Schengener Grenzkodex genannten Voraussetzungen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen beachtet hat. 110 Insoweit kann der Gerichtshof dem nationalen Gericht auf dessen Vorabentscheidungsersuchen hin sachdienliche Hinweise für seine Entscheidung geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Victorinox, C‑179/21, EU:C:2022:353, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). 111 Was erstens Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Einhaltung des Unionsrechts, insbesondere der Art. 22 und 23 des Schengener Grenzkodex, durch die Schaffung und Wahrung eines Rechtsrahmens zu sichern ist, der gewährleistet, dass die praktische Ausübung der polizeilichen Befugnisse im Sinne des genannten Art. 23 Buchst. a nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann (vgl. entsprechend Urteile vom 19. Juli 2012, Adil, C‑278/12 PPU, EU:C:2012:508, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 37). 112 Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. i bis iv des Schengener Grenzkodex liefert aufgrund des Wortes „insbesondere“ am Anfang dieses Satzes Anhaltspunkte, die es ermöglichen, die Mitgliedstaaten bei der Durchführung ihrer polizeilichen Befugnisse und des in der vorstehenden Randnummer genannten Regelungsrahmens so zu leiten, dass die Ausübung dieser Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat. 113 Was erstens den Anhaltspunkt in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. i des Schengener Grenzkodex betrifft, wonach die polizeilichen Maßnahmen keine „Grenzkontrollen zum Ziel“ haben dürfen, hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass sich aus Art. 2 Nrn. 10 bis 12 des Schengener Grenzkodex ergibt, dass dieses Ziel zum einen darauf gerichtet ist, sich zu vergewissern, dass die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreisen oder aus ihm ausreisen dürfen, und zum anderen darauf, diese Personen daran zu hindern, sich den Grenzübertrittskontrollen zu entziehen. Es handelt sich um Kontrollen, die systematisch oder stichprobenartig durchgeführt werden dürfen (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Dezember 2018, Touring Tours und Travel und Sociedad de Transportes, C‑412/17 und C‑474/17, EU:C:2018:1005, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 114 Im vorliegenden Fall scheinen sich die Ziele, die mit den Kontrollen verfolgt wurden, die zur Gewährleistung der Einhaltung von Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses durchgeführt wurden, in bestimmten wesentlichen Punkten von denen zu unterscheiden, die mit Grenzübertrittskontrollen verfolgt werden. Wie in Rn. 106 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bestand der Zweck dieser Kontrollen zwar darin, zu überprüften, ob Personen, die die Grenzen zu überschreiten beabsichtigten oder überschritten hatten, das belgische Hoheitsgebiet verlassen oder in dieses einreisen durften. Nach dem Wortlaut des geänderten Ministeriellen Erlasses bestand der Hauptzweck dieser Kontrollen jedoch darin, dringlich die Ausbreitung von Covid‑19 in diesem Gebiet zu begrenzen und – in Anbetracht der im Übrigen für alle aus einem als rote Zone eingestuften Staat des Schengen-Raums in dieses Gebiet einreisenden Personen vorgesehenen Verpflichtung, sich Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten – die Identifizierung und Überwachung dieser Personen sicherzustellen. 115 In Anbetracht dieses Hauptzwecks kann nicht davon ausgegangen werden, dass Kontrollen, die durchgeführt wurden, um die Einhaltung von Art. 18 des geänderten Ministeriellen Erlasses sicherzustellen, eine nach Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex verbotene gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 46 und 51). 116 Außerdem wurden die Verkehrskontrollen im vorliegenden Fall zwar offenbar hauptsächlich in Grenzgebieten durchgeführt, doch genügt dieser Umstand allein nicht für die Feststellung, dass die Ausübung der polizeilichen Befugnisse die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hatte. In Art. 23 Buchst. a Satz 1 des Schengener Grenzkodex wird nämlich ausdrücklich auf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts auch in Grenzgebieten Bezug genommen (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). 117 Was zweitens den Anhaltspunkt in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. ii des Schengener Grenzkodex betrifft, wonach die polizeilichen Maßnahmen „auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen“ müssen, ist darauf hinzuweisen, dass in dieser Bestimmung zwar nur von „Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit“ die Rede ist, Art. 23 Buchst. a dieses Kodex jedoch aufgrund des Wortes „insbesondere“ am Anfang seines zweiten Satzes weder eine abschließende Auflistung der Voraussetzungen, die polizeiliche Maßnahmen erfüllen müssen, um nicht als Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen angesehen zu werden, noch eine abschließende Auflistung der Ziele, die mit diesen polizeilichen Maßnahmen verfolgt werden dürfen, oder des Gegenstands, auf den sie sich beziehen können, enthält (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2017, A, C‑9/16, EU:C:2017:483, Rn. 48). Dies muss umso mehr gelten, als die polizeilichen Befugnisse gemäß Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex „nach Maßgabe des nationalen Rechts“ definiert sind und folglich andere Bereiche als den der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Satz 2 Ziff. ii dieser Bestimmung erfassen können. 118 Daher kann der Umstand, dass Gefahren für die öffentliche Gesundheit in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. ii des Schengener Grenzkodex nicht ausdrücklich erwähnt sind, für sich genommen nicht bedeuten, dass, während Fragen der öffentlichen Gesundheit nach Maßgabe des nationalen Rechts in die polizeilichen Befugnisse fallen können und die aufgrund dieser Befugnisse ergriffenen Maßnahmen auf allgemeine polizeiliche Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche oder erwiesene Gefahren für die öffentliche Gesundheit, wie eine Pandemie oder ein Pandemierisiko, gestützt werden können, sich ein Mitgliedstaat nicht nach Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex auf den Bereich der öffentlichen Gesundheit berufen kann. 119 Zu dem Umstand, dass die polizeilichen Maßnahmen nach Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. ii des Schengener Grenzkodex auf „allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen“ in dem betreffenden Bereich, d. h. im vorliegenden Fall einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit, beruhen müssen, ist darauf hinzuweisen, dass dieses Erfordernis nicht erfüllt ist, wenn die Kontrollen auf der Grundlage eines Verbots allgemeinen Charakters angeordnet werden, unabhängig vom Verhalten der betreffenden Personen und von Umständen, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung dieses Bereichs ergibt (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Dezember 2018, Touring Tours und Travel und Sociedad de Transportes, C‑412/17 und C‑474/17, EU:C:2018:1005, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 120 Zwar geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die betreffenden Kontrollen zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit auf der Grundlage eines Verbots mit einem solchen allgemeinen Charakter und unabhängig vom Verhalten der Reisenden durchgeführt wurden, doch ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung sich in den Kontext einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Gesundheit einfügte, nämlich einer Pandemie, die durch ein Virus gekennzeichnet war, das in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zum Tod führen und das nationale Gesundheitssystem überbeanspruchen oder gar überlasten konnte. Außerdem ist zum einen der Hauptzweck zu berücksichtigen, der sowohl mit diesem Verbot als auch mit den damit einhergehenden Kontrollmaßnahmen verfolgt wurde, nämlich die Ausbreitung oder die Gefahr einer Ausbreitung des Virus in einer Weise zu begrenzen oder einzudämmen, dass so viele Menschenleben wie möglich bewahrt blieben, und zum anderen die extreme Schwierigkeit oder gar die Unmöglichkeit, im Voraus zu bestimmen, welche Personen, die verschiedene Fortbewegungsmittel benutzen würden, aus Mitgliedstaaten kämen, die als Hochrisikogebiete eingestuft waren, oder sich in solche Mitgliedstaaten begeben würden. Unter diesen Umständen genügt es für die Zwecke von Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. ii des Schengener Grenzkodex, dass die Kontrollen im Hinblick auf Umstände, die objektiv die Gefahr einer schwerwiegenden und ernsthaften Beeinträchtigung der öffentlichen Gesundheit begründeten, und auf der Grundlage der allgemeinen Kenntnisse beschlossen und durchgeführt wurden, die die Behörden über die Ein- und Ausreisegebiete des nationalen Hoheitsgebiets hatten, durch die eine große Zahl der Reisenden, die von dem genannten Verbot betroffen waren, wahrscheinlich reisen würden. 121 Was drittens die Anhaltspunkte in Art. 23 Buchst. a Satz 2 Ziff. iii und iv des Schengener Grenzkodex betrifft, wonach polizeiliche Maßnahmen „in einer Weise konzipiert [sein] und durchgeführt werden [müssen], die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen [der Union] unterscheidet“ und „auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden [müssen]“, geht aus den Erläuterungen der belgischen Regierung in Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofs hervor, dass alle im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kontrollen nach dem Zufallsprinzip und somit „auf der Grundlage von Stichproben“ durchgeführt wurden, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist. Das vorlegende Gericht wird jedoch außerdem zu prüfen haben, ob diese Kontrollen in einer Weise konzipiert waren und durchgeführt wurden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen der Union unterscheidet, was eine detaillierte Prüfung der in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehenen Konkretisierungen und Einschränkungen betreffend die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität dieser Kontrollen bedeutet (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Dezember 2018, Touring Tours und Travel und Sociedad de Transportes, C‑412/17 und C‑474/17, EU:C:2018:1005, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 122 Obgleich dem Gerichtshof insoweit keine Informationen vorliegen, ist zumindest festzustellen, dass im Kontext einer Pandemie wie der in Rn. 120 des vorliegenden Urteils beschriebenen und unter Berücksichtigung des bereits in der vorgenannten Randnummer angeführten Umstands, dass es äußerst schwierig oder gar unmöglich sein kann, im Voraus zu bestimmen, welche Personen, die verschiedene Fortbewegungsmittel benutzen, aus Mitgliedstaaten kommen würden, die als Hochrisikogebiete eingestuft sind, oder sich in solche Mitgliedstaaten begeben würden, dem betroffenen Mitgliedstaat bei der Gestaltung und Durchführung der Kontrollen ein gewisser, auch durch das Vorsorgeprinzip gerechtfertigter Beurteilungsspielraum in Bezug auf die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität dieser Kontrollen eingeräumt werden muss. Dieser Beurteilungsspielraum darf jedoch nicht so weit gehen, dass die so konzipierten und durchgeführten Kontrollen nicht „eindeutig“ von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen der Union unterschieden werden können und einen solchen systematischen Charakter aufweisen. 123 Was zweitens die Frage der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen im Sinne der Art. 25 ff. des Schengener Grenzkodex betrifft, ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex zwar, wie in Rn. 117 des vorliegenden Urteils ausgeführt, insoweit offen ist, als er das Recht der Mitgliedstaaten wahrt, polizeiliche Befugnisse auch im Bereich der öffentlichen Gesundheit auszuüben, Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex sich aber ausdrücklich auf die Möglichkeit der Mitgliedstaaten bezieht, im Fall einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit vorübergehend wieder Grenzkontrollen einzuführen. 124 Da die durch die letztgenannte Bestimmung eingeführte Ausnahme von Art. 22 des Schengener Grenzkodex eng auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2022, Landespolizeidirektion Steiermark [Höchstdauer von Kontrollen an den Binnengrenzen], C‑368/20 und C‑369/20, EU:C:2022:298, Rn. 64 und 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), kann eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit als solche die Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nicht rechtfertigen. 125 Allerdings ist, wie der Generalanwalt in Nr. 154 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, davon auszugehen, dass ein Mitgliedstaat, wenn eine Gesundheitsgefahr eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und/oder der inneren Sicherheit darstellt, zur Bewältigung dieser ernsthaften Bedrohung vorübergehend wieder Kontrollen an seinen Binnengrenzen einführen darf, sofern die übrigen Voraussetzungen der Art. 25 ff. des Schengener Grenzkodex eingehalten werden. 126 Aus den Begriffen „öffentliche Ordnung“ und „innere Sicherheit“, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs konkretisiert worden sind, geht nämlich hervor, dass eine Gesundheitsgefahr in bestimmten Fällen eine ernsthafte Bedrohung für die öffentliche Ordnung und/oder die innere Sicherheit darstellen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2010, Josemans, C‑137/09, EU:C:2010:774, Rn. 65). So setzt zum einen der Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Zum anderen entspricht der Begriff „innere Sicherheit“ dem inneren Aspekt der öffentlichen Sicherheit eines Mitgliedstaats und umfasst insbesondere die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung und die Beeinträchtigung der militärischen Interessen oder unmittelbare Bedrohungen der Ruhe und der physischen Sicherheit der Bevölkerung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 65 und 66 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C‑331/16 und C‑366/16, EU:C:2018:296, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 127 Eine Pandemie von einem Ausmaß wie die Covid‑19-Pandemie, die durch eine übertragbare Krankheit gekennzeichnet ist, die in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zum Tod führen und die nationalen Gesundheitssysteme überbeanspruchen oder gar überlasten kann, kann ein grundlegendes Interesse der Gesellschaft berühren, nämlich das Interesse, das Leben der Bürger zu sichern und gleichzeitig das reibungslose Funktionieren des Gesundheitssystems und die angemessene Versorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, und berührt darüber hinaus sogar das Überleben eines Teils der Bevölkerung, insbesondere der am stärksten gefährdeten Personen. Unter diesen Umständen kann eine solche Situation als ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung und/oder der inneren Sicherheit im Sinne von Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex eingestuft werden. 128 Sollte das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall feststellen, dass die belgischen Behörden während des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zeitraums an den Binnengrenzen Überprüfungen oder Kontrollen vorgenommen haben, so wird es in Anbetracht dessen, dass diese Überprüfungen oder Kontrollen, wie in Rn. 127 des vorliegenden Urteils ausgeführt, darauf abzielten, eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit zu bewältigen, zu prüfen haben, ob die weiteren in den Art. 25 bis 28 des Schengener Grenzkodex genannten und in Rn. 105 dieses Urteils im Wesentlichen zusammengefassten Voraussetzungen erfüllt waren. 129 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 22, 23 und 25 des Schengener Grenzkodex dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie unter der Kontrolle der zuständigen Behörden und unter Androhung von Sanktionen das Überschreiten der Binnengrenzen dieses Mitgliedstaats, um nicht wesentliche Reisen aus oder in als Hochrisikogebiete eingestufte Staaten des Schengen-Raums zu unternehmen, verbietet, nicht entgegenstehen, sofern es sich bei diesen Kontrollmaßnahmen um die Ausübung polizeilicher Befugnisse, die nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben darf, im Sinne von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex handelt oder der Mitgliedstaat, falls es sich bei diesen Maßnahmen um Kontrollen an den Binnengrenzen handeln sollte, die in den Art. 25 bis 28 des Schengener Grenzkodex genannten Voraussetzungen für die vorübergehende Wiedereinführung solcher Kontrollen beachtet hat, wobei die von einer solchen Pandemie ausgehende Gefahr einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit im Sinne von Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex entspricht. Kosten 130 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Art. 27 und 29 in Verbindung mit den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung mit allgemeiner Geltung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie zum einen Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit verbietet, von diesem Mitgliedstaat aus nicht wesentliche Reisen in andere Mitgliedstaaten zu unternehmen, die von diesem Mitgliedstaat auf der Grundlage der restriktiven Gesundheitsmaßnahmen oder der epidemiologischen Lage in diesen anderen Mitgliedstaaten als Hochrisikogebiete eingestuft worden sind, und zum anderen Unionsbürgern, die nicht Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats sind, die Verpflichtung auferlegt, sich bei der Einreise aus einem dieser anderen Mitgliedstaaten in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Screeningtests zu unterziehen und eine Quarantäne einzuhalten, sofern diese nationale Regelung alle in den Art. 30 bis 32 dieser Richtlinie genannten Bedingungen und Garantien, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechte und Grundsätze, insbesondere das Diskriminierungsverbot, sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet. 2. Die Art. 22, 23 und 25 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) in der durch die Verordnung (EU) 2017/2225 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2017 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats, die aus Gründen der öffentlichen Gesundheit im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Covid‑19-Pandemie unter der Kontrolle der zuständigen Behörden und unter Androhung von Sanktionen das Überschreiten der Binnengrenzen dieses Mitgliedstaats, um nicht wesentliche Reisen aus oder in als Hochrisikogebiete eingestufte Staaten des Schengen-Raums zu unternehmen, verbietet, nicht entgegenstehen, sofern es sich bei diesen Kontrollmaßnahmen um die Ausübung polizeilicher Befugnisse, die nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben darf, im Sinne von Art. 23 Buchst. a des Schengener Grenzkodex handelt oder der Mitgliedstaat, falls es sich bei diesen Maßnahmen um Kontrollen an den Binnengrenzen handeln sollte, die in den Art. 25 bis 28 des Schengener Grenzkodex genannten Voraussetzungen für die vorübergehende Wiedereinführung solcher Kontrollen beachtet hat, wobei die von einer solchen Pandemie ausgehende Gefahr einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit im Sinne von Art. 25 Abs. 1 des Schengener Grenzkodex entspricht. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. Juni 2023.#Strafverfahren gegen K. B. und F. S.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal correctionnel de Villefranche-sur-Saône.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 3 und 4 – Verpflichtung der zuständigen Behörden, Verdächtige und beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren – Art. 8 Abs. 2 – Recht, einen Verstoß gegen diese Verpflichtung zu rügen – Nationale Regelung, die es dem Strafrichter des Hauptverfahrens verbietet, einen solchen Verstoß von Amts wegen zu prüfen – Art. 47 Abs. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-660/21.
62021CJ0660
ECLI:EU:C:2023:498
2023-06-22T00:00:00
Pikamäe, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62021CJ0660 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 22. Juni 2023 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 3 und 4 – Verpflichtung der zuständigen Behörden, Verdächtige und beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren – Art. 8 Abs. 2 – Recht, einen Verstoß gegen diese Verpflichtung zu rügen – Nationale Regelung, die es dem Strafrichter des Hauptverfahrens verbietet, einen solchen Verstoß von Amts wegen zu prüfen – Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ In der Rechtssache C‑660/21 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal correctionnel de Villefranche-sur-Saône (Strafgericht Villefranche-sur-Saône, Frankreich) mit Entscheidung vom 26. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Oktober 2021, in dem Strafverfahren Procureur de la République gegen K. B., F. S. erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos, E. Regan, M. Safjan (Berichterstatter) und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten D. Gratsias und der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter S. Rodin, F. Biltgen und N. Piçarra, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer, Generalanwalt: P. Pikamäe, Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. September 2022, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von K. B., vertreten durch C. Lallich und B. Thellier de Poncheville, Avocats, – von F. S., vertreten durch B. Thellier de Poncheville und S. Windey, Avocates, – der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A.‑L. Desjonquères als Bevollmächtigte, – von Irland, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, A. Joyce, M. Lane und J. Quaney als Bevollmächtigte im Beistand von R. Farrell, SC, D. Fennelly, BL, und P. Gallagher, SC, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und M. Wasmeier als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Januar 2023 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1), von Art. 7 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) und von Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen K. B. und F. S. wegen Kraftstoffdiebstahls. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2012/13 3 In den Erwägungsgründen 3, 4, 10, 14, 19 und 36 der Richtlinie 2012/13 heißt es: „(3) Die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen setzt gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege voraus. Das Maß der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindestnormen, die erforderlich sind, um die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern. (4) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen kann nur in einem Klima des Vertrauens vollständig zum Tragen kommen, in dem nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an Strafverfahren beteiligten Akteure Entscheidungen der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten als denen ihrer eigenen Justizbehörden gleichwertig ansehen; dies setzt nicht nur Vertrauen in die Angemessenheit der Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten voraus, sondern auch Vertrauen in die ordnungsgemäße Anwendung dieser Vorschriften. … (10) Gemeinsame Mindestvorschriften sollten das Vertrauen in die Strafrechtspflege aller Mitgliedstaaten stärken, was wiederum zu einer wirksameren Zusammenarbeit der Justizbehörden in einem Klima gegenseitigen Vertrauens führen sollte. Solche gemeinsamen Mindestvorschriften sollten im Bereich der Belehrung in Strafverfahren festgelegt werden. … (14) Die vorliegende Richtlinie … legt gemeinsame Mindestnormen fest, die bei der Belehrung über die Rechte und bei der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Diese Richtlinie baut auf den in der Charta verankerten Rechten auf, insbesondere auf den Artikeln 6, 47 und 48 der Charta, und legt dabei die Artikel 5 und 6 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde. … … (19) Die zuständigen Behörden sollten Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mündlich oder schriftlich gemäß dieser Richtlinie über die nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahrensrechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, belehren. Damit die betreffenden Rechte zweckmäßig und wirksam ausgeübt werden können, sollte diese Belehrung umgehend im Laufe des Verfahrens und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen. … (36) Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte sollten das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder eine etwaige Verweigerung der Belehrung oder Unterrichtung oder der Offenlegung von bestimmten Unterlagen gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach dem innerstaatlichen Recht anzufechten. Dieses Recht zieht nicht die Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach sich, ein besonderes Rechtsbehelfsverfahren, einen gesonderten Mechanismus oder ein Beschwerdeverfahren vorzusehen, in dessen Rahmen das Versäumnis oder die Verweigerung angefochten werden kann.“ 4 Art. 3 („Recht auf Rechtsbelehrung“) dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen: a) das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts; b) den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung; c) das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6; d) das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen; e) das Recht auf Aussageverweigerung. (2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden. 5 Art. 4 („Schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme“) der Richtlinie sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, umgehend eine schriftliche Erklärung der Rechte erhalten. Sie erhalten Gelegenheit, die Erklärung der Rechte zu lesen, und dürfen diese Erklärung während der Dauer des Freiheitsentzugs in ihrem Besitz führen. (2)   Zusätzlich zu der Belehrung gemäß Artikel 3 enthält die in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannte Erklärung der Rechte Hinweise zu den folgenden Rechten in ihrer Ausgestaltung im innerstaatlichem Recht: a) das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte; b) das Recht auf Unterrichtung der Konsularbehörden und einer Person; c) das Recht auf Zugang zu dringender medizinischer Versorgung und d) wie viele Stunden oder Tage der Freiheitsentzug bei Verdächtigen oder beschuldigten Personen bis zur Vorführung vor eine Justizbehörde höchstens andauern darf. (3)   Die Erklärung der Rechte enthält auch einige grundlegende Informationen über jedwede im innerstaatlichem Recht vorgesehene Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der Festnahme anzufechten, eine Haftprüfung zu erwirken oder einen Antrag auf vorläufige Haftentlassung zu stellen. (4)   Die Erklärung der Rechte wird in einfacher und verständlicher Sprache abgefasst. Ein Musterbeispiel einer Erklärung der Rechte ist in Anhang I enthalten. (5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen die schriftliche Erklärung der Rechte in einer Sprache erhalten, die sie verstehen. Ist die Erklärung der Rechte nicht in der entsprechenden Sprache verfügbar, so werden Verdächtige oder beschuldigte Personen in einer Sprache, die sie verstehen, mündlich über ihre Rechte belehrt. Ohne unnötige Verzögerung wird ihnen eine Erklärung der Rechte in einer Sprache, die sie verstehen, ausgehändigt. 6 Art. 8 („Überprüfung und Rechtsbehelfe“) der Richtlinie lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jegliche Belehrung oder Unterrichtung der Verdächtigen oder beschuldigten Personen, die gemäß den Artikeln 3 bis 6 erfolgt, gemäß dem Verfahren für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten wird. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.“ Richtlinie 2013/48/EU 7 Die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1) enthält einen Art. 3 („Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren“), der in Abs. 1 vorsieht: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können.“ 8 Art. 9 („Verzicht“) dieser Richtlinie lautet: „(1)   Unbeschadet der nationalen Rechtsvorschriften, die die Anwesenheit oder Unterstützung eines Rechtsbeistands verbindlich vorschreiben, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass für einen Verzicht auf eines der in den Artikeln 3 und 10 genannten Rechte folgende Voraussetzungen erfüllt sein müssen: a) Der Verdächtige oder die beschuldigte Person hat mündlich oder schriftlich eindeutige und ausreichende Informationen in einfacher und verständlicher Sprache über den Inhalt des betreffenden Rechts und die möglichen Folgen eines Verzichts auf dieses Recht erhalten, und b) die Verzichtserklärung wird freiwillig und unmissverständlich abgegeben. (2)   Der Verzicht, der schriftlich oder mündlich erklärt werden kann, sowie die Umstände der Verzichterklärung werden unter Verwendung des Verfahrens für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten. (3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen einen Verzicht jederzeit während des Strafverfahrens widerrufen können und dass sie über diese Möglichkeit informiert werden. Der Widerruf ist ab dem Zeitpunkt wirksam, zu dem er erfolgte.“ Richtlinie 2016/343 9 Art. 7 („Recht, die Aussage zu verweigern, und Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in Bezug auf die Straftat, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, die Aussage zu verweigern. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, sich nicht selbst belasten zu müssen. (3)   Die Wahrnehmung des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, steht nicht der Beschaffung von Beweismitteln durch die zuständigen Behörden entgegen, die mit Hilfe gesetzlich vorgesehener Zwangsmittel rechtmäßig erlangt werden können und unabhängig vom Willen der Verdächtigen oder beschuldigte[n] Personen existieren. (4)   Die Mitgliedstaaten können es ihren Justizbehörden gestatten, kooperatives Verhalten von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Verurteilung zu berücksichtigen. (5)   Die Wahrnehmung des Rechts, die Aussage zu verweigern, oder des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, durch Verdächtige und beschuldigte Personen, darf weder gegen sie verwendet werden noch als Beweis dafür gewertet werden, dass sie die betreffende Straftat begangen haben. (6)   Dieser Artikel hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, eine Regelung zu treffen, wonach bei geringfügigen Zuwiderhandlungen das Verfahren oder bestimmte Verfahrensabschnitte in schriftlicher Form oder ohne Befragung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die zuständigen Behörden bezüglich der fraglichen Zuwiderhandlung durchgeführt werden können, sofern das Recht auf ein faires Verfahren gewahrt bleibt. Französisches Recht 10 Art. 53 Abs. 1 des Code de procédure pénale (Strafprozessordnung) sieht vor: „Als auf frischer Tat festgestellt gilt ein Verbrechen oder Vergehen, das gerade verübt wird oder verübt worden ist. Als auf frischer Tat festgestellt gilt auch ein Verbrechen oder Vergehen, wenn in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang zur Tathandlung dem Verdächtigen in der Öffentlichkeit nachgesetzt oder er im Besitz von Gegenständen oder mit Spuren oder unter Anhaltspunkten angetroffen wird, die auf seine Beteiligung an dem Verbrechen oder Vergehen schließen lassen.“ 11 Art. 63-1 des Code de procédure pénale bestimmt: „Die in Polizeigewahrsam genommene Person erhält unverzüglich von einem Beamten oder, unter dessen Aufsicht, von einem Hilfsbeamten der Kriminalpolizei in einer Sprache, die sie versteht, gegebenenfalls unter Verwendung des in Abs. 13 vorgesehenen Formulars, Informationen über: 1° ihre Ingewahrsamnahme sowie die Dauer der Maßnahme und deren mögliche Verlängerung(en); 2° den mutmaßlichen Tatbestand, das mutmaßliche Datum und den mutmaßlichen Ort des Delikts, dessen Begehung oder versuchter Begehung die Person verdächtigt wird, sowie die in Art. 62-2 Nrn. 1 bis 6 aufgeführten Gründe, die ihre Ingewahrsamnahme rechtfertigen; 3° den Umstand, dass sie folgende Rechte hat: – gemäß Art. 63-2 das Recht, eine nahestehende Person und ihren Arbeitgeber sowie, falls es sich um eine Person mit ausländischer Staatsangehörigkeit handelt, die Konsularbehörden des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, benachrichtigen zu lassen und gegebenenfalls mit diesen Personen zu kommunizieren; – gemäß Art. 63-3 das Recht, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen; – gemäß den Art. 63-3-1 bis 63-4-3 das Recht, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen; – das Recht, falls erforderlich, einen Dolmetscher hinzuzuziehen; – das Recht, schnellstmöglich und spätestens vor einer etwaigen Verlängerung des Polizeigewahrsams die in Art. 63-4-1 genannten Dokumente einzusehen; – das Recht, der Staatsanwaltschaft oder gegebenenfalls dem Haftrichter eine Stellungnahme zur Beendigung des Polizeigewahrsams zu übermitteln, wenn diese über eine etwaige Verlängerung dieser Maßnahme entscheiden. Wird die Person nicht dem Staatsanwalt oder Richter vorgeführt, kann sie ihre Stellungnahme mündlich zu Protokoll geben; das Protokoll wird dem Staatsanwalt oder Richter übermittelt, bevor er über die Verlängerung der Maßnahme entscheidet; – das Recht, bei den Vernehmungen nach den Angaben zur Person Erklärungen abzugeben, auf Fragen zu antworten oder zu schweigen. … Ein Vermerk über die nach diesem Artikel erteilten Informationen wird in das Protokoll zum Ablauf des Polizeigewahrsams aufgenommen und von der in Gewahrsam genommenen Person abgezeichnet. Wird die Abzeichnung verweigert, so ist dies zu vermerken. Gemäß Art. 803-6 wird der Person bei der Benachrichtigung über ihre Ingewahrsamnahme ein Dokument ausgehändigt, in dem diese Rechte dargelegt werden.“ 12 Art. 63-4-1 des Code de procédure pénale lautet: „Auf Antrag kann der Rechtsanwalt das nach dem vorletzten Absatz von Art. 63-1 erstellte Protokoll, in dem die Mitteilung der Ingewahrsamnahme und der damit verbundenen Rechte festgestellt wird, das ärztliche Attest nach Art. 63-3 sowie die Protokolle über die Vernehmung der Person, der er beisteht, einsehen. Er kann keine Kopie davon verlangen oder anfertigen. Er darf jedoch Notizen machen. Auch die in Gewahrsam genommene Person kann die im ersten Absatz dieses Artikels erwähnten Dokumente oder eine Kopie davon einsehen." 13 Art. 73 des Code de procédure pénale bestimmt: „Im Fall eines auf frischer Tat festgestellten Verbrechens oder Vergehens, das mit Freiheitsstrafe bedroht ist, ist jedermann befugt, den Täter zu ergreifen und dem nächst erreichbaren Beamten der Kriminalpolizei zuzuführen. Wird die Person dem Beamten der Kriminalpolizei vorgeführt, so muss sie, auch wenn die in diesem Gesetzbuch vorgesehenen Voraussetzungen für diese Maßnahme erfüllt sind, nicht in Gewahrsam genommen werden, sofern sie nicht gezwungen ist, sich zur Verfügung der Ermittler zu halten, und darüber informiert wurde, dass sie die Räumlichkeiten der Polizei oder der Gendarmerie jederzeit verlassen kann. Der vorliegende Absatz findet jedoch keine Anwendung, wenn die Person dem Beamten der Kriminalpolizei unter Anwendung von polizeilichem Zwang vorgeführt wurde.“ 14 Art. 385 Abs. 1 und 6 des Code de procédure pénale sieht vor: „Das Strafgericht kann bei ihm geltend gemachte prozessuale Nichtigkeitsgründe feststellen, es sei denn, die Sache wurde vom Untersuchungsrichter oder von der Untersuchungskammer zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen. … In jedem Fall müssen Nichtigkeitseinreden vor jeder Einlassung zur Sache erhoben werden.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 15 Am Abend des 22. März 2021 wurden K. B. und F. S. von Hilfsbeamten der Kriminalpolizei vorläufig festgenommen, weil sie sich in verdächtiger Weise auf einem Firmenparkplatz aufhielten. Die Hilfsbeamten stellten fest, dass der Tank eines auf diesem Parkplatz geparkten Lastkraftwagens offen war und sich Kanister in der Nähe befanden. Um 22.25 Uhr nahmen diese Hilfsbeamten K. B. und F. S., die versuchten, sich zu verbergen, fest, legten ihnen Handschellen an und eröffneten unverzüglich gemäß Art. 53 Abs. 1 des Code de procédure pénale ein Ermittlungsverfahren auf frischer Tat wegen Kraftstoffdiebstahls. 16 Nachdem die Hilfsbeamten der Kriminalpolizei K. B. und F. S. befragt hatten, ohne sie jedoch über die in Art. 63-1 der Strafprozessordnung vorgesehenen Rechte zu belehren, benachrichtigten sie einen Beamten der Kriminalpolizei, der sie aufforderte, die beiden Verdächtigen zwecks Ingewahrsamnahme gemäß Art. 73 in fine des Code de procédure pénale unverzüglich vorzuführen. 17 Die Hilfsbeamten der Kriminalpolizei ignorierten diese Anweisung und riefen einen weiteren Beamten der Kriminalpolizei herbei, der um 22.40 Uhr vor Ort erschien und, anstatt die beiden Verdächtigen in Polizeigewahrsam zu nehmen, sie über die genannten Rechte zu belehren und den Staatsanwalt zu benachrichtigen, wie es das französische Recht verlangt, das Fahrzeug dieser Personen durchsuchte. Bei dieser Durchsuchung wurde belastendes Material wie Stopfen, ein Trichter und eine elektrische Pumpe entdeckt. Der Polizeibeamte stellte K. B. und F. S. Fragen, die diese beantworteten. 18 Um 22.50 Uhr wurde der Staatsanwalt über die Ingewahrsamnahme von F. S. und K. B. informiert, die um 23.00 Uhr bzw. um 23.06 Uhr über ihre Rechte, darunter das Recht auf Aussageverweigerung, belehrt wurden. 19 Das mit dem Strafverfahren gegen K. B. und F. S. wegen Kraftstoffdiebstahls befasste Tribunal correctionnel de Villefranche-sur-Saône (Strafgericht Villefranche-sur-Saône, Frankreich), das vorlegende Gericht, hat festgestellt, dass unter Verstoß gegen Art. 63-1 des Code de procédure pénale, mit dem die Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 umgesetzt wurden, Ermittlungen angestellt und selbstbelastende Aussagen gewonnen worden seien, bevor K. B. und F. S. über ihre Rechte belehrt worden seien. Da Ingewahrsamnahme, Benachrichtigung des Staatsanwalts und Rechtsbelehrung, insbesondere die Belehrung über das Recht auf Aussageverweigerung, mit Verspätung erfolgt seien, wurde nach Auffassung des vorlegenden Gerichts das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, verletzt. Unter diesen Umständen hätten nach der Rechtsprechung der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) die Durchsuchung des Fahrzeugs, die Ingewahrsamnahme der Verdächtigen und alle sich daraus ergebenden Rechtsakte grundsätzlich für nichtig erklärt werden müssen. 20 Hierzu geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass nach Art. 385 des Code de procédure pénale Einreden der Nichtigkeit des Verfahrens, wie die Verletzung der in seinem Art. 63-1 vorgesehenen Pflicht, eine Person bei ihrer Ingewahrsamnahme über das Recht auf Aussageverweigerung zu belehren, von der betroffenen Person oder ihrem Rechtsanwalt vor jeder Einlassung zur Sache erhoben werden müssen. Aus den Akten geht auch hervor, dass K. B. und F. S. im Beistand eines Rechtsanwalts waren, dieser aber ebenso wenig wie K. B. und F. S. vor der Einlassung zur Sache eine Einrede der Nichtigkeit im Sinne von Art. 385 des Code de procédure pénale wegen Verletzung dieser Pflicht erhoben hat. 21 Im Übrigen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Cour de cassation Art. 385 des Code de procédure pénale dahin ausgelegt habe, dass er es dem Tatrichter verbiete, von Amts wegen die Nichtigkeit des Verfahrens zu prüfen (mit Ausnahme des Nichtigkeitsgrundes seiner Unzuständigkeit), da der Angeklagte, der das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts habe, wenn er vor einem Strafgericht erscheine oder vertreten werde, eine solche Nichtigkeit vor der Einlassung in der Sache rügen könne, und dem Angeklagten im Übrigen die gleiche Befugnis im Berufungsverfahren zustehe, falls er in erster Instanz weder erschienen noch vertreten worden sei. Daher verbiete es Art. 385 des Code de procédure pénale in dieser Auslegung dem vorlegenden Gericht, von Amts wegen einen Verstoß gegen die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannte Pflicht zu prüfen. 22 In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, ob das ihm in Art. 385 des Code de procédure pénale auferlegte Verbot, von Amts wegen einen Verstoß gegen eine im Unionsrecht vorgesehene Pflicht zu prüfen, wie die in den Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 vorgesehene Pflicht, Verdächtige und beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. 23 Insoweit weist es darauf hin, dass die Prüfung von Unionsrecht von Amts wegen durch das nationale Gericht, wenn es an einer Verfahrensvorschrift des Unionsrechts fehlt, innerhalb der Grenzen der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität unter die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fällt. Im Urteil vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck (C‑312/93, EU:C:1995:437), habe der Gerichtshof jedoch entschieden, dass das Unionsrecht der Anwendung einer nationalen Verfahrensvorschrift entgegenstehe, die es einem im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufenen nationalen Gericht verbiete, von Amts wegen die Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Rechtsakts mit einer Vorschrift des Unionsrechts zu prüfen, wenn sich kein Verfahrensbeteiligter innerhalb einer bestimmten Frist auf die letztgenannte Vorschrift berufen habe. 24 Im Übrigen verweist das vorlegende Gericht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu missbräuchlichen Klauseln, in der dieser festgestellt habe, dass das nationale Gericht verpflichtet sei, einen Verstoß gegen bestimmte Vorschriften der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29) von Amts wegen zu prüfen, weil eine solche Prüfung es ermögliche, die mit dieser Richtlinie angestrebten Ergebnisse zu erreichen. Mit dieser Rechtsprechung würden somit der Status des nationalen Gerichts als Träger der mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalt und seine damit verbundenen Pflichten als vollwertiger Akteur im Prozess der Umsetzung von Richtlinien in einem spezifischen Kontext anerkannt, der durch die Unterlegenheit einer Partei des Verfahrens gekennzeichnet sei. Diese Erwägungen in Bezug auf den Verbraucher seien auf einen Angeklagten in Strafsachen übertragbar, zumal dieser nicht zwangsläufig von einem Rechtsanwalt unterstützt werde, um seine Rechte geltend zu machen. 25 Unter diesen Umständen hat das Tribunal correctionnel de Villefranche-sur-Saône (Strafgericht Villefranche-sur-Saône, Frankreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zu stellen: Sind die Art. 3 (Recht auf Rechtsbelehrung) und 4 (Schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme) der Richtlinie 2012/13, Art. 7 (Recht auf Aussageverweigerung) der Richtlinie 2016/343 und Art. 48 (Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte) der Charta dahin auszulegen, dass sie einem dem nationalen Gericht auferlegten Verbot entgegenstehen, von Amts wegen eine Verletzung der von den genannten Richtlinien garantierten Verteidigungsrechte zu prüfen, und insbesondere dem Verbot entgegenstehen, zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens das Fehlen der Belehrung über das Recht zu schweigen zum Zeitpunkt der Festnahme oder eine verspätete Belehrung über das Recht zu schweigen von Amts wegen zu berücksichtigen? Zur Vorlagefrage 26 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 15. Juli 2021, Ministrstvo za obrambo, C‑742/19, EU:C:2021:597, Rn. 31). 27 Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus allem, was das einzelstaatliche Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 22. Dezember 2022, Ministre de la Transition écologique und Premier ministre [Haftung des Staates für die Luftverschmutzung], C‑61/21, EU:C:2022:1015, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 28 Im vorliegenden Fall ist zum einen festzustellen, dass sich die Vorlagefrage u. a. auf Art. 7 der Richtlinie 2016/343 bezieht, der in Abs. 1 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in Bezug auf die Straftat, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, die Aussage zu verweigern. 29 Das Vorabentscheidungsersuchen wurde jedoch in einem Kontext formuliert, in dem die betroffenen Personen verspätet über das Recht auf Aussageverweigerung belehrt wurden, da ihnen, wie sich aus den Rn. 16 bis 19 des vorliegenden Urteils ergibt, Fragen von Hilfsbeamten und einem Beamten der Kriminalpolizei gestellt und selbstbelastende Aussagen gewonnen wurden, bevor ihnen diese Belehrung erteilt wurde. Dieses Ersuchen betrifft somit die Konsequenzen, die der Tatrichter gegebenenfalls aus der Verspätung dieser Belehrung zu ziehen hat, wenn diese von diesen Personen oder ihrem Rechtsanwalt nicht innerhalb der im Recht des betreffenden Mitgliedstaats festgelegten Frist gerügt wurde. Die Verpflichtung der zuständigen Behörden, Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend u. a. über das Recht auf Aussageverweigerung zu belehren und ihnen eine Erklärung der Rechte zu geben, sowie die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung angefochten werden kann, sind in der Richtlinie 2012/13 speziell geregelt, nämlich für die erste Verpflichtung in den Art. 3 und 4, und für die zweite Verpflichtung in Art. 8 Abs. 2. Daher ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 31 bis 35 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die Vorlagefrage allein anhand dieser Richtlinie zu beantworten. 30 Zum anderen geht aus dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 hervor, dass diese sich insbesondere auf die in den Art. 47 und 48 der Charta genannten Rechte stützt und dazu beitragen soll, dass diese Rechte bei Verdächtigen oder beschuldigten Personen im Rahmen von Strafverfahren gewahrt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom, C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 37). 31 Zwar erwähnt die Vorlagefrage nur Art. 48 der Charta, der die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte betrifft. Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass das Recht auf Aussageverweigerung nicht nur durch diesen Artikel, sondern auch durch Art. 47 Abs. 2 der Charta garantiert wird, der das Recht einer Person betrifft, dass ihre Sache in einem fairen Verfahren verhandelt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Februar 2021, Consob, C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 45). Daher ist diese Frage auch im Licht der letztgenannten Bestimmung der Charta zu prüfen. 32 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die Art. 3 und 4 sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es dem Tatrichter in einer Strafsache untersagt, zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens von Amts wegen einen Verstoß gegen die den zuständigen Behörden nach diesen Art. 3 und 4 obliegende Pflicht zu prüfen, Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren. 33 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 sowie Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2012/13 sicherstellen müssen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mündlich oder schriftlich belehrt werden und, wenn diese Personen festgenommen oder inhaftiert werden, eine schriftliche Erklärung der Rechte u. a. in Bezug auf das Recht auf Aussageverweigerung erhalten, damit dieses Recht wirksam ausgeübt werden kann. Diese Bestimmungen sehen somit eine Verpflichtung der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten vor, Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend über dieses Recht zu belehren, wobei – unabhängig davon, ob diese Verpflichtung in Bezug auf Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert wurden, möglicherweise strenger ist – aus dem 19. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgeht, dass diese Belehrung in jedem Fall spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen muss. 34 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht im Wesentlichen festgestellt, dass K. B. und F. S., die auf frischer Tat festgenommen worden seien und daher als festgenommene und einer Straftat verdächtigte Personen nach dem nationalen Recht, das die in der vorstehenden Randnummer genannten Vorschriften der Richtlinie 2012/13 umsetzt, umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung hätten belehrt werden müssen, verspätet über dieses Recht belehrt worden seien, nämlich erst, nachdem ihnen von Hilfsbeamten und einem Beamten der Kriminalpolizei Fragen gestellt und selbstbelastende Aussagen von ihnen gewonnen worden seien. 35 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 sicherstellen müssen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten. 36 Diese Bestimmung ist u. a. in einer Situation anwendbar, in der eine Belehrung über das Recht auf Aussageverweigerung verspätet erteilt wurde. Da nämlich Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie verlangen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung belehrt werden, kann eine solche Belehrung, die unter Verstoß gegen diese Bestimmungen nicht umgehend erfolgt, nicht als „gemäß“ dieser Richtlinie erfolgt angesehen werden. Daher müssen Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie die Möglichkeit haben, diese unterbliebene Mitteilung anzufechten. 37 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 angesichts der Bedeutung des durch Art. 47 Abs. 1 der Charta geschützten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf jeder nationalen Maßnahme entgegensteht, die ein Hindernis für die Ausübung wirksamer Rechtsbehelfe im Fall der Verletzung der durch die Richtlinie geschützten Rechte darstellt (Urteil vom 19. September 2019, Rayonna prokuratura Lom, C‑467/18, EU:C:2019:765, Rn. 57). 38 Mit dem Verweis auf „nationale Verfahren“ legt diese Bestimmung der Richtlinie 2012/13 jedoch weder die Modalitäten und Fristen fest, unter denen Verdächtige und beschuldigte Personen sowie gegebenenfalls ihre Rechtsanwälte eine Verletzung der Pflicht, sie umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren, rügen können, noch die etwaigen verfahrensrechtlichen Folgen, die sich aus dem Unterbleiben einer solchen Rüge ergeben, wie etwa die Möglichkeit für den Tatrichter in einer Strafsache, einen solchen Verstoß zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Der den Mitgliedstaaten damit belassene Spielraum bei der Festlegung dieser Modalitäten und Rechtsfolgen wird auch durch den 36. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestätigt, wonach das Recht, ein etwaiges Versäumnis oder eine etwaige Verweigerung der Belehrung oder Unterrichtung oder der Offenlegung von bestimmten Unterlagen gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach dem innerstaatlichen Recht anzufechten, nicht die Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach sich zieht, ein besonderes Rechtsbehelfsverfahren, einen gesonderten Mechanismus oder ein Beschwerdeverfahren vorzusehen, in dessen Rahmen das Versäumnis oder die Verweigerung angefochten werden kann. 39 Daher ist festzustellen, dass die Richtlinie 2012/13 keine Vorschriften über die Möglichkeit für den Tatrichter in einer Strafsache enthält, zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens einen Verstoß gegen die Pflicht zur umgehenden Belehrung von Verdächtigen und beschuldigten Personen über ihr Recht auf Aussageverweigerung von Amts wegen zu prüfen. 40 Allerdings sind die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. e, Art. 4 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 nach Art. 51 Abs. 1 der Charta verpflichtet, die Einhaltung der Anforderungen zu gewährleisten, die sich sowohl aus dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und aus dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta als auch aus den in Art. 48 Abs. 2 der Charta verankerten Verteidigungsrechten ergeben, die durch diese Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 konkretisiert werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, TL, C‑242/22 PPU, EU:C:2022:611, Rn. 42). 41 Zu ergänzen ist, dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in der Charta enthaltenen Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben wie die entsprechenden durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Rechte, was der Gewährung eines weiter gehenden Schutzes durch das Unionsrecht nicht entgegensteht. Bei der Auslegung der durch Art. 47 Abs. 1 und 2 sowie Art. 48 Abs. 2 der Charta garantierten Rechte muss der Gerichtshof daher die entsprechenden durch die Art. 6 und 13 EMRK in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Rechte als Mindestschutzstandard berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Februar 2021, Consob, C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. März 2023, Intermarché Casino Achats/Kommission, C‑693/20 P, EU:C:2023:172, Rn. 41 bis 43). Im 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 heißt es im Übrigen ausdrücklich, dass die Richtlinie u. a. diesen Art. 6 in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde legt. 42 Insoweit und vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus den Angaben der französischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung ergibt, das französische Strafrecht, insbesondere Art. 63-1 Abs. 3, Art. 63-4-1 und Art. 385 des Code de procédure pénale, es Verdächtigen oder beschuldigten Personen sowie gegebenenfalls ihren Rechtsanwälten erlaubt, auf jede Art und Weise und jederzeit zwischen Ingewahrsamnahme und Einlassung zur Sache einen Verstoß gegen die Verpflichtung zu rügen, Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren, wie es sich aus den Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 ergibt, wobei sowohl die Verdächtigen und beschuldigten Personen als auch ihre Rechtsanwälte das Recht haben, die Verfahrensakte und insbesondere das Protokoll über die Mitteilung der Ingewahrsamnahme und der damit verbundenen Rechte einzusehen. 43 Aufgrund des ihnen durch die Richtlinie 2012/13 belassenen Spielraums steht es den Mitgliedstaaten frei, die Rüge eines solchen Verstoßes zeitlich auf das Stadium zu beschränken, das der Einlassung zur Sache vorausgeht. Insbesondere beachtet das dem Tatgericht auferlegte Verbot, diesen Verstoß zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen, das in Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren sowie die in Art. 48 Abs. 2 der Charta verankerten Verteidigungsrechte grundsätzlich, wenn die Verdächtigen, die beschuldigten Personen oder ihre Rechtsanwälte die praktische und wirksame Möglichkeit hatten, den betreffenden Verstoß zu rügen, und zu diesem Zweck über eine angemessene Frist verfügten und Einsicht in die Akte nehmen konnten. 44 Um die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Aussageverweigerung zu gewährleisten, gilt dies allerdings nur dann, wenn diese Personen innerhalb der ihnen für die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 Buchst. e und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 zur Verfügung stehenden Frist praktisch und wirksam über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verfügt haben, wie es in Art. 3 der Richtlinie 2013/48 verankert ist und durch den in der der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (ABl. 2016, L 297, S. 1) vorgesehenen Mechanismus der Prozesskostenhilfe erleichtert wird. 45 Diese Auslegung dieser Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta wird durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 EMRK bestätigt, der bereits entschieden hat, dass die besondere Verletzbarkeit des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren zur Vorbereitung des Gerichtsverfahrens nur durch den Beistand eines Verteidigers angemessen ausgeglichen werden kann, der insbesondere dafür sorgen muss, dass das Recht jedes Beschuldigten geachtet wird, sich nicht selbst belasten zu müssen (EGMR, 27. November 2008, Salduz/Türkei, ECLI:CE:ECHR:2008:1127JUD003639102, § 54). 46 Der Umstand, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen nach nationalem Recht die praktische und wirksame Möglichkeit geboten werden muss, einen Rechtsbeistand in Anspruch zu nehmen, schließt jedoch nicht aus, dass sie, wenn sie auf diese Möglichkeit verzichten, grundsätzlich die etwaigen Folgen dieses Verzichts tragen müssen, sofern dieser im Einklang mit den in Art. 9 der Richtlinie 2013/48 vorgesehenen Voraussetzungen erfolgt ist. Insbesondere sieht Abs. 1 dieser Bestimmung vor, dass der Verdächtige oder die beschuldigte Person mündlich oder schriftlich eindeutige und ausreichende Informationen in einfacher und verständlicher Sprache über den Inhalt des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und über die möglichen Folgen eines Verzichts auf dieses Recht erhalten hat und dass die Verzichtserklärung freiwillig und unmissverständlich abgegeben wird. 47 Die in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführte Erwägung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 ein Verstoß gegen die Pflicht, Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren, von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person „oder“ von ihren Rechtsanwälten gerügt werden können muss. Diese nebenordnende Konjunktion ist nämlich dahin zu verstehen, dass die Verdächtigen oder beschuldigten Personen einen solchen Verstoß nur in den Fällen selbst rügen müssen, in denen sie wirksam auf die Möglichkeit verzichtet haben, sich durch einen Rechtsanwalt unterstützen zu lassen, wobei die Wirksamkeit des Verzichts durch einen Richter überprüft werden muss, oder in denen sie es vorziehen, diesen Verstoß selbst und nicht über ihren Rechtsanwalt zu rügen. 48 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall der Feststellung eines Verfahrensfehlers den innerstaatlichen Gerichten obliegt, zu beurteilen, ob dieser Fehler im Verlauf des anschließenden Verfahrens behoben wurde, und das Fehlen einer solchen Beurteilung für sich genommen prima facie mit den Erfordernissen eines fairen Verfahrens im Sinne von Art. 6 EMRK unvereinbar ist (EGMR, 28. Januar 2020, Mehmet Zeki Çelebi/Türkei, CE:ECHR:2020:0128JUD002758207, § 51). Daher ist in dem Fall, dass ein Verdächtiger nicht rechtzeitig über sein Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen und die Aussage zu verweigern, belehrt wurde, zu prüfen, ob das Strafverfahren insgesamt trotz dieses Mangels als fair angesehen werden kann, und zwar unter Berücksichtigung einer Reihe von Faktoren wie beispielsweise der Frage, ob die ohne diese Belehrung gewonnenen Aussagen wesentlicher oder wichtiger Bestandteil der belastenden Unterlagen sind, sowie das Gewicht des übrigen Akteninhalts (vgl. in diesem Sinne EGMR, 13. September 2016, Ibrahim u. a./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2016:0913JUD005054108, §§ 273 und 274). 49 Nach alledem verstößt eine nationale Regelung, die es dem Tatrichter in einer Strafsache verbietet, zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens von Amts wegen einen Verstoß gegen die den zuständigen Behörden nach den Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13 obliegende Pflicht zu prüfen, Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu unterrichten, nicht gegen die Art. 47 und 48 der Charta, wenn den Verdächtigen oder beschuldigten Personen nicht die praktische und wirksame Möglichkeit genommen wurde, gemäß Art. 3 der Richtlinie 2013/48 Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten, erforderlichenfalls unter Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe unter den in der Richtlinie 2016/1919 vorgesehenen Voraussetzungen, und wenn sie ebenso wie gegebenenfalls ihr Rechtsanwalt das Recht hatten, Einsicht in ihre Akte zu nehmen und diesen Verstoß innerhalb einer angemessenen Frist gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 zu rügen. 50 Dieses Ergebnis wird durch die vom vorlegenden Gericht und in den Rn. 23 und 24 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung nicht in Frage gestellt. 51 Zum einen räumte nämlich in der Rechtssache, in der das Urteil vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck (C‑312/93, EU:C:1995:437), ergangen ist, das nationale Recht dem Gericht die Befugnis ein, die Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Rechtsakts mit einer Bestimmung des Unionsrechts von Amts wegen zu prüfen. Dem vorlegenden Gericht war diese Befugnis jedoch dadurch benommen, dass die Frist, innerhalb deren diese Prüfung von Amts wegen vorgenommen werden konnte, zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bereits abgelaufen war. Im Ausgangsverfahren geht es hingegen um die Frage, ob das Unionsrecht es gebietet, dem nationalen Richter die Befugnis zuzuerkennen, von Amts wegen einen Verstoß gegen Unionsrecht zu prüfen, obwohl ihm dies nach nationalem Recht verboten ist. 52 Was zum anderen die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu missbräuchlichen Klauseln betrifft, ist hervorzuheben, dass sich die im Rahmen des Verbraucherschutzes in Rede stehenden Rechtsverhältnisse derart von denen eines Strafverfahrens, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede stehen und in Rn. 45 des vorliegenden Urteils wiedergegeben worden sind, unterscheiden, dass die im Bereich der missbräuchlichen Klauseln entwickelten Grundsätze nicht einfach auf die Verfahrensgarantien in Strafverfahren angewandt werden dürfen. 53 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 3 und 4 sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 im Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die es dem Tatrichter in einer Strafsache untersagt, zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens von Amts wegen einen Verstoß gegen die den zuständigen Behörden nach diesen Art. 3 und 4 obliegende Pflicht zu prüfen, Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren, wenn diesen nicht die praktische und wirksame Möglichkeit genommen wurde, gemäß Art. 3 der Richtlinie 2013/48 Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten, erforderlichenfalls unter Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe unter den in der Richtlinie 2016/1919 vorgesehenen Voraussetzungen, und wenn sie ebenso wie gegebenenfalls ihr Rechtsanwalt das Recht hatten, Einsicht in ihre Akte zu nehmen und diesen Verstoß innerhalb einer angemessenen Frist gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 zu rügen. Kosten 54 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Die Art. 3 und 4 sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren im Licht von Art. 47 und Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die es dem Tatrichter in einer Strafsache untersagt, zum Zweck der Nichtigerklärung des Verfahrens von Amts wegen einen Verstoß gegen die den zuständigen Behörden nach diesen Art. 3 und 4 obliegende Pflicht zu prüfen, Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren, wenn diesen nicht die praktische und wirksame Möglichkeit genommen wurde, gemäß Art. 3 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten, erforderlichenfalls unter Inanspruchnahme von Prozesskostenhilfe unter den in der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vorgesehenen Voraussetzungen, und wenn sie ebenso wie gegebenenfalls ihr Rechtsanwalt das Recht hatten, Einsicht in ihre Akte zu nehmen und diesen Verstoß innerhalb einer angemessenen Frist gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 zu rügen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 23. März 2023.#Strafverfahren gegen MR.#Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Bamberg.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Grundsatz ne bis in idem – Art. 55 Abs. 1 Buchst. b – Ausnahme von der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem – Gegen die Sicherheit des Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Vereinbarkeit von nationalen Erklärungen, die eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem vorsehen – Kriminelle Vereinigung – Vermögensdelikte.#Rechtssache C-365/21.
62021CJ0365
ECLI:EU:C:2023:236
2023-03-23T00:00:00
Gerichtshof, Szpunar
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62021CJ0365 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) 23. März 2023 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Grundsatz ne bis in idem – Art. 55 Abs. 1 Buchst. b – Ausnahme von der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem – Gegen die Sicherheit des Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentliche Interessen gerichtete Straftat – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Vereinbarkeit von nationalen Erklärungen, die eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem vorsehen – Kriminelle Vereinigung – Vermögensdelikte“ In der Rechtssache C‑365/21 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Bamberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juni 2021, in dem Strafverfahren gegen MR Beteiligte: Generalstaatsanwaltschaft Bamberg erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter D. Gratsias, M. Ilešič und I. Jarukaitis, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juli 2022, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von MR, vertreten durch Rechtsanwälte S. Buhlmann und F. Ufer, – der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg, vertreten durch N. Goldbeck als Bevollmächtigten, – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, F. Halabi, M. Hellmann und U. Kühne als Bevollmächtigte, – der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A.‑L. Desjonquères als Bevollmächtigte, – der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Augustin, A. Posch, J. Schmoll und K. Steininger als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Wasmeier als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Oktober 2022 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Gültigkeit von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19), das am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichnet wurde und am 26. März 1995 in Kraft getreten ist (im Folgenden: SDÜ), im Hinblick auf Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie zum anderen die Auslegung der Art. 54 und 55 SDÜ sowie der Art. 50 und 52 der Charta. 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das in Deutschland wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Anlagebetrugs gegen MR eingeleitet wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht SDÜ 3 Das SDÜ wurde geschlossen, um die Durchführung des am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) sicherzustellen. 4 Die Art. 54 bis 56 des Durchführungsübereinkommens finden sich in Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“) des Titels III („Polizei und Sicherheit“) dieses Übereinkommens. Art. 54 SDÜ sieht vor: „Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“ 5 Art. 55 SDÜ bestimmt: „(1)   Eine Vertragspartei kann bei der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung dieses Übereinkommens erklären, dass sie in einem oder mehreren der folgenden Fälle nicht durch Artikel 54 gebunden ist: … b) wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen dieser Vertragspartei gerichtete Straftat darstellt; … (2)   Eine Vertragspartei, die eine solche Erklärung betreffend eine der in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Ausnahmen abgibt, bezeichnet die Arten von Straftaten, auf die solche Ausnahmen Anwendung finden können. …“ 6 Art. 56 SDÜ lautet: „Wird durch eine Vertragspartei eine erneute Verfolgung gegen eine Person eingeleitet, die bereits durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat rechtskräftig abgeurteilt wurde, so wird jede in dem Hoheitsgebiet der zuletzt genannten Vertragspartei wegen dieser Tat erlittene Freiheitsentziehung auf eine etwa zu verhängende Sanktion angerechnet. Soweit das nationale Recht dies erlaubt, werden andere als freiheitsentziehende Sanktionen ebenfalls berücksichtigt, sofern sie bereits vollstreckt wurden.“ Rahmenbeschluss 2008/841/JI 7 Der erste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (ABl. 2008, L 300, S. 42) lautet: „Ziel des Haager Programms ist die Verbesserung der gemeinsamen Fähigkeit der [Europäischen] Union und ihrer Mitgliedstaaten unter anderem zum Kampf gegen grenzüberschreitende organisierte Kriminalität. Dieses Ziel muss insbesondere im Wege der Rechtsangleichung verwirklicht werden. Um der von kriminellen Vereinigungen ausgehenden Gefahr und der Ausbreitung dieser Vereinigungen zu begegnen und den Erwartungen der Bürger und den eigenen Bedürfnissen der Mitgliedstaaten zu entsprechen, ist eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der [Union] und ihren Mitgliedstaaten erforderlich. Wie der Europäische Rat unter Nr. 14 der Schlussfolgerungen seiner Tagung vom 4. und 5. November 2004 in Brüssel in diesem Zusammenhang festgestellt hat, erwarten die Bürger Europas von der [Union], dass sie grenzüberschreitenden Problemen wie der organisierten Kriminalität mit einem effizienteren, gemeinsamen Konzept entgegentritt, wobei die Achtung der Grundfreiheiten und Grundrechte gewährleistet sein muss.“ 8 In Art. 2 („Straftaten im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“) dieses Rahmenbeschlusses heißt es: „Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um eine oder beide der folgenden Verhaltensweisen im Zusammenhang mit einer kriminellen Vereinigung als Straftatbestände zu bewerten: a) das Verhalten einer Person, die sich vorsätzlich und in Kenntnis entweder des Ziels und der allgemeinen Tätigkeit der kriminellen Vereinigung oder der Absicht der Vereinigung, die betreffenden Straftaten zu begehen, aktiv an den kriminellen Tätigkeiten der Vereinigung beteiligt, einschließlich durch Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln, Anwerbung neuer Mitglieder oder durch jegliche Art der Finanzierung der Tätigkeiten der Vereinigung, und sich bewusst ist, dass diese Beteiligung zur Durchführung der kriminellen Tätigkeiten der Vereinigung beiträgt; b) das Verhalten einer Person, das darin besteht, mit einer oder mehreren Personen eine Vereinbarung über die Ausübung einer Tätigkeit zu treffen, die, falls durchgeführt, der Begehung von in Artikel 1 genannten Straftaten gleichkäme – auch wenn diese Person nicht an der tatsächlichen Durchführung der Tätigkeit beteiligt ist.“ 9 Art. 3 („Sanktionen“) des Rahmenbeschlusses sieht vor: „(1)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass a) die in Artikel 2 Buchstabe a genannte Straftat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwei bis fünf Jahren bedroht wird oder b) die in Artikel 2 Buchstabe b genannte Straftat mit einer Freiheitsstrafe in demselben Höchstmaß wie die Straftat, auf die sich die Vereinbarung bezieht, oder mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwei bis fünf Jahren bedroht wird. (2)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Tatsache, dass die von diesem Mitgliedstaat festgelegten Straftaten nach Artikel 2 im Rahmen einer kriminellen Vereinigung begangen wurden, als erschwerender Umstand betrachtet werden kann.“ Deutsches Recht 10 Bei der Ratifikation des SDÜ erließ die Bundesrepublik Deutschland gemäß dessen Art. 55 Abs. 1 eine Bekanntmachung (BGBl. 1994 II, S. 631), in der u. a. vorgesehen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht durch die Bestimmungen von Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ zugrunde lag, eine Straftat nach § 129 des Strafgesetzbuchs (im Folgenden: StGB) darstellt. 11 § 129 StGB („Bildung krimineller Vereinigungen“) in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung bestimmt: „(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt. (2) Eine Vereinigung ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses. … (5) In besonders schweren Fällen des Absatzes 1 Satz 1 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter zu den Rädelsführern oder Hintermännern der Vereinigung gehört.“ 12 In § 129b („Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland; Einziehung“) Abs. 1 StGB heißt es: „Die §§ 129 und 129a gelten auch für Vereinigungen im Ausland. Bezieht sich die Tat auf eine Vereinigung außerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, so gilt dies nur, wenn sie durch eine im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgeübte Tätigkeit begangen wird oder wenn der Täter oder das Opfer Deutscher ist oder sich im Inland befindet. In den Fällen des Satzes 2 wird die Tat nur mit Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz verfolgt. Die Ermächtigung kann für den Einzelfall oder allgemein auch für die Verfolgung künftiger Taten erteilt werden, die sich auf eine bestimmte Vereinigung beziehen. Bei der Entscheidung über die Ermächtigung zieht das Ministerium in Betracht, ob die Bestrebungen der Vereinigung gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind und bei Abwägung aller Umstände als verwerflich erscheinen.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 13 MR, ein zuletzt in Österreich wohnhafter israelischer Staatsangehöriger, wurde am 1. September 2020 vom Landesgericht Wien (Österreich) wegen gewerbsmäßigen schweren Betrugs und Geldwäscherei zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. 14 MR verbüßte einen Teil dieser Freiheitsstrafe, bevor deren Rest ab dem 29. Januar 2021 zur Bewährung ausgesetzt wurde. MR wurde jedoch mit Entscheidung vom selben Tag aufgrund eines Europäischen Haftbefehls des Amtsgerichts Bamberg (Deutschland) vom 11. Dezember 2020 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Anlagebetrug in österreichische Übergabehaft genommen. Nach Auslaufen des Haftzeitraums am 18. Mai 2021 wurde er in Abschiebehaft mit dem Ziel Israel genommen, wo er sich zum Zeitpunkt der Vorlage des Vorabentscheidungsersuchens befunden haben soll. 15 Gemäß dem gegen MR ausgestellten Europäischen Haftbefehl wird diesem zur Last gelegt, zusammen mit weiteren Mitbeschuldigten ein betrügerisches Anlagesystem geschaffen zu haben, in dessen Rahmen in verschiedenen europäischen Ländern, darunter auch in Deutschland und Österreich, wohnhaften Anlegern über das Internet chancenreiche Anlagen angeboten wurden. In Wirklichkeit wurden die eingezahlten Beträge u. a. zugunsten von MR, einem der Rädelsführer der fraglichen kriminellen Vereinigung, veruntreut. 16 Mit Beschluss vom 8. März 2021 wurden die Beschwerden von MR gegen den Europäischen Haftbefehl und den diesem zugrunde liegenden nationalen Haftbefehl vom Landgericht Bamberg (Deutschland) mit der Begründung verworfen, dass die Aburteilung von MR durch das Landesgericht Wien nur wegen der Betrugsstraftaten zum Nachteil der Geschädigten in Österreich erfolgt sei, während MR derzeit vor dem Landgericht Bamberg wegen Betrugs gegen in Deutschland wohnhafte Geschädigte verfolgt werde. Daher seien die Sachverhalte dieser beiden Verfahren unterschiedlich, so dass der in Art. 54 SDÜ vorgesehene Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung finde. 17 Hilfsweise verwies das Landgericht Bamberg mit dem Hinweis, dass MR wegen einer Straftat nach § 129 StGB verfolgt werde, welche von der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des SDÜ erfasst sei, auf Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ. 18 MR erhob gegen den Beschluss eine weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht Bamberg (Deutschland), dem vorlegenden Gericht. 19 In Anbetracht der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 54 SDÜ äußert das vorlegende Gericht Zweifel, ob der Sachverhalt, für den MR in Österreich abgeurteilt wurde, mit demjenigen identisch ist, für den er in Deutschland verfolgt wird. 20 Das vorlegende Gericht ist jedoch der Auffassung, dass Art. 54 SDÜ für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht zwangsläufig beachtlich sei. MR werde nämlich wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verfolgt. Diese in § 129 StGB vorgesehene Straftat sei von der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 55 Abs. 1 SDÜ erfasst, wonach ein Mitgliedstaat in Anwendung von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ die Möglichkeit habe, zu erklären, dass er nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen seine Sicherheit oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat darstellt. 21 Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass es sich bei den in § 129 StGB genannten Straftaten grundsätzlich um Straftaten handle, die gegen wesentliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gerichtet seien. Die bloße Existenz krimineller Vereinigungen stelle ein Gefahrenpotenzial für den öffentlichen Frieden dar, das aufgrund der massierten Bedrohung der Allgemeinheit durch die organisierte Kriminalität eine andere Qualität aufweise als deliktische Einzelaktionen. So sei es für die Beurteilung, ob eine kriminelle Vereinigung die Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gefährde, unerheblich, dass diese kriminelle Vereinigung ausschließlich Vermögenskriminalität betreibe und darüber hinaus keine politischen, ideologischen, religiösen oder weltanschaulichen Ziele verfolge oder mit unlauteren Mitteln Einfluss auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft gewinnen wolle. 22 Die Frage der Vereinbarkeit der Erklärung der Bundesrepublik Deutschland mit Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ stelle sich jedoch nur, falls zuvor festgestellt werde, dass die dort eingeräumte Möglichkeit ihrerseits mit Art. 50 der Charta vereinbar sei. 23 Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht Bamberg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 55 SDÜ insoweit mit Art. 50 der Charta vereinbar und noch gültig, als er vom Verbot der Doppelverfolgung die Ausnahme zulässt, dass eine Vertragspartei bei der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung dieses Übereinkommens erklären kann, dass sie nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen dieser Vertragspartei gerichtete Straftat darstellt? 2. Für den Fall, dass Frage 1 bejaht wird: Stehen die Art. 54 und 55 SDÜ sowie Art. 50 und 52 der Charta einer Auslegung der von der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des SDÜ in Bezug auf § 129 StGB abgegebenen Erklärung durch die deutschen Gerichte dahin gehend entgegen, dass von der Erklärung auch solche kriminellen Vereinigungen – wie die im Ausgangsverfahren vorliegende – erfasst werden, die ausschließlich Vermögenskriminalität betreiben und darüber hinaus keine politischen, ideologischen, religiösen oder weltanschaulichen Ziele verfolgen und auch nicht mit unlauteren Mitteln Einfluss auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft gewinnen wollen? Verfahren vor dem Gerichtshof 24 Das vorlegende Gericht hat beantragt, die Rechtssache nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen. Hilfsweise hat es beantragt, die Rechtssache gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. 25 Was erstens den Antrag auf Anwendung des Eilvorabentscheidungsverfahrens betrifft, hat die Fünfte Kammer auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts am 7. Juli 2021 entschieden, dass diesem Antrag nicht stattzugeben ist, da die in Art. 107 der Verfahrensordnung vorgesehenen Voraussetzungen für die Dringlichkeit nicht erfüllt sind. 26 Was zweitens den Antrag auf Anwendung des beschleunigten Verfahrens angeht, hat der Präsident des Gerichtshofs nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, diesem Antrag nicht stattzugeben. 27 In Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist nämlich vorgesehen, dass, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert, der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. 28 Zum einen stellt aber die Rechtsunsicherheit bei einer gesuchten Person wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden keinen außergewöhnlichen Umstand dar, der geeignet wäre, die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens zu rechtfertigen (Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. Dezember 2015, Vilkas, C‑640/15, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:862, Rn. 10 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29 Zum anderen vermag der Umstand, dass sich ein Vorabentscheidungsersuchen auf die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bezieht, es für sich genommen nicht zu rechtfertigen, die Rechtssache einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, und die Tatsache, dass sich der Betroffene derzeit nicht in Haft befindet, stellt einen Grund dar, einem Antrag auf ein beschleunigtes Verfahren nicht stattzugeben (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. September 2018, Minister for Justice and Equality, C‑508/18 und C‑509/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:766, Rn. 11 und 13 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Zu den Vorlagefragen Einleitende Bemerkungen 30 Dem Vorabentscheidungsersuchen lässt sich entnehmen, dass das vorlegende Gericht nicht nur Zweifel hinsichtlich der in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehenen Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem hegt, sondern auch unsicher ist, ob die Strafverfolgung des Beschwerdeführers des Ausgangsverfahrens unter diesen Grundsatz fällt. 31 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesem Grundsatz um einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts handelt, der nunmehr in Art. 50 der Charta niedergelegt ist (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Außerdem ergibt sich der Grundsatz ne bis in idem, der auch in Art. 54 SDÜ verankert ist, aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Diese Bestimmung ist mithin im Licht von Art. 50 der Charta auszulegen; sie gewährleistet, dass dessen Wesensgehalt gewahrt wird (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). 33 Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. So setzt die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28). 34 Was im Einzelnen die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 31). 35 Hierzu ist in Anbetracht der vom vorlegenden Gericht gemachten Angaben sowie der Ausführungen der Beteiligten sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat im Sinne von Art. 50 der Charta handelt, das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend ist, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Diese Bestimmung verbietet es somit, wegen derselben Tat mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren zu verhängen (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 128 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Ferner ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ebenfalls, dass die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich sind, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 37 Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung „idem“ eine identische materielle Tat erfordert. Folglich findet der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung, wenn der fragliche Sachverhalt nicht identisch, sondern nur ähnlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 129 und die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, ist die Identität der materiellen Tat als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 130 und die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Die Prüfung, ob es sich bei den Taten, die Gegenstand der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafverfolgung sind, um dieselben handelt wie diejenigen, die von den österreichischen Gerichten rechtskräftig abgeurteilt worden sind, obliegt dem für die Tatsachenfeststellungen allein zuständigen vorlegenden Gericht und nicht dem Gerichtshof. Gleichwohl kann der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts im Rahmen der Beurteilung der Identität der Taten geben (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Dem Vorabentscheidungsersuchen lässt sich entnehmen, dass der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens eine kriminelle Vereinigung von grenzüberschreitendem Ausmaß gebildet und sich an ihr beteiligt haben soll, diese Vereinigung nach einem ausgeklügelten Modus operandi vorgegangen sein soll und ihre Machenschaften bei tausenden von Opfern erhebliche Vermögensschäden verursacht haben sollen, wobei die geschädigten Personen u. a. in Deutschland und in Österreich wohnten. 41 Nach den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen wurde der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens in Österreich rechtskräftig wegen „gewerbsmäßigen schweren Betrugs und Geldwäscherei“ verurteilt. 42 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Unionsgesetzgeber der Bekämpfung der organisierten Kriminalität eine besondere Bedeutung beimisst, wie dies aus dem ihr gewidmeten Rahmenbeschluss 2008/841 hervorgeht. In dessen erstem Erwägungsgrund heißt es nämlich u. a., dass eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten erforderlich ist, um der von kriminellen Vereinigungen ausgehenden Gefahr und der Ausbreitung dieser Vereinigungen zu begegnen und den Erwartungen der Bürger und den eigenen Bedürfnissen der Mitgliedstaaten zu entsprechen. So verpflichten die Art. 2 und 3 dieses Rahmenbeschlusses die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um zum einen Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit einer kriminellen Vereinigung stehen, als Straftatbestände zu bewerten und zum anderen sicherzustellen, dass diese Straftaten mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwei bis fünf Jahren bedroht werden. 43 Unter diesen Umständen wird das vorlegende Gericht für die Klärung der Frage, ob der Grundsatz ne bis in idem auf das bei ihm anhängige Verfahren anzuwenden ist, insbesondere zu beurteilen haben, inwieweit die vom Landesgericht Wien bereits gegen den Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens ausgesprochene Verurteilung auf demselben Sachverhalt beruht wie dem, der ihm in dem vom Amtsgericht Bamberg gegen ihn ausgestellten Europäischen Haftbefehl vorgeworfen wird, oder ob sich die Verurteilung vielmehr, wie u. a. in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof angesprochen, lediglich auf betrügerische Handlungen gegen in Österreich wohnhafte Geschädigte bezog, nicht aber auf Handlungen zum Nachteil von in Deutschland wohnhaften Personen. Im zweiten Fall kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die frühere rechtskräftige österreichische Entscheidung über den Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens auf denselben Sachverhalt bezieht, dessentwegen in Deutschland ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Es dürfte allenfalls angenommen werden, dass sich die frühere Entscheidung auf einen ähnlichen Sachverhalt bezieht, was jedoch, wie sich aus der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, nicht ausreicht, um die Voraussetzung „idem“ als erfüllt anzusehen. 44 Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind vorbehaltlich dieser einleitenden Bemerkungen zu beantworten. Zur ersten Frage 45 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ, soweit darin zugelassen wird, dass ein Mitgliedstaat erklärt, nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden zu sein, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat darstellt, im Hinblick auf Art. 50 der Charta gültig ist. 46 Wie in den Rn. 31 und 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist der Grundsatz ne bis in idem in Art. 54 SDÜ, das durch das dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft durch den Vertrag von Amsterdam beigefügte Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union (ABl. 1997, C 340, S. 93) in das Unionsrecht eingefügt wurde, wie auch in Art. 50 der Charta niedergelegt. 47 Somit stellt die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Möglichkeit eines Mitgliedstaats, von diesem Grundsatz abzuweichen, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat darstellt, eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta garantierten Grundrechts dar. 48 Eine solche Einschränkung kann allerdings auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 50 Im vorliegenden Fall ist die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem erstens als gesetzlich vorgesehen anzusehen, da sie sich aus Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ ergibt (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 57). 51 Das Erfordernis, wonach jede Einschränkung der Grundrechtsausübung gesetzlich vorgesehen sein muss, impliziert, dass die gesetzliche Grundlage für den Grundrechtseingriff den Umfang, in dem die Ausübung des betreffenden Rechts eingeschränkt wird, selbst festlegen muss, deckt sich aber insoweit weitgehend mit den Anforderungen an Klarheit und Genauigkeit, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, anhand dessen diese Grundlage zu prüfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 52 Zweitens ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta wahrt, wenn diese Einschränkung ausschließlich darin besteht, denselben Sachverhalt erneut zu verfolgen und zu ahnden, um ein anderes Ziel zu verfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43). 53 Insoweit gilt nach dem Wortlaut von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ die dort vorgesehene Ausnahme von diesem Grundsatz nur dann, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit des Mitgliedstaats, der von dieser Ausnahme Gebrauch machen möchte, oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat darstellt. 54 Ohne dass im vorliegenden Fall eine abschließende Definition erforderlich wäre, was von dem Begriff der „Sicherheit des Staates“ umfasst ist, ist dieser Begriff jedenfalls, wie der Generalanwalt in Nr. 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dem Begriff der „nationalen Sicherheit“ anzugleichen, der u. a. in Art. 4 Abs. 2 EUV verwendet wird. 55 Zu dem zuletzt genannten Begriff hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das Ziel der Wahrung der nationalen Sicherheit dem zentralen Anliegen entspricht, die wesentlichen Funktionen des Staates und die grundlegenden Interessen der Gesellschaft durch die Verhütung und Ahndung von Tätigkeiten zu schützen, die geeignet sind, die tragenden Strukturen eines Landes im Bereich der Verfassung, Politik oder Wirtschaft oder im sozialen Bereich in schwerwiegender Weise zu destabilisieren und insbesondere die Gesellschaft, die Bevölkerung oder den Staat als solchen unmittelbar zu bedrohen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 135, sowie vom 20. September 2022, SpaceNet und Telekom Deutschland, C‑793/19 und C‑794/19, EU:C:2022:702, Rn. 92 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 56 Daraus ergibt sich, dass die Straftaten, für die Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem zulässt, da sie die Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats beeinträchtigen, neben ihrer besonderen Schwere diesen Mitgliedstaat selbst betreffen müssen. Das Gleiche gilt für die übrigen in dieser Bestimmung genannten Interessen des Mitgliedstaats. Da sie für diesen Mitgliedstaat gleichermaßen wesentlich wie seine Sicherheit sein müssen, müssen sie nämlich von einer seiner Sicherheit vergleichbaren Bedeutung sein und folglich dem Mitgliedstaat ebenso immanent sein. 57 Soweit Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ für einen Mitgliedstaat die Möglichkeit vorsieht, für eine gegen seine Sicherheit oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem zuzulassen, wahrt diese Bestimmung daher den Wesensgehalt dieses Grundsatzes, da sie diesem Mitgliedstaat ermöglicht, Straftaten zu ahnden, die ihn selbst betreffen, und damit Ziele zu verfolgen, die sich zwangsläufig von denen unterscheiden, aus denen die verfolgte Person bereits in einem anderen Mitgliedstaat abgeurteilt wurde. 58 Drittens entspricht die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem in Anbetracht der Bedeutung der Ahndung von Beeinträchtigungen der Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung. 59 Was viertens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angeht, so verlangt dieser Grundsatz, dass die Einschränkungen, die insbesondere durch Unionsrechtsakte an den in der Charta niedergelegten Rechten und Freiheiten vorgenommen werden können, nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist. Außerdem kann eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung nicht verfolgt werden, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie mit den von der Maßnahme betroffenen Grundrechten in Einklang gebracht werden muss, indem eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der fraglichen Rechte vorgenommen wird, damit die durch diese Maßnahme bedingten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. Daher ist die Möglichkeit, eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta garantierten Grundsatzes ne bis in idem zu rechtfertigen, zu beurteilen, indem die Schwere des mit einer solchen Einschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die mit ihr verfolgte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Hierzu ist anzumerken, dass die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Möglichkeit geeignet ist, die dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung der Ahndung von Beeinträchtigungen der Sicherheit eines Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen zu erreichen. 61 In Anbetracht der Art und der besonderen Schwere derartiger Beeinträchtigungen übersteigt die Bedeutung dieses dem Gemeinwohl dienenden Ziels das Ziel, die Kriminalität im Allgemeinen, auch schwere Kriminalität, zu bekämpfen. Vorbehaltlich der Erfüllung der übrigen in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Anforderungen ist ein solches Ziel daher geeignet, Maßnahmen zu rechtfertigen, die Grundrechtseingriffe enthalten, die nicht erlaubt wären, um Straftaten im Allgemeinen zu verfolgen und zu ahnden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 136, und vom 5. April 2022, Commissioner of the Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Dies ist u. a. bei einer Maßnahme der Fall, nach der für einen Mitgliedstaat die Möglichkeit besteht, eine Erklärung abzugeben, bei der Verfolgung und Ahndung von Taten, die eine gegen seine Sicherheit oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtete Straftat darstellen, nicht durch den Grundsatz ne bis in idem gebunden zu sein, wenn die Taten bereits Gegenstand eines ausländischen Urteils waren. Insoweit ist auch darauf hinzuweisen, dass Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ aufgrund seines besonderen Zwecks nur sachlich beschränkte Ausnahmen von diesem Grundsatz zulässt. 63 Zudem ist im Hinblick auf die zwingende Erforderlichkeit der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme vom angeführten Grundsatz zunächst festzustellen, dass Art. 55 Abs. 2 SDÜ verlangt, dass ein Mitgliedstaat, der eine Erklärung betreffend die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ genannten Ausnahme abgibt, die Arten von Straftaten, auf die diese Ausnahme Anwendung finden kann, bezeichnet. Somit müssen Mitgliedstaaten, die von dieser Ausnahme Gebrauch machen möchten, klare und präzise Regeln aufstellen, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, für welche Handlungen und Unterlassungen eine erneute Strafverfolgung in Frage kommt, auch wenn sie bereits Gegenstand eines ausländischen Urteils waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 51). 64 Weiterhin wird nach Art. 56 SDÜ, wenn ein Mitgliedstaat eine erneute Verfolgung gegen eine Person einleitet, die bereits durch einen anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat rechtskräftig abgeurteilt wurde, zum einen jede in dessen Hoheitsgebiet wegen dieser Tat erlittene Freiheitsentziehung auf eine etwa zu verhängende Sanktion angerechnet und zum anderen werden, soweit das nationale Recht dies erlaubt, andere als freiheitsentziehende Sanktionen ebenfalls berücksichtigt, sofern sie bereits vollstreckt wurden. 65 Somit ist die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Möglichkeit, eine Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem zuzulassen, an Regeln gebunden, mit denen sichergestellt werden kann, dass die sich daraus für die Betroffenen ergebenden Belastungen auf das zur Erreichung des in Rn. 58 des vorliegenden Urteils genannte Ziel zwingend Erforderliche beschränkt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 54). 66 Eine derartige Möglichkeit geht folglich nicht über das hinaus, was geeignet und erforderlich ist, um einem Mitgliedstaat die Ahndung von Beeinträchtigungen seiner Sicherheit oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen zu ermöglichen. 67 Nach alledem hat die Prüfung der ersten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ im Hinblick auf Art. 50 der Charta beeinträchtigen könnte. Zur zweiten Frage 68 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ in Verbindung mit Art. 50 und Art. 52 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Praxis entgegensteht, nach der die Gerichte eines Mitgliedstaats die von diesem gemäß Art. 55 Abs. 1 SDÜ abgegebene Erklärung dahin auslegen, dass dieser Mitgliedstaat hinsichtlich der Straftat der Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht an Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die kriminelle Vereinigung, an der die verfolgte Person beteiligt war, ausschließlich Vermögensdelikte begangen hat. 69 Wenn ein Mitgliedstaat mit einer gemäß Art. 55 Abs. 1 SDÜ abgegebenen Erklärung von der Möglichkeit Gebrauch machen möchte, die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem zu nutzen, indem er erklärt, für die bezeichneten Straftaten nicht an die Bestimmungen von Art. 54 SDÜ gebunden zu sein, kann eine solche Erklärung Art. 50 und Art. 52 Abs. 1 der Charta beachten, sofern die vom SDÜ hierfür vorgesehenen Anforderungen erfüllt sind, die – wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt – die Vereinbarkeit einer solchen Möglichkeit mit Art. 50 der Charta sicherstellen. 70 Somit ist zunächst klarzustellen, dass über die Frage nach der Bedeutung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straftaten hinaus die in Rn. 63 des vorliegenden Urteils dargestellten Anforderungen erfüllt sein müssen. Zum Zeitpunkt der Ratifikation des SDÜ hat die Bundesrepublik Deutschland eine im Bundesgesetzblatt veröffentlichte Erklärung abgegeben, in der gemäß Art. 55 Abs. 2 SDÜ angegeben wird, dass sie durch Art. 54 SDÜ u. a. nicht gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, den Straftatbestand von § 129 StGB erfüllt. 71 Damit steht fest, dass klare und präzise Regeln aufgestellt wurden, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, für welche Handlungen und Unterlassungen eine erneute Strafverfolgung in Frage kommt, auch wenn sie bereits Gegenstand eines ausländischen Urteils waren. Dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. 72 Hierzu ist klarzustellen, dass das Bestehen solcher Regeln nicht damit in Abrede gestellt werden kann, dass, wie u. a. die Republik Österreich in ihren schriftlichen Erklärungen geltend macht, diese Regeln die Durchführung von Recherchen notwendig machen, die ein gewisses juristisches Fachwissen voraussetzen. 73 Wie der Gerichtshof entschieden hat, ist nämlich der Umstand, dass der Betroffene zum einen neben dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen die Auslegung durch die nationalen Gerichte zu berücksichtigen hat und dass er zum anderen gezwungen ist, fachkundigen Rat einzuholen, um zu beurteilen, welche Folgen sich aus einer bestimmten Handlung ergeben können, für sich genommen nicht geeignet, die Klarheit und Genauigkeit der Regeln zu Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BV, C‑570/20, EU:C:2022:348, Rn. 39 und 43). 74 In Ansehung dieser Vorbemerkungen ist hervorzuheben, dass die Strafverfolgung, die in Anwendung einer Erklärung eines Mitgliedstaats zur Umsetzung der in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehenen Möglichkeit einer Ausnahme von diesem Grundsatz durchgeführt wird, im Einklang mit dieser Bestimmung nur darauf gerichtet sein darf, Beeinträchtigungen der Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen zu ahnden. Die nationalen Gerichte haben folglich zu prüfen, ob die Möglichkeit besteht, die gemäß Art. 55 Abs. 1 SDÜ abgegebene Erklärung des betreffenden Mitgliedstaats dahin auszulegen, dass eine nach dieser Bestimmung eingeleitete Strafverfolgung deren Anforderungen entspricht. 75 Hierzu ist erstens anzumerken, dass zum ersten Teil der in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehenen Ausnahme Straftaten wie Spionage, Hochverrat oder schwere Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit der öffentlichen Gewalt gehören, die schon ihrer Natur nach mit der Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder anderen seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen im Zusammenhang stehen. 76 Daraus lässt sich allerdings nicht ableiten, dass der Anwendungsbereich dieser Ausnahme zwingend auf derartige Straftaten beschränkt wäre. Es lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass die Verfolgung von Straftaten, deren Tatbestand keine spezifische Beeinträchtigung der Sicherheit des Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen beinhaltet, ebenfalls unter diese Ausnahme fallen kann, wenn in Anbetracht der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, mit hinreichender Gewissheit nachgewiesen werden kann, dass der Zweck der Strafverfolgung der in Rede stehenden Tat darauf ausgerichtet ist, Beeinträchtigungen der Sicherheit des Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen zu ahnden. 77 Zweitens muss – wie sich aus den Rn. 55, 56, 61 und 62 des vorliegenden Urteils ergibt – die Verfolgung einer Straftat, die in einer Erklärung bezeichnet ist, mit der von der in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, soweit diese Verfolgung mit der Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder anderen seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen in Zusammenhang steht, eine Tat betreffen, die den betreffenden Mitgliedstaat selbst und besonders schwerwiegend beeinträchtigt. 78 Nicht jede kriminelle Vereinigung beeinträchtigt aber zwingend und als solche die Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen. Somit darf die Straftat der Bildung einer kriminellen Vereinigung nur für solche Vereinigungen zu einer Strafverfolgung gemäß der Ausnahme von dem in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehenen Grundsatz ne bis in idem führen, deren Handlungen aufgrund von sie auszeichnenden Merkmalen als derartige Beeinträchtigungen eingestuft werden können. 79 Die vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen beziehen sich in diesem Zusammenhang darauf, welche Relevanz dem Umstand beizumessen ist, dass eine kriminelle Vereinigung ausschließlich Vermögenskriminalität betreibt, ohne politische, ideologische, religiöse oder weltanschauliche Ziele zu verfolgen oder mit unlauteren Mitteln Einfluss auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft gewinnen zu wollen. 80 Hierzu ist zunächst klarzustellen, dass die in der vorstehenden Randnummer angeführten und auf die Ziele oder den angestrebten Einfluss bezogenen Merkmale ohne eine Berücksichtigung der Schwere der Schäden, die die Handlungen der kriminellen Vereinigung dem Mitgliedstaat zugefügt haben, nicht ausreichen können, um sie als eine Vereinigung einzustufen, die zwangsläufig die Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen beeinträchtigt. 81 Weiterhin lässt sich nicht ausschließen, dass eine kriminelle Vereinigung, die ausschließlich Vermögenskriminalität betreibt, unter bestimmten Umständen die Sicherheit eines Mitgliedstaats oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen beeinträchtigt. Insoweit müssen die Straftaten, unabhängig von den tatsächlichen Zielen der Vereinigung und über die mit jeder Straftat verbundene Störung der öffentlichen Ordnung hinaus, den Mitgliedstaat selbst schädigen, damit die Handlungen dieser kriminellen Vereinigung als eine derartige Beeinträchtigung eingestuft werden können. 82 In Anbetracht der dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ist trotz des Umfangs der Vermögensschäden bei den geschädigten Personen nicht ersichtlich, dass die Handlungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden kriminellen Vereinigung bewirkt hätten, dass die Bundesrepublik Deutschland selbst geschädigt worden wäre, so dass die Handlungen der genannten kriminellen Vereinigung wohl nicht zu Straftaten zählen, die gegen die Sicherheit des Staates oder andere seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen gerichtet sind, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. 83 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ in Verbindung mit Art. 50 und Art. 52 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Praxis nicht entgegensteht, nach der die Gerichte eines Mitgliedstaats die von diesem gemäß Art. 55 Abs. 1 SDÜ abgegebene Erklärung dahin auslegen, dass dieser Mitgliedstaat hinsichtlich der Straftat der Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht an Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die kriminelle Vereinigung, an der die verfolgte Person beteiligt war, ausschließlich Vermögensdelikte begangen hat, sofern die Strafverfolgung in Anbetracht der Handlungen dieser Vereinigung Beeinträchtigungen der Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen ahnden soll. Kosten 84 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Prüfung der ersten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen im Hinblick auf Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beeinträchtigen könnte. 2. Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen in Verbindung mit Art. 50 und Art. 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer Praxis nicht entgegensteht, nach der die Gerichte eines Mitgliedstaats die von diesem gemäß Art. 55 Abs. 1 dieses Übereinkommens abgegebene Erklärung dahin auslegen, dass dieser Mitgliedstaat hinsichtlich der Straftat der Bildung einer kriminellen Vereinigung nicht an Art. 54 des Übereinkommens gebunden ist, wenn die kriminelle Vereinigung, an der die verfolgte Person beteiligt war, ausschließlich Vermögensdelikte begangen hat, sofern die Strafverfolgung in Anbetracht der Handlungen dieser Vereinigung Beeinträchtigungen der Sicherheit dieses Mitgliedstaats oder anderer seiner gleichermaßen wesentlichen Interessen ahnden soll. Regan Rossi Gratsias Ilešič Jarukaitis Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 23. März 2023. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Kammerpräsident E. Regan (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 9. März 2023.#Francoise Grossetête gegen Europäisches Parlament.#Rechtsmittel – Institutionelles Recht – Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Änderung der zusätzlichen freiwilligen Ruhegehaltsregelung – Einzelentscheidung über die Festsetzung der Ansprüche auf ein zusätzliches freiwilliges Ruhegehalt – Einrede der Rechtswidrigkeit – Zuständigkeit des Präsidiums des Parlaments – Erworbene Rechte und Anwartschaften – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Rechtssicherheit.#Rechtssache C-714/21 P.
62021CJ0714
ECLI:EU:C:2023:187
2023-03-09T00:00:00
Ćapeta, Gerichtshof
EUR-Lex - CELEX:62021CJ0714 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62021CJ0714 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62021CJ0714 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 9. März 2023.#Gerardo Galeote und Graham R. Watson gegen Europäisches Parlament.#Rechtsmittel – Institutionelles Recht – Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Änderung der zusätzlichen freiwilligen Ruhegehaltsregelung – Einzelentscheidung über die Festsetzung der Ansprüche auf ein zusätzliches freiwilliges Ruhegehalt – Einrede der Rechtswidrigkeit – Zuständigkeit des Präsidiums des Parlaments – Erworbene Rechte und Anwartschaften – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Rechtssicherheit.#Verbundene Rechtssachen C-715/21 P und C-716/21 P.
62021CJ0715
ECLI:EU:C:2023:190
2023-03-09T00:00:00
Ćapeta, Gerichtshof
EUR-Lex - CELEX:62021CJ0715 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62021CJ0715 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62021CJ0715 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. Dezember 2022.#TU und RE gegen Google LLC.#Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46/EG – Art. 12 Buchst. b – Art. 14 Abs. 1 Buchst. a – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 17 Abs. 3 Buchst. a – Betreiber einer Internetsuchmaschine – Anhand des Namens einer Person durchgeführte Suche – Anzeige eines Links zu angeblich unrichtige Informationen enthaltenden Artikeln in der Übersicht der Ergebnisse einer Suche – Anzeige der diese Artikel bebildernden Fotos in Gestalt von Vorschaubildern (,thumbnails‘) in der Übersicht der Ergebnisse einer Bildersuche – An den Betreiber der Suchmaschine gerichteter Auslistungsantrag – Abwägung der Grundrechte – Art. 7, 8, 11 und 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verpflichtungen und Verantwortungsbereich des Betreibers der Suchmaschine bei der Bearbeitung eines Auslistungsantrags – Beweislast der die Auslistung begehrenden Person.#Rechtssache C-460/20.
62020CJ0460
ECLI:EU:C:2022:962
2022-12-08T00:00:00
Pitruzzella, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62020CJ0460 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 8. Dezember 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Richtlinie 95/46/EG – Art. 12 Buchst. b – Art. 14 Abs. 1 Buchst. a – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 17 Abs. 3 Buchst. a – Betreiber einer Internetsuchmaschine – Anhand des Namens einer Person durchgeführte Suche – Anzeige eines Links zu angeblich unrichtige Informationen enthaltenden Artikeln in der Übersicht der Ergebnisse einer Suche – Anzeige der diese Artikel bebildernden Fotos in Gestalt von Vorschaubildern (thumbnails) in der Übersicht der Ergebnisse einer Bildersuche – An den Betreiber der Suchmaschine gerichteter Auslistungsantrag – Abwägung der Grundrechte – Art. 7, 8, 11 und 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verpflichtungen und Verantwortungsbereich des Betreibers der Suchmaschine bei der Bearbeitung eines Auslistungsantrags – Beweislast der die Auslistung begehrenden Person“ In der Rechtssache C‑460/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 27. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 24. September 2020, in dem Verfahren TU, RE gegen Google LLC erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi und des Kammerpräsidenten D. Gratsias, der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), F. Biltgen, N. Piçarra, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer, Generalanwalt: G. Pitruzzella, Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Januar 2022, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von TU und RE, vertreten durch Rechtsanwälte M. Siegmann und T. Stöber, – der Google LLC, vertreten durch Rechtsanwältinnen B. Heymann und J. Spiegel sowie Rechtsanwalt J. Wimmers, – der griechischen Regierung, vertreten durch S. Charitaki, A. Magrippi und M. Tassopoulou als Bevollmächtigte, – der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Kunnert, A. Posch und J. Schmoll als Bevollmächtigte, – der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und L. Liţu als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, F. Erlbacher, H. Kranenborg und D. Nardi als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. April 2022 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO) sowie von Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31) unter Berücksichtigung der Art. 7, 8, 11 und 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TU und RE auf der einen und der Google LLC auf der anderen Seite über das Begehren, dass zum einen Artikel, in denen TU und RE identifiziert sind, aus den Ergebnissen einer anhand ihrer Namen durchgeführten Suche ausgelistet werden, und zum anderen Fotos, die TU und RE darstellen und in Gestalt von Vorschaubildern („thumbnails“) angezeigt werden, in den Ergebnissen einer Bildersuche gelöscht werden. Rechtlicher Rahmen Richtlinie 95/46 3 Art. 1 („Gegenstand der Richtlinie“) Abs. 1 der Richtlinie 95/46 sah vor: „Die Mitgliedstaaten gewährleisten nach den Bestimmungen dieser Richtlinie den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere den Schutz der Privatsphäre natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten.“ 4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 95/46 bestimmte: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck a) ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen über eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person (‚betroffene Person‘); … b) ‚Verarbeitung personenbezogener Daten‘ (‚Verarbeitung‘) jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten …; … d) ‚für die Verarbeitung Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder jede andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet. … …“ 5 Art. 6 der Richtlinie 95/46 in Abschnitt I („Grundsätze in Bezug auf die Qualität der Daten“) ihres Kapitels II lautete: „(1)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten … d) sachlich richtig und, wenn nötig, auf den neuesten Stand gebracht sind; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit im Hinblick auf die Zwecke, für die sie erhoben oder weiterverarbeitet werden, nichtzutreffende oder unvollständige Daten gelöscht oder berichtigt werden; …“ 6 Art. 12 („Auskunftsrecht“) der Richtlinie 95/46 in Abschnitt V („Auskunftsrecht der betroffenen Person“) ihres Kapitels II lautete: „Die Mitgliedstaaten garantieren jeder betroffenen Person das Recht, vom für die Verarbeitung Verantwortlichen Folgendes zu erhalten: … b) je nach Fall die Berichtigung, Löschung oder Sperrung von Daten, deren Verarbeitung nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie entspricht, insbesondere wenn diese Daten unvollständig oder unrichtig sind; …“ 7 Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 in Abschnitt VII („Widerspruchsrecht der betroffenen Person“) ihres Kapitels II sah vor: „Die Mitgliedstaaten erkennen das Recht der betroffenen Person an, a) zumindest in den Fällen von Artikel 7 Buchstaben e) und f) jederzeit aus überwiegenden, schutzwürdigen, sich aus ihrer besonderen Situation ergebenden Gründen dagegen Widerspruch einlegen zu können, dass sie betreffende Daten verarbeitet werden; dies gilt nicht bei einer im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen entgegenstehenden Bestimmung. Im Fall eines berechtigten Widerspruchs kann sich die vom für die Verarbeitung Verantwortlichen vorgenommene Verarbeitung nicht mehr auf diese Daten beziehen; …“ DSGVO 8 Gemäß Art. 94 Abs. 1 der DSGVO hob diese Verordnung die Richtlinie 95/46 mit Wirkung vom 25. Mai 2018 auf. Nach ihrem Art. 99 Abs. 2 gilt die DSGVO seit diesem Zeitpunkt. 9 In den Erwägungsgründen 4, 39 und 65 der DSGVO heißt es: „(4) Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der Charta anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation, Schutz personenbezogener Daten, Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, unternehmerische Freiheit, Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren und Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen. … (39) … Es sollten alle vertretbaren Schritte unternommen werden, damit unrichtige personenbezogene Daten gelöscht oder berichtigt werden. … … (65) Eine betroffene Person sollte ein Recht auf Berichtigung der sie betreffenden personenbezogenen Daten besitzen sowie ein ‚Recht auf Vergessenwerden‘, wenn die Speicherung ihrer Daten gegen diese Verordnung oder gegen das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten, dem der Verantwortliche unterliegt, verstößt. … Die weitere Speicherung der personenbezogenen Daten sollte jedoch rechtmäßig sein, wenn dies für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information … erforderlich ist.“ 10 Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) der DSGVO in ihrem Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) lautet: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck: 1. ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden ‚betroffene Person‘) beziehen; … 2. ‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten …; … 7. ‚Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet; … …“ 11 Art. 5 („Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten“) der DSGVO in ihrem Kapitel II („Grundsätze“) bestimmt: „(1)   Personenbezogene Daten müssen … d) sachlich richtig und erforderlichenfalls auf dem neuesten Stand sein; es sind alle angemessenen Maßnahmen zu treffen, damit personenbezogene Daten, die im Hinblick auf die Zwecke ihrer Verarbeitung unrichtig sind, unverzüglich gelöscht oder berichtigt werden (‚Richtigkeit‘); … (2)   Der Verantwortliche ist für die Einhaltung des Absatzes 1 verantwortlich und muss dessen Einhaltung nachweisen können (‚Rechenschaftspflicht‘).“ 12 Abschnitt 3 („Berichtigung und Löschung“) des Kapitels III der DSGVO enthält u. a. deren Art. 16 und 17. 13 Art. 16 („Recht auf Berichtigung“) der DSGVO sieht vor: „Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen unverzüglich die Berichtigung sie betreffender unrichtiger personenbezogener Daten zu verlangen. Unter Berücksichtigung der Zwecke der Verarbeitung hat die betroffene Person das Recht, die Vervollständigung unvollständiger personenbezogener Daten – auch mittels einer ergänzenden Erklärung – zu verlangen.“ 14 In Art. 17 („Recht auf Löschung [‚Recht auf Vergessenwerden‘]) der DSGVO heißt es: „(1)   Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, und der Verantwortliche ist verpflichtet, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, sofern einer der folgenden Gründe zutrifft: a) Die personenbezogenen Daten sind für die Zwecke, für die sie erhoben oder auf sonstige Weise verarbeitet wurden, nicht mehr notwendig. b) Die betroffene Person widerruft ihre Einwilligung, auf die sich die Verarbeitung gemäß Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a oder Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a stützte, und es fehlt an einer anderweitigen Rechtsgrundlage für die Verarbeitung. c) Die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 1 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein und es liegen keine vorrangigen berechtigten Gründe für die Verarbeitung vor, oder die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 2 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein. d) Die personenbezogenen Daten wurden unrechtmäßig verarbeitet. e) Die Löschung der personenbezogenen Daten ist zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten erforderlich, dem der Verantwortliche unterliegt. f) Die personenbezogenen Daten wurden in Bezug auf angebotene Dienste der Informationsgesellschaft gemäß Artikel 8 Absatz 1 erhoben. (2)   Hat der Verantwortliche die personenbezogenen Daten öffentlich gemacht und ist er gemäß Absatz 1 zu deren Löschung verpflichtet, so trifft er unter Berücksichtigung der verfügbaren Technologie und der Implementierungskosten angemessene Maßnahmen, auch technischer Art, um für die Datenverarbeitung Verantwortliche, die die personenbezogenen Daten verarbeiten, darüber zu informieren, dass eine betroffene Person von ihnen die Löschung aller Links zu diesen personenbezogenen Daten oder von Kopien oder Replikationen dieser personenbezogenen Daten verlangt hat. (3)   Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, soweit die Verarbeitung erforderlich ist a) zur Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information; …“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 15 TU ist Mitglied des Verwaltungsrats und Alleinaktionär einer Investmentgesellschaft sowie Präsident von deren Tochtergesellschaft, die gemeinsam mit anderen Gesellschaften eine Unternehmensgruppe bilden. Daneben ist er auch Alleingesellschafter einer dritten Gesellschaft, die Alleingesellschafterin einer vierten Gesellschaft ist, die wiederum 60 % der Anteile einer fünften Gesellschaft hält. 16 RE war die Lebensgefährtin von TU und bis Mai 2015 Prokuristin dieser vierten Gesellschaft. 17 Am 27. April, 4. Juni und 16. Juni 2015 erschienen drei Artikel, die das Anlagemodell der in Rn. 15 des vorliegenden Urteils genannten fünften Gesellschaft und der Unternehmensgruppe kritisch darstellten, auf der Website www.g…net (im Folgenden: Website g‑net). Der Artikel vom 4. Juni 2015 war zudem mit drei Fotos von TU jeweils am Steuer eines Luxusautos, im Innenraum eines Hubschraubers und vor einem Flugzeug sowie mit einem Foto von RE in einem Cabrio bebildert. 18 Der Betreiber der Website g‑net ist laut Impressum die G-LLC mit Sitz in New York (USA). Unternehmensziel der G-LLC ist nach eigenen Angaben, „durch aktive Aufklärung und permanente Transparenz nachhaltig zur Betrugsprävention in Wirtschaft und Gesellschaft beizutragen“. In verschiedenen Veröffentlichungen wurde kritisch über das Geschäftsmodell der G-LLC berichtet, u. a. mit dem Vorwurf, Unternehmen zu „erpressen“, indem sie zunächst negative Berichte über diese veröffentliche und danach gegen eine Geldsumme anbiete, die Berichte zu löschen oder deren Veröffentlichung zu verhindern. 19 Google wies in der Ergebnisübersicht die Artikel vom 4. Juni 2015 und 16. Juni 2015 aus, wenn in ihre Suchmaschine der Name und Vorname der Kläger des Ausgangsverfahrens – sowohl isoliert als auch in Verbindung mit bestimmten Firmennamen – eingegeben wurden, sowie den Artikel vom 27. April 2015, wenn bestimmte Firmennamen eingegeben wurden, und verlinkte auf diese Artikel. Außerdem zeigte Google bei einer Bildersuche auf dieser Suchmaschine die im Artikel vom 4. Juni 2015 enthaltenen Fotos der Kläger des Ausgangsverfahrens in der Ergebnisübersicht in Gestalt von Vorschaubildern an. Die Anzeige dieser Fotos endete spätestens im September 2017. Die Artikel sollen spätestens seit dem 28. Juni 2018 auf der Website g‑net nicht mehr verfügbar sein. 20 Die Kläger des Ausgangsverfahrens forderten Google als für die mit ihrer Suchmaschine vorgenommene Verarbeitung personenbezogener Daten verantwortliche Stelle zum einen auf, aus der Übersicht der Suchergebnisse die Links zu den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Artikeln auszulisten, weil sie unrichtige Behauptungen und verleumderische Ansichten enthielten, und zum anderen, die Vorschaubilder aus der Übersicht der Suchergebnisse zu entfernen. Sie behaupteten, dass auch sie von der G-LLC „erpresst“ worden seien. 21 Google lehnte es ab, dieser Aufforderung Folge zu leisten, wobei sie auf den beruflichen Kontext der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Artikel und Fotos hinwies und sich darauf berief, nicht gewusst zu haben, dass die in diesen Artikeln enthaltenen Informationen unrichtig seien. 22 Im Jahr 2015 erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens beim Landgericht Köln (Deutschland) eine Klage, die darauf abzielte, Google aufzugeben, aus ihren Übersichten der Suchergebnisse die Links zu den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Artikeln auszulisten und die in Gestalt von Vorschaubildern erfolgende Anzeige der die Kläger darstellenden Fotos zu beenden. Mit Urteil vom 22. November 2017 wies das Landgericht die Klage ab. 23 Gegen dieses Urteil legten die Kläger des Ausgangsverfahrens beim Oberlandesgericht Köln (Deutschland) Berufung ein, die mit Urteil vom 8. November 2018 zurückgewiesen wurde. Das Berufungsgericht führte aus, dass im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung der widerstreitenden Rechte und Interessen die spezifische Arbeitsweise und die besondere Bedeutung einer Suchmaschine für das Funktionieren des Internets maßgeblich zu gewichten seien. Da der Betreiber der Suchmaschine regelmäßig in keinem rechtlichen Verhältnis zu den Anbietern der verlinkten Inhalte stehe und ihm die Ermittlung des Sachverhalts und dessen auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme dieser Anbieter vorzunehmenden Bewertung nicht möglich sei, träfen ihn erst dann spezifische Verhaltenspflichten, wenn er durch einen konkreten Hinweis des Betroffenen Kenntnis von einer offensichtlichen und auf den ersten Blick klar erkennbaren Rechtsverletzung erlange. Diese Grundsätze gälten auch, wenn sich der Einsatz der Suchmaschine auf die Bildersuche beschränke, da die maßgebliche Interessenlage vergleichbar sei. 24 Ferner treffe die Beweislast, soweit maßgeblich auf den Wahrheitsgehalt der behaupteten Tatsache abzustellen sei, die Person, die die Auslistung begehre. Da im vorliegenden Fall die Kläger des Ausgangsverfahrens die Wahrheitswidrigkeit der über sie berichteten Tatsachen nicht bewiesen hätten, sei Google die abschließende Bewertung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Artikel nicht möglich, weshalb Google nicht zu deren Auslistung verpflichtet sei. Die in Gestalt von Vorschaubildern angezeigten Fotos könnten, soweit sie einem dieser Artikel beigefügt seien, als Bildnisse aus dem Bereich des Zeitgeschehens angesehen werden. 25 Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten beim Bundesgerichtshof (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Revision ein. 26 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Entscheidung über die Revision von der Auslegung des Unionsrechts abhänge, insbesondere von Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO sowie von Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46. 27 Zunächst hebt das vorlegende Gericht hervor, dass aus seiner Sicht der Antrag, Google aufzugeben, aus der Übersicht der Suchergebnisse die Links zu den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Artikeln auszulisten, in zeitlicher Hinsicht unter die DSGVO falle, während der Antrag, Google aufzugeben, aus der Übersicht der Ergebnisse der Bildersuche die Vorschaubilder zu entfernen, in zeitlicher Hinsicht unter die Richtlinie 95/46 falle, da die Vorschaubilder zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der DSGVO von der von Google betriebenen Suchmaschine nicht mehr angezeigt worden seien. In Bezug auf das zuletzt genannte Begehren ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof gleichwohl darum, diese Frage auch unter Berücksichtigung der DSGVO zu beantworten. 28 Sodann weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Artikel auf der Website g‑net nicht mehr verfügbar seien und Google die Vorschaubilder nicht mehr anzeige, das Interesse der Kläger des Ausgangsverfahrens an der Fortsetzung ihres Auslistungsbegehrens nicht habe entfallen lassen, da die Website g‑net lediglich angebe, dass diese Artikel aus verschiedenen Gründen „augenblicklich“ nicht verfügbar seien. Bei dieser Sachlage sei nicht gewährleistet, dass diese Artikel nicht zukünftig wieder online gestellt und von der Suchmaschine von Google erneut aufgelistet würden, wobei im Übrigen darauf hinzuweisen sei, dass Google diesen Auslistungsantrag nach wie vor für unberechtigt halte und an ihrer Weigerung, ihm stattzugeben, festhalte. 29 In der Sache führt das vorlegende Gericht als Erstes zur begehrten Auslistung der Links zu den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Artikeln aus der Übersicht der Suchergebnisse aus, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens dieses Begehren u. a. damit rechtfertigten, dass bestimmte Behauptungen in diesen Artikeln unrichtig seien. Daher stelle sich die Frage, ob sie die behauptete Unrichtigkeit dieser Behauptungen hätten nachweisen müssen oder zumindest eine gewisse Evidenz dieser Unrichtigkeit hätten aufzeigen müssen oder ob vielmehr Google entweder die Behauptungen der Kläger des Ausgangsverfahrens als richtig hätte zugrunde legen müssen oder den Sachverhalt selbst hätte aufklären müssen. 30 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts wird das Gebot der gleichberechtigten Abwägung der sich gegenüberstehenden Grundrechte aus den Art. 7 und 8 der Charta einerseits und den Art. 11 und 16 der Charta andererseits dann unterlaufen, wenn in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ausschließlich die eine oder die andere Seite die Beweislast trage. 31 Daher regt das vorlegende Gericht als Lösung an, dem Betroffenen aufzuerlegen, die Frage der Richtigkeit des aufgelisteten Inhalts einer zumindest vorläufigen Klärung dadurch zuzuführen, dass er den Inhalteanbieter gerichtlich in Anspruch nehme, sofern für den Betroffenen das Erreichen eines zumindest einstweiligen Rechtsschutzes nach den Umständen des Einzelfalls zumutbar sei. Zwar stehe der Betroffene nicht notwendig in einem Verhältnis zu dem Inhalteanbieter, so dass er die gleichen Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme wie der Suchmaschinenverantwortliche haben könne. Dieser Person sei jedoch bekannt, ob der aufgelistete Inhalt richtig sei. Ob dieser Person eine gerichtliche Inanspruchnahme des Inhalteanbieters zugemutet werden könne, könne z. B. davon abhängen, ob der Inhalteanbieter in der Europäischen Union ohne Weiteres in Anspruch genommen werden könne. 32 In dieser Hinsicht neigt das vorlegende Gericht zu der Auffassung, dass es für die betroffene Person regelmäßig zumutbar sei, einen namentlich bekannten Inhalteanbieter im Wege der einstweiligen Verfügung in Anspruch zu nehmen, nicht aber, einen anonymen Anbieter oder einen solchen, dem nicht zugestellt werden könnte, in Anspruch zu nehmen. Dagegen sei die tatsächliche Durchsetzbarkeit eines etwaigen Löschungstitels gegen den Inhalteanbieter für die Rechte im Verhältnis zum Suchmaschinenverantwortlichen unerheblich. 33 Als Zweites weist das vorlegende Gericht in Bezug auf den Antrag, Google aufzugeben, die in Gestalt von Vorschaubildern erfolgende Anzeige der im Artikel vom 4. Juni 2015 enthaltenen Fotos der Kläger des Ausgangsverfahrens zu beenden, zunächst darauf hin, dass diese Vorschaubilder zwar einen Link enthielten, mit dem man zur Website des Dritten, auf der das entsprechende Foto veröffentlicht worden sei, gelangen und somit vom Kontext dieser Veröffentlichung Kenntnis nehmen könne. Da in der Übersicht der Ergebnisse einer Bildersuche aber nur die Vorschaubilder angezeigt würden, ohne die Elemente des Kontexts dieser Veröffentlichung auf der Website des Dritten wiederzugeben, sei diese Übersicht als solche neutral und ermögliche es nicht, den Kontext der ursprünglichen Veröffentlichung zu erkennen. 34 Somit stelle sich die Frage, ob bei der im Rahmen von Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 bzw. Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO vorzunehmenden Abwägung nur das Vorschaubild als solches kontextneutral in der Ergebnisübersicht oder auch der ursprüngliche Kontext der Veröffentlichung des entsprechenden Bildes zu berücksichtigen sei. 35 Insoweit stellt das vorlegende Gericht fest, dass im Ausgangsverfahren, das nicht im Licht der breiten Öffentlichkeit stehende Personen betreffe, die fraglichen Fotos selbst keine für die öffentliche Meinungsbildung bedeutsame Aussage enthielten und sich ihnen für sich genommen ein überwiegendes Informationsinteresse im Sinne der in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen nicht entnehmen lasse. Im Zusammenhang mit dem auf der Website g‑net veröffentlichten Artikel vom 4. Juni 2015 erfüllten sie jedoch eine wichtige Belegfunktion zu der dort enthaltenen Textaussage, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens als Initiatoren und Geschäftsführer der in Rn. 15 des vorliegenden Urteils genannten vierten Gesellschaft und der Unternehmensgruppe einen hohen Lebensstandard genössen und über Luxusgüter verfügten, während sich die Mitarbeiter, der Vertrieb und die Kunden dieser Gesellschaften fragten, ob die getätigten Investitionen sicher seien. Sollte der Kontext, in dem diese Fotos ursprünglich veröffentlicht worden seien, zu berücksichtigen sein, wäre ihre Veröffentlichung als Vorschaubilder in der Ergebnisübersicht – die Rechtmäßigkeit der Textberichterstattung unterstellt – daher als gerechtfertigt anzusehen. 36 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts spricht für eine Berücksichtigung des Kontexts der ursprünglichen Veröffentlichung der Umstand, dass es sich bei Vorschaubildern technisch um eine Verlinkung auf die Internetseite des Dritten handele. Auch sei allgemein bekannt, dass dem verständigen Durchschnittsnutzer einer Bildersuchmaschine klar sei, dass die von der Suchmaschine in der Ergebnisübersicht zusammengestellten Vorschaubilder jeweils aus Veröffentlichungen Dritter herausgefiltert worden seien und die diesen Vorschaubildern entsprechenden Fotos dort in einem bestimmten Kontext dargestellt seien. 37 Allerdings sei zu berücksichtigen, dass der ursprüngliche Kontext der Veröffentlichung der Bilder bei der Anzeige des Vorschaubildes – im Unterschied zur Listung der sonstigen Ergebnisse – nicht benannt werde und auch im Übrigen nicht ersichtlich sei. Der Nutzer, dem es von vornherein lediglich auf die Anzeige des Bildes ankomme, habe in der Regel aber keinen Anlass, Ursprung und ursprünglichen Kontext der Veröffentlichung nachzuverfolgen. 38 Daher erscheine es zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung durch den Verantwortlichen der betreffenden Suchmaschine folgerichtig, der Abwägung nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 bzw. Art. 17 Abs. 3 der DSGVO nur die aus dem Vorschaubild selbst ersichtlichen Rechte und Interessen zugrunde zu legen. 39 Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist es mit dem Recht des Betroffenen auf Achtung seines Privatlebens (Art. 7 der Charta) und auf Schutz der ihn betreffenden personenbezogenen Daten (Art. 8 der Charta) vereinbar, bei der im Rahmen der Prüfung seines Auslistungsbegehrens gegen den Verantwortlichen eines Internet-Suchdienstes gemäß Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO vorzunehmenden Abwägung der widerstreitenden Rechte und Interessen aus den Art. 7, 8, 11 und 16 der Charta dann, wenn der Link, dessen Auslistung beantragt wird, zu einem Inhalt führt, der Tatsachenbehauptungen und auf Tatsachenbehauptungen beruhende Werturteile enthält, deren Wahrheit der Betroffene in Abrede stellt, und dessen Rechtmäßigkeit mit der Frage der Wahrheitsgemäßheit der in ihm enthaltenen Tatsachenbehauptungen steht und fällt, maßgeblich auch darauf abzustellen, ob der Betroffene in zumutbarer Weise – z. B. durch eine einstweilige Verfügung – Rechtsschutz gegen den Inhalteanbieter erlangen und damit die Frage der Wahrheit des vom Suchmaschinenverantwortlichen nachgewiesenen Inhalts einer zumindest vorläufigen Klärung zuführen könnte? 2. Ist im Falle eines Auslistungsbegehrens gegen den Verantwortlichen eines Internet-Suchdienstes, der bei einer Namenssuche nach Fotos von natürlichen Personen sucht, die Dritte im Zusammenhang mit dem Namen der Person ins Internet eingestellt haben, und der die von ihm aufgefundenen Fotos in seiner Ergebnisübersicht als Vorschaubilder („thumbnails“) zeigt, im Rahmen der nach Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 und Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO vorzunehmenden Abwägung der widerstreitenden Rechte und Interessen aus den Art. 7, 8, 11 und 16 der Charta der Kontext der ursprünglichen Veröffentlichung des Dritten maßgeblich zu berücksichtigen, auch wenn die Webseite des Dritten bei Anzeige des Vorschaubildes durch die Suchmaschine zwar verlinkt, aber nicht konkret benannt und der sich hieraus ergebende Kontext vom Internet-Suchdienst nicht mit angezeigt wird? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage Zur Zulässigkeit 40 Google äußert Zweifel an der Zulässigkeit der ersten Frage, da das damit aufgeworfene Problem hypothetischer Natur sei. Insbesondere präsentiere sich die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene Lösung abstrakt-schematisch und losgelöst von den konkreten Fakten des Ausgangsverfahrens. Zudem verfüge der Gerichtshof nicht über die für eine zweckdienliche Antwort erforderlichen Angaben. 41 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die Auslegung des Unionsrechts, um die er ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland,C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht – wie der Generalanwalt in Nr. 22 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – einen hinreichend genauen und vollständigen Rahmen des dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden tatsächlichen und rechtlichen Kontexts geliefert und hinreichend nachgewiesen, dass in diesem Zusammenhang eine Antwort auf die Vorlagefrage erforderlich ist. 44 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass sich die Verarbeitung personenbezogener Daten, die im Rahmen der Tätigkeit einer Suchmaschine ausgeführt wird, von der unterscheidet, die von den Herausgebern von Websites, die diese Daten auf einer Internetseite einstellen, vorgenommen wird, und zusätzlich zu dieser erfolgt (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 35). Da die betroffenen Rechte, Interessen und Beschränkungen bei einem Vorgehen der betroffenen Person gegen den Suchmaschinenbetreiber andere sein können als bei einem Vorgehen gegen den Inhalteanbieter, bedarf es für die Prüfung eines Auslistungsbegehrens nach Art. 17 der DSGVO einer eigenen Abwägung. 45 Aus der Begründung des vorlegenden Gerichts ergibt sich jedoch, dass die Antwort des Gerichtshofs auf die Frage, die zum einen den Umfang der Verpflichtungen und des Verantwortungsbereichs des Betreibers einer Suchmaschine bei der Bearbeitung eines Auslistungsbegehrens, das auf die angebliche Unrichtigkeit der im aufgelisteten Inhalt stehenden Informationen gestützt wird, und zum anderen die Beweislast der betroffenen Person in Bezug auf diese Unrichtigkeit betrifft, eine unmittelbare Auswirkung auf die Beurteilung des Hauptsacheverfahrens durch das vorlegende Gericht haben kann, und zwar unabhängig von der Frage, ob die Kläger des Ausgangsverfahrens wegen des im Internet veröffentlichten und angeblich unrichtigen Inhalts effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gegenüber dem Inhalteanbieter erreichen könnten. 46 Wie der Generalanwalt in Nr. 22 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bedeutet der Umstand, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts zu der Methode, die es in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren für anwendbar hält, allgemein und abstrakt formuliert sind, nicht, dass die Vorlagefrage, mit der der Gerichtshof insoweit befasst wird, hypothetischen Charakter hat. 47 Folglich ist die erste Frage zulässig. Zur inhaltlichen Würdigung der Frage 48 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO dahin auszulegen ist, dass im Rahmen der Abwägung, die zwischen den Rechten aus den Art. 7 und 8 der Charta und den Rechten aus den Art. 11 und 16 der Charta vorzunehmen ist, um einen an den Betreiber einer Suchmaschine gerichteten Auslistungsantrag zu prüfen, der darauf abzielt, dass in der Übersicht der Ergebnisse einer Suche der Link zu einem Inhalt, der Behauptungen enthält, die von der die Auslistung begehrenden Person für unrichtig gehalten werden, gelöscht wird, diese Auslistung davon abhängt, dass die Frage der Richtigkeit des aufgelisteten Inhalts im Rahmen eines von dieser Person gegen den Inhalteanbieter eingelegten Rechtsbehelfs einer zumindest vorläufigen Klärung zugeführt worden ist, wenn in zumutbarer Weise die Möglichkeit besteht, einen solchen Rechtsschutz zu erlangen. 49 Vorab ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Tätigkeit einer Suchmaschine, die darin besteht, von Dritten ins Internet gestellte oder dort veröffentlichte Informationen zu finden, automatisch zu indexieren, vorübergehend zu speichern und schließlich den Internetnutzern in einer bestimmten Rangfolge zur Verfügung zu stellen, sofern die Informationen personenbezogene Daten enthalten, als „Verarbeitung personenbezogener Daten“ im Sinne von Art. 2 Buchst. b der Richtlinie 95/46 und Art. 4 Nrn. 1 und 2 der DSGVO einzustufen ist, und zum anderen, dass der Betreiber dieser Suchmaschine als für diese Verarbeitung „Verantwortlicher“ im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 und Art. 4 Nr. 7 der DSGVO anzusehen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 41, sowie vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 35). 50 Denn wie in Rn. 44 des vorliegenden Urteils ausgeführt, unterscheidet sich die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen der Tätigkeit einer Suchmaschine von der, die von den Herausgebern von Websites, die diese Daten auf einer Website einstellen, vorgenommen wird, und erfolgt zusätzlich zu dieser. Ferner hat diese Tätigkeit maßgeblichen Anteil an der weltweiten Verbreitung personenbezogener Daten, da sie diese jedem Internetnutzer zugänglich macht, der eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person durchführt, und zwar auch denjenigen, die die Website, auf der diese Daten veröffentlicht sind, sonst nicht gefunden hätten. Zudem können die Organisation und Aggregation der im Internet veröffentlichten Informationen, die von den Suchmaschinen mit dem Ziel durchgeführt werden, ihren Nutzern den Zugang zu diesen Informationen zu erleichtern, bei einer anhand des Namens einer natürlichen Person durchgeführten Suche dazu führen, dass die Nutzer der Suchmaschinen mit der Ergebnisliste einen strukturierten Überblick über die zu der betroffenen Person im Internet zu findenden Informationen erhalten, anhand dessen sie ein mehr oder weniger detailliertes Profil der betreffenden Person erstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 36 und 37, sowie vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 36). 51 Durch die Tätigkeit einer Suchmaschine können die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten somit erheblich beeinträchtigt werden, und zwar zusätzlich zur Tätigkeit der Herausgeber von Websites; als derjenige, der über die Zwecke und Mittel dieser Tätigkeit entscheidet, hat der Suchmaschinenbetreiber daher in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass die Tätigkeit der Suchmaschine den Anforderungen der Richtlinie 95/46 und der DSGVO entspricht, damit die in dieser Richtlinie und dieser Verordnung vorgesehenen Garantien ihre volle Wirksamkeit entfalten können und ein wirksamer und umfassender Schutz der betroffenen Personen, insbesondere ihres Rechts auf Achtung ihres Privatlebens, tatsächlich verwirklicht werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 38, sowie vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 37). 52 Zum Umfang des konkreten Verantwortungsbereichs und der konkreten Verpflichtungen des Suchmaschinenbetreibers hat der Gerichtshof bereits ausgeführt, dass der Suchmaschinenbetreiber insoweit nicht dafür verantwortlich ist, dass die personenbezogenen Daten auf der Website eines Dritten vorhanden sind, wohl aber für die Listung dieser Website und insbesondere für die Anzeige des auf sie führenden Links in der Ergebnisliste, die den Internetnutzern im Anschluss an eine Suche anhand des Namens einer natürlichen Person angezeigt wird. Die Anzeige des Links in einer solchen Ergebnisliste kann nämlich die Grundrechte der betroffenen Person auf Achtung ihres Privatlebens und auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten erheblich beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 80, sowie vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 46). 53 Daher können in Anbetracht des Verantwortungsbereichs, der Befugnisse und der Möglichkeiten des Suchmaschinenbetreibers als des für die Datenverarbeitung im Rahmen der Suchmaschinentätigkeit Verantwortlichen die in der Richtlinie 95/46 und der DSGVO vorgesehenen Verbote und Beschränkungen auf den Suchmaschinenbetreiber nur aufgrund der Listung der Website und somit über eine Prüfung anwendbar sein, die auf der Grundlage eines Antrags der betroffenen Person unter der Aufsicht der zuständigen nationalen Behörden vorzunehmen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 47). 54 Für einen solchen Antrag enthält die DSGVO in ihrem Art. 17 eine Bestimmung, die speziell das „Recht auf Löschung“ regelt, das auch als „Recht auf Vergessenwerden“ bezeichnet wird. Zwar sieht Art. 17 Abs. 1 vor, dass die betroffene Person aus den dort genannten Gründen grundsätzlich das Recht hat, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten gelöscht werden, doch kann dieses Recht nach Art. 17 Abs. 3 nicht geltend gemacht werden, wenn die betreffende Verarbeitung aus einem der dort aufgeführten Gründe erforderlich ist, zu denen nach Art. 17 Abs. 3 Buchst. a unter anderem die Ausübung des Rechts auf freie Information gehört. 55 Somit muss der mit einem Antrag auf Auslistung von Links befasste Suchmaschinenbetreiber prüfen, ob die Aufnahme des Links zu der fraglichen Website in die Liste, die im Anschluss an eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person angezeigt wird, erforderlich ist, um das durch Art. 11 der Charta geschützte Recht auf freie Information auszuüben, das den Internetnutzern zusteht, die potenziell Interesse an einem Zugang zu dieser Website mittels einer solchen Suche haben (vgl. entsprechend Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 66). 56 Der Umstand, dass Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO ausdrücklich vorsieht, dass das der betroffenen Person zustehende Recht auf Löschung ausgeschlossen ist, wenn die Verarbeitung u. a. für die Ausübung des in Art. 11 der Charta garantierten Rechts auf freie Information erforderlich ist, ist Ausdruck der Tatsache, dass das Recht auf Schutz personenbezogener Daten kein uneingeschränktes Recht ist, sondern, wie im vierten Erwägungsgrund der DSGVO ausgeführt, im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 57 Art. 52 Abs. 1 der Charta lässt insoweit Einschränkungen der Ausübung von Rechten wie derjenigen zu, die in ihren Art. 7 und 8 verankert sind, sofern diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Die DSGVO und insbesondere Art. 17 Abs. 3 Buchst. a verlangen somit ausdrücklich eine Abwägung zwischen den in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten und dem durch Art. 11 der Charta gewährleisteten Grundrecht auf freie Information (Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 59). 59 Hinzuzufügen ist, dass Art. 7 der Charta, der das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betrifft, Rechte enthält, die den in Art. 8 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) gewährleisteten Rechten entsprechen, und dass der Schutz personenbezogener Daten für die Ausübung des in Art. 8 EMRK verankerten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens eine grundlegende Rolle spielt (EGMR, Urteil vom 27. Juni 2017, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy/Finnland, CE:ECHR:2017:0627JUD000093113, § 137). Somit ist diesem Art. 7 gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite beizumessen wie Art. 8 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das Gleiche gilt für Art. 11 der Charta und Art. 10 EMRK (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 2019, Buivids, C‑345/17, EU:C:2019:122, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergibt sich, dass für die Zwecke der Abwägung zwischen dem Recht auf Achtung des Privatlebens und dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Information eine Reihe relevanter Kriterien zu berücksichtigen sind, wie der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse, der Bekanntheitsgrad der betroffenen Person, der Gegenstand der Berichterstattung, das vorangegangene Verhalten der betroffenen Person, Inhalt, Form und Auswirkungen der Veröffentlichung, die Art und Weise sowie die Umstände, unter denen die Informationen erlangt worden sind, und deren Richtigkeit (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 27. Juni 2017, Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy/Finnland, CE:ECHR:2017:0627JUD000093113, § 165). 61 In Anbetracht dieser Erwägungen ist zu prüfen, unter welchen Voraussetzungen der Betreiber einer Suchmaschine verpflichtet ist, einem Auslistungsantrag stattzugeben und folglich aus der im Anschluss an eine Suche anhand des Namens der betroffenen Person angezeigten Ergebnisliste den Link zu einer Website zu löschen, auf der sich personenbezogene Daten über die betroffene Person befinden, weil der aufgelistete Inhalt Behauptungen enthält, die von dieser Person für unrichtig gehalten werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 60). 62 Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die durch die Art. 7 und 8 der Charta geschützten Rechte der betroffenen Person zwar im Allgemeinen gegenüber dem berechtigten Interesse der Internetnutzer überwiegen, die potenziell Interesse an einem Zugang zu der fraglichen Information haben; der Ausgleich kann aber von den relevanten Umständen des Einzelfalls abhängen, insbesondere von der Art dieser Information, von deren Sensibilität für das Privatleben der betroffenen Person und vom Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information, das u. a. je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt, variieren kann (Urteile vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 81, sowie vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 66). 63 Insbesondere muss die betroffene Person dann, wenn sie im öffentlichen Leben eine Rolle spielt, ein höheres Maß an Toleranz aufbringen, da sie zwangsläufig und bewusst im Blick der Öffentlichkeit steht (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 6. Oktober 2022, Khural und Zeynalov/Aserbaidschan, CE:ECHR:2022:1006JUD005506911, § 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 64 Die Frage der Richtigkeit des aufgelisteten Inhalts ist auch ein relevanter Gesichtspunkt bei der Prüfung der Anwendungsvoraussetzungen von Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO im Hinblick auf die Beurteilung der Frage, ob das Recht der Internetnutzer auf Information und die Meinungsäußerungsfreiheit des Inhalteanbieters Vorrang vor den Rechten desjenigen haben können, der eine Auslistung begehrt. 65 Wie der Generalanwalt in Nr. 30 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, kann das Recht auf freie Meinungsäußerung und Information zwar unter bestimmten Umständen Vorrang vor den Rechten auf Schutz der Privatsphäre und auf Schutz personenbezogener Daten haben, insbesondere wenn die betroffene Person im öffentlichen Leben eine Rolle spielt, doch kehrt sich dieses Verhältnis jedenfalls dann um, wenn zumindest ein für den gesamten Inhalt nicht unbedeutender Teil der Informationen, um die es in dem Auslistungsantrag geht, unrichtig ist. Denn in einem solchen Fall können das Recht, Informationen weiterzugeben, und das Recht, Informationen zu erhalten, nicht berücksichtigt werden, da sie nicht das Recht einschließen können, derartige Informationen zu verbreiten und Zugang zu ihnen zu erhalten. 66 Zudem ist die Frage, ob die in dem aufgelisteten Inhalt enthaltenen Behauptungen richtig sind, zwar für die Anwendung von Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO von Bedeutung, dabei ist jedoch zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen zu unterscheiden. Denn während die Richtigkeit von Tatsachenbehauptungen nachgewiesen werden kann, ist der Wahrheitsgehalt von Werturteilen keinem Beweis zugänglich (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 23. April 2015, Morice/Frankreich, CE:ECHR:2015:0423JUD002936910, § 126). 67 Sodann ist zum einen zu prüfen, ob und gegebenenfalls inwieweit es der Person, die den Auslistungsantrag gestellt hat, obliegt, ihre Behauptung, dass die in dem aufgelisteten Inhalt stehenden Informationen unrichtig sind, zu belegen, und zum anderen, ob sich der Betreiber der Suchmaschine selbst darum bemühen muss, den Sachverhalt aufzuklären, um festzustellen, ob die in diesem Inhalt enthaltenen und angeblich unrichtigen Informationen richtig sind. 68 Was als Erstes die Verpflichtungen der Person angeht, die wegen der Unrichtigkeit eines aufgelisteten Inhalts die Auslistung begehrt, obliegt dieser Person der Nachweis, dass die in diesem Inhalt enthaltenen Informationen offensichtlich unrichtig sind oder zumindest ein für diesen gesamten Inhalt nicht unbedeutender Teil dieser Informationen offensichtlich unrichtig ist. Damit dieser Person jedoch keine übermäßige Belastung auferlegt wird, die die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Auslistung beeinträchtigen könnte, hat sie lediglich die Nachweise beizubringen, die unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls von ihr vernünftigerweise verlangt werden können, um diese offensichtliche Unrichtigkeit festzustellen. Insoweit kann diese Person grundsätzlich nicht dazu verpflichtet werden, bereits im vorgerichtlichen Stadium zur Stützung ihres Auslistungsantrags an den Suchmaschinenbetreiber eine gegen den Herausgeber der betreffenden Website erwirkte gerichtliche Entscheidung – selbst in Form einer im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangenen Entscheidung – vorzulegen. Würde die betroffene Person nämlich dazu verpflichtet, hätte dies zur Folge, dass ihr eine unzumutbare Belastung auferlegt würde. 69 Was als Zweites die Verpflichtungen und den Verantwortungsbereich des Betreibers der Suchmaschine angeht, trifft es zwar zu, dass sich dieser Betreiber bei der infolge eines Auslistungsantrags vorzunehmenden Prüfung, ob ein Inhalt in der Ergebnisübersicht der über seine Suchmaschine durchgeführten Suche verbleiben kann, auf alle betroffenen Rechte und Interessen sowie auf alle Umstände des Einzelfalls zu stützen hat. 70 Gleichwohl ist dieser Betreiber im Rahmen der Prüfung der Anwendungsvoraussetzungen von Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO nicht verpflichtet, bei der Suche nach Tatsachen, die von dem Auslistungsantrag nicht gestützt werden, aktiv mitzuwirken, um festzustellen, ob dieser Antrag stichhaltig ist. 71 Daher ist der Betreiber der betreffenden Suchmaschine bei der Bearbeitung eines solchen Antrags nicht verpflichtet, den Sachverhalt zu ermitteln und hierfür mit dem Inhalteanbieter einen kontradiktorischen Schriftwechsel zu führen, der darauf gerichtet ist, fehlende Angaben zur Richtigkeit des aufgelisteten Inhalts zu erlangen. Denn da eine solche Verpflichtung den Betreiber der Suchmaschine dazu zwingen würde, selbst einen Beitrag zum Nachweis der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des aufgelisteten Inhalts zu erbringen, würde sie zu einer Belastung dieses Betreibers führen, die über das hinausginge, was von ihm im Hinblick auf seinen Verantwortungsbereich, seine Befugnisse und seine Möglichkeiten im Sinne der in Rn. 53 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung vernünftigerweise erwartet werden kann. Die genannte Verpflichtung brächte daher die ernste Gefahr mit sich, dass Inhalte, die einem schutzwürdigen und überwiegenden Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit dienen, ausgelistet würden und es somit schwierig würde, sie im Internet zu finden. Insoweit bestünde die reale Gefahr einer abschreckenden Wirkung für die Ausübung der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit, wenn der Betreiber der Suchmaschine eine solche Auslistung nahezu systematisch vornähme, um zu vermeiden, dass er die Last der Ermittlung der Tatsachen zu tragen hat, die für die Feststellung der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des aufgelisteten Inhalts relevant sind. 72 Folglich ist der Betreiber der Suchmaschine, wenn die eine Auslistung begehrende Person relevante und hinreichende Nachweise vorlegt, die ihren Antrag zu stützen vermögen und belegen, dass die in dem aufgelisteten Inhalt enthaltenen Informationen offensichtlich unrichtig sind oder zumindest ein für diesen gesamten Inhalt nicht unbedeutender Teil dieser Informationen offensichtlich unrichtig ist, verpflichtet, diesem Auslistungsantrag stattzugeben. Das Gleiche gilt, wenn die betroffene Person eine gegenüber dem Herausgeber der Website ergangene gerichtliche Entscheidung vorlegt, die auf der Feststellung beruht, dass in dem aufgelisteten Inhalt enthaltene Informationen, die im Hinblick auf den gesamten Inhalt nicht unbedeutend sind, zumindest auf den ersten Blick unrichtig sind. 73 Dagegen ist bei Nichtvorliegen einer solchen gerichtlichen Entscheidung der Betreiber der Suchmaschine, wenn sich aus den von der betroffenen Person vorgelegten Nachweisen nicht offensichtlich ergibt, dass die in dem aufgelisteten Inhalt enthaltenen Informationen unrichtig sind, nicht verpflichtet, einem solchen Auslistungsantrag stattzugeben. Wenn die fraglichen Informationen zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beitragen können, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Information besondere Bedeutung beizumessen. 74 Zudem wäre nach den Ausführungen in Rn. 65 des vorliegenden Urteils eine Auslistung von Artikeln mit der Folge, dass es schwierig würde, im Internet Zugang zu der Gesamtheit dieser Artikel zu haben, auch dann unverhältnismäßig, wenn sich nur bestimmte Informationen, die im Hinblick auf den gesamten Inhalt dieser Artikel von untergeordneter Bedeutung sind, als unrichtig erweisen. 75 Schließlich ist klarzustellen, dass sich die betroffene Person, wenn der Betreiber einer Suchmaschine dem Auslistungsantrag nicht stattgibt, an die Kontrollstelle oder das Gericht wenden können muss, damit diese die erforderlichen Überprüfungen vornehmen und den Verantwortlichen anweisen, die gebotenen Maßnahmen zu ergreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 77). Denn es ist insbesondere Sache der Justizbehörden, die Abwägung der widerstreitenden Interessen zu gewährleisten, da sie am besten in der Lage sind, eine komplexe und eingehende Abwägung vorzunehmen, die alle in der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aufgestellten Kriterien und Gesichtspunkte berücksichtigt. 76 Allerdings hat in dem Fall, dass zur Klärung der Frage, ob in einem aufgelisteten Inhalt enthaltene Informationen unrichtig sind, ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren eingeleitet wurde und dieses Verfahren dem Betreiber der betreffenden Suchmaschine zur Kenntnis gebracht worden ist, dieser Betreiber u. a. zu dem Zweck der Gewährleistung einer stets sachdienlichen und aktuellen Information der Internetnutzer in die Suchergebnisse einen Warnhinweis aufzunehmen, dass es ein solches Verfahren gibt. 77 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO dahin auszulegen ist, dass im Rahmen der Abwägung, die zwischen den Rechten aus den Art. 7 und 8 der Charta und den Rechten aus Art. 11 der Charta vorzunehmen ist, um einen an den Betreiber einer Suchmaschine gerichteten Auslistungsantrag zu prüfen, der darauf abzielt, dass in der Übersicht der Ergebnisse einer Suche der Link zu einem Inhalt, der Behauptungen enthält, die von der die Auslistung begehrenden Person für unrichtig gehalten werden, gelöscht wird, diese Auslistung nicht davon abhängt, dass die Frage der Richtigkeit des aufgelisteten Inhalts im Rahmen eines von dieser Person gegen den Inhalteanbieter eingelegten Rechtsbehelfs einer zumindest vorläufigen Klärung zugeführt worden ist. Zur zweiten Frage Zu dem in zeitlicher Hinsicht anwendbaren Recht 78 Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht um Auslegung von Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 sowie von Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO. Insoweit weist es darauf hin, dass zwar der Antrag, der darauf abziele, dass Google die Links zu den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Artikeln dauerhaft ausliste, in zeitlicher Hinsicht unter die DSGVO falle, jedoch der Antrag, der darauf abziele, dass Google die in Gestalt von Vorschaubildern erfolgende Anzeige der im Artikel vom 4. Juni 2015 enthaltenen Fotos der Kläger des Ausgangsverfahrens beende, in zeitlicher Hinsicht unter die Richtlinie 95/46 falle, da diese Fotos im Gegensatz zu den genannten Links zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der DSGVO von der von Google betriebenen Suchmaschine nicht mehr angezeigt worden seien. 79 Insoweit braucht nicht zwischen den Bestimmungen der Richtlinie 95/46 und den in der zweiten Vorlagefrage genannten Bestimmungen der DSGVO unterschieden zu werden, da all diese Bestimmungen einen ähnlichen Regelungsgehalt haben, soweit es um die Auslegung geht, die der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache vorzunehmen hat (vgl. entsprechend Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija,C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). 80 Um die zweite Frage zweckdienlich zu beantworten, ist sie also unter dem Blickwinkel sowohl der Richtlinie 95/46 als auch der DSGVO zu prüfen. Zur Zulässigkeit 81 Google äußert auch Zweifel an der Zulässigkeit der zweiten Frage, da das damit aufgeworfene Problem hypothetischer Natur sei. Zunächst sei Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits nämlich kein Antrag dahin, die Ergebnisse einer anhand des Namens der Kläger des Ausgangsverfahrens durchgeführten Bildersuche auszulisten, sondern ein Antrag auf ein generelles Verbot der Anzeige derjenigen Vorschaubilder, die Fotos entsprächen, die einen der drei im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Artikel bebildert hätten. Sodann seien die Vorschaubilder seit September 2017 und die Artikel seit dem 28. Juni 2018 nicht mehr auf der Website g‑net abrufbar. Schließlich habe Google ab 2018 eine neue Version ihrer Suchmaschine für Bilder eingeführt, nach der auf der Ergebnisseite unter jedem Vorschaubild der gekürzte Titel der konkreten verlinkten Internetseite sowie die Internetadresse oder ein Teil davon jeweils in der Form eines zusätzlichen Links angezeigt würden. 82 In Anwendung der Grundsätze, die in der in den Rn. 41 und 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelt wurden, ist zunächst festzustellen, dass sich im vorliegenden Fall aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte nicht offensichtlich ergibt, dass die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 95/46 und der DSGVO, wie sie vom vorlegenden Gericht im Rahmen der Prüfung der Begründetheit des auf Unterlassung der Anzeige der Fotos gerichteten Antrags erbeten wird, in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht. 83 Was insbesondere den Umstand anbelangt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fotos und Artikel nicht mehr auf der Website g‑net erscheinen, ist festzustellen, dass die Entfernung dieser Inhalte – wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat – nur vorübergehend zu sein scheint, wie die Angabe auf der Website g‑net zeigt, wonach es „augenblicklich“ nicht möglich sei, auf diese Artikel zuzugreifen. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass die genannten Artikel künftig wieder online gestellt und von der von Google betriebenen Suchmaschine erneut aufgelistet werden, zumal Google den im Ausgangsverfahren in Rede stehende Auslistungsantrag nach wie vor für unberechtigt hält und an ihrer Weigerung, ihm stattzugeben, festhält. 84 Im Übrigen kann im Rahmen des Antrags, der darauf abzielt, dass die in Gestalt von Vorschaubildern erfolgende Anzeige der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fotos beendet wird, das Interesse an einer Antwort des Gerichtshofs zur Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 95/46 und der DSGVO weder durch den von Google geltend gemachten Umstand in Frage gestellt werden, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens ihren Antrag nicht auf die anhand ihrer Namen durchgeführten Suchen beschränkt haben, noch dadurch, dass Google eine neue Version ihrer Suchmaschine für Bilder eingeführt hat, nach der auf der Ergebnisseite unter jedem Vorschaubild der gekürzte Titel der konkreten verlinkten Internetseite sowie die Internetadresse oder ein Teil davon jeweils in der Form eines zusätzlichen Links angezeigt werden. 85 Erstens ist nämlich festzustellen, dass selbst unter der Annahme, dass der Antrag der Kläger des Ausgangsverfahrens, der darauf abzielt, dass die in Gestalt von Vorschaubildern erfolgende Anzeige der sie darstellenden Fotos beendet wird, nicht auf die anhand ihrer Namen durchgeführten Suchen beschränkt wäre, dies gleichwohl nichts daran ändert, dass dieser Antrag eine Anzeige erfasst, die das Ergebnis solcher Suchen ist. Unter diesen Umständen kann nicht angenommen werden, dass die mit dieser zweiten Frage erbetene Auslegung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht. 86 Was zweitens den Umstand anbelangt, dass in die Suche nach Bildern ein zusätzlicher Link eingeführt wird, der die Internetseite ihrer ursprünglichen Veröffentlichung angibt, ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs den nationalen Gerichten obliegt, die Tatsachen festzustellen, auf deren Grundlage über den Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden ist, und darüber zu befinden, inwieweit spätere Entwicklungen der betreffenden Suchmaschine insoweit erheblich sind. 87 Folglich ist die zweite Frage zulässig. Zur inhaltlichen Würdigung der Frage 88 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 sowie Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO dahin auszulegen sind, dass im Rahmen der Abwägung, die zwischen den Rechten aus den Art. 7 und 8 der Charta und den Rechten aus den Art. 11 und 16 der Charta vorzunehmen ist, um einen an den Betreiber einer Suchmaschine gerichteten Auslistungsantrag zu prüfen, der darauf abzielt, dass in den Ergebnissen einer anhand des Namens einer natürlichen Person durchgeführten Bildersuche Fotos, die in Gestalt von Vorschaubildern angezeigt werden und diese Person darstellen, gelöscht werden, der ursprüngliche Kontext der Veröffentlichung dieser Fotos im Internet maßgeblich zu berücksichtigen ist. 89 Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Antrags auf Löschung der Fotos, die in den Ergebnissen einer anhand des Namens der Kläger des Ausgangsverfahrens durchgeführten Bildersuche in Gestalt von Vorschaubildern angezeigt werden und die den am 4. Juni 2015 auf der Website g‑net veröffentlichten Artikel bebilderten. Insoweit möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, ob bei der Beurteilung der Begründetheit dieses Antrags nur der Informationswert der Vorschaubilder als solche kontextneutral in der Ergebnisübersicht zu berücksichtigen ist, oder ob auch der ursprüngliche Kontext der Veröffentlichung der Fotos zu berücksichtigen ist, der nicht aus der bloßen Anzeige der Vorschaubilder im Rahmen der Ergebnisübersicht hervorgeht. 90 Zunächst ist – wie der Generalanwalt in Nr. 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – festzustellen, dass für die Bildersuche, die über eine Suchmaschine im Internet anhand des Namens einer Person durchgeführt wird, dieselben Grundsätze gelten wie für die Suche nach Internetseiten und den darin enthaltenen Informationen. Die in den Rn. 49 bis 61 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt folglich auch für die Bearbeitung eines Auslistungsantrags, der darauf abzielt, dass in den Ergebnissen einer Bildersuche die in Gestalt von Vorschaubildern angezeigten Fotos gelöscht werden. 91 Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die in den Ergebnissen einer Bildersuche in Gestalt von Vorschaubildern erfolgende Anzeige von Fotos natürlicher Personen eine Verarbeitung personenbezogener Daten darstellt, in Bezug auf die der Betreiber der betreffenden Suchmaschine als „Verantwortlicher“ im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 95/46 und Art. 4 Nr. 7 der DSGVO in seinem Verantwortungsbereich im Rahmen seiner Befugnisse und Möglichkeiten für die Einhaltung der in diesen Bestimmungen genannten Anforderungen verantwortlich ist. 92 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die Vorlagefrage den speziellen Suchmodus nach Bildern betrifft, der von bestimmten Suchmaschinen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden angeboten wird und mit dem Internetnutzer nach grafischen Informationen aller Art suchen können (Fotografien, Abbildungen von Gemälden, Zeichnungen, Grafiken, Tabellen usw.). Bei einer solchen Suche generiert die Suchmaschine eine aus Vorschaubildern bestehende Liste von Suchergebnissen, die per Link auf Internetseiten verweisen, auf denen sich sowohl die eingegebenen Suchbegriffe als auch die in dieser Liste wiedergegebenen grafischen Inhalte befinden. 93 Hierzu ist entschieden worden, dass die Aufnahme einer Internetseite und der darin über eine Person enthaltenen Informationen in die Liste mit den Ergebnissen einer anhand des Namens der betreffenden Person durchgeführten Suche die Zugänglichkeit der Informationen für Internetnutzer, die eine Suche zu der Person durchführen, erheblich erleichtern und eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung der Informationen spielen kann. Sie kann mithin einen stärkeren Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens der betroffenen Person darstellen als die Veröffentlichung durch den Herausgeber der Internetseite (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 87). 94 Dies gilt aber umso mehr, wenn infolge einer namensbezogenen Suche Fotos der betroffenen Person in Gestalt von Vorschaubildern angezeigt werden, da diese Anzeige einen besonders starken Eingriff in die Rechte dieser Person auf Schutz des Privatlebens und der personenbezogenen Daten dieser Person im Sinne der Art. 7 und 8 der Charta darstellen kann. 95 Das Bild eines Einzelnen ist nämlich eines der Hauptmerkmale seiner Persönlichkeit, da es seine Einmaligkeit zum Ausdruck bringt und es erlaubt, ihn von anderen Personen zu unterscheiden. Das Recht der Person auf Schutz am eigenen Bild stellt somit eine der wesentlichen Voraussetzungen für ihre persönliche Verwirklichung dar und setzt in erster Linie die Kontrolle der Person über ihr eigenes Bild und insbesondere die Möglichkeit voraus, dessen Verbreitung zu untersagen. Daraus folgt, dass die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit zwar zweifellos die Veröffentlichung von Fotos umfassen, doch ist der Schutz des Rechts der Person auf Vertraulichkeit in diesem Kontext von besonderer Bedeutung, da Fotos besonders persönliche oder gar intime Informationen über eine Person oder ihre Familie vermitteln können (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 7. Februar 2012, Von Hannover/Deutschland, CE:ECHR:2012:0207JUD004066008, §§ 95, 96 und 103 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 96 Daher muss der Betreiber einer Suchmaschine, wenn er mit einem Auslistungsantrag befasst wird, der darauf abzielt, dass aus den Ergebnissen einer anhand des Namens einer Person durchgeführten Bildersuche Fotos gelöscht werden, die in Gestalt von diese Person darstellenden Vorschaubildern angezeigt werden, prüfen, ob die Anzeige der fraglichen Fotos erforderlich ist, um das durch Art. 11 der Charta geschützte Recht auf freie Information auszuüben, das den Internetnutzern zusteht, die potenziell Interesse an einem Zugang zu diesen Fotos mittels einer solchen Suche haben (vgl. entsprechend Urteil vom 24. September 2019, GC u. a. [Auslistung sensibler Daten], C‑136/17, EU:C:2019:773, Rn. 66). 97 Insoweit stellt der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse einen entscheidenden Gesichtspunkt dar, der bei der Abwägung der widerstreitenden Grundrechte zu berücksichtigen ist, um die Frage beurteilen zu können, ob die Rechte der betroffenen Person auf Achtung ihres Privatlebens und auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten oder vielmehr die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Information Vorrang haben müssen. 98 Soweit die Suchmaschine Fotos der betroffenen Person aber außerhalb desjenigen Kontexts anzeigt, in dem die Fotos auf der aufgelisteten Internetseite – zumeist zur Veranschaulichung der auf dieser Seite enthaltenen Textelemente – veröffentlicht sind, ist zu prüfen, ob dieser Kontext bei der vorzunehmenden Abwägung der widerstreitenden Rechte und Interessen gleichwohl zu berücksichtigen ist. 99 In diesem Rahmen hängt – wie der Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die Frage, ob in die genannte Beurteilung auch der Inhalt der Internetseite mit einzubeziehen ist, auf der sich das Foto befindet, in Bezug auf dessen Anzeige in Gestalt eines Vorschaubildes die Löschung begehrt wird, von dem Gegenstand und der Art der in Rede stehenden Verarbeitung ab. 100 Was als Erstes den Gegenstand der in Rede stehenden Verarbeitung anbelangt, ist festzustellen, dass die Veröffentlichung von Fotos als nicht mündliches Kommunikationsmittel eine stärkere Wirkung als veröffentlichte Texte auf die Internetnutzer ausüben kann. Denn Fotos sind als solche ein wichtiges Mittel, um die Aufmerksamkeit der Internetnutzer auf sich zu ziehen, und können ein Interesse wecken, auf die Artikel zuzugreifen, die sie bebildern. Insbesondere aufgrund des Umstands, dass Fotos häufig mehreren Interpretationen zugänglich sind, kann ihre Anzeige als Vorschaubilder in der Übersicht der Suchergebnisse entsprechend den Ausführungen in Rn. 95 des vorliegenden Urteils zu einem besonders schwerwiegenden Eingriff in das Recht der betroffenen Person auf Schutz am eigenen Bild führen, was bei der Abwägung der widerstreitenden Rechte und Interessen zu berücksichtigen ist. 101 Daher ist eine unterschiedliche Abwägung der widerstreitenden Rechte und Interessen erforderlich je nachdem, ob es sich einerseits um Artikel handelt, die mit Fotos versehen sind, die der Herausgeber der Internetseite veröffentlicht hat und die in ihrem ursprünglichen Kontext die in diesen Artikeln enthaltenen Informationen und die dort zum Ausdruck gebrachten Meinungen veranschaulichen, und andererseits um Fotos, die in Gestalt von Vorschaubildern in der Ergebnisübersicht vom Betreiber einer Suchmaschine außerhalb des Kontexts angezeigt werden, in dem sie auf der ursprünglichen Internetseite veröffentlicht worden sind. 102 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Grund für die Zulässigkeit der Veröffentlichung personenbezogener Daten auf einer Website nicht unbedingt derselbe ist wie der für die Tätigkeit der Suchmaschinen; doch selbst wenn dies der Fall ist, kann die vorzunehmende Abwägung der betroffenen Rechte und Interessen je nachdem, ob es sich um die vom Suchmaschinenbetreiber oder die von dem Herausgeber der Internetseite ausgeführte Verarbeitung handelt, verschieden ausfallen, da sowohl die berechtigten Interessen, die die Verarbeitungen rechtfertigen, verschieden sein können als auch die Folgen, die die Verarbeitungen für die betroffene Person, insbesondere für ihr Privatleben, haben, nicht zwangsläufig dieselben sind (Urteil vom 13. Mai 2014, Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317‚ Rn. 86). 103 Was als Zweites die Art der vom Suchmaschinenbetreiber vorgenommenen Verarbeitung anbelangt, ist – wie der Generalanwalt in Nr. 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – festzustellen, dass der Suchmaschinenbetreiber dadurch, dass er die im Internet veröffentlichten Fotos natürlicher Personen sammelt und sie in den Ergebnissen einer Bildersuche in Gestalt von Vorschaubildern getrennt anzeigt, einen Dienst anbietet, mit dem er eine eigenständige Verarbeitung personenbezogener Daten vornimmt, die sowohl von der des Herausgebers der Internetseite, von der die Fotos entnommen sind, als auch von derjenigen der Listung der Internetseite verschieden ist, für die dieser Betreiber ebenfalls verantwortlich ist. 104 Daher ist die Tätigkeit des Suchmaschinenbetreibers, die darin besteht, Ergebnisse einer Bildersuche in Gestalt von Vorschaubildern anzuzeigen, eigenständig zu beurteilen, da die zusätzliche Beeinträchtigung der Grundrechte, die sich aus einer solchen Tätigkeit ergibt, besonders stark sein kann, weil bei einer namensbezogenen Suche alle im Internet befindlichen Informationen über die betroffene Person zusammengestellt werden. Im Rahmen dieser eigenständigen Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass die Anzeige im Internet von Fotos in Gestalt von Vorschaubildern als solche das vom Internetnutzer gesuchte Ergebnis darstellt, unabhängig davon, ob er sich später dazu entschließt, auf die ursprüngliche Internetseite zuzugreifen. 105 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass eine solche spezifische Abwägung, die den eigenständigen Charakter der vom Suchmaschinenbetreiber vorgenommenen Verarbeitung berücksichtigt, die etwaige Relevanz von Textelementen, die mit der Anzeige eines Fotos in der Übersicht der Ergebnisse einer Suche unmittelbar einhergehen können, unberührt lässt, da solche Textelemente Aufschluss über den Informationswert dieses Fotos für die Öffentlichkeit geben und damit die Abwägung der betroffenen Rechte und Interessen beeinflussen können. 106 Im vorliegenden Fall geht aus den Feststellungen in der Vorlageentscheidung hervor, dass die Fotos der Kläger des Ausgangsverfahrens zwar im Kontext des Artikels vom 4. Juni 2015, in dem sie stehen, dazu beitragen, die darin zum Ausdruck gebrachten Informationen und Meinungen zu übermitteln, aber außerhalb dieses Kontexts, wenn sie nur in Gestalt von Vorschaubildern in der Ergebnisübersicht erscheinen, die nach einer von der Suchmaschine durchgeführten Suche angezeigt wird, nur einen geringen Informationswert haben. Sollte die beantragte Auslistung dieses Artikels mit der Begründung abzulehnen sein, dass die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit Vorrang vor den Rechten der Kläger des Ausgangsverfahrens auf Achtung ihres Privatlebens und auf Schutz ihrer personenbezogenen Daten haben, so würde dies die Entscheidung über die begehrte Löschung dieser in der Ergebnisübersicht in Gestalt von Vorschaubildern angezeigten Fotos folglich unberührt lassen. 107 Sollte dem Antrag auf Auslistung des Artikels vom 4. Juni 2015 dagegen stattzugeben sein, müsste die in Gestalt von Vorschaubildern erfolgende Anzeige der in diesem Artikel enthaltenen Fotos gelöscht werden. Denn würde diese Anzeige aufrechterhalten, würde die praktische Wirksamkeit der Auslistung des Artikels untergraben, da die Internetnutzer durch den Link, den die Vorschaubilder zu der Internetseite enthalten, auf der der Artikel, aus dem sie stammen, veröffentlicht ist, weiterhin auf diesen vollständigen Artikel zugreifen könnten. 108 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46 sowie Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der DSGVO dahin auszulegen sind, dass im Rahmen der Abwägung, die zwischen den Rechten aus den Art. 7 und 8 der Charta und den Rechten aus Art. 11 der Charta vorzunehmen ist, um einen an den Betreiber einer Suchmaschine gerichteten Auslistungsantrag zu prüfen, der darauf abzielt, dass in den Ergebnissen einer anhand des Namens einer natürlichen Person durchgeführten Bildersuche Fotos, die in Gestalt von Vorschaubildern angezeigt werden und diese Person darstellen, gelöscht werden, dem Informationswert dieser Fotos – unabhängig vom Kontext ihrer Veröffentlichung auf der Internetseite, der sie entnommen sind, aber unter Berücksichtigung jedes Textelements, das mit der Anzeige dieser Fotos in den Suchergebnissen unmittelbar einhergeht und Aufschluss über den Informationswert dieser Fotos geben kann – Rechnung zu tragen ist. Kosten 109 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist dahin auszulegen, dass im Rahmen der Abwägung, die zwischen den Rechten aus den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und den Rechten aus Art. 11 der Charta der Grundrechte vorzunehmen ist, um einen an den Betreiber einer Suchmaschine gerichteten Auslistungsantrag zu prüfen, der darauf abzielt, dass in der Übersicht der Ergebnisse einer Suche der Link zu einem Inhalt, der Behauptungen enthält, die von der die Auslistung begehrenden Person für unrichtig gehalten werden, gelöscht wird, diese Auslistung nicht davon abhängt, dass die Frage der Richtigkeit des aufgelisteten Inhalts im Rahmen eines von dieser Person gegen den Inhalteanbieter eingelegten Rechtsbehelfs einer zumindest vorläufigen Klärung zugeführt worden ist. 2. Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr und Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung 2016/679 sind dahin auszulegen, dass im Rahmen der Abwägung, die zwischen den Rechten aus den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte und den Rechten aus Art. 11 der Charta der Grundrechte vorzunehmen ist, um einen an den Betreiber einer Suchmaschine gerichteten Auslistungsantrag zu prüfen, der darauf abzielt, dass in den Ergebnissen einer anhand des Namens einer natürlichen Person durchgeführten Bildersuche Fotos, die in Gestalt von Vorschaubildern angezeigt werden und diese Person darstellen, gelöscht werden, dem Informationswert dieser Fotos – unabhängig vom Kontext ihrer Veröffentlichung auf der Internetseite, der sie entnommen sind, aber unter Berücksichtigung jedes Textelements, das mit der Anzeige dieser Fotos in den Suchergebnissen unmittelbar einhergeht und Aufschluss über den Informationswert dieser Fotos geben kann – Rechnung zu tragen ist. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. November 2022.#WM und Sovim SA gegen Luxembourg Business Registers.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal d'arrondissement de Luxembourg.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zweck der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung – Richtlinie (EU) 2018/843 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849 – Erfolgte Änderung von Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2015/849 – Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer – Gültigkeit – Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Achtung des Privat- und Familienlebens – Schutz personenbezogener Daten.#Verbundene Rechtssachen C-37/20 und C-601/20.
62020CJ0037
ECLI:EU:C:2022:912
2022-11-22T00:00:00
Pitruzzella, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62020CJ0037 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 22. November 2022 (*1) (i ) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zweck der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung – Richtlinie (EU) 2018/843 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849 – Erfolgte Änderung von Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2015/849 – Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer – Gültigkeit – Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Achtung des Privat- und Familienlebens – Schutz personenbezogener Daten“ In den verbundenen Rechtssachen C‑37/20 und C‑601/20 betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg, Luxemburg) mit Entscheidungen vom 24. Januar 2020 und vom 13. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Januar 2020 bzw. am 13. November 2020, in den Verfahren WM (C‑37/20), Sovim SA (C‑601/20) gegen Luxembourg Business Registers erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, M. Safjan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, der Richter S. Rodin, F. Biltgen, N. Piçarra, I. Jarukaitis und A. Kumin (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Ziemele, Generalanwalt: G. Pitruzzella, Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Oktober 2021, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von WM, vertreten durch M. Jammaers, A. Komninos, L. Lorang und V. Staudt, Avocats, – der Sovim SA, vertreten durch P. Elvinger und K. Veranneman, Avocats, – der luxemburgischen Regierung, vertreten durch A. Germeaux, C. Schiltz und T. Uri als Bevollmächtigte, – der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Augustin, A. Posch und J. Schmoll als Bevollmächtigte, – der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte, – der norwegischen Regierung, vertreten durch J. T. Kaasin und G. Østerman Thengs als Bevollmächtigte, – des Europäischen Parlaments, vertreten durch J. Etienne, O. Hrstková Šolcová und M. Menegatti als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Chavrier, I. Gurov und K. Pleśniak als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Di Bucci, C. Giolito, L. Havas, H. Kranenborg, D. Nardi, T. Scharf und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte, – des Europäischen Datenschutzbeauftragten, vertreten durch C.‑A. Marnier als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2022 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen im Wesentlichen die Gültigkeit von Art. 1 Nr. 15 Buchst. c der Richtlinie (EU) 2018/843 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung und zur Änderung der Richtlinien 2009/138/EG und 2013/36/EU (ABl. 2018, L 156, S. 43), soweit durch diese Bestimmung Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie (EU) 2015/849 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinie 2006/70/EG der Kommission (ABl. 2015, L 141, S. 73) geändert wurde, sowie die Auslegung zum einen von Art. 30 Abs. 9 der Richtlinie 2015/849 in der Fassung der Richtlinie 2018/843 (im Folgenden: geänderte Richtlinie 2015/849) und zum anderen von Art. 5 Abs. 1 Buchst. a bis c und f, von Art. 25 Abs. 2 sowie der Art. 44 bis 50 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO). 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen, erstens, WM (Rechtssache C‑37/20) und, zweitens, der Sovim SA (Rechtssache C‑601/20) auf der einen und Luxembourg Business Registers (im Folgenden: LBR) jeweils auf der anderen Seite wegen dessen Weigerung, den Zugang der breiten Öffentlichkeit zu Angaben über zum einen die Eigenschaft von WM als wirtschaftlicher Eigentümer einer Immobiliengesellschaft und zum anderen über den wirtschaftlichen Eigentümer von Sovim zu verhindern. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2015/849, Richtlinie 2018/843 und geänderte Richtlinie 2015/849 3 In den Erwägungsgründen 4, 30, 31, 34, 36 und 38 der Richtlinie 2018/843 heißt es: „(4) … [D]ie allgemeine Transparenz des wirtschaftlichen und finanziellen Umfelds der Union [muss] weiter verbessert werden …. Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung können nur wirkungsvoll verhindert werden, wenn das Umfeld für Betrüger, die ihre Finanzen durch undurchsichtige Strukturen schützen möchten, ungünstig ist. Die Integrität des Finanzsystems der Union hängt von der Transparenz von Gesellschaften oder sonstigen juristischen Personen, Trusts und ähnlichen Rechtsvereinbarungen ab. Ziel dieser Richtlinie ist es nicht nur, Geldwäsche zu ermitteln und zu untersuchen, sondern auch ihr Vorkommen zu verhindern. Durch mehr Transparenz könnte eine starke abschreckende Wirkung entfaltet werden. … (30) Durch den Zugang der Öffentlichkeit zu Angaben über die wirtschaftlichen Eigentümer wird eine größere Kontrolle der Informationen durch die Zivilgesellschaft (einschließlich Presse und zivilgesellschaftlichen Organisationen) ermöglicht und das Vertrauen in die Integrität der Geschäftstätigkeit und des Finanzsystems gestärkt. Auf diese Weise kann insofern ein Beitrag zur Bekämpfung des Missbrauchs von Gesellschaften und anderen juristischen Personen und ähnlichen Rechtsvereinbarungen für die Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung geleistet werden, als Ermittlungen erleichtert und Reputationseffekte bewirkt werden können, da jedem, der Geschäfte abschließen könnte, die Identität der wirtschaftlichen Eigentümer bekannt ist. Schließlich wird auch eine zeitnahe und effiziente Verfügbarkeit von Informationen für Finanzinstitute sowie Behörden, einschließlich Behörden von Drittländern, die an der Bekämpfung solcher Straftaten mitarbeiten, erleichtert. Der Zugang zu diesen Informationen würde dazu beitragen, Ermittlungen in Bezug auf Geldwäsche, damit zusammenhängende Vortaten und Terrorismusfinanzierung durchzuführen. (31) Das Vertrauen der Anleger und der breiten Öffentlichkeit in die Finanzmärkte hängt zu einem großen Teil von der Existenz einer präzisen Offenlegungspflicht ab, die für Transparenz in Bezug auf die wirtschaftlichen Eigentümer und die Kontrollstrukturen der Unternehmen sorgt. … Die mögliche Verbesserung des Vertrauens in die Finanzmärkte sollte als positiver Nebeneffekt und nicht als Zweck erhöhter Transparenz angesehen werden, der darin besteht, ein Umfeld zu schaffen, das weniger leicht für die Zwecke von Geldwäschern und Geldgebern des Terrorismus genutzt werden kann. … (34) In allen Fällen, sowohl in Bezug auf Gesellschaften und andere juristische Personen als auch in Bezug auf Trusts und ähnliche Rechtsvereinbarungen, sollten insbesondere das allgemeine öffentliche Interesse an der Verhinderung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung sowie die Grundrechte der betroffenen Personen in ausgewogener Weise berücksichtigt werden. Die Daten, die der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind, sollten von ihrem Umfang her begrenzt sowie klar und erschöpfend definiert werden; sie sollten zudem allgemeiner Art sein, damit mögliche Beeinträchtigungen für wirtschaftliche Eigentümer auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Gleichzeitig sollten sich die der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellten Informationen nicht wesentlich von den derzeit erhobenen Daten unterscheiden. Zur Begrenzung des Eingriffs in das Recht auf Achtung ihres Privatlebens im Allgemeinen und in das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten im Besonderen sollten sich diese Informationen im Wesentlichen auf die Stellung der wirtschaftlichen Eigentümer von Gesellschaften und anderen juristischen Personen und von Trusts und ähnlichen Rechtsvereinbarungen beziehen und ausschließlich die wirtschaftliche Tätigkeit, in deren Rahmen die wirtschaftlichen Eigentümer tätig sind, betreffen. … … (36) Darüber hinaus sollten die Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Sicherstellung eines angemessenen und ausgewogenen Ansatzes und zur Wahrung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten die Möglichkeit haben, Ausnahmen von der Offenlegungspflicht der Register für Angaben über den wirtschaftlichen Eigentümer und von der Zugriffsmöglichkeit auf solche Informationen für außergewöhnliche Fälle vorzusehen, in denen der wirtschaftliche Eigentümer durch die Informationen einem unverhältnismäßigen Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung ausgesetzt würde. Die Mitgliedstaaten sollten auch die Möglichkeit haben eine Online-Registrierung zur Identifizierung aller Personen, die Informationen aus dem Register anfordern, zu verlangen, ebenso wie die Zahlung einer Gebühr für den Zugang zu den im Register enthaltenen Informationen. … (38) Die [DSGVO] gilt für die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen dieser Richtlinie. Demnach sollten natürliche Personen, deren personenbezogene Daten in den nationalen Registern als wirtschaftliche Eigentümer vorgehalten werden, entsprechend in Kenntnis gesetzt werden. Ferner sollten nur solche personenbezogenen Daten verfügbar gemacht werden, die sich auf dem neuesten Stand befinden und sich auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Eigentümer beziehen; außerdem sollten die Begünstigten über ihre Rechte nach dem geltenden Rechtsrahmen für den Datenschutz in der Union … und die geltenden Verfahren für die Ausübung dieser Rechte belehrt werden. Um zu verhindern, dass die in den Registern gespeicherten Informationen missbraucht werden und den Rechten der wirtschaftlichen Eigentümer angemessen Rechnung zu tragen, könnten die Mitgliedstaaten in Erwägung ziehen, die Informationen über die Person, die den Antrag stellt, sowie die Rechtsgrundlage für den Antrag auch dem wirtschaftlichen Eigentümer zur Verfügung zu stellen.“ 4 Art. 1 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2015/849 bestimmt: „Ziel dieser Richtlinie ist die Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems der Union zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung.“ 5 Art. 3 der geänderten Richtlinie 2015/849 lautet: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck: … 6. ‚wirtschaftlicher Eigentümer‘ alle natürlichen Personen, in deren Eigentum oder unter deren Kontrolle der Kunde letztlich steht, und/oder die natürliche(n) Person(en), in deren Auftrag eine Transaktion oder Tätigkeit ausgeführt wird; hierzu gehört zumindest folgender Personenkreis: a) bei Gesellschaften: i) alle natürliche(n) Person(en), in deren Eigentum oder unter deren Kontrolle eine juristische Person … über das direkte oder indirekte Halten eines ausreichenden Anteils von Aktien oder Stimmrechten oder eine Beteiligung an jener juristischen Person … letztlich steht. … ii) wenn nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten und sofern keine Verdachtsmomente vorliegen, keine Person nach Ziffer i ermittelt worden ist oder wenn der geringste Zweifel daran besteht, dass es sich bei der/den ermittelten Person(en) um den/die wirtschaftlichen Eigentümer handelt, die natürliche(n) Person(en), die der Führungsebene angehört/angehören; … …“ 6 Art. 30 Abs. 1 und 3 der geänderten Richtlinie 2015/849 sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die in ihrem Gebiet eingetragenen Gesellschaften oder anderen juristischen Personen angemessene, präzise und aktuelle Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer, einschließlich genauer Angaben zum wirtschaftlichen Interesse, einholen und aufbewahren müssen. … … (3)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die in Absatz 1 genannten Angaben in einem zentralen Register in jedem Mitgliedstaat aufbewahrt werden … …“ 7 In seiner vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 2018/843 geltenden Fassung hieß es in Art. 30 Abs. 5 und 9 der Richtlinie 2015/849 wie folgt: „(5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Angaben zu den wirtschaftlichen Eigentümern in allen Fällen zugänglich sind für a) die zuständigen Behörden und die zentralen Meldestellen, ohne Einschränkung, b) Verpflichtete im Rahmen der Erfüllung der Sorgfaltspflichten gegenüber Kunden gemäß Kapitel II, c) alle Personen oder Organisationen, die ein berechtigtes Interesse nachweisen können. Die Personen oder Organisationen nach Buchstabe c haben Zugang mindestens zum Namen, Monat und Jahr der Geburt, der Staatsangehörigkeit und dem Wohnsitzland des wirtschaftlichen Eigentümers sowie Art und Umfang des wirtschaftlichen Interesses. … (9)   Die Mitgliedstaaten können auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung unter außergewöhnlichen Umständen eine Ausnahmeregelung für den in Absatz 5 Buchstaben b und c genannten vollständigen oder teilweisen Zugang zu den Angaben zum wirtschaftlichen Eigentümer vorsehen, falls der Zugang den wirtschaftlichen Eigentümer dem Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Gewalt oder Einschüchterung aussetzen würde oder der wirtschaftliche Eigentümer minderjährig oder anderweitig geschäftsunfähig ist. …“ 8 Durch Art. 1 Nr. 15 Buchst. c, d und g der Richtlinie 2018/843 wurde Art. 30 Abs. 5 der Richtlinie 2015/849 geändert, ein Abs. 5a eingefügt und Art. 30 Abs. 9 letzterer Richtlinie geändert. Art. 30 Abs. 5, 5a und 9 der geänderten Richtlinie 2015/849 sieht somit vor: „(5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer in allen Fällen zugänglich sind für a) die zuständigen Behörden und die zentralen Meldestellen, ohne Einschränkung, b) Verpflichtete im Rahmen der Erfüllung der Sorgfaltspflichten gegenüber Kunden gemäß Kapitel II, c) alle Mitglieder der Öffentlichkeit. Die Personen nach Buchstabe c haben Zugang mindestens zum Namen, Monat und Jahr der Geburt, dem Wohnsitzland und der Staatsangehörigkeit des wirtschaftlichen Eigentümers sowie zu Art und Umfang des wirtschaftlichen Interesses. Die Mitgliedstaaten können unter Bedingungen, die im nationalen Recht festzulegen sind, den Zugang zu weiteren Informationen vorsehen, die die Identifizierung des wirtschaftlichen Eigentümers ermöglichen. Diese weiteren Informationen umfassen im Einklang mit den Datenschutzbestimmungen mindestens das Geburtsdatum oder die Kontaktdaten. (5a)   Die Mitgliedstaaten können entscheiden, die in ihren nationalen Registern gemäß Absatz 3 gespeicherten Informationen unter der Bedingung zur Verfügung zu stellen, dass eine Online-Registrierung erfolgt und eine Gebühr gezahlt wird, die die Verwaltungskosten für die Bereitstellung der Informationen einschließlich der Kosten für Betrieb und Weiterentwicklung des Registers nicht überschreiten darf. … (9)   Für außergewöhnliche, nach nationalem Recht festzulegende Umstände, unter denen der wirtschaftliche Eigentümer durch den in Absatz 5 Unterabsatz 1 Buchstaben b und c genannten Zugang einem unverhältnismäßigen Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung ausgesetzt würde, oder für den Fall, dass der wirtschaftliche Eigentümer minderjährig oder anderweitig geschäftsunfähig ist, können die Mitgliedstaaten im Einzelfall eine Ausnahme von dem besagten vollständigen oder teilweisen Zugang zu den Informationen über den wirtschaftlichen Eigentümer vorsehen. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese Ausnahmen nach eingehender Bewertung der außergewöhnlichen Natur der Umstände gewährt werden. Rechte auf eine verwaltungsrechtliche Prüfung des Beschlusses über die Ausnahme und auf einen wirksamen Rechtsbehelf werden gewahrt. Ein Mitgliedstaat, der Ausnahmen gewährt hat, veröffentlicht jährlich statistische Daten über die Anzahl der gewährten Ausnahmen und deren Begründungen und legt diese Daten der Kommission vor. …“ 9 Art. 41 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2015/849 bestimmt: „Für die Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen dieser Richtlinie gilt die in nationales Recht umgesetzte Richtlinie 95/46/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31)]. …“ DSGVO 10 Art. 5 („Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten“) Abs. 1 DSGVO bestimmt: „Personenbezogene Daten müssen a) auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden (,Rechtmäßigkeit, Verarbeitung nach Treu und Glauben, Transparenz‘); b) für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden und dürfen nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden; … (,Zweckbindung‘); c) dem Zweck angemessen und erheblich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein (,Datenminimierung‘); … f) in einer Weise verarbeitet werden, die eine angemessene Sicherheit der personenbezogenen Daten gewährleistet, einschließlich Schutz vor unbefugter oder unrechtmäßiger Verarbeitung und vor unbeabsichtigtem Verlust, unbeabsichtigter Zerstörung oder unbeabsichtigter Schädigung durch geeignete technische und organisatorische Maßnahmen (,Integrität und Vertraulichkeit‘)“. 11 Art. 25 („Datenschutz durch Technikgestaltung und durch datenschutzfreundliche Voreinstellungen“) Abs. 2 dieser Verordnung sieht vor: „Der Verantwortliche trifft geeignete technische und organisatorische Maßnahmen, die sicherstellen, dass durch Voreinstellung nur personenbezogene Daten, deren Verarbeitung für den jeweiligen bestimmten Verarbeitungszweck erforderlich ist, verarbeitet werden. Diese Verpflichtung gilt für die Menge der erhobenen personenbezogenen Daten, den Umfang ihrer Verarbeitung, ihre Speicherfrist und ihre Zugänglichkeit. Solche Maßnahmen müssen insbesondere sicherstellen, dass personenbezogene Daten durch Voreinstellungen nicht ohne Eingreifen der Person einer unbestimmten Zahl von natürlichen Personen zugänglich gemacht werden.“ 12 Art. 44 („Allgemeine Grundsätze der Datenübermittlung“) DSGVO lautet: „Jedwede Übermittlung personenbezogener Daten, die bereits verarbeitet werden oder nach ihrer Übermittlung an ein Drittland oder eine internationale Organisation verarbeitet werden sollen, ist nur zulässig, wenn der Verantwortliche und der Auftragsverarbeiter die in diesem Kapitel niedergelegten Bedingungen einhalten und auch die sonstigen Bestimmungen dieser Verordnung eingehalten werden; dies gilt auch für die etwaige Weiterübermittlung personenbezogener Daten aus dem betreffenden Drittland oder der betreffenden internationalen Organisation an ein anderes Drittland oder eine andere internationale Organisation. Alle Bestimmungen dieses Kapitels sind anzuwenden, um sicherzustellen, dass das durch diese Verordnung gewährleistete Schutzniveau für natürliche Personen nicht untergraben wird.“ 13 Art. 49 („Ausnahmen für bestimmte Fälle“) DSGVO sieht vor: „(1)   Falls weder ein Angemessenheitsbeschluss nach Artikel 45 Absatz 3 vorliegt noch geeignete Garantien nach Artikel 46, einschließlich verbindlicher interner Datenschutzvorschriften, bestehen, ist eine Übermittlung oder eine Reihe von Übermittlungen personenbezogener Daten an ein Drittland oder an eine internationale Organisation nur unter einer der folgenden Bedingungen zulässig: … g) die Übermittlung erfolgt aus einem Register, das gemäß dem Recht der Union oder der Mitgliedstaaten zur Information der Öffentlichkeit bestimmt ist und entweder der gesamten Öffentlichkeit oder allen Personen, die ein berechtigtes Interesse nachweisen können, zur Einsichtnahme offensteht, aber nur soweit die im Recht der Union oder der Mitgliedstaaten festgelegten Voraussetzungen für die Einsichtnahme im Einzelfall gegeben sind. …“ 14 In Art. 94 dieser Verordnung heißt es: „(1)   Die Richtlinie 95/46/EG wird mit Wirkung vom 25. Mai 2018 aufgehoben. (2)   Verweise auf die aufgehobene Richtlinie gelten als Verweise auf die vorliegende Verordnung. …“ Luxemburgisches Recht 15 Art. 2 der Loi du 13 janvier 2019 instituant un Registre des bénéficiaires effectifs (Gesetz vom 13. Januar 2019 zur Schaffung eines Registers der wirtschaftlichen Eigentümer) (Mémorial A 2019, Nr. 15, im Folgenden: Gesetz vom 13. Januar 2019) lautet folgendermaßen: „Es wird unter der Aufsicht des Justizministers ein als ‚Registre des bénéficiaires effectifs [Register der wirtschaftlichen Eigentümer]‘, abgekürzt ‚RBE‘, bezeichnetes Register eingerichtet, dessen Zweck darin besteht, Angaben zu den wirtschaftlichen Eigentümern der eingetragenen Einrichtungen zu speichern und bereitzustellen.“ 16 Art. 3 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt: „Folgende Angaben zu den wirtschaftlichen Eigentümern der eingetragenen Einrichtungen sind in das Register der wirtschaftlichen Eigentümer einzutragen und zu speichern: 1° Name; 2° Vorname(n); 3° Staatsangehörigkeit(en); 4° Geburtstag; 5° Geburtsmonat; 6° Geburtsjahr; 7° Geburtsort; 8° Wohnsitzstaat; 9° Genaue Privatadresse oder genaue berufliche Adresse … … 10° für Personen, die in das Nationale Register natürlicher Personen eingetragen sind: Identifikationsnummer …; 11° für gebietsfremde Personen, die nicht im Nationalen Register natürlicher Personen eingetragen sind: eine ausländische Identifikationsnummer; 12° Art des wirtschaftlichen Interesses; 13° Umfang des wirtschaftlichen Interesses.“ 17 In Art. 11 Abs. 1 des Gesetzes heißt es: „Die nationalen Behörden haben bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben Zugang zu den in Artikel 3 genannten Angaben.“ 18 Art. 12 dieses Gesetzes sieht vor: „Der Zugang zu den in Art. 3 Abs. 1 Nrn. 1 bis 8, 12 und 13 genannten Angaben steht jeder Person offen.“ 19 Art. 15 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 13. Januar 2019 bestimmt: „(1)   Eine eingetragene Einrichtung oder ein wirtschaftlicher Eigentümer kann von Fall zu Fall und unter den nachstehend aufgeführten außergewöhnlichen Umständen aufgrund eines ordnungsgemäß begründeten Antrags, der an den Verwalter gerichtet ist, verlangen, den Zugang zu den in Artikel 3 genannten Informationen auf nationale Behörden, Kreditinstitute und Finanzinstitute sowie auf Gerichtsvollzieher und Notare, die in ihrer Eigenschaft als Amtsträger handeln, zu beschränken, wenn durch diesen Zugang der wirtschaftliche Eigentümer einem unverhältnismäßigen Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung ausgesetzt würde oder der wirtschaftliche Eigentümer minderjährig oder anderweitig geschäftsunfähig ist. (2)   Der Verwalter beschränkt vorübergehend ab dem Erhalt des Antrags bis zur Zustellung seiner Entscheidung und im Fall der Ablehnung des Antrags für einen weiteren Zeitraum von 15 Tagen den Zugang zu den in Artikel 3 genannten Informationen ausschließlich auf die nationalen Behörden. Für den Fall, dass ein Rechtsbehelf gegen eine ablehnende Entscheidung eingelegt wird, bleibt die Beschränkung des Zugangs zu den Informationen solange aufrecht, bis die ablehnende Entscheidung nicht mehr angefochten werden kann.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen Rechtssache C‑37/20 20 YO, eine Immobiliengesellschaft, stellte bei LBR einen Antrag gemäß Art. 15 des Gesetzes vom 13. Januar 2019, den Zugang zu den im RBE verzeichneten Angaben betreffend WM, ihren wirtschaftlichen Eigentümer, ausschließlich auf die Einrichtungen im Sinne dieser Bestimmung zu beschränken, da der Zugang der breiten Öffentlichkeit zu diesen Angaben ihn und seine Familie spezifisch, real und gegenwärtig einem unverhältnismäßigen Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung aussetzen würde. Mit Entscheidung vom 20. November 2019 wurde dieser Antrag abgelehnt. 21 Am 5. Dezember 2019 erhob WM Klage beim Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg, Luxemburg), dem vorlegenden Gericht, mit der er geltend machte, dass seine Eigenschaft als Leiter und wirtschaftlicher Eigentümer von YO und einer Reihe von Handelsgesellschaften die Verpflichtung mit sich bringe, häufig in Länder mit politisch instabilen Regimen zu reisen, die einer erhöhten Kriminalität ausgesetzt seien, so dass für ihn ein erhebliches Risiko von Entführung, Freiheitsberaubung, Gewalt und sogar Tod bestehe. 22 LBR tritt diesem Vorbringen entgegen und meint, dass die Situation von WM nicht den Anforderungen von Art. 15 des Gesetzes vom 13. Januar 2019 genüge, da sich WM weder auf „außergewöhnliche Umstände“ noch auf eines der Risiken im Sinne dieses Artikels berufen könne. 23 In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, wie die Begriffe „außergewöhnliche Umstände“, „Risiko“ und „unverhältnismäßiges“ Risiko im Sinne von Art. 30 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 2015/849 auszulegen sind. 24 Unter diesen Umständen hat das Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Zum Begriff „außergewöhnliche Umstände“ a) Kann Art. 30 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 2015/849 im Hinblick darauf, dass er die Beschränkung des Zugangs zu Informationen über wirtschaftliche Eigentümer von „außergewöhnliche[n], nach nationalem Recht festzulegende[n] Umstände[n]“ abhängig macht, dahin ausgelegt werden, dass er es erlaubt, im nationalem Recht den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ einzig dahin gehend festzulegen, dass er gleichbedeutend ist mit „einem unverhältnismäßigen Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung“, Begriffen, die bereits nach dem Wortlaut dieses Art. 30 Abs. 9 eine Voraussetzung für die Anwendung der Zugangsbeschränkung darstellen? b) Falls die Frage Nr. 1 a) verneint werden sollte und für den Fall, dass das zur Umsetzung erlassene nationale Recht den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ einzig durch einen Verweis auf die nicht weiterführende Wendung „einem unverhältnismäßigen Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung“ definiert hat, muss dann Art. 30 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 2015/849 dahin ausgelegt werden, dass er es einem nationalen Richter erlaubt, die Bedingung „außergewöhnliche Umstände“ außer Acht zu lassen, oder muss der nationale Richter das Versäumnis des nationalen Gesetzgebers dadurch ausgleichen, dass er die Tragweite des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“ richterrechtlich bestimmt? Wenn Letzteres gilt, kann dann der Gerichtshof im Hinblick darauf, dass es sich nach dem Wortlaut von Art. 30 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 2015/849 um eine Bedingung handelt, deren Inhalt durch nationales Recht bestimmt wird, den nationalen Richter bei seiner Aufgabe anleiten? Wenn ja, was sind die Leitlinien für den nationalen Richter bei der Bestimmung des Inhalts des Begriffs „außergewöhnliche Umstände“? 2. Zum Begriff „Risiko“ a) Muss Art. 30 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 2015/849 im Hinblick darauf, dass er die Beschränkung des Zugangs zu Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer von „einem unverhältnismäßigen Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung“ abhängig macht, dahin ausgelegt werden, dass er auf eine Gesamtheit von acht Fällen verweist, von denen der erste auf ein allgemeines Risiko abstellt, für das die Bedingung der Unverhältnismäßigkeit gilt, und die sieben folgenden auf spezifische Risiken abstellen, für die die Unverhältnismäßigkeit keine Bedingung ist, oder dahin, dass er auf eine Gesamtheit von sieben Fällen verweist, von denen jeder ein spezifisches Risiko betrifft, das unverhältnismäßig sein muss? b) Muss Art. 30 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 2015/849 im Hinblick darauf, dass er die Beschränkung des Zugangs zu Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer von „einem Risiko“ abhängig macht, dahin ausgelegt werden, dass er die Prüfung, ob dieses Risiko besteht und wie ernst es ist, auf die Beziehungen beschränkt, die der wirtschaftliche Eigentümer zu der konkreten juristischen Person unterhält, für die er den Antrag stellt, den Zugang zu Informationen über seine Eigenschaft als wirtschaftlicher Eigentümer zu beschränken, oder dahin, dass auch die Beziehungen zu berücksichtigen sind, die der betreffende wirtschaftliche Eigentümer zu anderen juristischen Personen unterhält? Wenn man die Beziehungen berücksichtigen muss, die zu anderen juristischen Personen unterhalten werden, muss man nur die Eigenschaft als wirtschaftlicher Eigentümer im Verhältnis zu anderen juristischen Personen berücksichtigen oder muss man jedwede Beziehung, die zu anderen juristischen Personen unterhalten wird, berücksichtigen? Wenn man jedwede Beziehung, die zu anderen juristischen Personen unterhalten wird, berücksichtigen muss, wirkt sich dann die Art dieser Beziehung darauf aus, ob das Risiko besteht und wie ernst es ist? c) Muss Art. 30 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 2015/849 im Hinblick darauf, dass er die Beschränkung des Zugangs zu Informationen über den wirtschaftlichen Eigentümer von „einem Risiko“ abhängig macht, dahin ausgelegt werden, dass der Schutz, der sich aus einer Zugangsbeschränkung ergibt, nicht in Anspruch genommen werden kann, wenn diese Informationen bzw. andere Informationen, die der wirtschaftliche Eigentümer vorlegt, um zu belegen, dass ein ernstes „Risiko“ besteht, für Dritte leicht auf anderen Wegen erhältlich sind? 3. Zum Begriff des „unverhältnismäßigen“ Risikos Welche widerstreitenden Interessen müssen im Rahmen der Anwendung von Art. 30 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 2015/849 im Hinblick darauf berücksichtigt werden, dass er die Beschränkung des Zugangs zu Informationen über den wirtschaftlichen Eigentümer von einem „unverhältnismäßigen“ Risiko abhängig macht? Rechtssache C‑601/20 25 Sovim stellte bei LBR einen Antrag gemäß Art. 15 des Gesetzes vom 13. Januar 2019, den Zugang zu den im RBE enthaltenen Angaben über ihren wirtschaftlichen Eigentümer auf die Einrichtungen im Sinne dieser Bestimmung zu beschränken. Mit Entscheidung vom 6. Februar 2020 wurde dieser Antrag abgelehnt. 26 Am 24. Februar 2020 erhob Sovim Klage beim vorlegenden Gericht. 27 Die Gesellschaft beantragt, Art. 12 des Gesetzes vom 13. Januar 2019, wonach der Zugang zu bestimmten im RBE enthaltenen Angaben „jeder Person“ offensteht, und/oder Art. 15 dieses Gesetzes unangewendet zu lassen sowie die von ihr gemäß Art. 3 dieses Gesetzes übermittelten Angaben nicht öffentlich zugänglich zu machen. 28 Hierzu macht Sovim als Erstes geltend, dass die Gewährung eines öffentlichen Zugangs zur Identität und zu den persönlichen Daten ihres wirtschaftlichen Eigentümers das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens sowie das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, die in den Art. 7 bzw. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert seien, verletze. 29 Die geänderte Richtlinie 2015/849, auf deren Grundlage das Gesetz vom 13. Januar 2019 in das luxemburgische Recht eingeführt worden sei, ziele nämlich darauf ab, die wirtschaftlichen Eigentümer von Gesellschaften zu identifizieren, die zum Zweck der Geldwäsche oder der Terrorismusfinanzierung eingesetzt würden, und die Sicherheit der Geschäftsbeziehungen und das Vertrauen in die Märkte zu gewährleisten. Es sei jedoch nicht erwiesen, wie der Zugang der Öffentlichkeit ohne jegliche Kontrolle zu den im RBE enthaltenen Daten das Erreichen dieser Zielsetzungen ermöglichte. 30 Als Zweites macht Sovim geltend, der Zugang der Öffentlichkeit zu den im RBE enthaltenen personenbezogenen Daten stelle einen Verstoß gegen mehrere Bestimmungen der DSGVO dar, insbesondere gegen eine Reihe von in Art. 5 Abs. 1 DSGVO genannten tragenden Grundsätzen. 31 Hilfsweise beantragt Sovim die Feststellung, dass im vorliegenden Fall ein unverhältnismäßiges Risiko im Sinne von Art. 15 Abs. 1 des Gesetzes vom 13. Januar 2019 besteht, und begehrt daher, der LBR aufzugeben, den Zugang zu den in Art. 3 dieses Gesetzes genannten Informationen zu beschränken. 32 Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach Art. 15 Abs. 1 des Gesetzes vom 13. Januar 2019 LBR im Einzelfall prüfen müsste, ob außergewöhnliche Umstände vorlägen, die eine Beschränkung des Zugangs zum RBE rechtfertigten. Zwar seien im Kontext dieses Gesetzes dem Gerichtshof bereits in der Rechtssache C‑37/20 mehrere Fragen zur Auslegung der Begriffe „außergewöhnliche Umstände“, „Risiko“ und „unverhältnismäßiges“ Risiko gestellt worden, doch werfe das vorliegende Verfahren auch andere Probleme auf, insbesondere die Frage, ob der Zugang der breiten Öffentlichkeit zu bestimmten im RBE enthaltenen Daten mit der Charta und der DSGVO vereinbar sei. 33 Unter diesen Umständen hat das Tribunal d’arrondissement de Luxembourg (Bezirksgericht Luxemburg) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 1 Nr. 15 Buchst. c der Richtlinie 2018/843 zur Änderung von Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 der Richtlinie 2015/849, soweit die Mitgliedstaaten damit verpflichtet werden, die Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer in allen Fällen allen Mitgliedern der Öffentlichkeit ohne Nachweis eines berechtigten Interesses zugänglich zu machen, – im Licht des in Art. 7 der Charta verbürgten und in Einklang mit Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgelegten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, unter Berücksichtigung der namentlich in den Erwägungsgründen 30 und 31 der Richtlinie 2018/843 genannten Ziele, die insbesondere auf die Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung abstellen, und – im Licht des in Art. 8 der Charta verbürgten Rechts auf Schutz personenbezogener Daten, soweit es insbesondere darauf abzielt, die Verarbeitung personenbezogener Daten auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise sowie die Zweckbindung der Erhebung und der Verarbeitung und die Datenminimierung zu gewährleisten, gültig? 2. a) Ist Art. 1 Nr. 15 Buchst. g der Richtlinie 2018/843 dahin auszulegen, dass die außergewöhnlichen Umstände, auf die Bezug genommen wird und unter denen die Mitgliedstaaten Ausnahmen von dem vollständigen oder teilweisen Zugang zu den Informationen über den wirtschaftlichen Eigentümer vorsehen können, wenn der wirtschaftliche Eigentümer durch den Zugang der Öffentlichkeit einem unverhältnismäßigen Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung ausgesetzt würde, nur dann vorliegen, wenn der Beweis eines unverhältnismäßigen Risikos von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung, das tatsächlich die konkrete Person des wirtschaftlichen Eigentümers betrifft und außergewöhnlich, qualifiziert, echt und gegenwärtig ist, erbracht wird? b) Falls dies bejaht wird: Ist der so ausgelegte Art. 1 Nr. 15 Buchst. g der Richtlinie 2018/843 im Licht des in Art. 7 der Charta verbürgten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens und des in Art. 8 der Charta verbürgten Rechts auf Schutz personenbezogener Daten gültig? 3. a) Ist Art. 5 Abs. 1 Buchst. a DSGVO, der zu einer Verarbeitung der Daten auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verpflichtet, dahin auszulegen, dass er weder dem entgegensteht, – dass die personenbezogenen Daten eines wirtschaftlichen Eigentümers, die in einem gemäß Art. 30 der Richtlinie 2015/849 in der durch Art. 1 Nr. 15 der Richtlinie 2018/843 geänderten Fassung eingerichteten Register der wirtschaftlichen Eigentümer eingetragen sind, jedermann ohne Kontrolle und ohne Rechtfertigung öffentlich zugänglich sind und ohne dass die betroffene Person (wirtschaftlicher Eigentümer) Kenntnis davon haben kann, wer zu diesen personenbezogenen Daten, die sie betreffen, Zugang hatte; noch dem entgegensteht, – dass der Verantwortliche eines solchen Registers der wirtschaftlichen Eigentümer einem unbeschränkten und nicht bestimmbaren Personenkreis Zugang zu den personenbezogenen Daten der wirtschaftlichen Eigentümer gibt? b) Ist Art. 5 Abs. 1 Buchst. b DSGVO, der zur Zweckbindung verpflichtet, dahin auszulegen, dass die personenbezogenen Daten eines wirtschaftlichen Eigentümers, die in einem gemäß Art. 30 der geänderten Richtlinie 2015/849 eingerichteten Register der wirtschaftlichen Eigentümer eingetragen sind, öffentlich zugänglich sind, ohne dass der für die Verarbeitung dieser Daten Verantwortliche gewährleisten kann, dass diese Daten ausschließlich zu dem Zweck verwendet werden, zu dem sie erhoben wurden, nämlich im Wesentlichen zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, einem Zweck, für dessen Einhaltung die Öffentlichkeit nicht zuständig ist? c) Ist Art. 5 Abs. 1 Buchst. c DSGVO, der zur Datenminimierung verpflichtet, dahin auszulegen, dass er nicht daran hindert, dass die Öffentlichkeit über ein gemäß Art. 30 der geänderten Richtlinie 2015/849 eingerichtetes Register der wirtschaftlichen Eigentümer nicht nur Zugang zum Namen, dem Geburtsmonat und ‑jahr, der Staatsangehörigkeit und dem Wohnsitzstaat eines wirtschaftlichen Eigentümers sowie zu Art und Umfang seines wirtschaftlichen Interesses, sondern auch zu seinem Geburtstag und ‑ort hat? d) Steht Art. 5 Abs. 1 Buchst. f DSGVO, der dazu verpflichtet, Daten in einer Weise zu verarbeiten, die eine angemessene Sicherheit der personenbezogenen Daten gewährleistet, einschließlich Schutz vor unbefugter oder unrechtmäßiger Verarbeitung, wodurch die Integrität und die Vertraulichkeit dieser Daten gewährleistet wird, dem unbeschränkten und unbedingten Zugang ohne Vertraulichkeitsverpflichtung zu den personenbezogenen Daten von wirtschaftlichen Eigentümern, die in dem gemäß Art. 30 der geänderten Richtlinie 2015/849 eingerichteten Register der wirtschaftlichen Eigentümer verfügbar sind, nicht entgegen? e) Ist Art. 25 Abs. 2 DSGVO, der den Datenschutz durch Voreinstellung gewährleistet und nach dem insbesondere personenbezogene Daten durch Voreinstellungen nicht ohne Eingreifen der Person einer unbestimmten Zahl von natürlichen Personen zugänglich gemacht werden dürfen, dahin auszulegen, dass er weder dem entgegensteht, – dass ein gemäß Art. 30 der geänderten Richtlinie 2015/849 eingerichtetes Register der wirtschaftlichen Eigentümer keine Anmeldung auf der Webseite dieses Registers seitens der öffentlichen Nutzer, die die personenbezogenen Daten eines wirtschaftlichen Eigentümers abfragen, verlangt, noch dem entgegensteht, – dass keinerlei Informationen über die Abfrage der in einem solchen Register eingetragenen personenbezogenen Daten eines wirtschaftlichen Eigentümers an diesen übermittelt werden, und auch nicht dem entgegensteht, – dass keinerlei Einschränkung des Umfangs und der Zugänglichkeit der betreffenden personenbezogenen Daten im Hinblick auf den Zweck ihrer Verarbeitung zur Anwendung kommt? f) Sind die Art. 44 bis 50 DSGVO, die die Übermittlung personenbezogener Daten an ein Drittland an strenge Voraussetzungen knüpfen, dahin auszulegen, dass sie nicht daran hindern, dass solche Daten eines wirtschaftlichen Eigentümers, die in einem gemäß Art. 30 der geänderten Richtlinie 2015/849 eingerichteten Register der wirtschaftlichen Eigentümer eingetragen sind, in allen Fällen allen Mitgliedern der Öffentlichkeit ohne Nachweis eines berechtigten Interesses und ohne Beschränkungen hinsichtlich der Lokalisierung dieser Öffentlichkeit zugänglich sind? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑601/20 34 Mit der ersten Frage in der Rechtssache C‑601/20 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob im Licht von die Art. 7 und 8 der Charta Art. 1 Nr. 15 Buchst. c der Richtlinie 2018/843 gültig ist, soweit mit dieser Bestimmung Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2015/849 dahin geändert wurde, dass er in seiner geänderten Fassung vorsieht, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer der in ihrem Gebiet eingetragenen Gesellschaften oder anderen juristischen Personen in allen Fällen für alle Mitglieder der Öffentlichkeit zugänglich sind. Zum Eingriff, der sich aus dem Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer in die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte ergibt 35 Nach Art. 7 der Charta hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation, während in Art. 8 Abs. 1 der Charta jeder Person ausdrücklich das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten zuerkannt wird. 36 Wie aus Art. 30 Abs. 1 und 3 der geänderten Richtlinie 2015/849 hervorgeht, müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die in ihrem Gebiet eingetragenen Gesellschaften oder sonstigen juristischen Personen angemessene, präzise und aktuelle Angaben zu ihren wirtschaftlichen Eigentümern einholen und aufbewahren müssen, sowie sicherstellen, dass diese Angaben in einem zentralen Register in jedem Mitgliedstaat aufbewahrt werden. Nach Art. 3 Nr. 6 dieser Richtlinie sind wirtschaftliche Eigentümer alle natürlichen Personen, in deren Eigentum oder unter deren Kontrolle der Kunde letztlich steht, und/oder die natürliche(n) Person(en), in deren Auftrag eine Transaktion oder Tätigkeit ausgeführt wird. 37 Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der geänderten Richtlinie 2015/849 verpflichtet die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass die Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer in allen Fällen zugänglich sind für „alle Mitglieder der Öffentlichkeit“, während Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 2 klarstellt, dass Letztere in diesem Sinne „Zugang mindestens zum Namen, Monat und Jahr der Geburt, dem Wohnsitzland und der Staatsangehörigkeit des wirtschaftlichen Eigentümers sowie zu Art und Umfang des wirtschaftlichen Interesses [haben]“. Art. 30 Abs. 5 fügt in Unterabs. 3 hinzu, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … unter Bedingungen, die im nationalen Recht festzulegen sind, den Zugang zu weiteren Informationen vorsehen [können], die die Identifizierung des wirtschaftlichen Eigentümers ermöglichen“, die „im Einklang mit den Datenschutzbestimmungen mindestens das Geburtsdatum oder die Kontaktdaten [umfassen]“. 38 Hierzu ist festzustellen, dass, da die in Art. 30 Abs. 5 genannten Daten Informationen über bestimmte natürliche Personen, und zwar die wirtschaftlichen Eigentümer von im Gebiet der Mitgliedstaaten eingetragenen Gesellschaften und anderen juristischen Personen, enthalten, der Zugang von allen Mitgliedern der Öffentlichkeit dazu das durch Art. 7 der Charta garantierte Grundrecht auf Achtung des Privatlebens berührt (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung), ohne dass in diesem Zusammenhang der Umstand von Belang ist, dass sich die betreffenden Daten auf berufliche Tätigkeiten beziehen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 59). Außerdem stellt diese öffentliche Zugänglichmachung dieser Daten eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 8 der Charta dar (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 52 und 60). 39 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Zurverfügungstellung personenbezogener Daten an Dritte unabhängig von der späteren Verwendung der übermittelten Informationen einen Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte darstellt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die betreffenden Informationen über das Privatleben als sensibel anzusehen sind oder ob die Betroffenen durch den Vorgang irgendwelche Nachteile erlitten haben (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Daher stellt der in Art. 30 Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2015/849 vorgesehene Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer einen Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte dar. 41 Zur Schwere dieses Eingriffs ist festzustellen, dass sich die der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellten Informationen, auf die Identität des wirtschaftlichen Eigentümers sowie die Art und den Umfang seines wirtschaftlichen Interesses an Gesellschaften oder anderen juristischen Personen beziehen und sich anhand dieser Informationen somit ein je nach Ausgestaltung des nationalen Rechts mehr oder weniger umfassendes Profil mit bestimmten persönlichen Identifizierungsdaten, der Vermögenslage des Betroffenen sowie den Wirtschaftssektoren, Ländern und spezifischen Unternehmen, in die er investiert hat, erstellen lässt. 42 Hinzu kommt, dass es untrennbar mit einer solchen öffentlichen Zugänglichmachung dieser Angaben verbunden ist, dass diese damit einer potenziell unbegrenzten Zahl von Personen zugänglich sind, so dass durch eine solche Verarbeitung personenbezogener Daten auch Personen, die sich aus nicht mit der Zielsetzung, die mit dieser Maßnahme verfolgt wird, zusammenhängenden Gründen u. a. über die materielle und finanzielle Situation eines wirtschaftlichen Eigentümers Kenntnis verschaffen wollen, ungehindert auf diese Angaben zugreifen können (vgl. entsprechend Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 102 und 103). Diese Möglichkeit erweist sich als umso leichter, wenn die fraglichen Daten, wie es in Luxemburg der Fall ist, im Internet abgerufen werden können. 43 Außerdem werden die möglichen Folgen einer etwaigen missbräuchlichen Verwendung ihrer personenbezogenen Daten für die betroffenen Personen dadurch verschärft, dass diese Daten, sobald sie der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt worden sind, nicht nur frei abgerufen, sondern auch auf Vorrat gespeichert und verbreitet werden können und es für diese Personen im Fall von solchen anschließenden Verarbeitungen umso schwieriger, wenn nicht sogar illusorisch wird, sich wirksam gegen Missbräuche zur Wehr zu setzen. 44 Daher stellt der in Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der geänderten Richtlinie 2015/849 vorgesehene Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer einen schwerwiegenden Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte dar (vgl. entsprechend Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 105). Zur Rechtfertigung des Eingriffs, der sich aus dem Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer ergibt 45 Die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte können keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und ihren Wesensgehalt achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Insoweit heißt es in Art. 8 Abs. 2 der Charta, dass personenbezogene Daten u. a. nur „für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage“ verarbeitet werden dürfen. – Zur Beachtung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit 47 Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Einschränkung der Ausübung der Grundrechte bedeutet, dass der Rechtsakt, der den Eingriff in die Grundrechte ermöglicht, den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegen muss. Dieses Erfordernis schließt zum einen aber nicht aus, dass die fragliche Einschränkung hinreichend offen formuliert ist, um Anpassungen an verschiedene Fallgruppen und an Änderungen der Lage zu erlauben. Zum anderen kann der Gerichtshof gegebenenfalls die konkrete Tragweite der Einschränkung im Wege der Auslegung präzisieren, und zwar anhand sowohl des Wortlauts als auch der Systematik und der Ziele der fraglichen Unionsregelung, wie sie im Licht der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen sind (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung). 48 Hierzu ist festzustellen, dass die Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte, die sich aus dem Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer ergibt, in einem Gesetzgebungsakt der Union, nämlich der geänderten Richtlinie 2015/849, vorgesehen ist. Außerdem sieht Art. 30 Abs. 1 und 5 der Richtlinie zum einen den Zugang der Öffentlichkeit zu Daten hinsichtlich der Identifizierung der wirtschaftlichen Eigentümer und des wirtschaftlichen Interesses vor, wobei er bestimmt, dass diese Daten angemessen, präzise und aktuell sein müssen, und indem er einige dieser Daten, zu denen jedem Mitglied der Öffentlichkeit Zugang zu gewähren ist, ausdrücklich aufzählt. Zum anderen legt Art. 30 Abs. 9 dieser Richtlinie die Voraussetzungen fest, unter denen die Mitgliedstaaten Ausnahmen von einem solchen Zugang vorsehen können. 49 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit gewahrt ist. – Zur Achtung des Wesensgehalts der durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte 50 Zur Achtung des Wesensgehalts der in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte ist festzustellen, dass die Angaben, auf die in Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2015/849 ausdrücklich Bezug genommen wird, in zwei verschiedene Kategorien von Daten eingeteilt werden können, deren erste Daten über die Identität des wirtschaftlichen Eigentümers (Name, Monat und Geburtsjahr sowie Staatsangehörigkeit) und die zweite Daten wirtschaftlicher Natur (Art und Umfang des wirtschaftlichen Interesses) umfasst. 51 Außerdem trifft es zwar zu, dass Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 2 der geänderten Richtlinie 2015/849, wie sich aus der Verwendung des Ausdrucks „mindestens“ ergibt, keine erschöpfende Aufzählung der Daten enthält, zu denen jedem Mitglied der Öffentlichkeit der Zugang erlaubt werden muss, und dass Art. 30 Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2015/849 in seinem Unterabs. 3 klarstellt, dass die Mitgliedstaaten den Zugang zu weiteren Informationen vorsehen können, gleichwohl aber gemäß Art. 30 Abs. 1 dieser Richtlinie nur „angemessene“ Angaben über die wirtschaftlichen Eigentümer und das wirtschaftliche Interesse eingeholt, aufbewahrt und somit potenziell der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden dürfen, was insbesondere Angaben ausschließt, die keinen angemessenen Bezug zu den Zielsetzungen dieser Richtlinie aufweisen. 52 Es ist daher nicht ersichtlich, dass die öffentliche Zugänglichmachung von Angaben, die einen solchen Bezug aufweisen, in irgendeiner Weise den Wesensgehalt der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte beeinträchtigen würde. 53 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass Art. 41 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 2015/849 ausdrücklich vorsieht, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten gemäß dieser Richtlinie der Richtlinie 95/46 und damit der DSGVO unterliegt, nach deren Art. 94 Abs. 2 Verweise auf letztere Richtlinie als Verweise auf diese Verordnung gelten. Somit steht fest, dass jede Sammlung, Aufbewahrung und Bereitstellung von Angaben gemäß der geänderten Richtlinie 2015/849 den Anforderungen der DSGVO in vollem Umfang genügen muss. 54 Unter diesen Umständen beeinträchtigt der Eingriff, der mit dem in Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der geänderten Richtlinie 2015/849 vorgesehenen Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer verbunden ist, nicht den Wesensgehalt der in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte. – Zu der von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung 55 Ziel der geänderten Richtlinie 2015/849 ist nach dem Wortlaut ihres Art. 1 Abs. 1 die Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems der Union zum Zweck der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. Insoweit stellt der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/843 klar, dass die Verfolgung dieses Ziels nur wirkungsvoll sein kann, wenn das Umfeld für Betrüger ungünstig ist, und dass durch die Verbesserung der allgemeinen Transparenz des wirtschaftlichen und finanziellen Umfelds der Union eine starke abschreckende Wirkung entfaltet werden könnte. 56 Speziell zu dem Ziel, das mit dem durch Art. 1 Nr. 15 Buchst. c der Richtlinie 2018/843 eingeführten Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer verfolgt wird, heißt es im 30. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, dass durch einen solchen Zugang zunächst „eine größere Kontrolle der Informationen durch die Zivilgesellschaft (einschließlich Presse und zivilgesellschaftlichen Organisationen) ermöglicht und das Vertrauen in die Integrität der Geschäftstätigkeit und des Finanzsystems gestärkt [wird]“. Des Weiteren „kann“ durch den fraglichen Zugang „insofern ein Beitrag zur Bekämpfung des Missbrauchs von Gesellschaften und anderen juristischen Personen und ähnlichen Rechtsvereinbarungen für die Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung geleistet werden, als Ermittlungen erleichtert und Reputationseffekte bewirkt werden können, da jedem, der Geschäfte abschließen könnte, die Identität der wirtschaftlichen Eigentümer bekannt ist“. Schließlich wird durch diesen Zugang „auch eine zeitnahe und effiziente Verfügbarkeit von Informationen für Finanzinstitute sowie Behörden, einschließlich Behörden von Drittländern, die an der Bekämpfung solcher Straftaten mitarbeiten, erleichtert“ und dieser Zugang „würde dazu beitragen, Ermittlungen in Bezug auf Geldwäsche, damit zusammenhängende Vortaten und Terrorismusfinanzierung durchzuführen“. 57 Zudem erläutert der 31. Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/843, dass „[d]ie mögliche Verbesserung des Vertrauens in die Finanzmärkte … als positiver Nebeneffekt und nicht als Zweck erhöhter Transparenz angesehen werden [sollte], der darin besteht, ein Umfeld zu schaffen, das weniger leicht für die Zwecke von Geldwäschern und Geldgebern des Terrorismus genutzt werden kann“. 58 Demnach will der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er den Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer vorsieht, die Geldwäsche und die Terrorismusfinanzierung verhindern, indem er mit erhöhter Transparenz ein Umfeld schafft, das weniger leicht für diese Zwecke genutzt werden kann. 59 Dabei handelt es sich um eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung, die auch schwere Eingriffe in die in den Art. 7 und 8 der Charta niedergelegten Grundrechte rechtfertigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 122 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Soweit der Rat der Europäischen Union in diesem Zusammenhang außerdem ausdrücklich auf den Transparenzgrundsatz Bezug nimmt, wie er sich aus den Art. 1 und 10 EUV sowie aus Art. 15 AEUV ergibt, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz, wie der Rat selbst betont, eine bessere Beteiligung der Bürger am Entscheidungsprozess ermöglicht und eine größere Legitimität, Effizienz und Verantwortung der Verwaltung gegenüber dem Bürger in einem demokratischen System gewährleistet (Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 68 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 61 Dieser Grundsatz findet insoweit seinen konkreten Ausdruck vor allem durch Anforderungen an die Transparenz auf der Ebene der Institutionen und Verfahren für Tätigkeiten öffentlicher Natur, einschließlich der Verwendung öffentlicher Mittel, doch fehlt es an einem solchen Zusammenhang mit öffentlichen Einrichtungen, wenn die fragliche Maßnahme, wie im vorliegenden Fall, darauf abzielt, der Öffentlichkeit die Daten über die Identität der wirtschaftlichen Eigentümer sowie über Art und Umfang ihres wirtschaftlichen Interesses an Gesellschaften oder anderen juristischen Personen zugänglich zu machen. 62 Folglich kann der Transparenzgrundsatz, wie er sich aus den Art. 1 und 10 EUV sowie aus Art. 15 AEUV ergibt, nicht als solcher als eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung angesehen werden, die den Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte, der aus dem Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer resultiert, rechtfertigen könnte. – Zur Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des fraglichen Eingriffs 63 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen, aus denen sich ein Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte ergibt, dass nicht nur die Anforderungen an die Geeignetheit und Erforderlichkeit, sondern auch die Anforderung an die Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen im Hinblick auf das verfolgte Ziel erfüllt sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 93). 64 Insbesondere beschränken sich die Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten und dessen Einschränkungen auf das absolut Erforderliche, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele zur Verfügung stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist. Außerdem darf eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung nicht verfolgt werden, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie mit den von der Maßnahme betroffenen Grundrechten in Einklang gebracht werden muss, indem eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der fraglichen Rechte vorgenommen wird, um sicherzustellen, dass die durch diese Maßnahme verursachten Unannehmlichkeiten nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielsetzungen stehen. Daher ist die Möglichkeit, eine Einschränkung der durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte zu rechtfertigen, zu beurteilen, indem die Schwere des mit einer solchen Einschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die mit ihr verfolgte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. April 2022, Polen/Parlament und Rat, C‑401/19, EU:C:2022:297, Rn. 65, und vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 115 und 116 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 65 Um im Übrigen den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu genügen, muss die betreffende Regelung, die den Eingriff enthält, auch klare und präzise Regeln für die Tragweite und die Anwendung der vorgesehenen Maßnahmen sowie Mindestanforderungen aufstellen, so dass die betroffenen Personen über ausreichende Garantien verfügen, die einen wirksamen Schutz ihrer personenbezogenen Daten vor Missbrauchsrisiken ermöglichen. Sie muss insbesondere angeben, unter welchen Umständen und unter welchen Voraussetzungen eine Maßnahme, die die Verarbeitung solcher Daten vorsieht, getroffen werden darf, damit gewährleistet ist, dass der Eingriff auf das absolut Notwendige beschränkt wird. Werden die personenbezogenen Daten der Öffentlichkeit und somit einer potenziell unbegrenzten Zahl von Personen zugänglich gemacht und lassen sich diesen Daten sensible Informationen über die betroffenen Personen entnehmen, erhält die Notwendigkeit, über solche Garantien zu verfügen, umso mehr Gewicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 117 und die dort angeführte Rechtsprechung). 66 Im Einklang mit dieser Rechtsprechung ist erstens zu prüfen, ob der Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer geeignet ist, die dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung zu erreichen, zweitens, ob der sich aus einem solchen Zugang ergebende Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte in dem Sinne auf das absolut Notwendige beschränkt ist, dass diese Zielsetzung vernünftigerweise nicht ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden kann, die diese Grundrechte der betroffenen Personen weniger beeinträchtigen, und drittens, ob dieser Eingriff nicht außer Verhältnis zu dieser Zielsetzung steht, was insbesondere eine Gewichtung der Bedeutung dieser Zielsetzung und der Schwere dieses Eingriffs impliziert. 67 Erstens ist davon auszugehen, dass der Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer geeignet ist, zur Verwirklichung der in Rn. 58 des vorliegenden Urteils angeführten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung der Verhinderung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung beizutragen, da der öffentliche Charakter dieses Zugangs und die daraus resultierende erhöhte Transparenz zur Schaffung eines Umfelds beitragen, das weniger leicht für diese Zwecke genutzt werden kann. 68 Zweitens verweisen der Rat und die Kommission zum Nachweis der absoluten Erforderlichkeit des sich aus dem Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer ergebenden Eingriffs auf die Folgenabschätzung, die dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung und zur Änderung der Richtlinie 2009/101/EG (COM[2016] 450 final) beigefügt ist, der der Richtlinie 2018/843 zugrunde liege. Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2015/849 in seiner vor ihrer Änderung durch die Richtlinie 2018/843 geltenden Fassung habe den Zugang jeder Person zu Angaben über die wirtschaftlichen Eigentümer von der Voraussetzung abhängig gemacht, dass sie ein „berechtigtes Interesse“ habe nachweisen können, doch sei in dieser Folgenabschätzung festgestellt worden, dass das Fehlen einer einheitlichen Definition des Begriffs „berechtigtes Interesse“ praktische Schwierigkeiten bereitet habe, so dass die geeignete Lösung darin bestanden habe, diese Voraussetzung zu streichen. 69 Außerdem weisen das Parlament, der Rat und die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen unter Bezugnahme u. a. auf den 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/843 darauf hin, dass der Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer, wie er in der geänderten Richtlinie 2015/849 vorgesehen sei, eine abschreckende Wirkung habe, eine verstärkte Kontrolle ermögliche und die Durchführung der Ermittlungen, einschließlich jener, die von den Behörden von Drittländern geführt würden, erleichtere, und darauf, dass diese Folgen nicht in anderer Weise erreicht werden könnten. 70 In der mündlichen Verhandlung ist die Kommission aufgefordert worden, anzugeben, ob sie, um der Gefahr abzuhelfen, dass das ursprünglich in der Richtlinie 2015/849 vorgesehene Erfordernis für jede Person oder Organisation, ein „berechtigtes Interesse“ nachzuweisen, wegen der unterschiedlichen Definition dieses Begriffs in den Mitgliedstaaten zu übermäßigen Beschränkungen des Zugangs zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer führt, die Möglichkeit berücksichtigt habe, eine einheitliche Definition dieses Begriffs vorzuschlagen. 71 In Beantwortung dieser Frage hat die Kommission darauf hingewiesen, dass das Kriterium des „berechtigten Interesses“ ein Begriff sei, der sich nur schwer für eine Legaldefinition eigne, und dass sie, obwohl sie die Möglichkeit in Betracht gezogen habe, eine einheitliche Definition dieses Kriteriums vorzuschlagen, letztlich darauf verzichtet habe, dies zu tun, weil das Kriterium, selbst wenn es mit einer Definition versehen sei, schwer umzusetzen sei und seine Anwendung zu willkürlichen Entscheidungen führen könne. 72 Insoweit ist festzustellen, dass das etwaige Vorliegen von Schwierigkeiten bei der genauen Bestimmung der Fälle und Bedingungen, in bzw. unter denen die Öffentlichkeit Zugang zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer haben kann, nicht rechtfertigen kann, dass der Unionsgesetzgeber den Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu diesen Informationen vorsieht (vgl. entsprechend Urteil vom 5. April 2022, Commissioner of An Garda Síochána u. a., C‑140/20, EU:C:2022:258, Rn. 84). 73 Auch die geltend gemachten Wirkungen und der Verweis in diesem Zusammenhang auf die Erläuterungen im 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/843 können die absolute Erforderlichkeit des in Rede stehenden Eingriffs nicht belegen. 74 Soweit es in diesem Erwägungsgrund heißt, dass durch den Zugang der Öffentlichkeit zu Angaben über die wirtschaftlichen Eigentümer eine größere Kontrolle der Informationen durch die Zivilgesellschaft ermöglicht werde und insoweit ausdrücklich Presse und zivilgesellschaftliche Organisationen erwähnt werden, ist nämlich darauf hinzuweisen, dass sowohl die Presse als auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen, die einen Bezug zur Verhütung und zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung aufweisen, ein berechtigtes Interesse am Zugang zu Angaben über die wirtschaftlichen Eigentümer haben. Gleiches gilt für die ebenfalls in diesem Erwägungsgrund erwähnten Personen, die die Identität der wirtschaftlichen Eigentümer einer Gesellschaft oder einer anderen juristischen Person in Erfahrung bringen möchten, da sie mit dieser Geschäfte abschließen könnten, oder für Finanzinstitute und Behörden, die an der Bekämpfung von Straftaten im Bereich der Geldwäsche oder der Terrorismusfinanzierung mitarbeiten, soweit die letztgenannten Einrichtungen nicht ohnehin bereits auf der Grundlage von Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a und b der geänderten Richtlinie 2015/849 Zugang zu den fraglichen Angaben haben. 75 Im Übrigen ist, soweit im selben Erwägungsgrund klargestellt wird, dass der Zugang der Öffentlichkeit zu Angaben über die wirtschaftlichen Eigentümer zur Bekämpfung des missbräuchlichen Einsatzes von Gesellschaften und anderen juristischen Personen „einen Beitrag … leisten kann“ und dass er zu Strafermittlungen „beitragen [würde]“, festzustellen, dass auch mit diesen Erwägungen nicht dargetan werden kann, dass diese Maßnahme absolut erforderlich ist, um Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu verhindern. 76 Nach alledem kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte, der sich aus dem Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer ergibt, auf das absolut Erforderliche beschränkt ist. 77 Was drittens die Gesichtspunkte betrifft, die zum Nachweis der Verhältnismäßigkeit des in Rede stehenden Eingriffs vorgetragen werden und wonach insbesondere der in Art. 30 Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2015/849 vorgesehene Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer auf einer ausgewogenen Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der in Rede stehenden Grundrechte beruhe und es hinreichende Garantien gegen die Missbrauchsrisiken gebe, ist Folgendes hinzuzufügen. 78 Zunächst macht die Kommission geltend, der Unionsgesetzgeber habe, wie sich aus dem 34. Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/843 ergebe, klargestellt, dass die Daten, die der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind, von ihrem Umfang her begrenzt sowie klar und erschöpfend definiert werden sollten; sie sollten zudem allgemeiner Art sein, damit mögliche Beeinträchtigungen für wirtschaftliche Eigentümer auf ein Mindestmaß beschränkt werden. In diesem Kontext seien auf der Grundlage von Art. 30 Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2015/849 der Öffentlichkeit nur die Daten zugänglich, die absolut erforderlich seien, um die wirtschaftlichen Eigentümer sowie Art und Umfang ihres Interesses zu identifizieren. 79 Sodann unterstreichen das Parlament, der Rat und die Kommission, dass von dem Grundsatz des Zugangs aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer abgewichen werden könne, da Art. 30 Abs. 9 der geänderten Richtlinie 2015/849 vorsehe, dass für „außergewöhnliche … Umstände“„die Mitgliedstaaten im Einzelfall eine Ausnahme von dem besagten vollständigen oder teilweisen Zugang zu den Informationen über den wirtschaftlichen Eigentümer vorsehen [können]“, wenn durch den Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu diesen Informationen der „wirtschaftliche Eigentümer … einem unverhältnismäßigen Risiko von Betrug, Entführung, Erpressung, Schutzgelderpressung, Schikane, Gewalt oder Einschüchterung ausgesetzt würde, oder für den Fall, dass der wirtschaftliche Eigentümer minderjährig oder anderweitig geschäftsunfähig ist“. 80 Schließlich weisen sowohl das Parlament als auch die Kommission darauf hin, dass die Mitgliedstaaten ausweislich des Art. 30 Abs. 5a der geänderten Richtlinie 2015/849 in Verbindung mit dem 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2018/843 die Bereitstellung von Angaben über die wirtschaftlichen Eigentümer von einer Online-Registrierung abhängig machen könnten, damit sie die Identität der Person, die um diese Angaben ersuche, in Erfahrung bringen könnten. Außerdem könnten die Mitgliedstaaten nach dem 38. Erwägungsgrund der letztgenannten Richtlinie, um zu verhindern, dass die Angaben über die wirtschaftlichen Eigentümer missbraucht werden, Letzteren Informationen über die Person, die den Antrag stellt, sowie die Rechtsgrundlage für den Antrag zur Verfügung stellen. 81 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, Art. 30 Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2015/849 in Unterabs. 2 vorsieht, dass jedes Mitglied der Öffentlichkeit „mindestens“ Zugang zu den in dieser Bestimmung genannten Daten hat, und in Unterabs. 3 ergänzt, dass die Mitgliedstaaten „Zugang zu weiteren Informationen vorsehen [können], die die Identifizierung des wirtschaftlichen Eigentümers ermöglichen“, wobei diese „mindestens“ das Geburtsdatum oder die Kontaktdaten des betreffenden wirtschaftlichen Eigentümers umfassen. 82 Aus der Verwendung des Ausdrucks „mindestens“ ergibt sich jedoch, dass diese Bestimmungen die öffentliche Zugänglichmachung von Daten gestatten, die weder hinreichend bestimmt noch identifizierbar sind. Daher genügen die materiellen Regeln für den Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte nicht dem in Rn. 65 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernis der Klarheit und Präzision (vgl. entsprechend Gutachten 1/15, [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 160). 83 Außerdem ist in Bezug auf die Gewichtung der in den Rn. 41 bis 44 des vorliegenden Urteils festgestellten Schwere dieses Eingriffs und der Bedeutung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung der Verhütung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung davon auszugehen, dass diese Zielsetzung in Anbetracht ihrer Bedeutung, wie in Rn. 59 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, zwar – selbst schwerwiegende – Eingriffe in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte zu rechtfertigen vermag, zum einen die Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung aber vorrangig den Behörden sowie Einrichtungen wie etwa Kreditinstituten und Finanzinstituten, denen aufgrund ihrer Tätigkeiten spezifische Pflichten in diesem Bereich auferlegt sind, obliegt. 84 Aus diesem Grund müssen auch nach Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. a und b der geänderten Richtlinie 2015/849 die Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer in jedem Fall den zuständigen Behörden und den zentralen Meldestellen ohne Einschränkung sowie den Verpflichteten im Rahmen der Erfüllung der Sorgfaltspflichten gegenüber Kunden zugänglich sein. 85 Zum anderen stellt im Vergleich zu einer Regelung wie Art. 30 Abs. 5 der Richtlinie 2015/849 in seiner vor dem Inkrafttreten der Richtlinie 2018/843 geltenden Fassung, die neben dem Zugang der zuständigen Behörden und bestimmter Einrichtungen den Zugang aller Personen oder Organisationen vorsah, die ein berechtigtes Interesse nachweisen konnten, die mit der letztgenannten Richtlinie eingeführte Regelung, die den Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer vorsieht, einen erheblich schwereren Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte dar, ohne dass diese zusätzliche Schwere durch etwaige Vorteile kompensiert würde, die sich aus der letztgenannten Regelung im Vergleich zur früheren hinsichtlich der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung ergeben könnten (vgl. entsprechend Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 112). 86 Unter diesen Umständen sind die fakultativen Bestimmungen von Art. 30 Abs. 5a und 9 der geänderten Richtlinie 2015/849, die es den Mitgliedstaaten erlauben, die Bereitstellung der Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer von einer Online-Registrierung abhängig zu machen und für außergewöhnliche Umstände Ausnahmen vom Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu diesen Informationen vorzusehen, als solche weder geeignet, zu belegen, dass eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte vorgenommen wurde, noch, dass hinreichende Garantien bestehen, die es den betroffenen Personen ermöglichen, ihre personenbezogenen Daten gegen Missbrauchsrisiken zu schützen. 87 Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang der Verweis der Kommission auf das Urteil vom 9. März 2017, Manni (C‑398/15, EU:C:2017:197), betreffend die Pflicht zur Offenlegung hinsichtlich der Gesellschaften, einschließlich ihrer gesetzlichen Vertreter, gemäß der Ersten Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. 1968, L 65, S. 8) in der Fassung der Richtlinie 2003/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2003 (ABl. 2003, L 221, S. 13) nicht relevant. Die in dieser Richtlinie vorgesehene Pflicht zur Offenlegung auf der einen und der Zugang aller Mitglieder der Öffentlichkeit zu den Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer gemäß der geänderten Richtlinie 2015/849 auf der anderen Seite unterscheiden sich nämlich sowohl hinsichtlich ihrer jeweiligen Zielsetzungen als auch hinsichtlich des Umfangs der erfassten personenbezogenen Daten. 88 Nach alledem ist auf die erste in der Rechtssache C‑601/20 vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 1 Nr. 15 Buchst. c der Richtlinie 2018/843 insoweit ungültig ist, als er Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2015/849 dahin geändert hat, dass dieser in seiner neuen Fassung vorsieht, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer der in ihrem Gebiet eingetragenen Gesellschaften oder anderen juristischen Personen in allen Fällen für alle Mitglieder der Öffentlichkeit zugänglich sind. Zur zweiten und zur dritten in der Rechtssache C‑601/20 vorgelegten Frage sowie zu den in der Rechtssache C‑37/20 vorgelegten Fragen 89 Die zweite in der Rechtssache C‑601/20 vorgelegte Frage und die in der Rechtssache C‑37/20 vorgelegten Fragen beruhen auf der Prämisse der Gültigkeit von Art. 30 Abs. 5 der geänderten Richtlinie 2015/849, soweit er den öffentlichen Zugang zu Angaben über die wirtschaftlichen Eigentümer vorsieht. 90 In Anbetracht der Antwort auf die erste in der Rechtssache C‑601/20 gestellte Frage sind diese Fragen jedoch nicht zu prüfen. 91 Außerdem muss im Licht dieser Antwort auch nicht über die dritte in der Rechtssache C-601/20 vorgelegte Frage befunden werden. Kosten 92 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 1 Nr. 15 Buchst. c der Richtlinie (EU) 2018/843 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2018 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2015/849 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung und zur Änderung der Richtlinien 2009/138/EG und 2013/36/EU ist ungültig, soweit durch diese Bestimmung Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie (EU) 2015/849 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinie 2006/70/EG der Kommission dahin geändert wurde, dass dieser Art. 30 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2015/849 in seiner so geänderten Fassung vorsieht, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Informationen über die wirtschaftlichen Eigentümer der in ihrem Gebiet eingetragenen Gesellschaften oder anderen juristischen Personen in allen Fällen für alle Mitglieder der Öffentlichkeit zugänglich sind. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch. (i ) Die vorliegende Sprachfassung ist im Rubrum und in der Kopfzeile gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.
Beschluss des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 7. November 2022.#Strafverfahren gegen FX u. a.#Vorabentscheidungsersuchen der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Korruptionsbekämpfung – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Art. 325 Abs. 1 AEUV – SFI-Übereinkommen – Entscheidung 2006/928/EG – Strafverfahren – Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) über die Besetzung von Spruchkörpern im Bereich der schweren Korruption – Verpflichtung der nationalen Richter, den Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) volle Wirksamkeit zu verschaffen – Disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter im Fall der Nichtbeachtung dieser Entscheidungen – Befugnis, Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), die nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, unangewendet zu lassen – Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts.#Verbundene Rechtssachen C-859/19, C-926/19 und C-929/19.
62019CO0859
ECLI:EU:C:2022:878
2022-11-07T00:00:00
Emiliou, Gerichtshof
62019CO0859 BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) 7. November 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Korruptionsbekämpfung – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Art. 325 Abs. 1 AEUV – SFI-Übereinkommen – Entscheidung 2006/928/EG – Strafverfahren – Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) über die Besetzung von Spruchkörpern im Bereich der schweren Korruption – Verpflichtung der nationalen Richter, den Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) volle Wirksamkeit zu verschaffen – Disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter im Fall der Nichtbeachtung dieser Entscheidungen – Befugnis, Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), die nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, unangewendet zu lassen – Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts“ In den verbundenen Rechtssachen C‑859/19, C‑926/19 und C‑929/19 betreffend drei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) mit Entscheidungen vom 19. November 2019 (C‑859/19), vom 6. November 2019 (C‑926/19) und vom 16. Dezember 2019 (C‑929/19), beim Gerichtshof eingegangen am 26. November 2019 (C‑859/19) und am 18. Dezember 2019 (C‑926/19 und C‑929/19), in den Strafverfahren gegen FX, CS, ND (C‑859/19), BR, CS, DT, EU, FV, GW (C‑926/19), CD, CLD, GLO, ŞDC, PVV (C‑929/19), Beteiligte: Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia Națională Anticorupție (C‑859/19, C‑926/19 und C‑929/19), Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia de Investigare a Infracțiunilor de Criminalitate Organizată și Terorism – Structura Centrală (C‑926/19), Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Secția pentru Investigarea Infracțiunilor din Justiţie (C‑926/19), Agenţia Naţională de Administrare Fiscală (C‑926/19 und C‑929/19), HX (C‑926/19), IY (C‑926/19), SC Uranus Junior 2003 SRL (C‑926/19), SC Complexul Energetic Oltenia SA (C‑929/19), erlässt DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Arabadjiev (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer, des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele, Generalanwalt: N. Emiliou, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, folgenden Beschluss 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen im Wesentlichen die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, von Art. 325 Abs. 1 AEUV, von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 des am 26. Juli 1995 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Anhang zum Rechtsakt des Rates vom 26. Juli 1995 (ABl. 1995, C 316, S. 48, im Folgenden: SFI‑Übereinkommen), sowie des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts. 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Strafverfahren gegen FX, CS und ND (Rechtssache C‑859/19), BR, CS, DT, EU, FV und GW (Rechtssache C‑926/19) sowie CD, CLD, GLO, ȘDC und PVV (Rechtssache C‑929/19) wegen Straftaten u. a. der Bestechung und des Mehrwertsteuerbetrugs. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht SFI-Übereinkommen 3 In Art. 1 Abs. 1 des SFI‑Übereinkommens heißt es: „Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften a) im Zusammenhang mit Ausgaben jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend – die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, unrechtmäßig erlangt oder zurückbehalten werden; – das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge; – die missbräuchliche Verwendung solcher Mittel zu anderen Zwecken als denen, für die sie ursprünglich gewährt worden sind; b) im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend – die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden; …“ 4 Art. 2 Abs. 1 dieses Übereinkommens bestimmt: „Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligung an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50000 [Euro] nicht überschreiten.“ 5 Mit Rechtsakt vom 27. September 1996 schloss der Rat der Europäischen Union die Ausarbeitung des Protokolls zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1996, C 313, S. 1) ab. Dieses Protokoll erfasst nach seinen Art. 2 und 3 Bestechlichkeits- und Bestechungstaten. Beitrittsakte 6 Art. 39 der am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. 2005, L 157, S. 203, im Folgenden: Beitrittsakte), sieht vor: „(1)   Falls auf der Grundlage der von der Kommission sichergestellten kontinuierlichen Überwachung der Verpflichtungen, die Bulgarien und Rumänien im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangen sind, und insbesondere auf der Grundlage der Überwachungsberichte der Kommission eindeutig nachgewiesen ist, dass sich die Vorbereitungen im Hinblick auf die Übernahme und Umsetzung des Besitzstands in Bulgarien oder Rumänien auf einem Stand befinden, der die ernste Gefahr mit sich bringt, dass einer dieser Staaten in einigen wichtigen Bereichen offenbar nicht in der Lage ist, die Anforderungen der Mitgliedschaft bis zum Beitrittstermin 1. Januar 2007 zu erfüllen, so kann der Rat auf Empfehlung der Kommission einstimmig beschließen, den Zeitpunkt des Beitritts des betreffenden Staates um ein Jahr auf den 1. Januar 2008 zu verschieben. (2)   Werden bei der Erfüllung einer oder mehrerer der in Anhang IX Nummer I aufgeführten Verpflichtungen und Anforderungen durch Rumänien ernste Mängel festgestellt, so kann der Rat ungeachtet des Absatzes 1 mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission in Bezug auf Rumänien einen Beschluss gemäß Absatz 1 fassen. (3)   Ungeachtet des Absatzes 1 und unbeschadet des Artikels 37 kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission nach einer im Herbst 2005 vorzunehmenden eingehenden Bewertung der Fortschritte Rumäniens auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik den in Absatz 1 genannten Beschluss in Bezug auf Rumänien fassen, wenn bei der Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Europa-Abkommens oder bei der Erfüllung einer oder mehrerer der in Anhang IX Nummer II aufgeführten Verpflichtungen und Anforderungen durch Rumänien ernste Mängel festgestellt werden.“ 7 Anhang IX („Besondere Verpflichtungen und Anforderungen, die Rumänien beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen am 14. Dezember 2004 übernommen bzw. akzeptiert hat [gemäß Artikel 39 der Beitrittsakte]“) der Beitrittsakte enthält in Abschnitt I folgende Passage: „In Bezug auf Artikel 39 Absatz 2 … 4. Wesentlich verschärftes Vorgehen gegen Korruption und insbesondere gegen Korruption auf hoher Ebene, indem die Korruptionsbekämpfungsgesetze rigoros durchgesetzt werden und die effektive Unabhängigkeit der Landesstaatsanwaltschaft für die Bekämpfung der Korruption (Parchet[u]l Na[ț]ional Anticorup[ț]ie [PNA]) sichergestellt wird und indem ab November 2005 einmal jährlich ein überzeugender Bericht über die Tätigkeit der PNA im Bereich der Bekämpfung der Korruption auf hoher Ebene vorgelegt wird. Die PNA muss mit allen personellen und finanziellen Mitteln sowie allen Schulungsmöglichkeiten und technischen Mitteln ausgestattet werden, die für die Wahrnehmung ihrer unerlässlichen Aufgabe erforderlich sind. 5. … [I]n die [nationale] Strategie [zur Korruptionsbekämpfung] muss die Verpflichtung aufgenommen werden, die schwerfällige Strafprozessordnung bis Ende 2005 zu überarbeiten, um sicherzustellen, dass Korruptionsfälle rasch und auf transparente Weise bearbeitet und angemessene Sanktionen mit abschreckender Wirkung vorgesehen werden; … …“ Entscheidung 2006/928/EG 8 Die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56) wurde im Zusammenhang mit dem für den 1. Januar 2007 vorgesehenen Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union u. a. auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erlassen. Die Erwägungsgründe 1 bis 6 und 9 dieser Entscheidung lauten: „(1) Die Europäische Union gründet auf dem Rechtsstaatsprinzip, das allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist. (2) Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und der Binnenmarkt, die mit dem Vertrag über die Europäische Union bzw. dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geschaffen wurden, beruhen auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass die Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen und die Verwaltungs- und Gerichtspraxis aller Mitgliedstaaten in jeder Hinsicht mit dem Rechtsstaatsprinzip im Einklang stehen. (3) Dies bedeutet, dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches, unabhängiges und effizientes Justiz- und Verwaltungssystem verfügen müssen, das ausreichend dafür ausgestattet ist, unter anderem Korruption zu bekämpfen. (4) Am 1. Januar 2007 tritt Rumänien der Europäischen Union bei. Die Kommission nimmt zur Kenntnis, dass Rumänien erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die Vorbereitungen auf die Mitgliedschaft zum Abschluss zu bringen, hat jedoch in ihrem Bericht vom 26. September 2006 noch unerledigte Fragen insbesondere im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden ermittelt, bei denen es weiterer Fortschritte bedarf, um zu gewährleisten, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts und des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts umsetzen und anwenden können. (5) Nach Artikel 37 der Beitrittsakte kann die Kommission geeignete Maßnahmen erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass Rumänien die eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorruft. Nach Artikel 38 der Beitrittsakte kann die Kommission geeignete Maßnahmen erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass in Rumänien ernste Mängel bei der Umsetzung, der Durchführung oder der Anwendung von Rechtsakten auftreten, die auf der Grundlage des Titels VI des EU-Vertrags oder des Titels IV des EG-Vertrags erlassen wurden. (6) Die noch unerledigten Fragen im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden erfordern die Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption. … (9) Diese Entscheidung ist zu ändern, wenn die Bewertung durch die Kommission ergibt, dass die Vorgaben angepasst werden müssen. Diese Entscheidung ist aufzuheben, wenn alle Vorgaben zufriedenstellend erfüllt sind.“ 9 Art. 1 der Entscheidung 2006/928 sieht vor: „Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben. Die Kommission kann jederzeit mit verschiedenen Maßnahmen technische Hilfe leisten oder Informationen zu den Vorgaben sammeln und austauschen. Ferner kann die Kommission zu diesem Zweck jederzeit Fachleute nach Rumänien entsenden. Die rumänischen Behörden leisten in diesem Zusammenhang die erforderliche Unterstützung.“ 10 Art. 2 dieser Entscheidung bestimmt: „Die Kommission übermittelt dem Europäischen Parlament und dem Rat ihre Stellungnahme und ihre Feststellungen zum Bericht Rumäniens zum ersten Mal im Juni 2007. Danach erstattet die Kommission nach Bedarf, mindestens jedoch alle sechs Monate erneut Bericht.“ 11 Art. 4 der Entscheidung lautet: „Diese Entscheidung ist an alle Mitgliedstaaten gerichtet.“ 12 Der Anhang dieser Entscheidung hat folgenden Wortlaut: „Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1: 1. Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats, Berichterstattung und Kontrolle der Auswirkungen neuer Zivil- und Strafprozessordnungen, 2. Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen, 3. Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene, 4. Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen.“ Rumänisches Recht Verfassung Rumäniens 13 Titel III („Träger staatlicher Gewalt“) der Constituția României (Verfassung Rumäniens) umfasst u. a. ein Kapitel VI („Rechtsprechende Gewalt“), das Art. 126 enthält. Dieser Artikel bestimmt: „(1)   Die Rechtsprechung erfolgt durch die Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie ([Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien] [im Folgenden: Oberster Kassations- und Gerichtshof]) sowie durch die übrigen durch Gesetz errichteten Gerichte. … (3)   Der Oberste Kassations- und Gerichtshof gewährleistet entsprechend seiner Zuständigkeit die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gesetzes durch die übrigen Gerichte. (4)   Die Besetzung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs und die Regeln für seine Arbeitsweise werden durch ein Organgesetz festgelegt. … (6)   Die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungshandlungen der Träger staatlicher Gewalt im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wird gewährleistet; ausgenommen hiervon sind Handlungen, die die Beziehungen zum Parlament betreffen, und militärische Befehle. Die Verwaltungsgerichte sind für die Entscheidung über Rechtsbehelfe zuständig, die von Personen eingelegt werden, die durch für verfassungswidrig erklärte Verordnungen oder gegebenenfalls durch Bestimmungen solcher Verordnungen geschädigt worden sind.“ 14 Der die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) (im Folgenden: Verfassungsgerichtshof) betreffende Titel V der Verfassung Rumäniens umfasst die Art. 142 bis 147. Art. 146 dieser Verfassung sieht vor: „Der Verfassungsgerichtshof hat die folgenden Aufgaben: … d) er entscheidet über die bei den Gerichten oder bei der Handelsschiedsgerichtsbarkeit erhobenen Einreden der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und Verordnungen; die Einrede der Verfassungswidrigkeit kann unmittelbar vom Avocatul Poporului [(Volksanwalt)] erhoben werden; e) er entscheidet über verfassungsrechtliche Konflikte zwischen Trägern staatlicher Gewalt auf Antrag des Präsidenten Rumäniens, eines der Präsidenten der beiden Kammern, des Prim-ministrul [(Ministerpräsident)] oder des Präsidenten des Obersten Richterrats; …“ Strafgesetzbuch 15 Art. 154 Abs. 1 des Codul penal (Strafgesetzbuch) sieht vor: „Die Fristen für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit betragen: a) 15 Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe von mehr als 20 Jahren bedroht ist; b) zehn Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren und höchstens 20 Jahren bedroht ist; c) acht Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren und höchstens zehn Jahren bedroht ist; d) fünf Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens fünf Jahren bedroht ist; e) drei Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht ist.“ 16 Art. 155 Abs. 4 des Strafgesetzbuchs sieht vor: „Werden die in Art. 154 vorgesehenen Verjährungsfristen einmal überschritten, so gelten sie unabhängig von der Anzahl der Unterbrechungen als vollendet.“ Strafprozessordnung 17 Art. 40 Abs. 1 des Codul de procedură penală (Strafprozessordnung) bestimmt: „Der Oberste Kassations- und Gerichtshof entscheidet in erster Instanz über Straftaten des Hochverrats sowie über Straftaten, die begangen werden von Senatoren, Abgeordneten und rumänischen Mitgliedern des Europäischen Parlaments, Regierungsmitgliedern, Richtern des Verfassungsgerichtshofs, Mitgliedern des Obersten Richterrats, Richtern des Obersten Kassations- und Gerichtshofs sowie Staatsanwälten des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție [(Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof, Rumänien)].“ 18 In Art. 281 Abs. 1 dieser Strafprozessordnung heißt es: „Verstöße gegen Rechtsvorschriften haben stets die Nichtigkeit zur Folge, wenn sie betreffen: … b) die sachliche und persönliche Zuständigkeit von Gerichten, wenn das Urteil von einem dem gesetzlich zuständigen Gericht nachgeordneten Gericht erlassen wurde; …“ 19 Art. 426 Abs. 1 der Strafprozessordnung bestimmt: „Gegen rechtskräftige Entscheidungen in Strafverfahren kann in folgenden Fällen eine Nichtigkeitsklage erhoben werden: … d) wenn das Berufungsgericht nicht dem Gesetz entsprechend besetzt war oder ein Fall von Unvereinbarkeit vorlag; …“ 20 Art. 428 Abs. 1 der Strafprozessordnung sieht vor: „Eine Nichtigkeitsklage aus den in Art. 426 Buchst. a und c bis h genannten Gründen kann innerhalb von 30 Tagen nach Zustellung der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts erhoben werden.“ Gesetz Nr. 78/2000 21 Art. 5 Abs. 1 der Legea nr. 78/2000 pentru prevenirea, descoperirea și sancționarea faptelor de corupție (Gesetz Nr. 78/2000 über die Prävention, Ermittlung und Sanktionierung von Korruptionsdelikten) vom 18. Mai 2000 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 219 vom 18. Mai 2000) bestimmt: „Im Sinne dieses Gesetzes sind die in den Art. 289 bis 292 des Strafgesetzbuchs aufgeführten Straftaten Korruptionsdelikte, und zwar auch dann, wenn sie von den in Art. 308 des Strafgesetzbuchs genannten Personen begangen werden.“ 22 Die in Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 78/2000 genannten Artikel des Strafgesetzbuchs betreffen die Straftatbestände der Bestechlichkeit (Art. 289), der Bestechung (Art. 290), der Einflussnahme (Art. 291) bzw. des Erkaufens von Einflussnahme (Art. 292). 23 Art. 29 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 78/2000 sieht vor: „Für die Entscheidung in erster Instanz über die in diesem Gesetz vorgesehenen Straftaten werden spezialisierte Spruchkörper eingerichtet.“ Gesetz Nr. 303/2004 24 Art. 99 der Legea nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor şi procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten) vom 28. Juni 2004 (neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 826 vom 13. September 2005) in der durch die Legea nr. 24/2012 (Gesetz Nr. 24/2012) vom 17. Januar 2012 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 51 vom 23. Januar 2012) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 303/2004) sieht vor: „Disziplinarvergehen sind: … o) die Nichtbeachtung der Vorschriften über die Zuteilung der Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip; … ș) die Nichtbeachtung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs …; …“. 25 Art. 100 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor: „Disziplinarsanktionen, die je nach Schwere des Verstoßes gegen Richter und Staatsanwälte verhängt werden können, sind: … e) der Ausschluss aus der Richter- und Staatsanwälteschaft.“ 26 Art. 101 des Gesetzes bestimmt: „Die in Art. 100 vorgesehenen Disziplinarsanktionen werden von den Abteilungen des Obersten Richterrats nach Maßgabe seines Organgesetzes verhängt.“ Gesetz Nr. 304/2004 27 Die Legea nr. 304/2004 privind organizarea judiciară (Gesetz Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens) vom 28. Juni 2004 (neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 827 vom 13. September 2005) wurde u. a. geändert durch – die Legea nr. 202/2010 privind unele măsuri pentru accelerarea soluționării proceselor (Gesetz Nr. 202/2010 über Maßnahmen zur Beschleunigung der Entscheidung von Gerichtsverfahren) vom 25. Oktober 2010 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 714 vom 26. Oktober 2010); – die Legea nr. 255/2013 pentru punerea în aplicare a Legii nr. 135/2010 privind Codul de procedură penală și pentru modificarea și completarea unor acte normative care cuprind dispoziții procesual penale (Gesetz Nr. 255/2013 zur Durchführung des Gesetzes Nr. 135/2010 über die Strafprozessordnung und zur Änderung und Vervollständigung bestimmter Rechtsakte mit strafverfahrensrechtlichen Regelungen) vom 19. Juli 2013 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 515 vom 14. August 2013); – die Legea nr. 207/2018 pentru modificarea și completarea Legii nr. 304/2004 privind organizarea judiciară (Gesetz Nr. 207/2018 zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens) vom 20. Juli 2018 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 636 vom 20. Juli 2018). 28 Art. 19 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der zuletzt durch das Gesetz Nr. 207/2018 geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 304/2004 in geänderter Fassung) bestimmt: „Zu Beginn jedes Jahres kann das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs auf Vorschlag von dessen Präsidenten oder Vizepräsidenten nach Maßgabe der Anzahl und Art der Rechtssachen, des Umfangs der Tätigkeit jeder Abteilung sowie der Spezialisierung der Richter und der Notwendigkeit, deren Berufserfahrung zu nutzen, die Bildung spezialisierter Spruchkörper im Rahmen der Abteilungen des Obersten Kassations- und Gerichtshofs genehmigen.“ 29 Art. 24 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor: „Die Spruchkörper mit fünf Richtern entscheiden über Berufungen gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, über Kassationsbeschwerden gegen Berufungsentscheidungen der Spruchkörper mit fünf Richtern nach vorheriger Zulassung, über Beschwerden gegen Beschlüsse, die die Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs im erstinstanzlichen Verfahren erlassen hat, über Disziplinarangelegenheiten gemäß dem Gesetz und in anderen Angelegenheiten im Rahmen der ihnen durch Gesetz übertragenen Zuständigkeiten.“ 30 Art. 29 Abs. 1 des Gesetzes lautet: „Das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs hat folgende Zuständigkeiten: a) Genehmigung der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise sowie der Funktions- und Stellenpläne des Obersten Kassations- und Gerichtshofs; … f) Wahrnehmung weiterer, in der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs vorgesehener Zuständigkeiten.“ 31 In Art. 31 Abs. 1 des Gesetzes heißt es: „In Strafsachen sind die Spruchkörper wie folgt besetzt: a) In Rechtssachen, für die nach dem Gesetz in erster Instanz der Oberste Kassations- und Gerichtshof zuständig ist, besteht der Spruchkörper aus drei Richtern; …“ 32 Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung bestimmt: „(1)   Zu Beginn jedes Jahres genehmigt das Leitungsgremium auf Vorschlag des Präsidenten oder der Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs die Zahl und die Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern. … (4)   Die Richter, die diesen Spruchkörpern angehören, werden in öffentlicher Sitzung vom Präsidenten oder, bei dessen Abwesenheit, von einem der beiden Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs durch Losentscheid bestimmt. Die Mitglieder der Spruchkörper können nur in Ausnahmefällen unter Berücksichtigung objektiver Kriterien, die in der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs festgelegt sind, ausgewechselt werden. (5)   Den Vorsitz im Spruchkörper mit fünf Richtern führen der Präsident des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, einer der beiden Vizepräsidenten oder einer der Abteilungspräsidenten, wenn sie gemäß Abs. 4 als Mitglied des betreffenden Spruchkörpers bestimmt worden sind. (6)   Wenn für einen Spruchkörper mit fünf Richtern keine der vorgenannten Personen als Mitglied bestimmt wurde, wird der Vorsitz im Spruchkörper von einem Richter im Rotationsverfahren in der Reihenfolge des Dienstalters der Richter geführt. (7)   Rechtssachen, die in die Zuständigkeit der Spruchkörper mit fünf Richtern fallen, werden nach dem Zufallsprinzip mit Hilfe eines computergestützten Systems zugewiesen.“ 33 Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der Fassung des Gesetzes Nr. 202/2010 bestimmte: „(1)   In Strafsachen werden zu Beginn jedes Jahres zwei Spruchkörper mit fünf Richtern gebildet, die ausschließlich mit Mitgliedern der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs besetzt werden. … (4)   Das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs genehmigt die Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern. Die Richter, die diesen Spruchkörpern angehören, werden vom Präsidenten oder, bei dessen Abwesenheit, vom Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs bestimmt. Die Mitglieder der Spruchkörper können nur in Ausnahmefällen unter Berücksichtigung objektiver Kriterien, die in der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs festgelegt sind, ausgewechselt werden. (5)   Den Vorsitz im Spruchkörper mit fünf Richtern führt der Präsident oder der Vizepräsident des Obersten Kassations- und Gerichtshofs. Bei deren Abwesenheit kann der Vorsitz in dem Spruchkörper von einem vom Präsidenten oder, bei dessen Abwesenheit, vom Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs zu diesem Zweck bestimmten Abteilungspräsidenten geführt werden. (6)   Rechtssachen, die in die Zuständigkeit der Spruchkörper gemäß den Abs. 1 und 2 fallen, werden nach dem Zufallsprinzip mit Hilfe eines computergestützten Systems zugewiesen.“ 34 In der Fassung des Gesetzes Nr. 255/2013 war der Wortlaut der Abs. 1 und 6 von Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 nahezu identisch mit dem der Abs. 1 und 6 der in der vorstehenden Randnummer genannten Fassung dieses Artikels, während die Abs. 4 und 5 dieses Artikels vorsahen: „(4)   Das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs genehmigt auf Vorschlag des Präsidenten der Strafabteilung die Zahl und die Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern. Die Richter, die diesen Spruchkörpern angehören, werden in öffentlicher Sitzung vom Präsidenten oder, bei dessen Abwesenheit, vom Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs durch Losentscheid bestimmt. Die Mitglieder der Spruchkörper können nur in Ausnahmefällen unter Berücksichtigung objektiver Kriterien, die in der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs festgelegt sind, ausgewechselt werden. (5)   Den Vorsitz im Spruchkörper mit fünf Richtern führt der Präsident oder der Vizepräsident des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, wenn er dem Spruchkörper gemäß Abs. 4 angehört, der Präsident der Strafabteilung oder gegebenenfalls das dienstälteste Mitglied.“ 35 In Art. 33 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung heißt es: „(1)   Der Präsident oder, bei seiner Abwesenheit, einer der Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs führt den Vorsitz in den Vereinigten Abteilungen, im Spruchkörper, der für die Revision aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit zuständig ist, sowie im Spruchkörper für die Entscheidung von Rechtsfragen, im Spruchkörper mit fünf Richtern und in jedem Spruchkörper im Rahmen der Abteilungen, wenn er an der Verhandlung teilnimmt. … (3)   Die Abteilungspräsidenten können den Vorsitz in jedem Spruchkörper der Abteilung führen, während die anderen Richter den Vorsitz im Rotationsverfahren führen.“ 36 Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der Fassung des Gesetzes Nr. 202/2010 sah vor: „Der Präsident oder, bei seiner Abwesenheit, der Vizepräsident des Obersten Kassations- und Gerichtshofs führt den Vorsitz in den Vereinigten Abteilungen, im Spruchkörper mit fünf Richtern sowie in jedem Spruchkörper im Rahmen der Abteilungen, wenn er an der Verhandlung teilnimmt.“ 37 Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der Fassung des Gesetzes Nr. 255/2013 lautet: „Der Präsident oder, bei seiner Abwesenheit, einer der Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs führt den Vorsitz in den Vereinigten Abteilungen, im Spruchkörper, der für die Revision aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit zuständig ist, sowie im Spruchkörper für die Entscheidung von Rechtsfragen, im Spruchkörper mit fünf Richtern und in jedem Spruchkörper im Rahmen der Abteilungen, wenn er an der Verhandlung teilnimmt.“ Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs 38 Art. 28 des Regulamentul privind organizarea şi funcţionarea administrativă a Înaltei Curţi de Casaţie şi Justiţie (Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs) vom 21. September 2004 in der durch die Hotărârea nr. 3/2014 pentru modificarea şi completarea Regulamentului privind organizarea şi funcţionarea administrativă a Înaltei Curţi de Casaţie şi Justiţie (Beschluss Nr. 3/2014 zur Änderung und Ergänzung der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs) vom 28. Januar 2014 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 75 vom 30. Januar 2014) geänderten Fassung bestimmte: „(1)   Der Oberste Kassations- und Gerichtshof umfasst Spruchkörper mit fünf Richtern, deren gerichtliche Zuständigkeit gesetzlich festgelegt ist. … (4)   Den Vorsitz in den Spruchkörpern mit fünf Richtern führt je nach Fall der Präsident, der Vizepräsident, der Präsident der Strafabteilung oder das dienstälteste Mitglied.“ 39 Art. 29 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmte: „Zur Bildung der Spruchkörper mit fünf Richtern in Strafsachen benennt der Präsident oder, bei seiner Abwesenheit, einer der Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs jedes Jahr durch Losentscheid in öffentlicher Sitzung je nach Fall vier oder fünf Richter der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs für jeden Spruchkörper.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen Rechtssache C‑859/19 40 Mit Urteil eines Spruchkörpers mit drei Richtern vom 17. Oktober 2017 verurteilte die Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs FX, Staatsanwalt des Parchetul de pe lângă Tribunalul Iași (Staatsanwaltschaft beim Landgericht Iași, Rumänien), wegen Bestechlichkeit, Durchführung von Finanzgeschäften, die als kommerzielle Handlungen mit dem Amt eines Staatsanwalts unvereinbar sind, mit dem Ziel, für sich selbst Geld, Vermögenswerte oder andere ungerechtfertigte Vorteile zu erlangen, sowie wegen falscher Erklärungen, begangen in den Jahren 2014 und 2015, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten und zu einer Geldstrafe, sprach ihn gleichzeitig aber vom Vorwurf der Geldwäsche frei. Mit demselben Strafurteil wurden CS und ND vom Vorwurf der Falschaussage freigesprochen. 41 FX und das Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție – Direcția Națională Anticorupție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof – Nationale Antikorruptionsdirektion, Rumänien) (im Folgenden: DNA) legten Berufung gegen dieses Urteil ein. Die Ausgangsrechtssache wurde in das Register des Spruchkörpers mit fünf Richtern des Obersten Kassations- und Gerichtshofs als Berufungsgericht eingetragen. 42 Während der Anhängigkeit des Berufungsverfahrens verkündete der Verfassungsgerichtshof am 7. November 2018 das Urteil Nr. 685/2018. Mit diesem Urteil stellte der Verfassungsgerichtshof, der vom Ministerpräsidenten gemäß Art. 146 Buchst. e der Verfassung Rumäniens angerufen worden war, zunächst einen verfassungsrechtlichen Konflikt zwischen dem Parlament und dem Obersten Kassations- und Gerichtshof fest, hervorgerufen durch die Entscheidungen des Leitungsgremiums des Letztgenannten, die darin bestanden, gemäß einer im betreffenden Zeitraum gängigen Praxis unter Außerachtlassung von Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung nur vier der fünf Mitglieder der über Berufungen entscheidenden Spruchkörper mit fünf Richtern und nicht alle diese Richter durch Losentscheid zu bestimmen, stellte weiter fest, dass die Entscheidung einer Rechtssache in der Berufungsinstanz durch einen solchermaßen rechtswidrig besetzten Spruchkörper mit der absoluten Nichtigkeit der erlassenen Entscheidung sanktioniert werde, und wies schließlich darauf hin, dass dieses Urteil gemäß Art. 147 Abs. 4 der Verfassung Rumäniens ab dem Zeitpunkt seiner Veröffentlichung auf anhängige Rechtssachen, auf Rechtssachen, über die bereits entschieden worden sei, sofern für die Rechtsunterworfenen die Frist für die Einlegung der geeigneten außerordentlichen Rechtsbehelfe noch nicht abgelaufen sei, sowie auf künftige Fälle anwendbar sei. Infolge des genannten Urteils wurde die Ausgangsrechtssache aus dem Register gestrichen und einem der neu gebildeten Spruchkörper mit fünf Richtern nach dem Zufallsprinzip zugewiesen. 43 Am 3. Juli 2019 verkündete der Verfassungsgerichtshof das Urteil Nr. 417/2019, das auf Befassung durch den Präsidenten der Abgeordnetenkammer ergangen ist, gegen den zu diesem Zeitpunkt bei einem Spruchkörper mit fünf Richtern des Obersten Kassations- und Gerichtshofs als Berufungsgericht selbst ein Strafverfahren wegen eines Sachverhalts anhängig war, der in den Anwendungsbereich des Gesetzes Nr. 78/2000 fiel. Mit diesem Urteil stellte der Verfassungsgerichtshof zunächst das Bestehen eines verfassungsrechtlichen Konflikts zwischen dem Parlament und dem Obersten Kassations- und Gerichtshof fest, der dadurch entstanden sei, dass Letzterer nicht die auf die erstinstanzliche Aburteilung von Straftaten spezialisierten Spruchkörper nach Art. 29 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 78/2000 gebildet habe, vertrat des Weiteren die Auffassung, dass die Entscheidung einer Rechtssache durch einen nicht spezialisierten Spruchkörper die absolute Nichtigkeit der verkündeten Entscheidung zur Folge habe, und ordnete schließlich an, dass alle Rechtssachen, über die der Oberste Kassations- und Gerichtshof vor dem 23. Januar 2019 in erster Instanz entschieden hatte und die noch nicht rechtskräftig geworden waren, von den gemäß dieser Bestimmung gebildeten spezialisierten Spruchkörpern erneut geprüft würden. In diesem Urteil befand der Verfassungsgerichtshof nämlich, dass zu diesem Zeitpunkt, dem 23. Januar 2019, das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs zwar eine Entscheidung erlassen habe, die dahin lautete, dass alle Spruchkörper mit drei Richtern als für die Entscheidung von Korruptionsfällen spezialisiert anzusehen seien, mit dieser Entscheidung eine Verfassungswidrigkeit aber erst ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses und nicht für die Vergangenheit vermieden werden konnte. 44 Zur Stützung seines Vorabentscheidungsersuchens führt der Oberste Kassations- und Gerichtshof – das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache – aus, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straftaten – wie die Korruptionsdelikte, die im Zusammenhang mit Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge begangen worden seien, die hauptsächlich mit Mitteln der Union finanziert würden, sowie Geldwäschedelikte – die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigten oder beeinträchtigen könnten. 45 Nach Ansicht dieses Gerichts stellt sich erstens die Frage, ob Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 4 der Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29) sowie Art. 58 der Richtlinie (EU) 2015/849 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinie 2006/70/EG der Kommission (ABl. 2015, L 141, S. 73) dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass ein nationales Gericht eine Entscheidung einer Behörde anwendet, die nicht Teil des Justizsystems ist, wie das Urteil Nr. 417/2019 des Verfassungsgerichtshofs, mit dem über die Begründetheit eines ordentlichen Rechtsbehelfs entschieden und die Rückverweisung der Rechtssachen mit der Folge angeordnet worden sei, dass die Strafverfolgung durch die Eröffnung eines neuen erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens in Frage gestellt worden sei. Die Mitgliedstaaten seien nämlich verpflichtet, wirksame und abschreckende Maßnahmen zu ergreifen, um rechtswidrige Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen. 46 In diesem Zusammenhang sei auch zu klären, ob die Wendung „und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ in Art. 325 Abs. 1 AEUV Korruptionsdelikte im eigentlichen Sinne erfasse, insbesondere, da Art. 4 der Richtlinie 2017/1371 die Straftaten der „Bestechlichkeit“ und der „Bestechung“ definiere. 47 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich ebenso wie in der Rechtssache C‑357/19, Euro Box Promotion u. a., die Frage, ob der in Art. 2 EUV verankerte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta, einer Beeinflussung des Ablaufs der Rechtspflege durch ein Eingreifen wie das sich aus dem Urteil Nr. 417/2019 ergebende entgegenstehen. Mit dem genannten Urteil habe der Verfassungsgerichtshof, ohne über gerichtliche Zuständigkeiten zu verfügen, verbindliche Maßnahmen erlassen, die die Eröffnung neuer Gerichtsverfahren wegen der angeblich fehlenden Spezialisierung der Spruchkörper der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs auf dem Gebiet der Korruptionsdelikte zur Folge hätten, obwohl alle Richter dieser Strafabteilung bereits aufgrund ihrer Eigenschaft als Richter dieses Gerichts diese Spezialisierungsvoraussetzung erfüllten. 48 Zweitens sei in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der Bedeutung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit die Bedeutung des Begriffs des „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ in Art. 47 Abs. 2 der Charta zu klären, um festzustellen, ob diese Bestimmung der vom Verfassungsgerichtshof vorgenommenen Auslegung betreffend die Rechtswidrigkeit der Besetzung des Gerichts entgegenstehe. 49 Drittens hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob der nationale Richter verpflichtet ist, das Urteil Nr. 417/2019 unangewendet zu lassen, um die volle Wirksamkeit der Unionsvorschriften zu gewährleisten. Allgemein sei außerdem zu prüfen, ob die Wirkungen von Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs, die gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in Rechtssachen verstießen, die ausschließlich dem nationalen Recht unterlägen, auszuschließen seien. Diese Fragen würden sich insbesondere deshalb stellen, weil die rumänische Disziplinarregelung die Verhängung einer Disziplinarsanktion gegen einen Richter vorsehe, wenn dieser die Wirkungen der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs ausschließe. 50 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass das Urteil Nr. 417/2019, das die Nichtigerklärung der vor dem 23. Januar 2019 in erster Instanz ergangenen Urteile der Spruchkörper mit drei Richtern der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs zur Folge habe, gegen den Grundsatz der Wirksamkeit strafrechtlicher Sanktionen im Fall schwerwiegender rechtswidriger Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union verstoße. Dieses Urteil erwecke nämlich zum einen den Anschein der Straflosigkeit und berge zum anderen angesichts der Komplexität und der Dauer des Verfahrens, das der Verkündung eines endgültigen Urteils im Anschluss an eine erneute Prüfung der betreffenden Rechtssachen vorausgehe, aufgrund der nationalen Vorschriften über die Verfolgungsverjährung eine systemische Gefahr der Straflosigkeit bei schweren Straftaten. So habe das Gerichtsverfahren im Ausgangsverfahren aufgrund seiner Komplexität allein in der ersten Instanz etwa vier Jahre gedauert. 51 Unter diesen Umständen hat der Oberste Kassations- und Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 58 der Richtlinie 2015/849 und Art. 4 der Richtlinie 2017/1371 dahin auszulegen, dass sie dem Erlass einer Entscheidung durch eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung, [den Verfassungsgerichtshof], entgegenstehen, die vorschreibt, dass in einem bestimmten Zeitraum entschiedene Korruptionssachen, die in der Berufung anhängig sind, zur erneuten Verhandlung zurückzuverweisen sind, weil auf der Ebene des obersten Gerichts keine auf diesem Gebiet spezialisierten Spruchkörper errichtet worden waren, obgleich sie die Spezialisierung der Richter anerkennt, mit denen die Spruchkörper besetzt waren? 2. Sind Art. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung die Rechtswidrigkeit der Besetzung der Spruchkörper innerhalb einer Abteilung eines obersten Gerichts (Spruchkörper, die mit amtierenden Richtern besetzt sind, die zum Zeitpunkt der Beförderung u. a. die Voraussetzung der Spezialisierung erfüllt haben, die für die Beförderung zur Strafabteilung des obersten Gerichts verlangt wird) feststellt? 3. Ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht erlaubt, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, die aufgrund einer Befassung mit einem Verfassungskonflikt ergangen ist und nach nationalem Recht verbindlich ist, unangewendet zu lassen? Rechtssache C‑926/19 52 Mit Urteil eines Spruchkörpers mit drei Richtern vom 30. Juni 2016 verurteilte die Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs FV wegen Steuerbetrugs, begangen in den Jahren 2010 bis 2013, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, sprach ihn gleichzeitig aber vom Vorwurf des Mehrwertsteuerbetrugs, der Geldwäsche und der Begehung der anderen ihm zur Last gelegten Straftaten frei. Mit demselben Urteil wurden die Staatsanwälte CS und EU sowie der Polizeibeamte DT u. a. wegen Korruption, dieser gleichgestellter oder damit im Zusammenhang stehender Taten, begangen seit 2010, zu Strafen von sieben, zwei bzw. vier Jahren verurteilt. Schließlich wurden – ebenfalls mit diesem Urteil – BR, GW, HX und IY sowie die SC Uranus Junior 2003 SRL von den ihnen zur Last gelegten Straftaten freigesprochen. 53 BR, CS, DT, EU, FV und GW sowie die DNA, das Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie – Direcţia de Investigare a Infracțiunilor de Criminalitate Organizată și Terorism – Structura Centrală (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof – Direktion zur Untersuchung organisierter Kriminalität und terroristischer Straftaten – Zentrale Struktur, Rumänien) und die Agenția Națională de Administrare Fiscală (Nationale Steuerverwaltungsagentur, Rumänien) legten Berufung gegen das Urteil ein. 54 Die Ausgangsrechtssache wurde in das Register des Spruchkörpers mit fünf Richtern des Obersten Kassations- und Gerichtshofs als Berufungsgericht eingetragen. Am 7. Mai 2018 ließ dieser Spruchkörper Zeugenaussagen und schriftliche Beweise zur Stützung der Berufungsgründe zu und lud die Zeugen zwecks Anhörung vor. 55 Infolge der Verkündung des in Rn. 42 des vorliegenden Beschlusses erwähnten Urteils Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichtshofs am 7. November 2018 wurde die Rechtssache einem anderen Spruchkörper mit fünf Richtern neu zugewiesen. Mit Beschluss vom 13. Mai 2019 ließ dieser neue Spruchkörper Zeugenaussagen und schriftliche Beweise zur Stützung der Berufungsgründe zu und lud die Zeugen zwecks Anhörung vor. 56 Nach Verkündung des in Rn. 43 des vorliegenden Beschlusses erwähnten Urteils Nr. 417/2019 des Verfassungsgerichtshofs am 3. Juli 2019 beantragte ein Teil der Berufungsführer beim vorlegenden Gericht, die absolute Nichtigkeit des Urteils vom 30. Juni 2016 festzustellen, weil es von einem auf dem Gebiet der Korruption nicht spezialisierten Spruchkörper mit drei Richtern verkündet worden sei, und die Rechtssache zur erneuten Verhandlung an das erstinstanzliche Gericht zurückzuverweisen. 57 Der Oberste Kassations- und Gerichtshof – das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache – hat Zweifel, ob das Urteil Nr. 417/2019 mit Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 47 der Charta und Art. 4 der Richtlinie 2017/1371 vereinbar ist. Was insbesondere Art. 325 AEUV betrifft, bringt dieses Gericht im Wesentlichen die gleichen Argumente vor wie die in der Rechtssache C‑859/19 angeführten. Das vorlegende Gericht fügt hinzu, dass das erstinstanzliche Strafverfahren im Ausgangsrechtsstreit mehr als vier Jahre gedauert habe. 58 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass mit dem Urteil Nr. 417/2019 verbindliche Verfahrensmaßnahmen festgelegt worden seien, die die Eröffnung neuer Gerichtsverfahren erforderlich machten, weil es an einer Spezialisierung der erstinstanzlichen Spruchkörper in Bezug auf die im Gesetz Nr. 78/2000 vorgesehenen Straftaten gefehlt habe. Aufgrund dieses Urteils bestehe somit die Gefahr der Straflosigkeit in einer beträchtlichen Zahl von Fällen, die schwere Straftaten beträfen. Unter diesen Umständen würden das Erfordernis der Effektivität nach Art. 325 AEUV und das Grundrecht des Angeklagten auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist beeinträchtigt. 59 Ebenso ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass dem Gerichtshof wie in der Rechtssache C‑859/19 die Frage zu stellen sei, ob das Eingreifen des Verfassungsgerichtshofs mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar sei. Das vorlegende Gericht betont die Bedeutung der Beachtung der Urteile des Verfassungsgerichtshofs und weist darauf hin, dass sich seine Frage nicht auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs im Allgemeinen, sondern nur auf das Urteil Nr. 417/2019 beziehe, in dem dieser seine eigene Auslegung derjenigen des Obersten Kassations- und Gerichtshofs betreffend die abweichenden Bestimmungen des Gesetzes Nr. 78/2000 bzw. des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung über die Bildung spezialisierter Spruchkörper entgegengesetzt und in die Zuständigkeiten des letztgenannten Gerichts eingegriffen habe, indem es die erneute Prüfung bestimmter Rechtssachen angeordnet habe. 60 Unter diesen Umständen hat der Oberste Kassations- und Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 58 der Richtlinie 2015/849 und Art. 4 der Richtlinie 2017/1371 dahin auszulegen, dass sie dem Erlass einer Entscheidung durch eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung, [den Verfassungsgerichtshof], entgegenstehen, mit der über eine prozessuale Einrede entschieden wird, die sich auf eine möglicherweise rechtswidrige Besetzung der Spruchkörper bezieht – im Hinblick auf den (in der Verfassung Rumäniens nicht vorgesehenen) Grundsatz der Spezialisierung der Richter [am Obersten Kassations- und Gerichtshof] – und durch die ein Gericht verpflichtet wird, die (devolutiv) in der Berufung befindliche Sache zur erneuten Verhandlung im ersten Rechtszug vor demselben Gericht zurückzuverweisen? 2. Sind Art. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung die Rechtswidrigkeit der Besetzung der Spruchkörper innerhalb einer Abteilung eines obersten Gerichts (Spruchkörper, die mit amtierenden Richtern besetzt sind, die zum Zeitpunkt der Beförderung u. a. die Voraussetzung der Spezialisierung erfüllt haben, die für die Beförderung zur Strafabteilung des obersten Gerichts verlangt wird) feststellt? 3. Ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht gestattet, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, mit der eine im Rang unterhalb der Verfassung stehende, die Organisation [des Obersten Kassations- und Gerichtshofs] betreffende Rechtsnorm, die Teil des Gesetzes über die Prävention, Ermittlung und Sanktionierung von Korruptionsdelikten ist und von einem Gericht seit 16 Jahren konstant im selben Sinne ausgelegt worden ist, ausgelegt wird, unangewendet zu lassen? 4. Sind nach Art. 47 der Charta die Spezialisierung der Richter und die Errichtung spezialisierter Spruchkörper bei einem obersten Gericht vom Grundsatz des freien Zugangs zur Justiz erfasst? Rechtssache C‑929/19 61 Die DNA leitete beim Obersten Kassations- und Gerichtshof die Strafverfolgung gegen CD, CLD, GLO, ȘDC und den Abgeordneten PVV ein. 62 In der Anklageschrift wurde ihnen im Wesentlichen zur Last gelegt, in der Zeit zwischen 2007 und 2009 erhebliche Beträge aus Investitionsfonds, die dazu bestimmt waren, technologische Verbesserungen von Kraftwerken zu bewirken, um die Schwefeldioxidemissionen dieser Werke gemäß den auf Unionsebene geltenden Umweltanforderungen zu verringern, missbräuchlich verwendet zu haben. Zu diesem Zweck und in diesem Zusammenhang hatten die Angeklagten der Anklageschrift zufolge Straftaten der Korruption, des Steuerbetrugs, insbesondere auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer, der Geldwäsche und der Urkundenfälschung begangen. 63 Mit Urteil eines Spruchkörpers mit drei Richtern vom 10. Mai 2018 verurteilte die Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs CD wegen Verletzung u. a. der Rechtsvorschriften über das öffentliche Auftragswesen und missbräuchlicher Verwendung von Mitteln, begangen zwischen 2007 und 2009, zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. 64 CLD, GLO, PVV und ȘDC wurden von den ihnen zur Last gelegten Straftaten freigesprochen. 65 Die DNA, CD und die Agenția Națională de Administrare Fiscală (Nationale Steuerverwaltungsagentur) legten Berufung gegen dieses Urteil ein. 66 Während des Berufungsverfahrens verkündete der Verfassungsgerichtshof das Urteil Nr. 417/2019 vom 3. Juli 2019. 67 Der Oberste Kassations- und Gerichtshof – das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache – hat Zweifel, ob dieses Urteil mit Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 47 der Charta und Art. 4 der Richtlinie 2017/1371 vereinbar ist. Was insbesondere Art. 325 AEUV betrifft, bringt dieses Gericht im Wesentlichen die gleichen Gründe vor wie die in den Rechtssachen C‑859/19 und C‑926/19 angeführten. 68 In Bezug auf Art. 19 Abs. 1 EUV, den in Art. 2 EUV verankerten Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und Art. 47 der Charta hebt das vorlegende Gericht erstens die politische Dimension der Ernennung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs sowie deren besondere Position in der Architektur der Staatsgewalten hervor. 69 Zweitens sei das in Art. 146 Buchst. e der Verfassung Rumäniens vorgesehene Verfahren zur Feststellung eines verfassungsrechtlichen Konflikts zwischen Trägern staatlicher Gewalt als solches problematisch, da nach dieser Bestimmung politische Organe zur Einleitung dieses Verfahrens befugt seien. Außerdem sei die Grenze zwischen der Rechtswidrigkeit eines Rechtsakts und dem Vorliegen eines verfassungsrechtlichen Konflikts besonders schmal und ermögliche es einem beschränkten Kreis von Rechtssubjekten, parallel zu den vor den ordentlichen Gerichten eröffneten Rechtsbehelfen Rechtsbehelfe einzulegen. 70 Drittens hält das vorlegende Gericht die vom Verfassungsgerichtshof im Urteil Nr. 685/2018 getroffene Feststellung, dass zwischen der Judikative und der Legislative ein verfassungsrechtlicher Konflikt bestehe, für problematisch. In diesem Urteil habe der Verfassungsgerichtshof seine eigene Auslegung von Rechtsvorschriften der vom Obersten Kassations- und Gerichtshof in Ausübung seiner Zuständigkeit vorgenommenen Auslegung entgegengesetzt und diesem Gericht eine systematische Verkennung des Willens des Gesetzgebers vorgeworfen, um das Bestehen eines solchen verfassungsrechtlichen Konflikts feststellen zu können. 71 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich somit die Frage, ob die Art. 2 und 19 EUV sowie Art. 47 der Charta dem entgegenstehen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Rechtsprechung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs durch ein Eingreifen des Verfassungsgerichtshofs überprüft und sanktioniert werden kann. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass das Eingreifen des Verfassungsgerichtshofs in Form einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Tätigkeit des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, die an die Stelle der gesetzlichen Gerichtsverfahren trete, eine negative Auswirkung auf die Unabhängigkeit der Justiz und die Fundamente der Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Art. 2 EUV haben könne, da der Verfassungsgerichtshof nicht Teil des Justizsystems sei und nicht mit Zuständigkeiten der Rechtsprechung ausgestattet sei. 72 Unter diesen Umständen hat der Oberste Kassations- und Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie die Art. 2 und 4 der Richtlinie 2017/1371 dahin auszulegen, dass sie dem Erlass einer Entscheidung durch eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung, [den Verfassungsgerichtshof], entgegenstehen, mit der ohne Weiteres eine erneute Verhandlung aller Korruptionssachen angeordnet wird, die von der Strafabteilung des obersten Gerichts im ersten Rechtszug in einem bestimmten Zeitraum (2003 bis Januar 2019) entschieden wurden und sich in der Berufung befinden? 2. Sind die Art. 2 und 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung die rechtswidrige Besetzung der Spruchkörper einer Abteilung des obersten Gerichts feststellt, entgegen der Auslegung, die sich aus der ständigen und einhelligen Organisations- und Gerichtspraxis dieses obersten Gerichts ergibt? 3. Ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht gestattet, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, die aufgrund einer Befassung mit einem Verfassungskonflikt ergangen ist und nach nationalem Recht verbindlich ist, unangewendet zu lassen? 4. Kann der Ausdruck „zuvor durch Gesetz [errichtet]“ in Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin ausgelegt werden, dass er die förmliche Bestellung spezialisierter Spruchkörper unabhängig von der Spezialisierung der diese Spruchkörper bildenden Richter erfasst? 73 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Mai 2022 sind die Rechtssachen C‑859/19, C‑926/19 und C‑929/19 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Zum Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens 74 Das vorlegende Gericht hat beim Gerichtshof beantragt, die vorliegenden Rechtssachen gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. 75 Unter Berücksichtigung der Entscheidung des Gerichtshofs, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, braucht über diesen Antrag nicht entschieden zu werden (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 17. Mai 2022, Estaleiros Navais de Peniche, C‑787/21, nicht veröffentlicht, EU:C:2022:414, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zu den Vorlagefragen 76 Gemäß Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, unter anderem dann, wenn die Antwort auf eine [zur Vorabentscheidung vorgelegte] Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann. 77 Da sich die Antwort auf die Fragen des vorlegenden Gerichts klar aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere aus den Urteilen vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), sowie vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99), ableiten lässt, ist diese Vorschrift in den vorliegenden Rechtssachen anzuwenden. Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑859/19 sowie zur ersten und zur vierten Frage in den Rechtssachen C‑926/19 und C‑929/19 78 Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑859/19 sowie mit seiner ersten und seiner vierten Frage in den Rechtssachen C‑926/19 und C‑929/19, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des SFI‑Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach Urteile im Bereich der Korruption und des Mehrwertsteuerbetrugs, die in erster Instanz nicht von in diesem Bereich spezialisierten Spruchkörpern bzw. in der Berufungsinstanz nicht von Spruchkörpern erlassen wurden, deren Mitglieder sämtlich durch Losentscheid bestimmt wurden, absolut nichtig sind, so dass die betreffenden Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsfälle, gegebenenfalls infolge eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gegen rechtskräftige Urteile, in erster und/oder zweiter Instanz erneut geprüft werden müssen. 79 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht in diesen Rechtssachen die erheblichen Auswirkungen hervorhebt, die die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den Urteilen Nrn. 685/2018 und 417/2019 betreffend die Besetzung der Spruchkörper des Obersten Kassations- und Gerichtshofs auf die Wirksamkeit der Strafverfolgung, der Sanktionen sowie der Vollstreckung der Sanktionen im Bereich der Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsdelikte, wie sie gegen die Angeklagten in den Ausgangsverfahren verhängt wurden, haben könnte; zu den Angeklagten zählen Personen, die zur Zeit der ihnen zur Last gelegten Taten die höchsten Ämter innerhalb des rumänischen Staates bekleideten. Es möchte daher vom Gerichtshof wissen, ob eine solche Rechtsprechung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. 80 Die Fragen, die es insoweit stellt, beziehen sich zwar formal auf Art. 325 Abs. 1 AEUV, ohne auf die Entscheidung 2006/928 Bezug zu nehmen, doch sind diese Entscheidung sowie die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben für die Beantwortung dieser Fragen relevant. Obgleich das vorlegende Gericht in seinen Fragen auch auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 58 der Richtlinie 2015/849 sowie die Art. 2 und 4 der Richtlinie 2017/1371 Bezug nimmt, erscheint hingegen eine Prüfung, die sich darüber hinaus auf die letztgenannten Bestimmungen erstrecken würde, nicht erforderlich, um auf die diesen Fragen zugrunde liegenden Fragestellungen zu antworten. Zu diesen beiden Richtlinien ist im Übrigen festzustellen, dass der in den Ausgangsverfahren maßgebliche Zeitraum vor ihrem Inkrafttreten und damit vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Richtlinie 2017/1371 das SFI-Übereinkommen ersetzt hat. 81 Unter diesen Umständen sind die genannten Fragen sowohl anhand von Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des SFI‑Übereinkommens als auch anhand der Entscheidung 2006/928 zu beantworten. 82 Insoweit sieht das Unionsrecht, wie in Rn. 180 des Urteils vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), ausgeführt worden ist, bei seinem gegenwärtigen Stand, keine Vorschriften über die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten und insbesondere nicht über die Besetzung der Spruchkörper im Bereich der Korruption und des Betrugs vor. Daher fallen diese Vorschriften grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Allerdings haben diese Staaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. 83 Was Art. 325 Abs. 1 AEUV anbelangt, so verpflichtet diese Bestimmung die Mitgliedstaaten, Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit abschreckenden Maßnahmen zu bekämpfen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 181 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 84 Um den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, obliegt es namentlich den Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die tatsächliche und vollständige Erhebung der Eigenmittel sicherzustellen, die in den Einnahmen bestehen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben. Ebenso sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Beträge wiedereinzuziehen, die dem Empfänger einer teilweise aus dem Unionshaushalt finanzierten Subvention zu Unrecht gezahlt worden sind (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 182 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 85 Daher hat der Gerichtshof in Rn. 183 des Urteils vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), bereits entschieden, dass der Begriff der „finanziellen Interessen“ der Union im Sinne von Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht nur die dem Unionshaushalt zur Verfügung gestellten Einnahmen, sondern auch die von diesem Haushalt gedeckten Ausgaben umfasst. Diese Auslegung wird durch die Definition des Begriffs „Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der [Union]“ in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b des SFI‑Übereinkommens bestätigt, der sich auf verschiedene vorsätzliche Handlungen oder Unterlassungen im Zusammenhang sowohl mit Ausgaben als auch mit Einnahmen bezieht. 86 Was ferner den Ausdruck „sonstige rechtswidrige Handlungen“ in Art. 325 Abs. 1 AEUV betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „rechtswidrige Handlungen“ üblicherweise gesetzwidrige Verhaltensweisen bezeichnet. Dabei weist das Attribut „sonstige“ darauf hin, dass alle diese Verhaltensweisen unterschiedslos erfasst werden. Im Übrigen kann im Hinblick auf die Bedeutung, die dem Schutz der finanziellen Interessen der Union, einem ihrer Ziele, beizumessen ist, der Begriff „rechtswidrige Handlung“ nicht eng ausgelegt werden (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 184 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 87 Der Begriff „rechtswidrige Handlung“ umfasst u. a. jede Bestechlichkeit von Beamten oder jeden Missbrauch eines öffentlichen Amtes durch Beamte, die bzw. der geeignet ist, die finanziellen Interessen der Union zu beeinträchtigen, z. B. in Form einer unrechtmäßigen Erlangung von Mitteln der Union. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob das Korruptionsdelikt in einer Handlung oder in einer Unterlassung des betroffenen Beamten zum Ausdruck kommt, da eine Unterlassung die finanziellen Interessen der Union ebenso schädigen kann wie eine Handlung und mit einem solchen Delikt untrennbar verbunden sein kann, wie z. B. das Versäumnis eines Beamten, die erforderlichen Kontrollen und Überprüfungen für vom Unionshaushalt gedeckte Ausgaben durchzuführen, oder die Genehmigung unangemessener oder unzutreffender Ausgaben aus Mitteln der Union (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 185). 88 Die Tatsache, dass sich Art. 2 Abs. 1 des SFI‑Übereinkommens in Verbindung mit dessen Art. 1 Abs. 1 nur auf Betrug bezieht, der sich gegen die finanziellen Interessen der Union richtet, kann diese Auslegung von Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht entkräften, der ausdrücklich auf „Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ abstellt. Wie sich zudem aus Art. 1 Abs. 1 Buchst. a des SFI‑Übereinkommens ergibt, erfüllt eine missbräuchliche Verwendung von Mitteln aus dem Unionshaushalt zu anderen Zwecken als denen, für die sie ursprünglich gewährt worden sind, den Tatbestand des Betrugs; eine solche missbräuchliche Verwendung kann zudem auch Ursache oder Ergebnis einer Korruptionshandlung sein. Damit zeigt sich, dass Korruptionshandlungen mit Betrugsfällen zusammenhängen können und umgekehrt die Begehung eines Betrugs durch Korruptionshandlungen erleichtert werden kann, so dass sich eine etwaige Beeinträchtigung der finanziellen Interessen in bestimmten Fällen aus dem Zusammentreffen eines Mehrwertsteuerbetrugs mit Korruptionshandlungen ergeben kann, was durch das Protokoll zum SFI‑Übereinkommen bestätigt wird, das nach seinen Art. 2 und 3 Bestechlichkeits- und Bestechungstaten erfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 186). 89 Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass auch Unregelmäßigkeiten, die keine konkreten finanziellen Auswirkungen haben, die finanziellen Belange der Union ernsthaft beeinträchtigen können, so dass unter Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht nur Taten fallen können, die tatsächlich einen Verlust an Eigenmitteln verursachen, sondern auch der Versuch solcher Taten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 187). 90 Hinzuzufügen ist, dass, was Rumänien anbelangt, die Pflicht zur Bekämpfung von Korruption zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, wie sie sich aus Art. 325 Abs. 1 AEUV ergibt, durch die besonderen Verpflichtungen ergänzt wird, die dieser Mitgliedstaat beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen am 14. Dezember 2004 übernommen hat. Gemäß Ziff. I Nr. 4 des Anhangs IX der Beitrittsakte hat sich dieser Mitgliedstaat nämlich u. a. zu einem „[w]esentlich verschärfte[n] Vorgehen gegen Korruption und insbesondere gegen Korruption auf hoher Ebene, indem die Korruptionsbekämpfungsgesetze rigoros durchgesetzt werden“, verpflichtet. Diese besondere Verpflichtung wurde in der Folge durch den Erlass der Entscheidung 2006/928 konkretisiert, mit der Vorgaben festgelegt wurden, um die von der Kommission vor dem Beitritt Rumäniens zur Union u. a. im Bereich der Korruptionsbekämpfung festgestellten Mängel zu beheben. So ist in Nr. 3 des Anhangs dieser Entscheidung, in dem diese Vorgaben aufgeführt sind, die Vorgabe der „Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene“ genannt und in Nr. 4 dieses Anhangs die Vorgabe der „Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen“ (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 188). 91 Die Vorgaben, zu deren Erfüllung sich Rumänien somit verpflichtet hat, sind für diesen Mitgliedstaat in dem Sinne verbindlich, dass er der besonderen Verpflichtung unterliegt, diese Vorgaben zu erreichen und alsbald die zu deren Erreichung geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Ebenso ist dieser Mitgliedstaat verpflichtet, von der Durchführung aller Maßnahmen abzusehen, die die Erreichung dieser Vorgaben gefährden könnten. Die Verpflichtung zur wirksamen Bekämpfung der Korruption, insbesondere der Korruption auf höchster Ebene, die sich aus den im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben in Verbindung mit den besonderen Verpflichtungen Rumäniens ergibt, ist jedoch nicht auf Fälle der Korruption zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union beschränkt (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 189). 92 Im Übrigen ergibt sich zum einen aus den Vorgaben in Art. 325 Abs. 1 AEUV – die dazu verpflichten, Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen zu bekämpfen – und zum anderen aus den Vorgaben in der Entscheidung 2006/928 – die verlangen, Korruption im Allgemeinen zu verhüten und zu bekämpfen –, dass Rumänien für solche Straftaten die Anwendung wirksamer und abschreckender Sanktionen vorsehen muss (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 190 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 93 Insoweit kann dieser Mitgliedstaat zwar die anwendbaren Sanktionen frei wählen, wobei es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination aus beiden handeln kann, doch ist er nach Art. 325 Abs. 1 AEUV verpflichtet, dafür zu sorgen, dass gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete schwere Betrugs- und Korruptionsdelikte durch wirksame und abschreckende Strafen geahndet werden. Des Weiteren ergibt sich, was Korruptionsdelikte im Allgemeinen anbelangt, die Verpflichtung, wirksame und abschreckende Strafen vorzusehen, für Rumänien aus der Entscheidung 2006/928, da diese Entscheidung, wie in Rn. 91 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt worden ist, diesen Mitgliedstaat verpflichtet, Korruption, insbesondere Korruption auf höchster Ebene, wirksam und unabhängig von einer etwaigen Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 191 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 94 Außerdem ist es Sache Rumäniens, sicherzustellen, dass seine strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Vorschriften eine wirksame Ahndung von Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union und von Korruptionsdelikten im Allgemeinen ermöglichen. Somit fallen zwar die zur Bekämpfung dieser Straftaten vorgesehenen Sanktionen und eingerichteten Strafverfahren in die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats, doch wird diese Zuständigkeit nicht nur durch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Äquivalenz beschränkt, sondern auch durch den Grundsatz der Effektivität, der besagt, dass diese Sanktionen wirksam und abschreckend sein müssen. Dieses Effektivitätserfordernis erstreckt sich notwendigerweise sowohl auf die Verfolgung und die Sanktionierung von Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union und von Korruptionsdelikten im Allgemeinen als auch auf die Vollstreckung der verhängten Strafen, da die Sanktionen nicht wirksam und abschreckend sein können, wenn sie nicht vollstreckt werden (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 192 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 95 In diesem Zusammenhang obliegt es in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Er hat gegebenenfalls die Rechtslage zu ändern und sicherzustellen, dass die Verfahrensvorschriften, die für die Verfolgung und Sanktionierung von Betrugsstraftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union und von Korruptionsdelikten im Allgemeinen gelten, nicht so gestaltet sind, dass aus ihnen selbst innewohnenden Gründen die systemische Gefahr besteht, dass solche Straftaten ungeahndet bleiben, und dabei auch den Schutz der Grundrechte der Beschuldigten zu gewährleisten (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 193 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 96 Die nationalen Gerichte müssen den Verpflichtungen, die sich aus Art. 325 Abs. 1 AEUV und der Entscheidung 2006/928 ergeben, volle Wirkung verleihen und innerstaatliche Rechtsvorschriften unangewendet lassen, wenn diese im Rahmen eines Verfahrens über schwere Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder über Korruptionsdelikte im Allgemeinen der Verhängung effektiver und abschreckender Strafen zur Bekämpfung solcher Straftaten entgegenstehen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 194 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 97 Was im vorliegenden Fall die Frage angeht, ob durch die Anwendung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den Urteilen Nrn. 685/2018 und 417/2019 die systemische Gefahr besteht, dass schwere Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder Korruptionsdelikte im Allgemeinen ungeahndet bleiben, so ist zu bemerken, dass der Gerichtshof diese Frage in den Rn. 195 bis 202 des Urteils vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), bereits untersucht und sich dabei im Wesentlichen auf die gleichen Angaben gestützt hat, wie sie in den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen enthalten sind. Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob die Anwendung dieser Rechtsprechung in Verbindung mit der Anwendung der nationalen Verjährungsvorschriften, insbesondere der in Art. 155 Abs. 4 des Strafgesetzbuchs vorgesehenen absoluten Verjährungsfrist, in Anbetracht der in diesen Randnummern enthaltenen Erwägungen eine solche Gefahr birgt. 98 Daraus folgt, dass – sollte das vorlegende Gericht zu dem Schluss gelangen, dass die Anwendung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs in Verbindung mit der Anwendung der nationalen Verjährungsvorschriften ein systemisches Risiko der Straflosigkeit bei schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder bei Korruptionsdelikten im Allgemeinen birgt – die im nationalen Recht vorgesehenen Sanktionen zur Bekämpfung solcher Straftaten nicht als wirksam und abschreckend angesehen werden könnten, was mit Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des SFI‑Übereinkommens sowie mit der Entscheidung 2006/928 unvereinbar wäre (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 203). 99 Da die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafverfahren eine Durchführung von Art. 325 Abs. 1 AEUV und/oder der Entscheidung 2006/928 und damit des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen, muss sich dieses vorlegende Gericht allerdings auch vergewissern, dass die Grundrechte, die den in den Ausgangsverfahren betroffenen Personen durch die Charta garantiert werden, insbesondere die in Art. 47 der Charta garantierten, beachtet werden. Im Bereich des Strafrechts ist die Beachtung dieser Rechte nicht nur im Ermittlungsverfahren zu gewährleisten, sobald gegen den Betroffenen eine Beschuldigung erhoben wird, sondern auch im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren sowie im Rahmen der Strafvollstreckung (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 204 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 100 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta das Recht einer jeden Person verankert ist, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Mit dem Erfordernis, dass das Gericht „zuvor durch Gesetz errichtet“ sein muss, soll diese Bestimmung sicherstellen, dass die Organisation des Justizsystems durch ein von der Legislative im Einklang mit den Vorschriften über die Ausübung ihrer Zuständigkeit erlassenes Gesetz geregelt wird, um zu verhindern, dass diese Organisation in das Ermessen der Exekutive gestellt wird. Dieses Erfordernis gilt für die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts sowie für alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die betreffende Rechtssache vorschriftswidrig macht, wie etwa die Vorschriften über die Besetzung des Spruchkörpers (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 205 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 101 Eine vorschriftswidrige Besetzung der Spruchkörper stellt aber insbesondere dann einen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta dar, wenn die Art und Schwere der Vorschriftswidrigkeit dergestalt ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Verfahrens zur Besetzung der Spruchkörper beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betreffenden Richter geweckt werden, was der Fall ist, wenn es um Grundregeln geht, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit dieses Justizsystems sind (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 206 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 102 Im vorliegenden Fall hat der Verfassungsgerichtshof in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen Nrn. 685/2018 und 417/2019 zwar entschieden, dass die frühere Praxis des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, die namentlich auf der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise beruhte, in Bezug auf die Spezialisierung und die Besetzung der Spruchkörper in Korruptionssachen nicht mit den geltenden nationalen Bestimmungen vereinbar gewesen sei, jedoch ist nicht ersichtlich, dass diese Praxis einen offenkundigen Verstoß gegen eine Grundregel des rumänischen Justizsystems darstellen würde, der geeignet wäre, den Charakter der Spruchkörper für Korruptionssachen des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, wie sie gemäß der genannten Praxis vor diesen Urteilen des Verfassungsgerichtshofs gebildet wurden, als „zuvor durch Gesetz errichtetes“ Gericht in Frage stellen könnte. Diese Beurteilung wird, wie der Gerichtshof in Rn. 208 des Urteils vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), bemerkt hat, durch die in Rn. 43 des vorliegenden Beschlusses genannte Entscheidung des Leitungsgremiums des Obersten Kassations- und Gerichtshofs vom 23. Januar 2019 und die Auslegung dieser Entscheidung durch den Verfassungsgerichtshof untermauert. 103 Daher stehen die sich aus Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta ergebenden Erfordernisse der Nichtanwendung der Rechtsprechung aus den Urteilen Nrn. 685/2018 und 417/2019 in den vorliegenden Rechtssachen nicht entgegen (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 209). 104 Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑859/19 sowie auf die erste und die vierte Frage in den Rechtssachen C‑926/19 und C‑929/19 zu antworten, dass Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des SFI‑Übereinkommens sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach Urteile im Bereich der Korruption und des Mehrwertsteuerbetrugs, die in erster Instanz nicht von in diesem Bereich spezialisierten Spruchkörpern bzw. in der Berufungsinstanz nicht von Spruchkörpern erlassen wurden, deren Mitglieder sämtlich durch Losentscheid bestimmt wurden, absolut nichtig sind, so dass die betreffenden Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsfälle, gegebenenfalls infolge eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gegen rechtskräftige Urteile, in erster und/oder zweiter Instanz erneut geprüft werden müssen, entgegenstehen, wenn die Anwendung dieser nationalen Regelung oder Praxis geeignet ist, eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten im Allgemeinen zu begründen. Die Verpflichtung, sicherzustellen, dass solche Straftaten Gegenstand wirksamer und abschreckender Strafen sind, entbindet das vorlegende Gericht nicht von der Prüfung der notwendigen Beachtung der in Art. 47 der Charta garantierten Grundrechte. Die sich aus diesem Art. 47 Abs. 2 Satz 1 ergebenden Erfordernisse stehen der Nichtanwendung einer solchen nationalen Regelung oder Praxis nicht entgegen, wenn diese geeignet ist, eine solche systemische Gefahr der Straflosigkeit zu begründen. Zur zweiten und zur dritten Frage in den Rechtssachen C‑859/19, C‑926/19 und C‑929/19 105 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage in den Rechtssachen C‑859/19, C‑926/19 und C‑929/19, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta sowie die Entscheidung 2006/928 auf der einen und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts in Verbindung mit diesen Bestimmungen und Art. 325 Abs. 1 AEUV auf der anderen Seite dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehen, wonach die ordentlichen Gerichte an die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind und – aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs der Auffassung sind, dass diese Rechtsprechung gegen die genannten Bestimmungen des Unionsrechts verstößt. Zur Garantie der richterlichen Unabhängigkeit 106 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen seine Unabhängigkeit in Frage stellen könne und daher mit dem Unionsrecht, namentlich mit den in Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie in Art. 47 der Charta und der Entscheidung 2006/928 vorgesehenen Garantien, unvereinbar sei. Es vertritt insoweit die Auffassung, dass der Verfassungsgerichtshof, der nicht Teil des rumänischen Justizsystems sei, seine Zuständigkeiten überschritten habe, indem er diese Urteile erlassen habe, und in die Zuständigkeiten der ordentlichen Gerichte eingegriffen habe, die darin bestünden, im Rang unter der Verfassung stehende Rechtsvorschriften auszulegen und anzuwenden. Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass die Nichtbeachtung der Urteile des Verfassungsgerichtshofs nach rumänischem Recht ein Disziplinarvergehen darstelle, so dass es sich im Wesentlichen die Frage stelle, ob es die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteile nach dem Unionsrecht unangewendet lassen könne, ohne befürchten zu müssen, dass gegen seine Mitglieder ein Disziplinarverfahren eingeleitet werde. 107 Insoweit fällt, wie in Rn. 82 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt worden ist, die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, einschließlich der Errichtung, der Besetzung und der Arbeitsweise eines Verfassungsgerichts, in deren Zuständigkeit, jedoch haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. 108 Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 217 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Wie im dritten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/928 bestätigt wird, bedeutet der Wert der Rechtsstaatlichkeit insbesondere, „dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches, unabhängiges und effizientes Justiz- und Verwaltungssystem verfügen müssen, das ausreichend dafür ausgestattet ist, unter anderem Korruption zu bekämpfen“. 109 Schon das Vorhandensein einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle, die der Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dient, ist einem Rechtsstaat inhärent. Insoweit ist es gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 219 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 110 Daraus folgt, dass nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen hat, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung dieses Rechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden, wobei klarzustellen ist, dass diese Bestimmung in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 220 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 111 Um sicherzustellen, dass Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, in der Lage sind, den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 221 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 112 Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 222 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Ebenso kommt, wie sich u. a. aus dem dritten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/928 und den in den Nrn. 1 bis 3 des Anhangs dieser Entscheidung aufgeführten Vorgaben ergibt, der Existenz eines unparteiischen, unabhängigen und effizienten Justizsystems eine besondere Bedeutung für die Bekämpfung der Korruption, namentlich der Korruption auf höchster Ebene, zu. 113 Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt verlangt, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Der letztgenannte Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 114 Diese nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung). 115 Insoweit sind die betreffenden Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für den Status der Richter und die Ausübung ihres Amts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen und damit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 226 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 116 Was insbesondere die Vorschriften über die Disziplinarregelung betrifft, so verlangt das Erfordernis der Unabhängigkeit nach ständiger Rechtsprechung, dass diese Regelung die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Zu diesem Zweck scheint es von grundlegender Bedeutung zu sein, dass ein etwaiger Fehler in einer Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht zur Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Richters führen kann. Ferner stellt es eine wesentliche Garantie für die Unabhängigkeit der nationalen Richter dar, dass sie keinen Disziplinarverfahren oder ‑strafen für die Ausübung der – in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallenden – Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV ausgesetzt sind (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 227 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 117 Außerdem ist nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung die Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 118 Zwar gibt weder Art. 2 noch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV noch irgendeine andere Bestimmung des Unionsrechts den Mitgliedstaaten ein konkretes verfassungsrechtliches Modell vor, das die Beziehungen und das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Staatsgewalten, namentlich in Bezug auf die Festlegung und Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten, regeln würde, doch müssen die Mitgliedstaaten gleichwohl insbesondere die sich aus diesen unionsrechtlichen Bestimmungen ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit der Gerichte beachten (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a.,C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 229 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 119 Unter diesen Umständen stehen Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegen, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive, wie sie diese Bestimmungen verlangen, gewährleistet. Wenn dagegen das nationale Recht diese Unabhängigkeit nicht gewährleistet, stehen diese Bestimmungen des Unionsrechts einer solchen nationalen Regelung oder Praxis entgegen, da ein solches Verfassungsgericht nicht in der Lage ist, den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). 120 Im vorliegenden Fall beziehen sich die Fragen, die das vorlegende Gericht im Hinblick auf das sich aus diesen unionsrechtlichen Bestimmungen ergebende Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit aufwirft, zum einen auf die gleichen Aspekte betreffend den Status, die Besetzung und die Arbeitsweise des Verfassungsgerichtshofs, der die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteile erlassen hat, wie sie in den Rechtssachen genannt werden, in denen das Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), ergangen ist. Außerdem enthalten die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen insoweit im Wesentlichen die gleichen Angaben wie in den Ersuchen in jenen Rechtssachen. Wie aus den Erwägungen in den Rn. 231 bis 237 dieses Urteils hervorgeht, können diese Angaben aber weder belegen, dass der Verfassungsgerichtshof die in den Rn. 113 bis 119 des vorliegenden Beschlusses angeführten Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht erfüllt, noch, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteile in einem Kontext ergangen wären, der einen berechtigten Zweifel daran begründen würde, dass der Verfassungsgerichtshof diese Erfordernisse in vollem Umfang beachtet hat. 121 Was zum anderen die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit betrifft, die nach der in Rede stehenden nationalen Regelung für Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Fall der Nichtbeachtung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs eintreten kann, so trifft es zwar zu, dass die Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere nicht dazu führen darf, dass völlig ausgeschlossen ist, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit eines Richters in bestimmten, ganz außergewöhnlichen Fällen durch von ihm erlassene Gerichtsentscheidungen ausgelöst werden kann. Die Anforderung der Unabhängigkeit ist nämlich ganz sicher nicht dazu gedacht, etwaige schwerwiegende und völlig unentschuldbare Verhaltensweisen von Richtern zu billigen, wie z. B. die vorsätzliche und böswillige oder besonders grob fahrlässige Missachtung von Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts, deren Einhaltung sie gewährleisten sollen, Willkür oder Rechtsverweigerung, wenn sie als diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, über Streitigkeiten zu entscheiden haben, die ihnen von Rechtsuchenden vorgelegt werden (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). 122 Jedoch ist es für die Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte und um auf diese Weise zu verhindern, dass die Disziplinarregelung entgegen ihrem legitimen Zweck zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen oder zur Ausübung von Druck auf Richter eingesetzt werden kann, von grundlegender Bedeutung, dass ein etwaiger Fehler in einer Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht zur Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Richters führen kann (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung). 123 Folglich muss die Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit eines Richters wegen einer Gerichtsentscheidung auf ganz außergewöhnliche Fälle wie die in Rn. 121 des vorliegenden Beschlusses genannten beschränkt bleiben und dabei durch objektive und überprüfbare Kriterien, die sich aus Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege ergeben, sowie durch Garantien beschränkt sein, die darauf abzielen, jegliche Gefahr eines Drucks von außen bezüglich des Inhalts von Gerichtsentscheidungen zu vermeiden und damit bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Richter und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung). 124 Im vorliegenden Fall lassen die Angaben in den Vorabentscheidungsersuchen – entgegen der in den Rn. 122 und 123 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung – nicht erkennen, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der nationalen Richter ordentlicher Gerichte wegen Nichtbeachtung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs, die in Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004 vorgesehen ist, dessen Wortlaut keine weitere Voraussetzung vorsieht, auf die ganz außergewöhnlichen, in Rn. 121 des vorliegenden Beschlusses angeführten Fälle beschränkt wäre. 125 Folglich sind Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegenstehen, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive, wie sie diese Bestimmungen verlangen, gewährleistet. Auf der anderen Seite sind diese Bestimmungen des EU-Vertrags und die genannte Entscheidung dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts durch die nationalen Richter ordentlicher Gerichte deren disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen kann (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a.,C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 242). 126 Unter diesen Umständen – und da es um Rechtssachen geht, in denen die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung oder Praxis eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt – erscheint eine gesonderte Prüfung von Art. 47 der Charta, die die bereits in der vorstehenden Randnummer getroffene Feststellung nur bestätigen könnte, für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts und die Entscheidung der dort anhängigen Rechtsstreitigkeiten nicht erforderlich. Zum Vorrang des Unionsrechts 127 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen, deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht es anzweifelt, nach Art. 147 Abs. 4 der Verfassung Rumäniens verbindlich sei und von den nationalen Gerichten beachtet werden müsse, wobei widrigenfalls gegen deren Mitglieder eine Disziplinarsanktion nach Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004 verhängt werde. Unter diesen Umständen möchte es wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts einer solchen nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht und es einem nationalen Gericht erlaubt, eine Rechtsprechung dieser Art unangewendet zu lassen, ohne dass seine Mitglieder Gefahr laufen, disziplinarrechtlich sanktioniert zu werden. 128 Hierzu hat der Gerichtshof in den Rn. 245 bis 248 des Urteils vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a. (C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034), auf seine ständige Rechtsprechung zum EWG-Vertrag hingewiesen, in der der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts als Teil der wesentlichen Merkmale der Rechtsordnung der Gemeinschaft entwickelt worden ist, wobei er klargestellt hat, dass diese wesentlichen Merkmale der Rechtsordnung der Union und die Bedeutung der ihr geschuldeten Achtung im Übrigen durch die vorbehaltlose Ratifizierung der Verträge zur Änderung des EWG-Vertrags und insbesondere des Vertrags von Lissabon bestätigt wurden. Er hat in Rn. 249 dieses Urteils hinzugefügt, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen achtet. Die Union kann diese Gleichheit aber nur achten, wenn es den Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unmöglich ist, eine einseitige Maßnahme welcher Art auch immer gegen die Unionsrechtsordnung durchzusetzen. 129 Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die frühere Rechtsprechung zum Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts bestätigt, der alle mitgliedstaatlichen Stellen verpflichtet, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). 130 Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts kann die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts daher nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nämlich für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 131 Hierzu ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs verpflichtet ist, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 252 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 132 Was die Bestimmungen des Unionsrechts anbelangt, auf die in den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen Bezug genommen wird, ist aber darauf hinzuweisen, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie die im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben klar und präzise formuliert und an keine Bedingung geknüpft sind, so dass sie unmittelbare Wirkung haben (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 253 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 133 In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass es nach Art. 19 EUV Sache der nationalen Gerichte und des Gerichtshofs ist, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den wirksamen Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus ihm erwachsen, wobei der Gerichtshof die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts hat. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit ist es letztlich Sache des Gerichtshofs, die Tragweite des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zu präzisieren, da diese Tragweite weder von einer Auslegung von Bestimmungen des nationalen Rechts noch von einer Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts durch ein nationales Gericht, die nicht der Auslegung durch den Gerichtshof entspricht, abhängen darf. Zu diesem Zweck führt das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren, das das Schlüsselelement des durch die Verträge geschaffenen Gerichtssystems darstellt, einen Dialog von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten ein, der die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 254 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 134 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es nach der Verfassung Rumäniens an die Rechtsprechung aus den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen des Verfassungsgerichtshofs gebunden sei und dass es diese Rechtsprechung, nicht ohne dass sich seine Mitglieder einem Disziplinarverfahren oder einer Disziplinarsanktion aussetzen würden, unangewendet lassen könne, selbst wenn es im Licht eines vom Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren erlassenen Urteils der Ansicht wäre, dass diese Rechtsprechung gegen das Unionsrecht verstoße. 135 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Entscheidung des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht hinsichtlich der Auslegung der betreffenden unionsrechtlichen Vorschriften bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens bindet. Somit kann es einem nationalen Gericht, das von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat bzw. seiner Pflicht nachgekommen ist, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV vorzulegen, nicht verwehrt sein, das Unionsrecht nach Maßgabe der Entscheidung oder der Rechtsprechung des Gerichtshofs unmittelbar anzuwenden, da andernfalls die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung geschmälert würde. Hinzuzufügen ist, dass die Befugnis, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um eine nationale Regelung oder Praxis beiseite zu lassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Normen des Unionsrechts bilden, Bestandteil des Amts des Unionsrichters ist, das dem nationalen Gericht obliegt, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Normen des Unionsrechts anzuwenden hat, so dass die Ausübung dieser Befugnis eine wesentliche Garantie der sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden richterlichen Unabhängigkeit darstellt (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 256 und 257 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 136 Daher wäre jede nationale Regelung oder Praxis, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um eine nationale Vorschrift oder Praxis beiseite zu lassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Normen des Unionsrechts bilden, mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung). 137 Eine nationale Regelung oder Praxis, wonach die Urteile des nationalen Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, obwohl diese im Licht eines vom Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren erlassenen Urteils der Ansicht sind, dass die Rechtsprechung aus diesen verfassungsgerichtlichen Urteilen gegen das Unionsrecht verstößt, ist aber geeignet, diese Gerichte daran zu hindern, die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts zu gewährleisten, wobei diese Hinderungswirkung dadurch verstärkt werden kann, dass das nationale Recht die etwaige Nichtbeachtung dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung als Disziplinarvergehen einstuft (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 259). 138 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 267 AEUV jeder nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, die geeignet ist, die nationalen Gerichte daran zu hindern, von der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Befugnis Gebrauch zu machen, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, bzw. gegebenenfalls der Verpflichtung dazu nachzukommen. Im Übrigen stellt nach der in Rn. 116 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung der Umstand, dass die nationalen Richter keinen Disziplinarverfahren oder ‑sanktionen für die Ausübung der – in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallenden – Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV ausgesetzt sind, eine wesentliche Garantie für ihre Unabhängigkeit dar. Auch in dem Fall, dass ein Richter eines nationalen ordentlichen Gerichts infolge der Antwort des Gerichtshofs zu der Auffassung gelangen sollte, dass die Rechtsprechung des nationalen Verfassungsgerichts nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, kann der Umstand, dass dieser nationale Richter diese Rechtsprechung gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet lässt, keinesfalls geeignet sein, seine disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auszulösen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 260 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 139 Daraus folgt, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte an die Urteile des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind und – aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtsprechung aus diesen Urteilen nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs der Auffassung sind, dass diese Rechtsprechung gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV oder die Entscheidung 2006/928 verstößt (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 262). 140 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage in den Rechtssachen C‑859/19, C‑926/19 und C‑929/19 zu antworten, dass – Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegenstehen, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive, wie sie diese Bestimmungen verlangen, gewährleistet. Allerdings sind diese Bestimmungen des EU-Vertrags und die genannte Entscheidung dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts durch die nationalen Richter ordentlicher Gerichte deren disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen kann; – der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte an Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind und – aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs der Auffassung sind, dass diese Rechtsprechung gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV oder die Entscheidung 2006/928 verstößt. Kosten 141 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des am 26. Juli 1995 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sowie die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach Urteile im Bereich der Korruption und des Mehrwertsteuerbetrugs, die in erster Instanz nicht von in diesem Bereich spezialisierten Spruchkörpern bzw. in der Berufungsinstanz nicht von Spruchkörpern erlassen wurden, deren Mitglieder sämtlich durch Losentscheid bestimmt wurden, absolut nichtig sind, so dass die betreffenden Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsfälle, gegebenenfalls infolge eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gegen rechtskräftige Urteile, in erster und/oder zweiter Instanz erneut geprüft werden müssen, entgegenstehen, wenn die Anwendung dieser nationalen Regelung oder Praxis geeignet ist, eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten im Allgemeinen zu begründen. Die Verpflichtung, sicherzustellen, dass solche Straftaten Gegenstand wirksamer und abschreckender Strafen sind, entbindet das vorlegende Gericht nicht von der Prüfung der notwendigen Beachtung der in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Grundrechte. Die sich aus diesem Art. 47 Abs. 2 Satz 1 ergebenden Erfordernisse stehen der Nichtanwendung einer solchen nationalen Regelung oder Praxis nicht entgegen, wenn diese geeignet ist, eine solche systemische Gefahr der Straflosigkeit zu begründen. 2. Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegenstehen, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive, wie sie diese Bestimmungen verlangen, gewährleistet. Allerdings sind diese Bestimmungen des EU-Vertrags und die genannte Entscheidung dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts durch die nationalen Richter ordentlicher Gerichte deren disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen kann. 3. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte an Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind und – aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs der Auffassung sind, dass diese Rechtsprechung gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV oder die Entscheidung 2006/928 verstößt. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 13. Oktober 2022.#L. F. gegen S.C.R.L.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal du travail francophone de Bruxelles.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Verbot von Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung – Interne Regel eines privaten Unternehmens, mit der am Arbeitsplatz jede Bekundung religiöser, weltanschaulicher oder politischer Überzeugungen verboten wird – Verbot, das sich auf Worte, die Kleidung und jede andere Weise der Bekundung dieser Überzeugungen bezieht – Tragen eines Kleidungsstücks mit religiösem Bezug.#Rechtssache C-344/20.
62020CJ0344
ECLI:EU:C:2022:774
2022-10-13T00:00:00
Medina, Gerichtshof
62020CJ0344 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 13. Oktober 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2000/78/EG – Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Verbot von Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung – Interne Regel eines privaten Unternehmens, mit der am Arbeitsplatz jede Bekundung religiöser, weltanschaulicher oder politischer Überzeugungen verboten wird – Verbot, das sich auf Worte, die Kleidung und jede andere Weise der Bekundung dieser Überzeugungen bezieht – Tragen eines Kleidungsstücks mit religiösem Bezug“ In der Rechtssache C‑344/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal du travail francophone de Bruxelles (französischsprachiges Arbeitsgericht von Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 17. Juli 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2020, in dem Verfahren L. F. gegen S.C.R.L. erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen (Berichterstatter), N. Wahl und J. Passer, Generalanwältin: L. Medina, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von L. F., vertreten durch V. Van der Plancke, Avocate, – von S.C.R.L., vertreten durch A. Kamp, Avocate, und T. Perdieus, Advocaat, – der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, L. Van den Broeck und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und M. Van Hoof als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. April 2022 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1, Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen L. F., der Klägerin des Ausgangsverfahrens, und S.C.R.L., der Beklagten des Ausgangsverfahrens, einer Genossenschaft mit beschränkter Haftung, deren Haupttätigkeit in der Vermietung und Verwaltung von Sozialwohnungen besteht, wegen der fehlenden Berücksichtigung der Initiativbewerbung der Klägerin des Ausgangsverfahrens um ein Praktikum aufgrund ihrer Weigerung, das von S.C.R.L. für ihre Beschäftigten aufgestellte Verbot einzuhalten, ihre religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen u. a. durch die Kleidung zum Ausdruck zu bringen. Rechtlicher Rahmen Richtlinie 2000/78 3 In den Erwägungsgründen 1, 4, 11 und 12 der Richtlinie 2000/78 heißt es: „(1) Nach Artikel 6 … [EUV] beruht die Europäische Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des [Unions]rechts ergeben. … (4) Die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und der Schutz vor Diskriminierung ist ein allgemeines Menschenrecht; dieses Recht wurde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im VN-Übereinkommen zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen, im Internationalen Pakt der VN über bürgerliche und politische Rechte, im Internationalen Pakt der VN über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten anerkannt, die von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet wurden. Das Übereinkommen 111 der Internationalen Arbeitsorganisation untersagt Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf. … (11) Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung können die Verwirklichung der im [AEU]-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit. (12) Daher sollte jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen [unions]weit untersagt werden. …“ 4 Art. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt: „Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“ 5 Art. 2 der Richtlinie 2000/78 sieht vor: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. (2)   Im Sinne des Absatzes 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn: i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich … … (5)   Diese Richtlinie berührt nicht die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Maßnahmen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung und die Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind.“ 6 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt: „Im Rahmen der auf die [Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf … c) die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgelts; …“ 7 Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 lautet: „Die Mitgliedstaaten können Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.“ Belgisches Recht 8 Die Loi tendant à lutter contre certaines formes de discrimination (Gesetz zur Bekämpfung bestimmter Formen von Diskriminierung) vom 10. Mai 2007 (Moniteur belge vom 30. Mai 2007, S. 29016, deutsche Übersetzung in Auszügen veröffentlicht im Belgischen Staatsblatt vom 22. Mai 2009, S. 38412) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: allgemeines Antidiskriminierungsgesetz) dient der Umsetzung der Richtlinie 2000/78 in belgisches Recht. 9 Art. 3 des allgemeinen Antidiskriminierungsgesetzes bestimmt: „Mit vorliegendem Gesetz wird bezweckt, für die in Artikel 5 erwähnten Angelegenheiten einen allgemeinen Rahmen zu schaffen für die Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund des Alters, der sexuellen Ausrichtung, des Personenstands, der Geburt, des Vermögens, der religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung, der politischen Überzeugung, der Sprache, des aktuellen oder künftigen Gesundheitszustands, einer Behinderung, eines körperlichen oder genetischen Merkmals oder der sozialen Herkunft.“ 10 In Art. 4 des allgemeinen Antidiskriminierungsgesetzes, der die Begriffsbestimmungen betrifft, heißt es: „Für die Anwendung des vorliegenden Gesetzes versteht man unter: … 4. geschützten Merkmalen: Alter, sexuelle Ausrichtung, Personenstand, Geburt, Vermögen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugung, politische Überzeugung, Sprache, aktueller oder künftiger Gesundheitszustand, eine Behinderung, ein körperliches oder genetisches Merkmal, soziale Herkunft, … 6. unmittelbarer Unterscheidung: Situation, die entsteht, wenn eine Person aufgrund eines der geschützten Merkmale eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde, 7. unmittelbarer Diskriminierung: unmittelbare Unterscheidung aufgrund eines der geschützten Merkmale, die nicht aufgrund der Bestimmungen von Titel II gerechtfertigt werden kann, …“ 11 Art. 5 § 1 des allgemeinen Antidiskriminierungsgesetzes sieht vor: „Mit Ausnahme der Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit der Gemeinschaften oder Regionen fallen, ist vorliegendes Gesetz auf sämtliche Personen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor, einschließlich der öffentlichen Einrichtungen, anwendbar …“ 12 Art. 7 des allgemeinen Antidiskriminierungsgesetzes lautet: „Jede unmittelbare Unterscheidung aufgrund eines der geschützten Merkmale stellt eine unmittelbare Diskriminierung dar, es sei denn, diese unmittelbare Unterscheidung ist durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und notwendig.“ 13 Art. 8 § 1 des allgemeinen Antidiskriminierungsgesetzes bestimmt: „In Abweichung von Artikel 7 und unbeschadet sonstiger Bestimmungen des vorliegenden Titels kann eine unmittelbare Unterscheidung aufgrund des Alters, der sexuellen Ausrichtung, der religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung oder einer Behinderung in den in Artikel 5 § 1 Nrn. 4, 5 und 7 erwähnten Angelegenheiten ausschließlich aufgrund wesentlicher und entscheidender beruflicher Anforderungen gerechtfertigt werden.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 14 Am 14. März 2018 richtete die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die muslimischen Glaubens ist und das islamische Kopftuch trägt, im Rahmen ihrer Berufsausbildung in Bürokommunikation an S.C.R.L. eine Initiativbewerbung um ein unbezahltes Praktikum von sechs Wochen. 15 Am 22. März 2018 wurde die Klägerin des Ausgangsverfahrens zu einem Gespräch mit Verantwortlichen von S.C.R.L. empfangen. Am Ende des Gesprächs teilten ihr diese Verantwortlichen mit, dass sie ihre Bewerbung positiv bewerteten, und fragten sie, ob sie bereit sei, die bei S.C.R.L geltende Neutralitätsregel einzuhalten. 16 Diese Neutralitätsregel findet sich in Art. 46 der Arbeitsordnung von S.C.R.L., wonach sich „[d]ie Arbeitnehmer verpflichten …, die strikte Neutralitätspolitik des Unternehmens zu achten“, und daher „darauf achten, dass sie ihre religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen, welche diese auch immer sein mögen, in keiner Weise, weder durch Worte noch durch die Kleidung oder auf andere Weise, zum Ausdruck bringen“. 17 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens teilte den Verantwortlichen von S.C.R.L. mit, dass sie sich weigere, ihr Kopftuch abzunehmen und die genannte Neutralitätsregel einzuhalten. 18 Nachdem ihre Bewerbung nicht angenommen worden war, erneuerte die Klägerin des Ausgangsverfahrens im April 2018 ihre Bewerbung um ein Praktikum bei S.C.R.L. und schlug dabei vor, eine andere Art von Kopfbedeckung zu tragen. In Beantwortung dieser neuen Bewerbung teilte S.C.R.L. ihr mit, dass sie ihr kein solches Praktikum anbieten könne, da in ihren Geschäftsräumen keine Kopfbedeckung, sei es eine Mütze, eine Kappe oder ein Kopftuch, erlaubt sei. 19 Im Mai 2019 erhob die Klägerin des Ausgangsverfahrens, nachdem sie der für die Bekämpfung der Diskriminierung zuständigen unabhängigen öffentlichen Einrichtung eine Diskriminierung angezeigt hatte – und nach einem Schriftwechsel zwischen dieser Einrichtung und S.C.R.L. –, bei dem vorlegenden Gericht eine Unterlassungsklage. Mit dieser Klage rügt sie, dass kein Praktikumsvertrag geschlossen worden sei, was ihrer Ansicht nach unmittelbar oder mittelbar auf ihrer religiösen Überzeugung beruht, und begehrt die Feststellung, dass S.C.R.L. u. a. gegen die Bestimmungen des allgemeinen Antidiskriminierungsgesetzes verstoßen habe. 20 Vor dem vorlegenden Gericht macht S.C.R.L. unter Berufung auf das Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions (C‑157/15, EU:C:2017:203), geltend, ihre Arbeitsordnung bewirke keine unmittelbare Diskriminierung, da damit alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleichbehandelt würden, indem ihnen allgemein und unterschiedslos insbesondere eine Neutralität hinsichtlich der Kleidung auferlegt werde, die dem Tragen sichtbarer Zeichen ihrer religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen entgegenstehe. 21 Das vorlegende Gericht, dem die Urteile vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions (C‑157/15, EU:C:2017:203), und vom 14. März 2017, Bougnaoui und ADDH (C‑188/15, EU:C:2017:204), bekannt sind, meint, die Auslegung des Begriffs „unmittelbare Diskriminierung“ durch den Gerichtshof im ersten dieser Urteile werfe „ernsthafte Fragen“ auf. Zu den Bedenken, die das vorlegende Gericht anführt, gehört die Beurteilung der Vergleichbarkeit der Situationen, die in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte falle. Zu unterscheiden sei daher zwischen zum einen der dem Gerichtshof zustehenden Auslegungsbefugnis und zum anderen der Anwendung des Rechts auf den konkreten Sachverhalt, die in die ausschließliche Zuständigkeit des betreffenden nationalen Gerichts falle. Im Urteil vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions (C‑157/15, EU:C:2017:203), habe sich der Gerichtshof auf die Feststellung einer allgemeinen und undifferenzierten Anwendung einer internen Regel gestützt, mit der das sichtbare Tragen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Zeichen am Arbeitsplatz verboten worden sei, aber nicht ausgeschlossen, dass diese Regel – angesichts von Informationen, über die er nicht verfüge – auf die Betroffene anders angewandt worden sein könne als auf jede andere Arbeitnehmerin. Da der Tenor jenes Urteils diese wichtige Nuance nicht wiedergebe, stelle sich die Frage, ob das nationale Gericht noch über einen Wertungsspielraum verfüge oder ob ihm jede Möglichkeit genommen sei, die Vergleichbarkeit der Situationen konkret zu beurteilen, wenn es darum gehe, zu prüfen, ob eine interne Regel eines privaten Unternehmens diskriminierend sei, die das sichtbare Tragen jedes politischen, weltanschaulichen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbiete. 22 Das vorlegende Gericht wirft außerdem die Frage auf, ob der Gerichtshof in den Urteilen vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions (C‑157/15, EU:C:2017:203), und vom 14. März 2017, Bougnaoui und ADDH (C‑188/15, EU:C:2017:204), die religiösen Überzeugungen, die weltanschaulichen Überzeugungen und die politischen Überzeugungen als ein einziges geschütztes Merkmal habe behandeln wollen, so dass nicht zwischen ihnen zu unterscheiden sei. Dies liefe auf eine Auslegung von Art. 1 der Richtlinie 2000/78 in dem Sinne hinaus, dass die „Religion oder [die] Weltanschauung“ im Sinne dieses Artikels zwei Facetten ein und desselben geschützten Merkmals seien. Müsste die Religion auf dieselbe Ebene wie andere als religiöse Überzeugungen gestellt werden, würde dies indessen zu einer erheblichen Einschränkung des Bereichs führen, in dem für die Zwecke der Prüfung der Vergleichbarkeit der Situationen im Rahmen der Beurteilung des Vorliegens einer unmittelbaren Diskriminierung eine Vergleichsperson gesucht werden könne. Dies würde nämlich bedeuten, dass im Fall einer internen Regel wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Arbeitnehmer, der sich auf eine religiöse Überzeugung berufe, nicht mit einem Arbeitnehmer mit weltanschaulichen Überzeugungen oder politischen Überzeugungen verglichen werden könne. Eine solche Frage werfe eine weitere Frage auf, nämlich ob nationale Rechtsvorschriften, die religiöse Überzeugungen, weltanschauliche Überzeugungen und politische Überzeugungen getrennt schützten und damit den Grad dieses Schutzes stärken sollten, indem die jeweiligen Besonderheiten der einzelnen Überzeugungen hervorgehoben und besser sichtbar gemacht würden, als nationale Vorschriften angesehen werden könnten, die im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 „im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind“. Schließlich führt das vorlegende Gericht eine Reihe sachlicher Kriterien an, die seines Erachtens für die Feststellung relevant sind, ob eine Ungleichbehandlung eine unmittelbare Diskriminierung darstellt. 23 Unter diesen Umständen hat das Tribunal du travail francophone de Bruxelles (französischsprachiges Arbeitsgericht von Brüssel, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin gehend auszulegen, dass die Religion und die Weltanschauung zwei Facetten ein und desselben geschützten Merkmals sind, oder vielmehr dahin, dass die Religion und die Weltanschauung verschiedene Merkmale bilden, nämlich zum einen das Merkmal der Religion einschließlich der damit verbundenen Weltanschauung und zum anderen das Merkmal der Weltanschauung jeder beliebigen Art? 2. Für den Fall, dass Art. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin gehend auszulegen sein sollte, dass die Religion und die Weltanschauung zwei Facetten ein und desselben geschützten Merkmals sind, würde dies dem entgegenstehen, dass das nationale Gericht auf der Grundlage von Art. 8 derselben Richtlinie und zur Verhinderung einer Absenkung des Niveaus des Schutzes vor Diskriminierung eine innerstaatliche Rechtsvorschrift wie Art. 4 Nr. 4 des allgemeinen Antidiskriminierungsgesetzes weiterhin in dem Sinne auslegt, dass religiöse, weltanschauliche und politische Überzeugungen verschiedene geschützte Merkmale darstellen? 3. Kann Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin gehend ausgelegt werden, dass eine in der Arbeitsordnung eines Unternehmens enthaltene Regel, die den Arbeitnehmern vorschreibt, „ihre religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen, welche diese auch immer sein mögen, in keiner Weise, weder durch Worte noch durch die Kleidung oder auf andere Weise, zum Ausdruck [zu] bringen“, eine unmittelbare Diskriminierung darstellt, wenn die konkrete Durchführung dieser internen Regel zeigt, dass einer der folgenden Fälle vorliegt: a) Die Arbeitnehmerin, die ihre Religionsfreiheit durch das sichtbare Tragen eines (konnotierten) Zeichens, hier eines Kopftuchs, ausüben möchte, wird weniger günstig behandelt als ein anderer Arbeitnehmer, der keiner Religion angehört, keine weltanschaulichen Überzeugungen hat und keine politische Zugehörigkeit beansprucht und der daher nicht das Bedürfnis empfindet, ein politisches, weltanschauliches oder religiöses Zeichen zu tragen; b) die Arbeitnehmerin, die ihre Religionsfreiheit durch das sichtbare Tragen eines (konnotierten) Zeichens, hier eines Kopftuchs, ausüben möchte, wird weniger günstig behandelt als ein anderer Arbeitnehmer, der irgendeine weltanschauliche oder politische Überzeugung hat, aber in geringerem Maße oder gar nicht das Bedürfnis hat, diese durch das Tragen eines (konnotierten) Zeichens öffentlich zu bekunden; c) die Arbeitnehmerin, die ihre Religionsfreiheit durch das sichtbare Tragen eines (konnotierten) Zeichens, hier eines Kopftuchs, ausüben möchte, wird weniger günstig behandelt als ein anderer Arbeitnehmer, der einer anderen oder sogar derselben Religion angehört, aber in geringerem Maße oder gar nicht das Bedürfnis hat, diese durch das Tragen eines (konnotierten) Zeichens öffentlich zu bekunden; d) ausgehend davon, dass eine Überzeugung nicht notwendigerweise religiöser, weltanschaulicher oder politischer Natur ist und dass sie von anderer Art sein könnte (künstlerischer, ästhetischer, sportlicher, musikalischer usw.), wird die Arbeitnehmerin, die ihre Religionsfreiheit durch das sichtbare Tragen eines (konnotierten) Zeichens, hier eines Kopftuchs, ausüben möchte, weniger günstig behandelt als ein anderer Arbeitnehmer, der andere Überzeugungen als eine religiöse, weltanschauliche oder politische Überzeugung vertritt und dies mit seiner Kleidung bekundet; e) ausgehend von dem Grundsatz, dass der negative Aspekt der Freiheit, seine religiösen Überzeugungen zu bekunden, auch bedeutet, dass der Einzelne nicht verpflichtet werden kann, seine religiöse Zugehörigkeit oder seine religiösen Überzeugungen zu offenbaren, wird die Arbeitnehmerin, die ihre Religionsfreiheit durch das Tragen eines Kopftuchs ausüben möchte, das an sich kein eindeutiges Symbol der betreffenden Religion ist, da sich eine andere Arbeitnehmerin aus ästhetischen, kulturellen oder sogar gesundheitlichen Gründen dafür entscheiden könnte, es zu tragen, und da es nicht unbedingt von einem einfachen Bandana zu unterscheiden ist, weniger günstig behandelt als ein anderer Arbeitnehmer, der seine religiöse, weltanschauliche oder politische Überzeugung mit Worten bekundet, da dies für die Arbeitnehmerin, die das Kopftuch trägt, eine noch schwerwiegendere Verletzung der Religionsfreiheit auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bedeutet, da – wenn man nicht in Vorurteile verfallen will – die Bedeutung eines Kopftuchs als Zeichen einer Überzeugung nicht offensichtlich ist und in den meisten Fällen nur dann offenbart werden kann, wenn die Person, die es trägt, gezwungen ist, ihre Motivation gegenüber ihrem Arbeitgeber offenzulegen; f) die Arbeitnehmerin, die ihre Religionsfreiheit durch das sichtbare Tragen eines (konnotierten) Zeichens, hier eines Kopftuchs, ausüben möchte, wird weniger günstig behandelt als ein anderer Arbeitnehmer derselben Überzeugung, der sich dafür entscheiden würde, diese durch das Tragen eines Bartes zu bekunden (was durch die Arbeitsordnung – anders als eine Bekundung durch die Kleidung – nicht ausdrücklich verboten wird)? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 24 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltenen Begriffe „Religion oder … Weltanschauung“ einen einzigen Diskriminierungsgrund darstellen, oder vielmehr dahin, dass sich diese Begriffe auf verschiedene Diskriminierungsgründe beziehen. 25 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 die „Religion“ und die „Weltanschauung“ gleichermaßen angeführt werden, entsprechend dem Wortlaut verschiedener Bestimmungen des Primärrechts der Union, nämlich dem von Art. 19 AEUV, wonach der Unionsgesetzgeber geeignete Vorkehrungen treffen kann, um Diskriminierungen aus Gründen u. a. „der Religion oder der Weltanschauung“ zu bekämpfen, und dem von Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der unter den verschiedenen in dieser Vorschrift aufgeführten Diskriminierungsgründen die „Religion oder [die] Weltanschauung“ nennt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 47). 26 Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2000/78 die Begriffe „Religion“ und „Weltanschauung“ die zwei Seiten ein und desselben Diskriminierungsgrundes sind (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 47). 27 Nach dieser Rechtsprechung ist der Diskriminierungsgrund „der Religion oder der Weltanschauung“, wie aus Art. 21 der Charta hervorgeht, von dem Grund „der politischen oder sonstigen Anschauung“ zu unterscheiden und umfasst somit sowohl religiöse als auch weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 47). 28 Zu dem Ausdruck „welche diese auch immer sein mögen“, der in Bezug auf die in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitsordnung angeführten Überzeugungen verwendet wird, genügt die Feststellung, dass der durch die Richtlinie 2000/78 garantierte Schutz vor Diskriminierung nur die in Art. 1 dieser Richtlinie abschließend aufgeführten Gründe umfasst, so dass diese weder politische oder gewerkschaftliche Überzeugungen noch künstlerische, sportliche, ästhetische oder sonstige Überzeugungen oder Präferenzen erfasst. Der Schutz dieser Überzeugungen durch die Mitgliedstaaten unterliegt daher nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie. 29 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die darin enthaltenen Begriffe „Religion oder … Weltanschauung“ einen einzigen Diskriminierungsgrund darstellen, der sowohl religiöse als auch weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen umfasst. Zur dritten Frage 30 Mit seiner dritten Frage, die an zweiter Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine Bestimmung in einer Arbeitsordnung eines Unternehmens, die es den Arbeitnehmern verbietet, ihre religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen, welche diese auch immer sein mögen, durch Worte, durch die Kleidung oder auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen, gegenüber Arbeitnehmern, die ihre Religions‑ und Gewissensfreiheit durch das sichtbare Tragen eines Zeichens oder Bekleidungsstücks mit religiösem Bezug ausüben möchten, eine unmittelbare Diskriminierung „wegen der Religion oder der Weltanschauung“ im Sinne dieser Richtlinie darstellt. 31 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zwar entschieden hat, dass eine interne Regel eines Unternehmens, die nur das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen u. a. religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen verbietet, eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 darstellen kann, wenn dieses Kriterium mit einer oder mehreren bestimmten Religion(en) oder Weltanschauung(en) untrennbar verbunden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 72 und 73). 32 Im vorliegenden Fall betrifft die dem Gerichtshof vorgelegte Frage jedoch eine Regel, die nicht das Tragen auffälliger großflächiger Zeichen, sondern das Tragen jeglicher sichtbaren Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet. 33 Der Gerichtshof hat aber auch wiederholt entschieden, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine interne Regel eines privaten Unternehmens, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung „wegen der Religion oder der Weltanschauung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, da sie unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen gilt und alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleichbehandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert u. a. vorgeschrieben wird, sich neutral zu kleiden, was das Tragen solcher Zeichen ausschließt (Urteile vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions,C‑157/15, EU:C:2017:203, Rn. 30 und 32, sowie vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 52). 34 Insoweit hat der Gerichtshof erläutert, dass, da jede Person eine Religion oder religiöse, weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen haben kann, eine solche Regel, sofern sie allgemein und unterschiedslos angewandt wird, keine Ungleichbehandlung begründet, die auf einem Kriterium beruht, das untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbunden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 52). 35 Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das in Art. 10 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit, das integraler Bestandteil des für die Auslegung der Richtlinie 2000/78 maßgeblichen Kontexts ist, dem in Art. 9 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Recht entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat wie dieses (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 48). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt das in Art. 9 dieser Konvention verankerte Recht auf Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit „einen der Grundpfeiler einer ‚demokratischen Gesellschaft‘ im Sinne [dieser Konvention] dar“ und bildet „in seiner religiösen Dimension eines der lebenswichtigen Elemente, die die Identität der Gläubigen und ihre Lebensauffassung mitformen“, sowie „ein wertvolles Gut für Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige“ und trägt bei zum „Pluralismus, der – im Lauf der Jahrhunderte teuer erkämpft – für die demokratische Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung ist“ (EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab/Schweiz, CE:ECHR:2001:0215DEC004239398). 36 In diesem Zusammenhang ist hinzuzufügen, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, dass nicht behauptet wird, dass S.C.R.L. die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Arbeitsordnung nicht allgemein und unterschiedslos angewandt hätte oder dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens anders behandelt worden wäre als jeder andere Arbeitnehmer, der seine Religion oder seine religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen durch das sichtbare Tragen von Zeichen oder Kleidungsstücken oder auf andere Weise zum Ausdruck gebracht hätte. 37 Ferner geht aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass eine interne Regel wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 darstellen kann, wenn sich erweist – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist –, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden (Urteile vom 14. März 2017, G4S Secure Solutions,C‑157/15, EU:C:2017:203, Rn. 34, und vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 59). 38 Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 würde eine solche Ungleichbehandlung jedoch keine mittelbare Diskriminierung im Sinne ihres Art. 2 Abs. 2 Buchst. b darstellen, wenn sie durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt wäre und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich wären. 39 Was die Voraussetzung des Vorliegens eines rechtmäßigen Ziels angeht, so kann der Wille eines Arbeitgebers, im Verhältnis zu den öffentlichen und privaten Kunden eine Politik der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, als rechtmäßig angesehen werden. Der Wunsch eines Arbeitgebers, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, gehört zur unternehmerischen Freiheit, die in Art. 16 der Charta anerkannt ist, und ist grundsätzlich rechtmäßig, insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber bei der Verfolgung dieses Ziels nur die Arbeitnehmer einbezieht, die mit seinen Kunden in Kontakt treten sollen (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 63). 40 Allerdings hat der Gerichtshof auch dargelegt, dass der bloße Wille eines Arbeitgebers, eine Neutralitätspolitik zu betreiben – auch wenn er an sich ein legitimes Ziel darstellt –, für sich genommen nicht ausreicht, um eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung sachlich zu rechtfertigen, da eine sachliche Rechtfertigung nur bei Vorliegen eines wirklichen Bedürfnisses des Arbeitgebers festgestellt werden kann, das er nachzuweisen hat (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 64). 41 Diese Auslegung ist von dem Bestreben geleitet, grundsätzlich Toleranz und Respekt sowie die Akzeptanz eines größeren Maßes an Vielfalt zu fördern und zu verhindern, dass die Einführung einer Neutralitätspolitik innerhalb eines Unternehmens zum Nachteil von Arbeitnehmern missbraucht wird, die religiöse Gebote beachten, die das Tragen einer bestimmten Bekleidung vorschreiben. 42 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass eine Bestimmung in einer Arbeitsordnung eines Unternehmens, die es den Arbeitnehmern verbietet, ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen, welche diese auch immer sein mögen, durch Worte, durch die Kleidung oder auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen, gegenüber Arbeitnehmern, die ihre Religions‑ und Gewissensfreiheit durch das sichtbare Tragen eines Zeichens oder Bekleidungsstücks mit religiösem Bezug ausüben möchten, keine unmittelbare Diskriminierung „wegen der Religion oder der Weltanschauung“ im Sinne dieser Richtlinie darstellt, wenn diese Bestimmung allgemein und unterschiedslos angewandt wird. Zur zweiten Frage 43 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass nationale Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie in das nationale Recht, die dahin ausgelegt werden, dass religiöse, weltanschauliche und politische Überzeugungen drei verschiedene Diskriminierungsgründe darstellen, als „Vorschriften …, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind“, im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 berücksichtigt werden können. 44 Zur Beantwortung dieser Frage ist zum einen darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus Rn. 28 des vorliegenden Urteils ergibt, der durch die Richtlinie 2000/78 garantierte Schutz vor Diskriminierung nur die in Art. 1 dieser Richtlinie abschließend aufgeführten Gründe umfasst, so dass diese Richtlinie nicht die politischen Überzeugungen erfasst, auf die sich diese Frage bezieht. 45 Zum anderen sind, wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, die Begriffe „Religion oder … Weltanschauung“ in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass sie einen einzigen Diskriminierungsgrund darstellen, der sowohl religiöse als auch weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen umfasst. 46 Dies vorausgeschickt geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die zweite Frage des vorlegenden Gerichts im Wesentlichen darauf abzielt, den Wertungsspielraum zu klären, über den die Mitgliedstaaten bei der Einführung oder der Beibehaltung von Vorschriften verfügen, die im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Bestimmungen sind. 47 Zur Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 hat der Gerichtshof entschieden, dass nationale Verfassungsvorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung angemessen ist, als günstigere Vorschriften im Sinne dieser Bestimmung berücksichtigt werden dürfen (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 90). 48 Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass die Richtlinie 2000/78 einen allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf festlegt, der den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Vielfalt der von ihnen verfolgten Ansätze in Bezug auf den Platz, den sie in ihrem Inneren der Religion oder der Weltanschauung einräumen, einen Wertungsspielraum lässt, insbesondere hinsichtlich des Ausgleichs der verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Interessen. Der den Mitgliedstaaten damit zuerkannte Wertungsspielraum bei fehlendem Konsens auf Unionsebene muss jedoch mit einer Kontrolle einhergehen, die Sache des Unionsrichters ist und die insbesondere darin besteht, zu prüfen, ob die auf nationaler Ebene getroffenen Maßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt sind und ob sie verhältnismäßig sind (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Der Gerichtshof hat ergänzt, dass der so geschaffene Rahmen zeigt, dass der Unionsgesetzgeber in der Richtlinie 2000/78 nicht selbst den erforderlichen Einklang zwischen der Gedanken‑, der Weltanschauungs- und der Religionsfreiheit und den rechtmäßigen Zielen, die zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i dieser Richtlinie geltend gemacht werden können, hergestellt hat, sondern es den Mitgliedstaaten und ihren Gerichten überlassen hat, diesen Einklang herzustellen (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass es die Richtlinie 2000/78 erlaubt, dem jeweiligen Kontext der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen und jedem Mitgliedstaat im Rahmen des notwendigen Ausgleichs der verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Interessen einen Wertungsspielraum einzuräumen, um ein gerechtes Gleichgewicht zwischen diesen zu gewährleisten (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 88). 51 Dazu hat der Gerichtshof im Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit eines Verbots, das dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ähnlich war, entschieden, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, in Anbetracht aller sich aus den betreffenden Akten ergebenden Umstände den beiderseitigen Interessen Rechnung zu tragen und die Beschränkungen „der in Rede stehenden Freiheiten auf das unbedingt Erforderliche“ zu begrenzen (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). 52 Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich somit, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 es einem nationalen Gericht nicht verwehrt, im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen denen der Religion oder der Weltanschauung größere Bedeutung beizumessen als denen, die sich u. a. aus der unternehmerischen Freiheit ergeben, soweit sich dies aus seinem innerstaatlichen Recht ergibt. In einem solchen Fall kann der Gewissens- und Religionsfreiheit daher ein stärkerer Schutz gewährt werden als anderen Freiheiten wie der in Art. 16 der Charta anerkannten unternehmerischen Freiheit, wobei dieser Schutz im Stadium der Beurteilung der Frage, ob eine Rechtfertigung für eine mittelbare Diskriminierung im Sinne der in Rn. 39 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung vorliegt, zum Tragen kommt. 53 Es ist festzustellen, dass dies bei den in der vorliegenden Rechtssache geprüften nationalen Bestimmungen nicht der Fall ist. Nach den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts führen diese Bestimmungen nämlich dazu, dass die „Religion“ und die „Weltanschauung“ als unterschiedliche Diskriminierungsgründe behandelt werden. 54 Der den Mitgliedstaaten eingeräumte Wertungsspielraum kann jedoch nicht so weit gehen, dass es ihnen oder den nationalen Gerichten erlaubt wäre, einen der in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 abschließend aufgeführten Diskriminierungsgründe in mehrere Gründe aufzuspalten, da sonst der Wortlaut, der Kontext und der Zweck dieses Grundes in Frage gestellt würden und die praktische Wirksamkeit des allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf beeinträchtigt würde. 55 Da nämlich der Diskriminierungsgrund „der Religion oder der Weltanschauung“ alle Arbeitnehmer in gleicher Weise erfasst, würde ein Ansatz, bei dem dieser Grund entsprechend dem mit der betreffenden Regel verfolgten Ziel segmentiert wird, dazu führen, Untergruppen von Arbeitnehmern zu schaffen und damit den mit der Richtlinie 2000/78 geschaffenen allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf zu beeinträchtigen. 56 Diese Auslegung wird nicht durch das Argument in Frage gestellt, dass sie gegebenenfalls zu einer Absenkung des Niveaus des Schutzes vor Diskriminierung wegen der Religion oder der religiösen Überzeugung führen könne, da die nationalen Gerichte in einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens offenbar durch nichts daran gehindert werden, die betreffenden nationalen Vorschriften so auszulegen, dass im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen eines Arbeitnehmers und seines Arbeitgebers den weltanschaulichen und spirituellen Überzeugungen dasselbe Schutzniveau wie der Religion und der religiösen Überzeugung zugutekommt. 57 Was schließlich speziell die Argumentation des vorlegenden Gerichts betrifft, das Vorliegen eines einzigen Kriteriums, das die religiösen und die weltanschaulichen Überzeugungen umfasse, führe dazu, dass das Niveau des Schutzes vor unmittelbaren Diskriminierungen wegen dieser Gründe verringert werde, da es Vergleichen zwischen Arbeitnehmern mit religiösen Überzeugungen und Arbeitnehmern mit weltanschaulichen Überzeugungen entgegenstehe, ist Folgendes festzustellen. 58 Zum einen ist, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, die Problematik einer solchen Vergleichbarkeit nur für die Beurteilung des Vorliegens einer unmittelbaren Diskriminierung relevant. Das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung ist aber, wie in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ausgeschlossen. 59 Zum anderen hat der Gerichtshof jedenfalls klargestellt, dass das in der Richtlinie 2000/78 vorgesehene Diskriminierungsverbot nicht allein auf Ungleichbehandlungen zwischen Personen, die einer bestimmten Religion oder Weltanschauung anhängen, und Personen, die nicht einer bestimmten Religion oder Weltanschauung anhängen, beschränkt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 49). Mit anderen Worten steht das Vorliegen eines einzigen Kriteriums, das die Religion und die Weltanschauung umfasst, weder Vergleichen zwischen Arbeitnehmern mit religiösen Überzeugungen und Arbeitnehmern mit anderen Überzeugungen noch solchen zwischen Arbeitnehmern mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen entgegen. 60 Im Übrigen spricht das mit der Richtlinie 2000/78 verfolgte Ziel dafür, ihren Art. 2 Abs. 1 und 2 dahin auszulegen, dass sie den Kreis der Personen, mit denen ein Vergleich zur Feststellung einer „Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung“ im Sinne dieser Richtlinie vorgenommen werden kann, nicht auf Personen beschränkt, die nicht einer bestimmten Religion oder Weltanschauung anhängen (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 50). 61 Der Zweck der Richtlinie 2000/78 besteht somit darin, in Beschäftigung und Beruf jede Form der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung zu bekämpfen (vgl. entsprechend Urteil vom 26. Januar 2021, Szpital Kliniczny im. dra J. Babińskiego Samodzielny Publiczny Zakład Opieki Zdrowotnej w Krakowie,C‑16/19, EU:C:2021:64, Rn. 34), wobei eine Diskriminierung „wegen“ der Religion oder der Weltanschauung im Sinne dieser Richtlinie nur dann festgestellt werden kann, wenn die fragliche weniger günstige Behandlung oder besondere Benachteiligung in Abhängigkeit von der Religion oder der Weltanschauung erfahren wird (Urteil vom 15. Juli 2021, WABE und MH Müller Handel, C‑804/18 und C‑341/19, EU:C:2021:594, Rn. 49). 62 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass nationale Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie in das nationale Recht, die dahin ausgelegt werden, dass religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zwei verschiedene Diskriminierungsgründe darstellen, als „Vorschriften …, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind“, im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 berücksichtigt werden können. Kosten 63 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass die darin enthaltenen Begriffe „Religion oder … Weltanschauung“ einen einzigen Diskriminierungsgrund darstellen, der sowohl religiöse als auch weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen umfasst. 2. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine Bestimmung in einer Arbeitsordnung eines Unternehmens, die es den Arbeitnehmern verbietet, ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen, welche diese auch immer sein mögen, durch Worte, durch die Kleidung oder auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen, gegenüber Arbeitnehmern, die ihre Religions‑ und Gewissensfreiheit durch das sichtbare Tragen eines Zeichens oder Bekleidungsstücks mit religiösem Bezug ausüben möchten, keine unmittelbare Diskriminierung „wegen der Religion oder der Weltanschauung“ im Sinne dieser Richtlinie darstellt, wenn diese Bestimmung allgemein und unterschiedslos angewandt wird. 3. Art. 1 der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass nationale Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie in das nationale Recht, die dahin ausgelegt werden, dass religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zwei verschiedene Diskriminierungsgründe darstellen, als „Vorschriften …, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind“, im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 berücksichtigt werden können. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 6. Oktober 2022.#I. L. gegen Politsei- ja Piirivalveamet.#Vorabentscheidungsersuchen des Riigikohus.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 15 Abs. 1 – Inhaftnahme – Haftgründe – Allgemeines Kriterium der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung – Gefahr der Begehung einer Straftat – Folgen der Aufklärung und Ahndung einer Straftat – Beeinträchtigung des Abschiebungsverfahrens – Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Beschränkung des Grundrechts auf Freiheit – Erfordernis einer Rechtsgrundlage – Erfordernisse der Klarheit, der Vorhersehbarkeit und der Zugänglichkeit – Schutz vor Willkür.#Rechtssache C-241/21.
62021CJ0241
ECLI:EU:C:2022:753
2022-10-06T00:00:00
Gerichtshof, Richard de la Tour
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62021CJ0241 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 6. Oktober 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2008/115/EG – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Art. 15 Abs. 1 – Inhaftnahme – Haftgründe – Allgemeines Kriterium der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung – Gefahr der Begehung einer Straftat – Folgen der Aufklärung und Ahndung einer Straftat – Beeinträchtigung des Abschiebungsverfahrens – Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Beschränkung des Grundrechts auf Freiheit – Erfordernis einer Rechtsgrundlage – Erfordernisse der Klarheit, der Vorhersehbarkeit und der Zugänglichkeit – Schutz vor Willkür“ In der Rechtssache C‑241/21 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) mit Entscheidung vom 30. März 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 14. April 2021, in dem Verfahren I. L. gegen Politsei- ja Piirivalveamet erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter J. Passer, F. Biltgen, N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún, Generalanwalt: J. Richard de la Tour, Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, auf die mündliche Verhandlung vom 17. März 2022, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg und M. Kriisa als Bevollmächtigte, – der spanischen Regierung, vertreten durch A. Ballesteros Panizo und M. J. Ruiz Sánchez als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, L. Grønfeldt und E. Randvere als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Juni 2022, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen I. L., einem in Estland wohnhaften moldauischen Staatsangehörigen, gegen den eine Anordnung ergangen ist, das estnische Hoheitsgebiet zu verlassen, und der Politsei- ja Piirivalveamet (Polizei- und Grenzschutzbehörde, Estland, im Folgenden: PPA) wegen einer Entscheidung der PPA, die Inhaftnahme von I. L. mit der Begründung anzuordnen, es bestehe die reale Gefahr, dass er eine Straftat begehe, deren Aufklärung und Ahndung das Abschiebungsverfahren erheblich beeinträchtigen könnte. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 16 und 17 der Richtlinie 2008/115 heißt es: „(16) Das Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung sollte nur begrenzt zum Einsatz kommen und sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen. Eine Inhaftnahme ist nur gerechtfertigt, um die Rückkehr vorzubereiten oder die Abschiebung durchzuführen und wenn weniger intensive Zwangsmaßnahmen ihren Zweck nicht erfüllen. (17) In Haft genommene Drittstaatsangehörige sollten eine menschenwürdige Behandlung unter Beachtung ihrer Grundrechte und im Einklang mit dem Völkerrecht und dem innerstaatlichen Recht erfahren. Unbeschadet des ursprünglichen Aufgriffs durch Strafverfolgungsbehörden, für den einzelstaatliche Rechtsvorschriften gelten, sollte die Inhaftierung grundsätzlich in speziellen Hafteinrichtungen erfolgen.“ 4 Art. 3 Nr. 7 dieser Richtlinie definiert „Fluchtgefahr“ als „das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten“. 5 Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor: „Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn a) Fluchtgefahr besteht oder b) die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern. Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“ Estnisches Recht 6 § 68 („Fluchtgefahr des Ausländers“) des Väljasõidukohustuse ja sissesõidukelu seadus (Gesetz über die Ausreisepflicht und das Einreiseverbot) vom 21. Oktober 1998 (RT I 1998, 98, 1575) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: VSS) lautet: „Der Erlass einer Rückkehrentscheidung oder die Inhaftnahme eines Ausländers erfolgen auf der Grundlage einer Beurteilung seiner Fluchtgefahr. Bei einem Ausländer besteht Fluchtgefahr, wenn 1) er nicht nach Ablauf der in der Rückkehrentscheidung festgesetzten Frist für die freiwillige Ausreise aus Estland oder einem anderen Mitgliedstaat des Übereinkommens von Schengen ausgereist ist; 2) wenn er bei seinem Antrag auf legalen Aufenthalt in Estland, Antrag auf Verlängerung dieses Aufenthalts, Antrag auf Erteilung der estnischen Staatsangehörigkeit, Antrag auf internationalen Schutz oder Antrag auf Ausstellung von Ausweispapieren unrichtige Informationen mitgeteilt oder gefälschte Dokumente vorgelegt hat; 3) an seiner Identität oder seiner Staatsangehörigkeit berechtigte Zweifel bestehen; 4) er wiederholt vorsätzliche Vergehen begangen hat oder eine Straftat begangen hat, für die er zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde; 5) er gegen ihn zur Sicherstellung der Beachtung der Rückkehrentscheidung verhängte Überwachungsmaßnahmen nicht beachtet hat; 6) er der [PPA] oder der Kaitsepolitseiamet (Behörde für innere Sicherheit, Estland) seine Absicht mitgeteilt hat, der Rückkehrentscheidung nicht Folge zu leisten, oder die Verwaltungsbehörde in Anbetracht der Einstellung oder des Verhaltens des Ausländers zu dieser Schlussfolgerung gelangt; 7) er nach Estland eingereist ist, als ein gegen ihn verhängtes Einreiseverbot wirksam war; 8) er wegen illegalen Überschreitens der Außengrenze Estlands in Haft genommen wurde und weder die Genehmigung noch das Recht erhalten hat, sich in Estland aufzuhalten; 9) er ohne Genehmigung den ihm zugewiesenen Aufenthaltsort oder einen anderen Mitgliedstaat des Übereinkommens von Schengen verlassen hat; 10) die gegen den Ausländer erlassene Rückkehrentscheidung auf der Grundlage einer Entscheidung der Justizbehörde vollstreckbar wird.“ 7 In § 15 („Inhaftnahme des Ausländers und Abschiebungsvorkehrung“) VSS heißt es: „(1)   Der Ausländer kann gemäß dem nachfolgenden Absatz 2 in Haft genommen werden, wenn die in diesem Gesetz vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen nicht wirksam vorgenommen werden können. Die Inhaftnahme muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen und in jedem Einzelfall die maßgeblichen Umstände des Ausländers berücksichtigen. (2)   Der Ausländer kann in Haft genommen werden, wenn die Vornahme der in diesem Gesetz vorgesehenen Überwachungsmaßnahmen keine wirksame Vollstreckung der Rückkehrentscheidung gewährleistet und insbesondere, wenn 1) eine Fluchtgefahr des Ausländers besteht; 2) der Ausländer der Pflicht zu Kooperation nicht nachkommt oder 3) der Ausländer nicht im Besitz der für die Rückreise erforderlichen Dokumente ist oder sich deren Erlangung aus dem Empfangs- oder Transitstaat verzögert. …“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 8 I. L. ist ein moldauischer Staatsangehöriger, der sich aufgrund einer Befreiung von der Visumspflicht in Estland aufhielt. 9 Am 12. Oktober 2020 wurde I. L. festgenommen, da er im Verdacht stand, seiner Lebensgefährtin und einer weiteren Frau körperliche Schmerzen zugefügt und diese an der Gesundheit geschädigt zu haben. 10 Mit Urteil vom 13. Oktober 2020 befand das Harju Maakohus (Gericht erster Instanz Harju, Estland) I. L. für schuldig, den Straftatbestand der körperlichen Misshandlung begangen zu haben, und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, einem Monat und 28 Tagen mit einer Bewährungszeit von zwei Jahren. Das Gericht ordnete indessen die Aufhebung der Haft von I. L. an. 11 An demselben Tag entzog die PPA I. L. vorzeitig die Aufenthaltsberechtigung im estnischen Hoheitsgebiet und ordnete im Gebäude des Harju Maakohus (Gericht erster Instanz Harju) seine Inhaftnahme an. Die PPA begründete jene Entscheidung damit, dass eine „Fluchtgefahr“ im Sinne von § 15 Abs. 2 Nr. 1 VSS bestehe. Aus dem Festnahmeprotokoll geht hervor, dass bei der Festnahme die Einstellung des Betroffenen zur begangenen Straftat und sein Verhalten nach der Verurteilung berücksichtigt worden seien. Diese gäben Anlass zu der Annahme, der Betroffene könne sich ungeachtet seiner Zusage, freiwillig auszureisen, und des Gesuchs, seine freiwillige Ausreise anzuordnen, der Abschiebung entziehen. 12 Die PPA erließ zudem eine Anordnung gegen I. L., das estnische Hoheitsgebiet zu verlassen, da er sich illegal in Estland aufhalte. 13 Mit Beschluss vom 15. Oktober 2020 genehmigte das Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn, Estland) auf Antrag der PPA die Inhaftierung von I. L. in einer Hafteinrichtung bis zum Zeitpunkt seiner Abschiebung, jedoch nicht länger als bis zum 15. Dezember 2020. 14 Mit Beschluss vom 2. Dezember 2020 wies das Tallinna Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tallinn, Estland) die von I. L. gegen den Beschluss des Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn) erhobene Anfechtungsklage ab. 15 In der Zwischenzeit wurde I. L. am 23. November 2020 nach Moldawien abgeschoben. 16 I. L. legte gegen beim Riigikohus (Oberstes Gericht) ein Rechtsmittel ein, um die Aufhebung des Beschlusses des Tallinna Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tallinn) zu erwirken und die Rechtswidrigkeit seiner Inhaftnahme feststellen zu lassen. In seiner Rechtsmittelschrift führt I. L. aus, dass er befugt wäre, eine Schadensersatzklage gegen die PPA zu erheben, wenn das Riigikohus (Oberstes Gericht, im Folgenden auch: vorlegendes Gericht) die Rechtswidrigkeit seiner Inhaftnahme durch Urteil feststelle. 17 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es im Ausgangsrechtsstreit ausschließlich um die Genehmigung der Inhaftnahme von I. L. gehe. 18 Entgegen der Beurteilung der PPA könne die Inhaftnahme von I. L. nicht auf der Grundlage einer „Fluchtgefahr“ im Sinne von § 15 Abs. 2 Nr. 1 VSS angeordnet werden. Hierzu stellt das vorlegende Gericht fest, dass die Umstände des Ausgangsrechtsstreits keines der in § 68 VSS, der den Begriff „Fluchtgefahr“ definiere, aufgezählten Kriterien erfüllten. 19 Insbesondere setze das in § 68 Nr. 4 VSS aufgestellte Kriterium, das den Fall einer strafrechtlichen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe betreffe, eine rechtskräftige Entscheidung voraus. Die Verurteilung von I. L. sei aber erst nach der Entscheidung des Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn), mit der seine Inhaftnahme genehmigt worden sei, rechtskräftig geworden. 20 Die Inhaftnahme könne auch nicht auf § 15 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 VSS gestützt werden, die einen Verstoß gegen die Pflicht zur Kooperation und das Fehlen der für die Rückreise erforderlichen Dokumente zum Gegenstand hätten. 21 Somit hänge die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von I. L. davon ab, ob die in § 15 Abs. 2 VSS enthaltene Aufzählung abschließend sei. 22 Nach einer ersten Auslegung seien die drei in § 15 Abs. 2 VSS angeführten Haftgründe abschließend. Da bei I. L. keiner dieser drei Gründe gegeben sei, sei seine Inhaftnahme als rechtswidrig anzusehen. 23 Nach einer zweiten Auslegung seien diese Gründe nicht abschließend, sondern veranschaulichten das sich aus § 15 Abs. 2 Satz 1 VSS ergebende allgemeine Kriterium, nämlich die Gefahr, dass die wirksame Durchführung der Abschiebung beeinträchtigt werde. 24 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Umstände des Ausgangsverfahrens tatsächlich eine solche Gefahr mit sich bringen könnten, da die reale Gefahr bestanden habe, I. L. würde versuchen, den Konflikt zwischen ihm und seiner ehemaligen Lebensgefährtin zu regeln und bei dieser Gelegenheit eine neue Straftat begehen. Die Aufklärung und die Ahndung einer solchen Straftat durch eine gerichtliche Entscheidung und sich gegebenenfalls anschließende Vollstreckung der verhängten Strafe wären jedoch geeignet gewesen, die Durchführung des Abschiebungsverfahrens auf unbestimmte Zeit aufzuschieben. 25 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob eine solche Auslegung mit Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 vereinbar ist. 26 Insbesondere möchte es wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin ausgelegt werden kann, dass er die Inhaftnahme auf der Grundlage des erwähnten allgemeinen Kriteriums, nämlich der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung, gestattet oder ob einer der beiden in dieser Bestimmung ausdrücklich genannten Gründe erfüllt sein muss. 27 Unter diesen Umständen hat das Riigikohus (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten einen Drittstaatsangehörigen in Haft nehmen dürfen, bei dem die reale Gefahr besteht, dass er, während er sich in Freiheit befindet, vor der Abschiebung eine Straftat begeht, deren Aufklärung und Ahndung das Abschiebungsverfahren wesentlich erschweren kann? Zur Vorlagefrage 28 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat erlaubt, die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein auf der Grundlage eines allgemeinen Kriteriums der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung anzuordnen, ohne dass einer der durch die Gesetzgebung zur Umsetzung dieser Bestimmung in nationales Recht spezifisch geregelten und klar definierten Haftgründe vorliegt. 29 Nach den Erläuterungen, die es dem Gerichtshof gegeben hat, steht für das vorlegende Gericht fest, dass die Umstände des Ausgangsrechtsstreits keinem der spezifischen Haftgründe nach § 15 Abs. 2 VSS genügten, mit dem Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in estnisches Recht umgesetzt werden soll, wobei diese Haftgründe sich auf das Vorliegen von Fluchtgefahr, eine Verletzung der Pflicht zur Kooperation beziehungsweise das Fehlen der für die Rückreise erforderlichen Dokumente stützen. Das vorlegende Gericht ist vielmehr der Ansicht, dass das in der Vorlagefrage genannte allgemeine Kriterium, nämlich die Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung, erfüllt sei, da die reale Gefahr bestanden habe, der Betroffene begehe eine Straftat, deren Aufklärung und Ahndung die Abschiebung auf unbestimmte Zeit aufschieben könnte. 30 Nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ist die Inhaftnahme des Betroffenen nur zulässig, um „[dessen] Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen“. 31 Die Mitgliedstaaten dürfen den Betroffenen folglich nur dann durch Inhaftnahme die Freiheit entziehen, wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung mittels Abschiebung durch das Verhalten des Betroffenen gefährdet zu werden droht, was für den konkreten Einzelfall zu beurteilen ist (Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn, C‑519/20, EU:C:2022:178, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Daraus ergibt sich, dass die zur Abschiebung angeordnete Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nur zur Gewährleistung der Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens dient und keinerlei auf Bestrafung gerichtete Zielsetzung verfolgt (Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn, C‑519/20, EU:C:2022:178, Rn. 38). 33 Eine Haftmaßnahme, die von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage der nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 angeordnet wird, muss demnach das allgemeine Kriterium erfüllen, dass die Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung besteht. 34 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin zu verstehen wäre, dass das allgemeine Kriterium für sich genommen einen Haftgrund darstellt und einem Mitgliedstaat erlaubt, allein auf dieser Grundlage eine Haftmaßnahme anzuordnen. 35 Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht nämlich ausdrücklich zwei Haftgründe vor, die zum einen das Bestehen einer Fluchtgefahr im Sinne von Art. 3 Nr. 7 dieser Richtlinie und zum anderen den Umstand betreffen, dass der Betroffene die Vorbereitung der Rückkehr oder des Abschiebungsverfahrens umgeht oder behindert. 36 Zwar ergibt sich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 30 bis 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, aus Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2008/115 und vor allem aus dem Ausdruck „insbesondere“, dass diese beiden Gründe nicht abschließend sind. Die Mitgliedstaaten können daher zusätzlich zu den beiden in dieser Bestimmung ausdrücklich vorgesehenen Gründen weitere spezifische Haftgründe vorsehen. 37 Allerdings wird die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, zusätzliche Haftgründe festzulegen, durch die Anforderungen begrenzt, die sich aus der Richtlinie 2008/115 selbst ergeben, und durch die Erfordernisse, die aus dem Schutz der Grundrechte und insbesondere des in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundrechts auf Freiheit resultieren. 38 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie in den Rn. 30 bis 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt, eine Haftmaßnahme nur dann angeordnet werden darf, wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung in Form einer Abschiebung durch das Verhalten des Betroffenen beeinträchtigt werden könnte, wobei diese allein darauf gerichtet sein darf, die Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens zu gewährleisten. 39 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass ein allgemeines Kriterium wie das in der Vorlagefrage beschriebene, nämlich die Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung, dieses Erfordernis erfüllt. 40 Zweitens sollte das Mittel der Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung nur begrenzt zum Einsatz kommen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterliegen, wie auch der 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 bestätigt. 41 Es ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2008/115 eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Wahrung der Grundrechte und der Würde der betroffenen Personen eingeführt werden soll (Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn, C‑519/20, EU:C:2022:178, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Jede Inhaftnahme, die unter diese Richtlinie fällt, ist somit in den Bestimmungen ihres Kapitels IV streng geregelt, damit zum einen die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele und zum anderen die Wahrung der Grundrechte von Drittstaatsangehörigen gewährleistet sind (Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn, C‑519/20, EU:C:2022:178, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Folglich kann die Aufnahme eines zusätzlichen Haftgrundes durch einen Mitgliedstaat keinesfalls eine Situation betreffen, in der die Anwendung weniger intensiver, insbesondere die Grundrechte der betroffenen Personen wahrender Zwangsmaßnahmen genügt, um die Wirksamkeit des Rückkehrverfahrens zu gewährleisten. 44 Was insbesondere die Erfordernisse anbelangt, die sich aus dem Schutz des in Art. 6 der Charta verankerten Grundrechts auf Freiheit ergeben, ist auf die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor (C‑528/15, EU:C:2017:213), hinzuweisen. 45 In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31) eine Einschränkung der Ausübung des Grundrechts auf Freiheit vorsieht, indem er zwecks Sicherstellung von Überstellungsverfahren die Inhaftnahme eines Antragstellers gestattet, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr des Antragstellers besteht (Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 36). 46 Ebenso sieht Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 eine Einschränkung des in Art. 6 der Charta verankerten Grundrechts auf Freiheit vor, indem er zwecks Vorbereitung der Rückkehr und/oder zur Durchführung der Abschiebung die Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen gestattet, gegen den ein Rückkehrverfahren anhängig ist. 47 Hierzu ergibt sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta, dass jede Einschränkung der Ausübung dieses Rechts gesetzlich vorgesehen sein, dessen Wesensgehalt achten und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren muss. Art. 52 Abs. 3 der Charta legt fest, dass die Rechte der Charta, soweit sie den durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird, wobei aber klargestellt wird, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewähren kann. Bei der Auslegung von Art. 6 der Charta ist somit Art. 5 EMRK als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen (Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 37). 48 Zu den Anforderungen, die die Rechtsgrundlage für eine Beschränkung des Rechts auf Freiheit erfüllen muss, um den Erfordernissen von Art. 52 Abs. 1 der Charta zu genügen, hat der Gerichtshof im Licht des Urteils des EGMR vom 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien (CE:ECHR:2013:1021JUD004275009), festgestellt, dass ein nationales Gesetz, das einen Freiheitsentzug zulässt, hinreichend zugänglich, präzise und in seiner Anwendung vorhersehbar sein muss, um jede Gefahr von Willkür zu vermeiden (Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 38 und vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2020, JZ (Freiheitsstrafe im Fall eines Einreiseverbots), C‑806/18, EU:C:2020:724, Rn. 41). 49 Hinsichtlich des letztgenannten Gesichtspunkts hat der Gerichtshof zudem hervorgehoben, dass das Ziel der Freiheitsgarantien, wie sie sowohl in Art. 6 der Charta als auch in Art. 5 EMRK verbürgt sind, insbesondere darin besteht, den Einzelnen vor Willkür zu schützen. Die Vereinbarkeit der Durchführung einer freiheitsentziehenden Maßnahme mit diesem Ziel setzt daher u. a. voraus, dass sie frei von Elementen bösen Glaubens oder der Täuschung seitens der Behörden ist (Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie vom 12. Februar 2019, TC, C‑492/18 PPU, EU:C:2019:108, Rn. 59). 50 Bei der Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen, gegen den ein Rückkehrverfahren anhängig ist, die einen schweren Eingriff in das Recht auf Freiheit des Betroffenen darstellt, sind daher strenge Garantien, nämlich Bestehen einer Rechtsgrundlage, Klarheit, Vorhersehbarkeit, Zugänglichkeit und Schutz vor Willkür, einzuhalten (Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 40). 51 Im vorliegenden Fall ist in Bezug auf das Erfordernis einer Rechtsgrundlage festzustellen, dass die Einschränkung des Rechts auf Freiheit unter den Umständen des Ausgangsverfahrens auf § 15 VSS beruht, d. h. auf einer nationalen Rechtsvorschrift, mit der Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 umgesetzt werden soll. 52 Dies vorausgeschickt, stellt sich die Frage, ob die übrigen genannten Garantien in dem der Vorlagefrage zugrunde liegenden Fall beachtet werden, in dem der Betroffene allein aufgrund eines allgemeinen Kriteriums der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung in Haft genommen wird, ohne dass einer der in dieser nationalen Rechtsvorschrift vorgesehenen spezifischen Haftgründe erfüllt wäre. 53 Nach der in den Rn. 47 bis 49 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist insoweit hervorzuheben, dass das Ermessen, über das die betreffenden Behörden verfügen, innerhalb bestimmter im Voraus abgesteckter Grenzen ausgeübt werden muss. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Kriterien, die den Grund für die Inhaftnahme definieren, in einem zwingenden und in seiner Anwendung vorhersehbaren Rechtsakt klar festgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 42). 54 Ein allgemeines Kriterium, das auf die Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung abstellt, genügt jedoch nicht den Erfordernissen der Klarheit, der Vorhersehbarkeit und des Schutzes vor Willkür, wie die Europäische Kommission zu Recht geltend gemacht hat. Aufgrund seiner fehlenden Präzision, insbesondere hinsichtlich der Festlegung der Gesichtspunkte, die von den zuständigen nationalen Behörden bei der Beurteilung des Vorliegens der zugrunde liegenden Gefahr zu berücksichtigen sind, ermöglicht es ein solches Kriterium den Betroffenen nämlich nicht, mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit vorherzusehen, in welchen Fällen sie in Haft genommen werden könnten. Aus diesen Gründen bietet ein solches Kriterium diesen Personen keinen angemessenen Schutz vor Willkür. 55 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein auf der Grundlage eines allgemeinen Kriteriums der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung anzuordnen, ohne dass einer der durch die Gesetzgebung zur Umsetzung dieser Bestimmung in nationales Recht spezifisch geregelten und klar definierten Haftgründe vorliegt. Kosten 56 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht erlaubt, die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen allein auf der Grundlage eines allgemeinen Kriteriums der Gefahr einer Beeinträchtigung der wirksamen Durchführung der Abschiebung anzuordnen, ohne dass einer der durch die Gesetzgebung zur Umsetzung dieser Bestimmung in nationales Recht spezifisch geregelten und klar definierten Haftgründe vorliegt. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Estnisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 22. Februar 2022.#XXXX gegen Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides.#Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État (Belgien).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 33 Abs. 2 Buchst. a – Unzulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat, dem in einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, während sich das minderjährige Kind dieses Drittstaatsangehörigen mit subsidiärem Schutzstatus im erstgenannten Mitgliedstaat aufhält – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 – Recht auf Achtung des Familienlebens – Art. 24 – Kindeswohl – Kein Verstoß gegen die Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte bei Unzulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 23 Abs. 2 – Pflicht der Mitgliedstaaten, für die Aufrechterhaltung des Familienverbands der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Sorge zu tragen.#Rechtssache C-483/20.
62020CJ0483
ECLI:EU:C:2022:103
2022-02-22T00:00:00
Pikamäe, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62020CJ0483 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 22. Februar 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 33 Abs. 2 Buchst. a – Unzulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz eines Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat, dem in einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, während sich das minderjährige Kind dieses Drittstaatsangehörigen mit subsidiärem Schutzstatus im erstgenannten Mitgliedstaat aufhält – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 – Recht auf Achtung des Familienlebens – Art. 24 – Kindeswohl – Kein Verstoß gegen die Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte bei Unzulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 23 Abs. 2 – Pflicht der Mitgliedstaaten, für die Aufrechterhaltung des Familienverbands der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Sorge zu tragen“ In der Rechtssache C‑483/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 30. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 29. September 2020, in dem Verfahren XXXX gegen Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, S. Rodin, I. Jarukaitis und J. Passer (Berichterstatter), der Richter J.‑C. Bonichot, M. Safjan, F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters A. Kumin, Generalanwalt: P. Pikamäe, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, M. Van Regemorter und C. Pochet als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und L. Grønfeldt als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. September 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Art. 2, 20, 23 und 31 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) sowie von Art. 25 Abs. 6 und Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XXXX und dem Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, Belgien, im Folgenden: CGRA) wegen der Ablehnung eines in Belgien gestellten Antrags auf internationalen Schutz. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 In Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge geänderten Fassung (im Folgenden: Genfer Konvention) heißt es: „Im Sinne [dieser Genfer Konvention] findet der Ausdruck ‚Flüchtling‘ auf jede Person Anwendung: … 2. [d]ie … aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als [S]taatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will. Für den Fall, dass eine Person mehr als eine Staatsangehörigkeit hat, bezieht sich der Ausdruck ‚das Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt‘ auf jedes der Länder, dessen Staatsangehörigkeit diese Person hat. Als des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie hat, beraubt gilt nicht eine Person, die ohne einen stichhaltigen, auf eine begründete Befürchtung gestützten Grund den Schutz eines der Länder nicht in Anspruch genommen hat, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt.“ Unionsrecht Richtlinie 2011/95 4 In den Erwägungsgründen 8, 9, 12, 18 und 39 der Richtlinie 2011/95 heißt es: „(8) In dem am 15. und 16. Oktober 2008 angenommenen Europäischen Pakt zu Einwanderung und Asyl hat der Europäische Rat festgestellt, dass zwischen den Mitgliedstaaten weiterhin beträchtliche Unterschiede bei der Gewährung von Schutz und den Formen dieses Schutzes bestehen[,] und gefordert, dass neue Initiativen ergriffen werden sollten, um die Einführung des im Haager Programm vorgesehenen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu vollenden und so ein höheres Schutzniveau zu bieten. (9) Im Programm von Stockholm hat der Europäische Rat wiederholt sein Ziel betont, bis spätestens 2012 auf der Grundlage eines gemeinsamen Asylverfahrens und eines einheitlichen Status gemäß Artikel 78 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) für Personen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, einen gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität … zu errichten. … (12) Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird. … (18) Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1989 über die Rechte des Kindes vorrangig das ‚Wohl des Kindes‘ berücksichtigen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands, dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen, Sicherheitsaspekten sowie dem Willen des Minderjährigen unter Berücksichtigung seines Alters und seiner Reife Rechnung tragen. … (39) Bei der Berücksichtigung der Forderung des Stockholmer Programms nach Einführung eines einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz und abgesehen von den Ausnahmeregelungen, die notwendig und sachlich gerechtfertigt sind, sollten Personen, denen subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, dieselben Rechte und Leistungen zu denselben Bedingungen gewährt werden wie Flüchtlingen gemäß dieser Richtlinie.“ 5 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … j) ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat: – der Ehegatte der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, oder ihr nicht verheirateter Partner, der mit ihr eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare; – die minderjährigen Kinder des unter dem ersten Gedankenstrich genannten Paares oder der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt; – der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist; …“ 6 Kapitel VII („Inhalt des internationalen Schutzes“) der Richtlinie 2011/95 enthält deren Art. 20 bis 35. 7 Art. 20 („Allgemeine Bestimmungen“) Abs. 5 der Richtlinie sieht vor: „Bei der Umsetzung der Minderjährige berührenden Bestimmungen dieses Kapitels berücksichtigen die Mitgliedstaaten vorrangig das Wohl des Kindes.“ 8 Art. 23 („Wahrung des Familienverbands“) der Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann. (2)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist. (3)   Die Absätze 1 und 2 finden keine Anwendung, wenn der Familienangehörige aufgrund der Kapitel III und V von der Gewährung internationalen Schutzes ausgeschlossen ist oder ausgeschlossen wäre. (4)   Unbeschadet der Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten aus Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung die dort aufgeführten Leistungen verweigern, einschränken oder entziehen. (5)   Die Mitgliedstaaten können entscheiden, dass dieser Artikel auch für andere enge Verwandte gilt, die zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftslandes innerhalb des Familienverbands lebten und zu diesem Zeitpunkt vollständig oder größtenteils von der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, abhängig waren.“ Richtlinie 2013/32 9 Der 43. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 lautet: „Die Mitgliedstaaten sollten alle Anträge in der Sache prüfen, d. h. beurteilen, ob der betreffende Antragsteller gemäß der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anerkannt werden kann, sofern die vorliegende Richtlinie nichts anderes vorsieht, insbesondere dann, wenn vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass ein anderer Staat den Antrag prüfen oder für einen ausreichenden Schutz sorgen würde. Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere nicht verpflichtet sein, einen Antrag auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen, wenn der erste Asylstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat oder ihm anderweitig ausreichenden Schutz gewährt und die Rückübernahme des Antragstellers in diesen Staat gewährleistet ist.“ 10 Art. 33 („Unzulässige Anträge“) dieser Richtlinie sieht vor: „(1)   Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31)] ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird. (2)   Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn a) ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat; …“ Belgisches Recht 11 In Art. 57/6 § 3 Abs. 1 der Loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, l’établissement, le séjour et l’éloignement des étrangers (Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und [die Ausweisung] von Ausländern) (Belgisches Staatsblatt vom 31. Dezember 1980, S. 14584), mit dem Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 umgesetzt wird, heißt es: „Der [CGRA] kann einen Antrag auf internationalen Schutz für unzulässig erklären, wenn: … 3. der Antragsteller bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationalen Schutz genießt, …“ Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorabentscheidungsfrage 12 Nachdem der Kläger des Ausgangsverfahrens am 1. Dezember 2015 in Österreich als Flüchtling anerkannt worden war, reiste er Anfang des Jahres 2016 nach Belgien, um zu seinen beiden Töchtern zu ziehen, von denen eine minderjährig ist. Am 14. Dezember 2016 wurde den beiden Töchtern in Belgien subsidiärer Schutz zuerkannt. Der belgische Staat erkannte dem Kläger des Ausgangsverfahrens das elterliche Sorgerecht für das minderjährige Kind zu, er hat aber kein Aufenthaltsrecht in Belgien. 13 Am 14. Juni 2018 stellte der Kläger des Ausgangsverfahrens in Belgien einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 11. Februar 2019 lehnte der CGRA diesen Antrag gemäß Art. 57/6 § 3 Abs. 1 Nr. 3 der Loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, l’établissement, le séjour et l’éloignement des étrangers (Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und [die Ausweisung] von Ausländern) mit der Begründung als unzulässig ab, dass ihm bereits von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt worden sei. 14 Mit Entscheid vom 8. Mai 2019 wies der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien) den vom Kläger des Ausgangsverfahrens gegen diesen Beschluss eingelegten Rechtsbehelf zurück. 15 Am 21. Mai 2019 legte der Kläger des Ausgangsverfahrens beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde gegen diesen Entscheid ein. Er macht geltend, die Wahrung der Grundsätze des Familienverbands und des Kindeswohls stehe dem entgegen, dass der belgische Staat unter den Umständen des Ausgangsverfahrens von seiner Befugnis Gebrauch mache, seinen Antrag auf internationalen Schutz für unzulässig zu erklären. Dass ihm in einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei, hindere ihn nicht daran, sich gegen diese Entscheidung auf den Grundsatz des Familienverbands zu berufen, da dieser Status es ihm nicht erlaube, mit seinem minderjährigen Kind in dem Mitgliedstaat zu leben, in dem diesem Kind subsidiärer Schutz gewährt worden sei. 16 Nach Ansicht des CGRA ist der Grundsatz des Familienverbands im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da weder der Kläger des Ausgangsverfahrens noch seine Töchter des Schutzes beraubt seien. Im Übrigen könne das Kindeswohl allein nicht die Zulässigkeit eines Antrags auf Schutz rechtfertigen. 17 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob das Unionsrecht unter Umständen, in denen die Grundsätze des Familienverbands und des Kindeswohls geltend gemacht werden, dahin auszulegen ist, dass es einem Mitgliedstaat verwehrt, von der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz für unzulässig zu erklären. 18 Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist ein Mitgliedstaat unionsrechtlich, insbesondere durch die Art. 18 und 24 der Charta, die Art. 2, 20, 23 und 31 der Richtlinie 2011/95 sowie Art. 25 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 daran gehindert, einen Antrag auf internationalen Schutz wegen der bereits erfolgten Zuerkennung von Schutz in einem anderen Mitgliedstaat in Umsetzung der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 als unzulässig abzulehnen, wenn der Antragsteller der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes ist, das im ersten Mitgliedstaat Schutz genießt, er der einzige Elternteil der Kernfamilie an seiner Seite ist, dieses Kind bei ihm lebt und von diesem Mitgliedstaat sein Sorgerecht für das Kind anerkannt wurde? Verpflichten die Grundsätze des Familienverbands und der Wahrung des Kindeswohls nicht im Gegenteil zur Gewährung von Schutz für diesen Elternteil durch den Staat, in dem sein Kind Schutz genießt? Verfahren vor dem Gerichtshof 19 Mit Schreiben vom 10. Dezember 2020 hat die belgische Regierung den Gerichtshof zum einen darüber unterrichtet, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens am 4. November 2020 einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe, und zum anderen dem Gerichtshof ihre Bedenken mitgeteilt, ob es unter diesen Umständen angemessen sei, das Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten. 20 Daraufhin hat die Kanzlei des Gerichtshofs das vorlegende Gericht mit Schreiben vom 20. Januar 2021 um Stellungnahme hierzu gebeten. 21 Mit Schreiben vom 11. Februar 2021 teilte das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mit, dass es das Vorabentscheidungsersuchen aufrechterhalten wolle. Zur Vorlagefrage 22 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat daran hindert, von der mit dieser Vorschrift verliehenen Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn der Antragsteller der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes ist, dem in dem erstgenannten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist, der Antragsteller der einzige Elternteil der Kernfamilie an seiner Seite ist, dieses Kind bei ihm lebt und ihm von diesem Mitgliedstaat das Sorgerecht für dieses Kind zuerkannt wurde. 23 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 die Mitgliedstaaten zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung Nr. 604/2013 ein Antrag nicht geprüft wird, nicht prüfen müssen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95 zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage dieses Artikels als unzulässig betrachtet wird. Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 zählt abschließend die Situationen auf, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können (Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Tompa], C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zu diesen Situationen gehört der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a genannte Fall, in dem ein anderer Mitgliedstaat bereits internationalen Schutz gewährt hat. 24 Somit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, zu prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95 zuzuerkennen ist, wenn dieser Schutz bereits in einem anderen Mitgliedstaat gewährleistet ist. 25 Diese Auslegung entspricht im Übrigen dem Zweck von Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32, der, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, darin besteht, die Pflicht des zuständigen Mitgliedstaats, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, dadurch zu lockern, dass Fälle definiert werden, in denen ein solcher Antrag als unzulässig betrachtet wird (Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Tompa], C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). 26 Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob es möglicherweise Ausnahmen von der den Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung eingeräumten Befugnis gibt, nicht zu prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz zuzuerkennen ist, wobei diese Ausnahmen im Wesentlichen durch das Recht auf Achtung des Familienlebens und die notwendige Berücksichtigung des Kindeswohls gerechtfertigt werden könnten, die in Art. 7 bzw. Art. 24 Abs. 2 der Charta verankert sind. 27 Insoweit ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden, und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihren Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten – nämlich die Menschenwürde, die u. a. das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung umfasst – verankert ist, zu bieten (Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). 28 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten hat im Unionsrecht fundamentale Bedeutung insbesondere in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den die Union bildet, wobei die Union nach Art. 67 Abs. 2 AEUV sicherstellt, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, und eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen entwickelt, die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist. In diesem Bereich verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29 Folglich muss im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten steht. Dies gilt insbesondere bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32, in dem im Rahmen des mit dieser Richtlinie eingerichteten gemeinsamen Asylverfahrens der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zum Ausdruck kommt (Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, was die ernsthafte Gefahr hervorruft, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Aus den Rn. 29 und 30 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass die Behörden eines Mitgliedstaats von der ihnen durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 eingeräumten Befugnis keinen Gebrauch machen dürfen, wenn sie auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu dem Schluss kommen, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der Drittstaatsangehörige bereits internationalen Schutz genießt, entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen und dass es im Hinblick auf diese Schwachstellen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass dieser Drittstaatsangehörige tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 85 bis 90, sowie vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 92). 32 Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 verbietet es einem Mitgliedstaat hingegen nicht, die durch diese Bestimmung eingeräumte Befugnis auszuüben, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz gewährt worden ist, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als international Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren. Der Umstand, dass Personen, denen dieser Schutz zuerkannt wird, in dem Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch insofern anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, erlaubt es jedoch nicht, eine Verletzung von Art. 4 der Charta festzustellen, es sei denn, der Antragsteller befindet sich aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit und unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 89, 90 und 101). 33 Im vorliegenden Fall und vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht, das allein für die Entscheidung über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zuständig ist, geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht hervor, dass dies hinsichtlich der Lebensbedingungen des Klägers des Ausgangsverfahrens in Österreich der Fall sein könnte. Unbeschadet einer solchen Prüfung ergibt sich vielmehr aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass der vom Kläger des Ausgangsverfahrens in Belgien gestellte Antrag auf internationalen Schutz nicht mit dem Bedürfnis nach internationalem Schutz als solchem begründet wird, dem bereits in Österreich hinreichend nachgekommen wird, sondern mit dem Bestreben des genannten Klägers nach Sicherstellung des Familienverbands in Belgien. 34 Folglich stellt sich die Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens nicht so dar, dass sie die Mitgliedstaaten im Anschluss an die durch das Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219), begründete Rechtsprechung verpflichten würde, ausnahmsweise davon abzusehen, von der ihnen durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen. 35 Als Zweites ist jedoch zu prüfen, ob Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta dem entgegenstehen, dass von der einem Mitgliedstaat durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat dieser Schutz gewährt wurde, unter den in Rn. 22 des vorliegenden Urteils beschriebenen Bedingungen Gebrauch gemacht wird. 36 Ein nicht zu einer Verletzung von Art. 4 der Charta führender Verstoß gegen eine Vorschrift des Unionsrechts, die Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ein materielles Recht verleiht, hindert die Mitgliedstaaten, selbst wenn dieser Verstoß erwiesen wäre, nicht daran, ihre durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 eingeräumte Befugnis auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 92). Insoweit haben die durch die Art. 7 und 24 der Charta garantierten Rechte im Gegensatz zu dem in Art. 4 der Charta verankerten Schutz vor jeder unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung keinen absoluten Charakter und können daher unter den in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden. 37 Eine solche Auslegung ermöglicht es nämlich, die Beachtung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens sicherzustellen, auf dem das europäische Asylsystem beruht und der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32, wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt, zum Ausdruck kommt. 38 Ferner bezieht sich das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen auch auf Art. 23 der Richtlinie 2011/95, und namentlich auf dessen Abs. 2. 39 Zwar sieht diese Bestimmung eine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen einer Person, der diese Eigenschaft oder dieser Status zuerkannt worden ist, kraft Ableitung nicht vor, so dass im vorliegenden Fall der Umstand, dass die beiden Töchter des Klägers des Ausgangsverfahrens subsidiären Schutz genießen, nicht bedeutet, dass der Kläger allein deshalb im selben Mitgliedstaat auf der genannten Grundlage internationalen Schutz genießen müsste; indessen schreibt diese Bestimmung den Mitgliedstaaten ausdrücklich vor, für die Aufrechterhaltung des Familienverbands Sorge zu tragen, indem sie für die Familienmitglieder der Person, die internationalen Schutz genießt, eine Reihe von Leistungen einführt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland [Wahrung des Familienverbands], C‑91/20, EU:C:2021:898, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Gewährung dieser in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen, darunter u. a. die Gewährung eines Aufenthaltsrechts, ist an drei Voraussetzungen gebunden, die sich erstens auf die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie, zweitens den Umstand, dass für diesen Angehörigen selbst die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes nicht erfüllt sind, und drittens auf die Vereinbarkeit mit der persönlichen Rechtsstellung des betreffenden Familienangehörigen beziehen. 40 Erstens schließt jedoch der Umstand, dass ein Elternteil und sein minderjähriges Kind getrennte Migrationswege zurückgelegt hatten, bevor sie in dem Mitgliedstaat, in dem das Kind internationalen Schutz genießt, wieder zueinander fanden, nicht aus, dass dieses Elternteil als Familienangehöriger des Schutzberechtigten im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 angesehen wird, sofern es sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufgehalten hat, bevor über den Antrag seines Kindes auf internationalen Schutz entschieden wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C‑768/19, EU:C:2021:709, Rn. 15, 16, 51 und 54). 41 Zweitens ist im Hinblick auf das Ziel von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, die Aufrechterhaltung des Familienverbands der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sicherzustellen und ferner angesichts des Umstands, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta auszulegen sind (Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C‑768/19, EU:C:2021:709, Rn. 38), davon auszugehen, dass ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf internationalen Schutz unzulässig ist und daher in Anbetracht der Flüchtlingseigenschaft, die er in einem anderen Mitgliedstaat besitzt, in demjenigen Mitgliedstaat abgelehnt worden ist, in dem sein minderjähriges Kind internationalen Schutz genießt, selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes im zweitgenannten Mitgliedstaat erfüllt; dies eröffnet für den genannten Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat das Recht auf Gewährung der in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen. 42 Drittens muss nach Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 die Gewährung solcher Leistungen jedoch mit der Rechtsstellung des betreffenden Drittstaatsangehörigen vereinbar sein. 43 Insoweit geht aus dem Urteil vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland (Wahrung des Familienverbands) (C‑91/20, EU:C:2021:898, Rn. 54), hervor, dass dieser Vorbehalt die Prüfung der Frage betrifft, ob der betreffende Drittstaatsangehörige, der Familienangehöriger einer international schutzberechtigten Person ist, in dem Mitgliedstaat, der diesen internationalen Schutz gewährt hat, nicht bereits Anspruch auf eine bessere Behandlung hat als die, die sich aus den in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen ergibt. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint dies hier nicht der Fall zu sein, da die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat demjenigen, der diesen internationalen Schutz genießt, in einem anderen Mitgliedstaat grundsätzlich keine bessere Behandlung verschafft als diejenige, die sich aus den in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen in diesem anderen Mitgliedstaat ergibt. 44 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, von der mit dieser Vorschrift verliehenen Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn der Antragsteller der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes ist, dem in dem erstgenannten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wobei jedoch die Anwendung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 unberührt bleibt. Kosten 45 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, von der mit dieser Vorschrift verliehenen Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn der Antragsteller der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes ist, dem in dem erstgenannten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wobei jedoch die Anwendung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes unberührt bleibt. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 10. Februar 2022.#LM gegen Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld.#Vorabentscheidungsersuchen des Landesverwaltungsgerichts Steiermark.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Dienstleistungsverkehr – Entsendung von Arbeitnehmern – Richtlinie 96/71/EG – Art. 3 Abs. 1 Buchst. c – Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen – Entlohnung – Art. 5 – Sanktionen – Verjährungsfrist – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 41 – Recht auf eine gute Verwaltung – Art. 47 – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz.#Rechtssache C-219/20.
62020CJ0219
ECLI:EU:C:2022:89
2022-02-10T00:00:00
Bobek, Gerichtshof
62020CJ0219 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) 10. Februar 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Dienstleistungsverkehr – Entsendung von Arbeitnehmern – Richtlinie 96/71/EG – Art. 3 Abs. 1 Buchst. c – Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen – Entlohnung – Art. 5 – Sanktionen – Verjährungsfrist – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 41 – Recht auf eine gute Verwaltung – Art. 47 – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz“ In der Rechtssache C‑219/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidung vom 12. Mai 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Mai 2020, in dem Verfahren LM gegen Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld, Beteiligte: Österreichische Gesundheitskasse, erlässt DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer) unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter N. Jääskinen und M. Safjan, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von LM, vertreten durch Rechtsanwältin P. Cernochova, – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte, – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, M. Van Regemorter und C. Pochet als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LM und der Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Österreich) wegen der Geldstrafe, die über LM wegen Nichteinhaltung der im österreichischen Recht vorgesehenen Lohnverpflichtungen für entsandte Arbeitnehmer verhängt wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 96/71/EG 3 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) sieht vor: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der nachstehenden Aspekte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, – durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder – durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche im Sinne des Absatzes 8, sofern sie die im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen, festgelegt sind: … c) Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze; dies gilt nicht für die zusätzlichen betrieblichen Altersversorgungssysteme; … Zum Zweck dieser Richtlinie wird der in Unterabsatz 1 Buchstabe c) genannte Begriff der Mindestlohnsätze durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird.“ 4 Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten sehen geeignete Maßnahmen für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie vor. …“ Richtlinie 2014/67/EU 5 Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71 und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt‑Informationssystems („IMI-Verordnung“) (ABl. 2014, L 159, S. 11) bestimmt: „Die Mitgliedstaaten dürfen nur die Verwaltungsanforderungen und Kontrollmaßnahmen vorschreiben, die notwendig sind, um eine wirksame Überwachung der Einhaltung der Pflichten, die aus dieser Richtlinie und der Richtlinie 96/71… erwachsen, zu gewährleisten, vorausgesetzt, sie sind im Einklang mit dem Unionsrecht gerechtfertigt und verhältnismäßig. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten insbesondere folgende Maßnahmen vorsehen: … b) die Pflicht zur Bereithaltung oder Verfügbarmachung … der Lohnzettel, der Arbeitszeitnachweise mit Angabe des Beginns, des Endes und der Dauer der täglichen Arbeitszeit sowie der Belege über die Entgeltzahlung oder der Kopien gleichwertiger Dokumente … c) die Pflicht, nach der Entsendung auf Ersuchen der Behörden des Aufnahmemitgliedstaats die unter Buchstabe b genannten Dokumente innerhalb einer angemessenen Frist vorzulegen; …“ Österreichisches Recht 6 In § 7i Abs. 5 und 7 des Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetzes (BGBl. Nr. 459/1993) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: AVRAG) heißt es: „(5)   Wer als Arbeitgeber/in einen/e Arbeitnehmer/in beschäftigt oder beschäftigt hat, ohne ihm/ihr zumindest das nach Gesetz, Verordnung oder Kollektivvertrag zustehende Entgelt unter Beachtung der jeweiligen Einstufungskriterien, ausgenommen die in § 49 Abs. 3 ASVG angeführten Entgeltbestandteile, zu leisten, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde mit einer Geldstrafe zu bestrafen. Bei Unterentlohnungen, die durchgehend mehrere Lohnzahlungszeiträume umfassen, liegt eine einzige Verwaltungsübertretung vor. … Sind von der Unterentlohnung höchstens drei Arbeitnehmer/innen betroffen, beträgt die Geldstrafe für jede/n Arbeitnehmer/in 1000 Euro bis 10000 Euro, im Wiederholungsfall 2000 Euro bis 20000 Euro, sind mehr als drei Arbeitnehmer/innen betroffen, für jede/n Arbeitnehmer/in 2000 Euro bis 20000 Euro, im Wiederholungsfall 4000 Euro bis 50000 Euro. … (7)   Die Frist für die Verfolgungsverjährung (§ 31 Abs. 1 VStG) beträgt drei Jahre ab der Fälligkeit des Entgelts. Bei Unterentlohnungen, die durchgehend mehrere Lohnzahlungszeiträume umfassen, beginnt die Frist für die Verfolgungsverjährung im Sinne des ersten Satzes ab der Fälligkeit des Entgelts für den letzten Lohnzahlungszeitraum der Unterentlohnung. Die Frist für die Strafbarkeitsverjährung (§ 31 Abs. 2 VStG) beträgt in diesen Fällen fünf Jahre. Hinsichtlich von Sonderzahlungen beginnen die Fristen nach den beiden ersten Sätzen ab dem Ende des jeweiligen Kalenderjahres (Abs. 5 dritter Satz) zu laufen.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 7 Die GVAS s. r. o., eine Gesellschaft mit Sitz in der Slowakei, entsandte mehrere Arbeitnehmer nach Österreich. 8 Auf der Grundlage von Feststellungen, die bei einer am 19. Juni 2016 durchgeführten Kontrolle getroffen wurden, verhängte die Bezirksverwaltungsbehörde Hartberg-Fürstenfeld über LM in seiner Eigenschaft als Vertreter der GVAS auf der Grundlage von § 7i Abs. 5 AVRAG eine Geldstrafe in Höhe von 6600 Euro wegen Nichteinhaltung von Lohnverpflichtungen in Bezug auf vier entsandte Arbeitnehmer. 9 Diese Entscheidung wurde LM am 20. Februar 2020 zugestellt. 10 LM erhob gegen dieses Straferkenntnis Beschwerde beim vorlegenden Gericht, dem Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich). 11 Dieses Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit von § 7i Abs. 7 AVRAG, der für die LM zur Last gelegte Übertretung nach § 7i Abs. 5 AVRAG eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vorsieht, mit dem Unionsrecht. Eine solche Frist sei besonders lang für ein fahrlässig begangenes Bagatelldelikt im Verwaltungsstrafrecht, und es sei fraglich, ob sich eine Person angemessen verteidigen könne, insbesondere wenn diese Verteidigung fast fünf Jahre nach den vorgeworfenen Handlungen stattfinde. 12 Vor diesem Hintergrund hat das Landesverwaltungsgericht Steiermark beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Sind Art. 6 EMRK, Art. 41 Abs. 1 und Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin gehend auszulegen, dass sie einer nationalen Norm, welche zwingend eine fünfjährige Verjährungsfrist bei einem Fahrlässigkeitsdelikt in einem Verwaltungsstrafverfahren vorsieht, entgegenstehen? Zur Vorlagefrage Zuständigkeit des Gerichtshofs und Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens 13 Die österreichische und die belgische Regierung tragen vor, dass dem Gerichtshof keine Zuständigkeit zur Auslegung von Art. 6 EMRK zukomme. 14 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV nicht befugt, über die Auslegung völkerrechtlicher Bestimmungen zu entscheiden, die zwischen den Mitgliedstaaten Bindungen außerhalb des unionsrechtlichen Bereichs schaffen (Beschluss vom 6. November 2019, EOS Matrix, C‑234/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:986, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 15 Folglich ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefrage nicht zuständig, soweit sie sich auf die Auslegung von Art. 6 EMRK bezieht, während er für die Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta zuständig ist, der, wie es in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) heißt, Art. 6 Abs. 1 EMRK entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Februar 2021, Consob, C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 37). 16 Im Übrigen stellt die österreichische Regierung die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens in Abrede. 17 Das Vorabentscheidungsersuchen erfülle nicht die Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. 18 Zum einen sei die Begründung der Frage knapp und beziehe sich im Wesentlichen auf die Verhältnismäßigkeit von Strafen, während die gestellte Frage die Verjährungsfrist nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung betreffe. 19 Zum anderen enthalte das Vorabentscheidungsersuchen keine Darstellung des Zusammenhangs zwischen den Unionsrechtsvorschriften, deren Auslegung begehrt werde, und dem in Rede stehenden nationalen Recht. 20 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, INPS [Geburts- und Mutterschaftsbeihilfen für Inhaber einer kombinierten Erlaubnis], C‑350/20, EU:C:2021:659, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 21 Zudem muss das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt, enthalten. 22 In der vorliegenden Rechtssache führt das vorlegende Gericht unter Darlegung seiner Zweifel an der Vereinbarkeit der Verjährungsfrist nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung mit der Wahrung der Verteidigungsrechte die Gründe an, aus denen ihm die Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts fraglich erscheint. 23 Es nennt die Art. 41 und 47 der Charta als Bestimmungen des Unionsrechts, die seiner Ansicht nach einer Auslegung bedürfen. 24 Dazu ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 25 Es ist aber festzustellen, dass das vorlegende Gericht nicht darlegt, welche Bestimmungen des Unionsrechts die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung durchführen soll. 26 Aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich allerdings, dass die vorliegende Rechtssache im Zusammenhang mit der Entsendung von Arbeitnehmern steht und dass die Verjährungsfrist nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung eine Übertretung in Bezug auf die Unterentlohnung entsandter Arbeitnehmer betrifft. 27 Daraus folgt, dass der Ausgangsrechtsstreit die Sanktion betrifft, die wegen Nichteinhaltung der in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 96/71 vorgesehenen Verpflichtung in Bezug auf den Mindestlohnsatz verhängt wurde. 28 Um sicherzustellen, dass ein Kern zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz beachtet wird, sieht Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die Unternehmen im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der in dieser Vorschrift aufgeführten Aspekte – zu denen die Mindestlohnsätze gehören – die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2013, Isbir, C‑522/12, EU:C:2013:711, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29 Außerdem ergibt sich aus Art. 5 der Richtlinie 96/71, dass der Unionsgesetzgeber es den Mitgliedstaaten überlassen hat, geeignete Sanktionen festzulegen, um die Durchsetzung dieser Verpflichtung zu gewährleisten. 30 Vor diesem Hintergrund geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, mit der die Unterentlohnung entsandter Arbeitnehmer geahndet und die für diese Übertretung geltende Verjährungsfrist festgesetzt wird, eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt. Folglich reichen diese Angaben nach der in Rn. 24 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung aus, um einen Zusammenhang zwischen der Charta, auf die das vorlegende Gericht Bezug nimmt, und dieser nationalen Regelung herzustellen. 31 Demnach ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Verpflichtungen aus Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung nachgekommen ist. 32 Die Vorlagefrage ist daher als zulässig anzusehen. Zur Beantwortung der Frage 33 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben, und dass der Gerichtshof hierzu die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren hat (Urteil vom 3. März 2020, Gómez del Moral Guasch, C‑125/18, EU:C:2020:138, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34 Weiter hindert nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand, dass das vorlegende Gericht eine Frage unter Bezugnahme nur auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 7. März 2017, X und X, C‑638/16 PPU, EU:C:2017:173, Rn. 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 35 Wie sich aus den Rn. 28 und 29 des vorliegenden Urteils ergibt, legt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit der die Unterentlohnung entsandter Arbeitnehmer geahndet und die für diese Übertretung geltende Verjährungsfrist festgesetzt wird, die Sanktionen für den Fall fest, dass die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 96/71 vorgesehene Verpflichtung in Bezug auf den Mindestlohnsatz nicht eingehalten wird, und stellt somit eine Umsetzung von Art. 5 dieser Richtlinie dar. 36 Im Übrigen ist der vom vorlegenden Gericht angeführte Art. 41 der Charta für dessen Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit nicht relevant. Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht nämlich eindeutig hervor, dass sich diese nicht an die Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union richtet (Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken, C‑225/19 und C‑226/19, EU:C:2020:951, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 37 Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass das in Art. 41 der Charta verankerte Recht auf eine gute Verwaltung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts widerspiegelt, der für die Mitgliedstaaten gelten soll, wenn sie dieses Recht umsetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken, C‑225/19 und C‑226/19, EU:C:2020:951, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Daher kann der Gerichtshof die Vorlagefrage im Licht dieses allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts beantworten. 38 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob Art. 5 der Richtlinie 96/71 in Verbindung mit Art. 47 der Charta und im Licht des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes des Rechts auf eine gute Verwaltung dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für Verstöße gegen Verpflichtungen in Bezug auf die Entlohnung entsandter Arbeitnehmer eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vorsieht. 39 Wie aus Art. 5 der Richtlinie 96/71 hervorgeht, hat der Unionsgesetzgeber es den Mitgliedstaaten überlassen, geeignete Sanktionen festzulegen, um u. a. die Durchsetzung der in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie vorgesehenen Verpflichtung in Bezug auf den Mindestlohnsatz zu gewährleisten. 40 Außerdem enthält diese Richtlinie keine Verjährungsregeln für die Verhängung von Sanktionen durch die nationalen Behörden im Fall der Nichteinhaltung der Richtlinie 96/71, insbesondere ihres Art. 3. 41 Mangels einer einschlägigen unionsrechtlichen Vorschrift sind solche Modalitäten nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache ihrer innerstaatlichen Rechtsordnungen. Sie dürfen jedoch nicht weniger günstig sein als diejenigen, die bei entsprechenden nationalen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juli 2020, Caixabank und Banco Bilbao Vizcaya Argentaria, C‑224/19 und C‑259/19, EU:C:2020:578, Rn. 83 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 21. Januar 2021, Whiteland Import Export, C‑308/19, EU:C:2021:47, Rn. 45 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Die Mitgliedstaaten haben bei der Umsetzung des Unionsrechts auch zu gewährleisten, dass das in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt ist, der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Was als Erstes den Äquivalenzgrundsatz betrifft, so setzt die Wahrung dieses Grundsatzes voraus, dass die betreffende Regelung in gleicher Weise für Verfahren gilt, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern sie einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Land Sachsen-Anhalt [Besoldung der Beamten und Richter], C‑773/18 bis C‑775/18, EU:C:2020:125, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Hierzu ist festzustellen, dass dem Vorabentscheidungsersuchen nicht zu entnehmen ist, dass die Verjährungsfrist nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung gegen diesen Grundsatz verstieße. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, jede etwaige Beeinträchtigung dieses Grundsatzes zu prüfen. 45 Was als Zweites den Effektivitätsgrundsatz angeht, ist hervorzuheben, dass die Mitgliedstaaten für den wirksamen Schutz der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind und insbesondere die Beachtung zum einen des Grundsatzes, wonach die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden müssen, ihren Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen, und zum anderen des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Rechts jeder Person darauf, dass ihre Sache vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird, zu gewährleisten haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. September 2017, The Trustees of the BT Pension Scheme, C‑628/15, EU:C:2017:687, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 31). 46 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Waffengleichheit, der integraler Bestandteil des in dieser Bestimmung verankerten Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte ist, da er, wie u. a. der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens eine logische Folge des Begriffs des fairen Verfahrens als solchem ist, gebietet, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Mit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, mit der, wie sich aus Rn. 35 des vorliegenden Urteils ergibt, die Unterentlohnung entsandter Arbeitnehmer geahndet und die für diese Übertretung geltende Verjährungsfrist auf fünf Jahre festgesetzt wird, soll die Einhaltung der in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 96/71 vorgesehenen Verpflichtung in Bezug auf den Mindestlohnsatz sichergestellt werden. 48 Der grenzüberschreitende Charakter der Entsendung von Arbeitnehmern und der Verfolgung einer solchen Übertretung kann die Arbeit der zuständigen nationalen Behörden relativ komplex machen und damit die Festsetzung einer Verjährungsfrist rechtfertigen, die hinreichend lang ist, um den zuständigen nationalen Behörden die Verfolgung und Ahndung einer solchen Übertretung zu ermöglichen. 49 Außerdem kann angesichts der Bedeutung, die die Richtlinie 96/71 der Verpflichtung in Bezug auf den Mindestlohnsatz beimisst, von den Dienstleistungserbringern, die Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsenden, vernünftigerweise erwartet werden, dass sie die Belege über die Zahlung der Löhne an diese Arbeitnehmer mehrere Jahre lang aufbewahren. 50 Im Übrigen ist insoweit darauf hinzuweisen, dass Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2014/67 die Mitgliedstaaten ausdrücklich ermächtigt, von den in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringern zu verlangen, nach der Entsendung auf Ersuchen der zuständigen Behörden innerhalb einer angemessenen Frist bestimmte Dokumente vorzulegen, darunter die Belege über die Entgeltzahlung. 51 In Anbetracht der Erwägungen in den beiden vorstehenden Randnummern erscheint es nicht unangemessen, dass die in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Dienstleistungserbringer aufgrund einer Verjährungsfrist wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden während eines Zeitraums von fünf Jahren die Belege über die Entgeltzahlung aufbewahren und vorlegen müssen. 52 Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, dass die Festsetzung einer Verjährungsfrist von fünf Jahren für eine Übertretung in Bezug auf die Unterentlohnung entsandter Arbeitnehmer geeignet ist, einen sorgfältigen Wirtschaftsteilnehmer dem Risiko auszusetzen, nicht in der Lage zu sein, seinen Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung, ihn wegen der Begehung einer solchen Übertretung mit einer Sanktion zu belegen, zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen, oder nicht in der Lage zu sein, seinen Standpunkt sowie seine Beweise vor einem Gericht vorzutragen. 53 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 der Richtlinie 96/71 in Verbindung mit Art. 47 der Charta und im Licht des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes des Rechts auf eine gute Verwaltung dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die für Verstöße gegen Verpflichtungen in Bezug auf die Entlohnung entsandter Arbeitnehmer eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vorsieht. Kosten 54 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt: Art. 5 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und im Licht des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes des Rechts auf eine gute Verwaltung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die für Verstöße gegen Verpflichtungen in Bezug auf die Entlohnung entsandter Arbeitnehmer eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vorsieht. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 20. Januar 2022.#Rumänien gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Institutionelles Recht – Bürgerinitiative – Verordnung (EU) Nr. 211/2011 – Art. 4 Abs. 2 Buchst. b – Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative – Bedingung, dass die geplante Bürgerinitiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liegen darf, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt vorzulegen, um die Verträge umzusetzen – Beschluss (EU) 2017/652 – Bürgerinitiative ‚Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe‘ – Teilweise Registrierung – Art. 5 Abs. 2 EUV – Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung – Art. 296 AEUV – Begründungspflicht – Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens.#Rechtssache C-899/19 P.
62019CJ0899
ECLI:EU:C:2022:41
2022-01-20T00:00:00
Gerichtshof, Szpunar
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0899 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 20. Januar 2022 (*1) „Rechtsmittel – Institutionelles Recht – Bürgerinitiative – Verordnung (EU) Nr. 211/2011 – Art. 4 Abs. 2 Buchst. b – Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative – Bedingung, dass die geplante Bürgerinitiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liegen darf, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt vorzulegen, um die Verträge umzusetzen – Beschluss (EU) 2017/652 – Bürgerinitiative ‚Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe‘ – Teilweise Registrierung – Art. 5 Abs. 2 EUV – Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung – Art. 296 AEUV – Begründungspflicht – Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens“ In der Rechtssache C‑899/19 P betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 4. Dezember 2019, Rumänien, vertreten durch E. Gane, L. Liţu, M. Chicu und L.‑E. Baţagoi als Bevollmächtigte, Rechtsmittelführer, andere Parteien des Verfahrens: Europäische Kommission, zunächst vertreten durch I. Martínez del Peral, H. Stancu und H. Krämer, dann durch I. Martínez del Peral und H. Stancu als Bevollmächtigte, Beklagte im ersten Rechtszug, Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte, Streithelfer im ersten Rechtszug, erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer sowie der Richter S. Rodin (Berichterstatter) und N. Piçarra, Generalanwalt: M. Szpunar, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Mit seinem Rechtsmittel beantragt Rumänien die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 24. September 2019, Rumänien/Kommission (T‑391/17, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2019:672), mit dem dieses seine Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses (EU) 2017/652 der Kommission vom 29. März 2017 über die geplante Bürgerinitiative „Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe“ (ABl. 2017, L 92, S. 100) (im Folgenden: streitiger Beschluss) abgewiesen hat. Rechtlicher Rahmen 2 Die Erwägungsgründe 1, 2, 4 und 10 der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative (ABl. 2011, L 65, S. 1) lauten: „(1) Der [EU‑]Vertrag … stärkt die Unionsbürgerschaft und führt zu einer weiteren Verbesserung der demokratischen Funktionsweise der [Europäischen] Union, indem unter anderem festgelegt wird, dass jeder Bürger das Recht hat, sich über eine europäische Bürgerinitiative am demokratischen Leben der Union zu beteiligen. Ähnlich wie das Recht, das dem Europäischen Parlament gemäß Artikel 225 [AEUV] und dem Rat [der Europäischen Union] gemäß Artikel 241 AEUV eingeräumt wird, bietet dieses Verfahren den Bürgern die Möglichkeit, sich direkt mit der Aufforderung an die Europäische Kommission zu wenden, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge zu unterbreiten. (2) Die für die Bürgerinitiative erforderlichen Verfahren und Bedingungen sollten klar, einfach, benutzerfreundlich und dem Wesen der Bürgerinitiative angemessen sein, um die Bürger zur Teilnahme zu ermutigen und die Union zugänglicher zu machen. Sie sollten einen vernünftigen Ausgleich zwischen Rechten und Pflichten schaffen. … (4) Die Kommission sollte den Bürgern auf Antrag Informationen und informelle Beratung zu Bürgerinitiativen bereitstellen, insbesondere was die Kriterien der Registrierung betrifft. … (10) Um bei geplanten Bürgerinitiativen Kohärenz und Transparenz zu gewährleisten und eine Situation zu vermeiden, in der Unterschriften für eine geplante Bürgerinitiative gesammelt werden, die nicht den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen entspricht, sollte es verpflichtend sein, diese Initiativen auf einer von der Kommission zur Verfügung gestellten Website vor Sammlung der notwendigen Unterstützungsbekundungen von Bürgern zu registrieren. Alle geplanten Bürgerinitiativen, die den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen entsprechen, sollten von der Kommission registriert werden. Die Kommission sollte die Registrierung gemäß den allgemeinen Grundsätzen guter Verwaltungspraxis vornehmen.“ 3 Art. 1 der Verordnung Nr. 211/2011 bestimmt: „Diese Verordnung legt die Verfahren und Bedingungen für eine Bürgerinitiative gemäß Artikel 11 EUV und Artikel 24 AEUV fest.“ 4 In Art. 2 dieser Verordnung heißt es: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck 1. ‚Bürgerinitiative‘ eine Initiative, die der Kommission gemäß dieser Verordnung vorgelegt wird und in der die Kommission aufgefordert wird, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht von Bürgern eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen, und die die Unterstützung von mindestens einer Million teilnahmeberechtigten Unterzeichnern aus mindestens einem Viertel aller Mitgliedstaaten erhalten hat; … 3. ‚Organisatoren‘ natürliche Personen, die einen Bürgerausschuss bilden, der für die Vorbereitung einer Bürgerinitiative sowie ihre Einreichung bei der Kommission verantwortlich ist.“ 5 Art. 4 Abs. 1 bis 3 der Verordnung sieht vor: „(1)   Bevor sie mit der Sammlung von Unterstützungsbekundungen bei Unterzeichnern für eine geplante Bürgerinitiative beginnen, sind die Organisatoren verpflichtet, sie bei der Kommission anzumelden, wobei sie die in Anhang II genannten Informationen, insbesondere zum Gegenstand und zu den Zielen der geplanten Bürgerinitiative, bereitstellen. Diese Informationen sind in einer der Amtssprachen der Union in einem zu diesem Zweck von der Kommission zur Verfügung gestellten Online-Register (nachstehend ‚Register‘ genannt) bereitzustellen. Die Organisatoren stellen für das Register und – soweit zweckmäßig – auf ihrer Website regelmäßig aktualisierte Informationen über die Quellen der Unterstützung und Finanzierung für die geplante Bürgerinitiative bereit. Nach Bestätigung der Registrierung gemäß Absatz 2 können die Organisatoren die geplante Bürgerinitiative zur Aufnahme in das Register in anderen Amtssprachen der Union bereitstellen. Die Übersetzung der geplanten Bürgerinitiative in andere Amtssprachen der Union fällt in die Verantwortung der Organisatoren. Die Kommission richtet eine Kontaktstelle ein, die Informationen und Hilfe anbietet. (2)   Binnen zwei Monaten nach Eingang der in Anhang II genannten Informationen registriert die Kommission eine geplante Bürgerinitiative unter einer eindeutigen Identifikationsnummer und sendet eine entsprechende Bestätigung an die Organisatoren, sofern die folgenden Bedingungen erfüllt sind: … b) die geplante Bürgerinitiative liegt nicht offenkundig außerhalb des Rahmens, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen; … (3)   Die Kommission verweigert die Registrierung, wenn die in Absatz 2 festgelegten Bedingungen nicht erfüllt sind. Wenn die Kommission es ablehnt, eine geplante Bürgerinitiative zu registrieren, unterrichtet sie die Organisatoren über die Gründe der Ablehnung und alle möglichen gerichtlichen und außergerichtlichen Rechtsbehelfe, die ihnen zur Verfügung stehen.“ Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitiger Beschluss 6 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits, wie sie sich aus dem angefochtenen Urteil ergibt, lässt sich wie folgt zusammenfassen. 7 Am 15. Juli 2013 legte der Bürgerausschuss für die Bürgerinitiative „Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe“ der Kommission den Vorschlag für eine Europäische Bürgerinitiative (im Folgenden: EBI) namens „Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe“ (im Folgenden: in Rede stehende geplante EBI) vor. 8 Mit dem Beschluss C(2013) 5969 final vom 13. September 2013 lehnte die Kommission die Registrierung der in Rede stehenden geplanten EBI mit der Begründung ab, dass diese offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem sie befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen. 9 Das vom Bürgerausschuss für die Bürgerinitiative „Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe“ angerufene Gericht erklärte mit Urteil vom 3. Februar 2017, Minority SafePack – one million signatures for diversity in Europe/Kommission (T‑646/13, EU:T:2017:59), den Beschluss C(2013) 5969 final wegen Verletzung der Begründungspflicht durch die Kommission für nichtig. 10 Am 29. März 2017 erließ die Kommission den streitigen Beschluss, mit dem die in Rede stehende geplante EBI registriert wurde. 11 Im zweiten Erwägungsgrund dieses Beschlusses wird der Gegenstand der in Rede stehenden geplanten EBI wie folgt dargelegt: „Wir rufen die [Union] dazu auf, den Schutz nationaler und sprachlicher Minderheiten zu verbessern und die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Union zu stärken.“ 12 Im dritten Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses sind die konkreten Ziele der in Rede stehenden geplanten EBI wie folgt genannt: „Wir rufen die EU dazu auf, Rechtsakte zur Verbesserung des Schutzes nationaler und sprachlicher Minderheiten und zur Stärkung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in der Union zu verabschieden. Dazu gehören politische Maßnahmen in den Bereichen Regional- und Minderheitensprachen, Bildung und Kultur, Regionalpolitik, Teilhabe, Gleichstellung, Inhalte audiovisueller und anderer Medien sowie regionale (staatliche) Unterstützung.“ 13 Im vierten Erwägungsgrund dieses Beschlusses wird darauf hingewiesen, dass im Anhang der in Rede stehenden geplanten EBI elf Rechtsakte der Union aufgeführt seien, für deren Erlass sie Kommissionsvorschläge begehre. 14 Aus den Erwägungsgründen 6 bis 9 des streitigen Beschlusses geht hervor, dass die Kommission die in Rede stehende geplante EBI in Bezug auf neun dieser Rechtsakte der Union mit der Begründung registrierte, dass die geplante EBI im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem die Kommission befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen. Was hingegen die beiden anderen Rechtsakte der Union betrifft, auf die in der in Rede stehenden geplanten EBI Bezug genommen wird, gelangte die Kommission zu dem Schluss, dass diese geplante EBI offenkundig außerhalb des Rahmens ihrer Befugnisse im Sinne dieser Bestimmung liege. 15 In Art. 1 Abs. 2 dieses Beschlusses werden neun Legislativvorschläge aufgeführt, auf die sich die in Rede stehende geplante EBI bezieht und zu denen Unterstützungsbekundungen gesammelt werden können. Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil 16 Mit Klageschrift, die am 28. Juni 2017 bei der Kanzlei des Gerichts einging, erhob Rumänien Klage auf Nichtigerklärung des streitigen Beschlusses. 17 Rumänien stützte seine Klage auf zwei Gründe, nämlich erstens auf einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 EUV und Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 und zweitens auf einen Verstoß gegen Art. 296 Abs. 2 AEUV. 18 Mit dem angefochtenen Urteil stellte das Gericht zum einen fest, dass der Kommission kein Rechtsfehler unterlaufen sei, als sie im Stadium der Registrierung angenommen habe, dass die in Art. 1 Abs. 2 des streitigen Beschlusses genannten Legislativvorschläge nicht offenkundig außerhalb des Rahmens lägen, in dem sie befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt vorzulegen, um die Verträge umzusetzen. Zum anderen stellte es fest, dass die Kommission im streitigen Beschluss rechtlich hinreichend die Gründe für die teilweise Registrierung der in Rede stehenden geplanten EBI dargelegt habe. 19 Folglich wies das Gericht die Klage als unbegründet ab, ohne über die Zulässigkeit der von Rumänien erhobenen Klage zu entscheiden. Anträge der Parteien 20 Rumänien beantragt, – das angefochtene Urteil aufzuheben und den streitigen Beschluss für nichtig zu erklären, – hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Gericht zurückzuverweisen, – der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 21 Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und Rumänien die Kosten aufzuerlegen. 22 Ungarn beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen. Zum Rechtsmittel 23 Rumänien stützt sein Rechtsmittel auf drei Gründe. Mit dem ersten Rechtsmittelgrund rügt es einen Verstoß gegen die Bestimmungen der Verträge betreffend die Zuständigkeiten der Union, mit dem zweiten einen Verstoß gegen Art. 296 Abs. 2 AEUV und mit dem dritten Verfahrensfehler des Gerichts im mündlichen Verfahren. Zum ersten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen die Bestimmungen der Verträge betreffend die Zuständigkeiten der Union Vorbringen der Parteien 24 Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund wirft Rumänien dem Gericht im Wesentlichen vor, Rechtsfehler bei der Auslegung der Bestimmungen der Verträge betreffend die Zuständigkeiten der Union begangen zu haben, indem es festgestellt habe, dass die Kommission keinen Rechtsfehler begangen habe, als sie angenommen habe, dass die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 aufgestellte Bedingung im vorliegenden Fall erfüllt sei. 25 Erstens wendet sich Rumänien gegen die Feststellung des Gerichts in Rn. 47 des angefochtenen Urteils, wonach die in Rede stehende geplante EBI sowohl die Achtung der Rechte nationaler und sprachlicher Minderheiten als auch die Stärkung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in der Union gewährleisten solle. Dieser Mitgliedstaat ist hingegen der Ansicht, dass das Hauptziel dieser geplanten EBI im Schutz der Rechte von Personen liege, die nationalen und sprachlichen Minderheiten angehörten, und dass die Union in dieser Hinsicht keine Zuständigkeit besitze. Er verweist insoweit auf die Rn. 59 bis 63 seiner Klageschrift. 26 Zweitens macht Rumänien geltend, das Gericht habe in den Rn. 51 bis 56 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen, indem es die in Art. 2 EUV genannten Werte der Union einer spezifischen Maßnahme bzw. einem Ziel gleichgestellt habe, die bzw. das in den Zuständigkeitsbereich der Union falle, mit der Folge, dass die Kommission befugt sei, spezifische Rechtsakte vorzulegen, deren Hauptziel der Schutz der Rechte der Personen, die nationalen und sprachlichen Minderheiten angehörten, sowie die Stärkung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in der Union sei. 27 Damit habe das Gericht zum einen gegen den in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und zum anderen gegen die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Grundsätze zur Bestimmung der geeigneten Rechtsgrundlage für den Erlass eines Rechtsakts der Union verstoßen. 28 Was erstens den Verstoß gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung anbelangt, legt Rumänien das komplexe System dar, das durch die Verträge für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union geschaffen worden sei, wie es sich aus Art. 5 Abs. 2 EUV und Art. 2 Abs. 6 AEUV ergebe. Nach diesem Grundsatz würde die Union nur dann handeln, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien, insbesondere die Voraussetzung, dass sich der betreffende Bereich in einen der in den Art. 3 bis 6 AEUV genannten Zuständigkeitsbereiche der Union und in den Rahmen der in den Verträgen für jeden dieser Bereiche festgelegten Ziele einfüge. 29 Es sei jedoch offensichtlich, dass die in Art. 2 EUV genannten Werte der Union nicht in den Kapiteln der Verträge betreffend die Zuständigkeiten der Union aufgeführt seien und bei der Bewertung der spezifischen Ziele und Maßnahmen der Union keine Rolle spielten. Nach Ansicht Rumäniens stellen diese Werte im Kontext von Vorschlägen für Rechtsakte der Union nur einen Bezugspunkt dar und dürften nicht mit den Zuständigkeitsbereichen oder den spezifischen Zielen der Union verwechselt werden. Diese Feststellung werde durch den Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 bestätigt, der bei der Bewertung, die die Kommission für die Registrierung geplanter EBI vorzunehmen habe, zwischen den Befugnissen und Zielen einerseits und den Werten andererseits unterscheide. 30 Daraus folge, dass das Gericht das im Primärrecht der Union vorgesehene System der begrenzten Einzelermächtigung missbraucht habe, indem es die Werte der Union allgemein spezifischen Zielen der Union gleichgestellt habe, so dass die Kommission befugt sei, Vorschläge für spezifische Rechtsakte vorzulegen, die das Handeln der Union ergänzen sollten, um die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte sicherzustellen. Nach Ansicht Rumäniens wäre es zu diesem Zweck jedoch zumindest erforderlich, dass die Vorschriften über die Ziele und die verschiedenen Maßnahmen der Union ausdrücklich die Werte der Union beträfen. Dies sei hier nicht der Fall, da die Achtung der Rechte der Personen, die Minderheiten angehörten, in keiner Bestimmung der Verträge betreffend die Zuständigkeiten, die Politiken, die Ziele und die Maßnahmen der Union erwähnt werde. 31 Die Analyse des Gerichts weite die Zuständigkeiten der Union de jure aus, indem sie Gegenstand und Ziel dieser Zuständigkeiten unter Verweis auf die Werte der Union ändere. 32 Außerdem verstoße diese Analyse gegen Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 in seiner Auslegung durch den Gerichtshof. Aus den Rn. 61 und 62 des Urteils vom 7. März 2019, Izsák und Dabis/Kommission (C‑420/16 P, EU:C:2019:177), ergebe sich nämlich, dass die Kommission sich darauf beschränken müsse, zur Beurteilung der Erfüllung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Bedingung für die Registrierung zu prüfen, ob aus objektiver Sicht die vorgeschlagenen, abstrakt beabsichtigten Maßnahmen auf der Grundlage der Verträge getroffen werden könnten. 33 Was zweitens einen Verstoß gegen die Grundsätze für die Bestimmung der geeigneten Rechtsgrundlage für den Erlass eines Unionsrechtsakts anbelangt, wie sie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben, macht Rumänien geltend, dass dieser Bestimmung verfassungsrechtliche Bedeutung zukomme. Insoweit müsse insbesondere ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Unionsrechtsakt und der Bestimmung der Verträge hergestellt werden, die die Union zum Erlass dieses Rechtsakts ermächtige. Ebenso müsse sich die Wahl der Rechtsgrundlage eines Unionsrechtsakts auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen, zu denen insbesondere der Zweck und der Inhalt des Rechtsakts gehörten. 34 So könne ein Vorschlag für einen Rechtsakt der Union, der die Achtung der Rechte nationaler und sprachlicher Minderheiten sowie die Stärkung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in der Union gewährleisten solle, nur auf der Grundlage einer Bestimmung der Verträge unterbreitet werden, die die Union ermächtige, in diesem Bereich und zu diesem Zweck in erster Linie tätig zu werden. An einer solchen Bestimmung fehle es jedoch. 35 Zum einen verfüge die Union über keinerlei Zuständigkeit, was die Rechte von Personen anbelange, die nationalen Minderheiten angehörten. 36 Zum anderen verfüge die Union nach Art. 167 Abs. 1 und 4 AEUV nur über unterstützende, koordinierende und ergänzende Zuständigkeiten in Bezug auf die Stärkung der kulturellen Vielfalt. Diese Vorschrift könne nicht als Grundlage für den Erlass eines Rechtsakts der Union dienen, dessen ausschließlicher oder hauptsächlicher Zweck die kulturelle Vielfalt sei. 37 Unter diesen Umständen habe das Gericht in Rn. 56 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen. 38 Rumänien kommt zu dem Schluss, dass die vom Gericht im angefochtenen Urteil geprüften Rechtsgrundlagen für das tatsächliche Ziel der in Rede stehenden geplanten EBI vollkommen irrelevant seien, so dass keine von ihnen in Anbetracht der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs eine zutreffende Rechtsgrundlage darstellen könne. 39 Drittens hält Rumänien es in Anbetracht des Rechtsfehlers, den das Gericht begangen habe, weder für erforderlich noch für relevant, die Erwägungen des Gerichts in den Rn. 60 bis 71 des angefochtenen Urteils getrennt für jeden der neun in Art. 1 Abs. 2 des streitigen Beschlusses genannten Legislativvorschläge zu prüfen. Allerdings macht Rumänien geltend, dass der Teil des angefochtenen Urteils, in dem diese Randnummern enthalten seien, mit Fehlern behaftet sei und führt „beispielhaft“ verschiedene Fehler an, die das Gericht insoweit begangen haben soll. 40 Rumänien macht in diesem Zusammenhang im Wesentlichen geltend, das Gericht habe, was die Maßnahmen betreffend Sprache, Bildung und Kultur, die Maßnahmen betreffend die Regionalpolitik sowie den Rechtsakt betreffend Staatenlose, die von den Organisatoren der EBI vorgeschlagen worden seien, anbelange, nicht alle von diesen Organisatoren bereitgestellten obligatorischen und zusätzlichen Informationen berücksichtigt. Ihre Berücksichtigung hätte das Gericht zu der Schlussfolgerung veranlassen müssen, dass diese Maßnahmen keine Grundlage in den Verträgen hätten. 41 Nach Ansicht der Kommission und Ungarns ist der erste Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen. Würdigung durch den Gerichtshof 42 Mit seinem ersten Rechtsmittelgrund wirft Rumänien dem Gericht im Wesentlichen vor, Rechtsfehler begangen zu haben, indem es in den Rn. 43 bis 72 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, dass die Kommission im streitigen Beschluss zu Recht habe davon ausgehen dürfen, dass die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 aufgestellte Bedingung im vorliegenden Fall erfüllt sei. 43 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 vorsieht, dass eine geplante EBI von der Kommission registriert wird, sofern sie „nicht offenkundig außerhalb des Rahmens [liegt], in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen“. 44 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs muss diese Bedingung für die Registrierung im Einklang mit den mit der EBI verfolgten Zielen, wie sie in den Erwägungsgründen 1 und 2 der Verordnung Nr. 211/2011 angeführt werden und die insbesondere darin bestehen, die Bürger zur Teilnahme zu ermutigen und die Union zugänglicher zu machen, von der Kommission, an die eine geplante EBI herangetragen wird, so ausgelegt und angewandt werden, dass eine leichte Zugänglichkeit der EBI sichergestellt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. September 2017, Anagnostakis/Kommission, C‑589/15 P, EU:C:2017:663, Rn. 49, und vom 7. März 2019, Izsák und Dabis/Kommission, C‑420/16 P, EU:C:2019:177, Rn. 53). 45 Demzufolge darf die Kommission die Registrierung einer geplanten EBI nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 nur dann ablehnen, wenn die geplante EBI in Anbetracht ihres Gegenstands und ihrer Ziele, wie sie aus den obligatorischen und gegebenenfalls den zusätzlichen Informationen hervorgehen, die von den Organisatoren gemäß Anhang II dieser Verordnung bereitgestellt worden sind, offenkundig außerhalb des Rahmens liegt, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen (Urteile vom 12. September 2017, Anagnostakis/Kommission, C‑589/15 P, EU:C:2017:663, Rn. 50, und vom 7. März 2019, Izsák und Dabis/Kommission, C‑420/16 P, EU:C:2019:177, Rn. 54). 46 Zudem geht aus der Rechtsprechung auch hervor, dass sich die Kommission zum Zweck der Beurteilung der Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 vorgesehenen Bedingung für die Registrierung auf die Prüfung zu beschränken hat, ob die mit einer geplanten EBI vorgeschlagenen, abstrakt beabsichtigten Maßnahmen aus objektiver Sicht auf der Grundlage der Verträge getroffen werden könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. März 2019, Izsák und Dabis/Kommission, C‑420/16 P, EU:C:2019:177, Rn. 62). 47 Daraus folgt, dass es, wenn nach einer ersten Prüfung anhand der obligatorischen und gegebenenfalls zusätzlichen Informationen, die von den Organisatoren einer EBI bereitgestellt werden, nicht erwiesen ist, dass eine geplante EBI offenkundig außerhalb des Rahmens dieser Befugnisse der Kommission liegt, diesem Organ obliegt, die geplante EBI vorbehaltlich der Erfüllung der übrigen in Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 211/2011 festgelegten Bedingungen zu registrieren. 48 Was erstens das Vorbringen Rumäniens betrifft, mit dem die Feststellung des Gerichts in Rn. 47 des angefochtenen Urteils beanstandet wird, ist darauf hinzuweisen, dass u. a. aus Art. 168 Abs. 1 Buchst. d und Art. 169 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs hervorgeht, dass ein Rechtsmittel die beanstandeten Teile der Entscheidung, deren Aufhebung beantragt wird, sowie die rechtlichen Argumente, die diesen Antrag speziell stützen, genau bezeichnen muss. Der Gerichtshof hat insoweit wiederholt entschieden, dass ein Rechtsmittel unzulässig ist, soweit es sich darauf beschränkt, die bereits vor dem Gericht dargelegten Klagegründe und Argumente einschließlich derjenigen, die auf ein ausdrücklich vom Gericht zurückgewiesenes Tatsachenvorbringen gestützt waren, zu wiederholen, ohne überhaupt eine Argumentation zu enthalten, die speziell der Bezeichnung des Rechtsfehlers dient, mit dem das Urteil des Gerichts behaftet sein soll. Ein solches Rechtsmittel zielt nämlich in Wirklichkeit nur auf eine erneute Prüfung der beim Gericht eingereichten Klage ab, was nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs im Rechtsmittelverfahren fällt (vgl. u. a. Urteil vom 15. Juni 2017, Spanien/Kommission, C‑279/16 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:461, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Folglich ist das Vorbringen Rumäniens zu Rn. 47 des angefochtenen Urteils als offensichtlich unzulässig zurückzuweisen, da Rumänien dieses Vorbringen in keiner Weise untermauert und lediglich auf seine beim Gericht eingereichte Klageschrift verweist. 50 Zweitens wirft Rumänien dem Gericht im Wesentlichen vor, es habe in den Rn. 51 bis 56 des angefochtenen Urteils die in Art. 2 EUV genannten Werte der Union einer spezifischen Maßnahme bzw. einem Ziel gleichgestellt, die bzw. das in die Zuständigkeitsbereiche der Union falle, und es der Kommission somit ermöglicht, Rechtsakte vorzulegen, deren Hauptziel der Schutz der Rechte der Personen, die nationalen und sprachlichen Minderheiten angehörten, sowie die Stärkung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in der Union sei. 51 Diese Randnummern des angefochtenen Urteils folgen auf die Darstellung der mit der in Rede stehenden geplanten EBI und mit den in ihrem Anhang aufgeführten Rechtsakten der Union verfolgten Ziele in den Rn. 47 und 50 dieses Urteils. 52 Insbesondere wies das Gericht in Rn. 51 des angefochtenen Urteils darauf hin, dass die Wahrung der Rechte der Minderheiten nach Art. 2 EUV einer der Werte sei, auf die sich die Union gründe, und dass die Union nach Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt wahre, und in Rn. 52 des angefochtenen Urteils darauf, dass, was vor allem die Stärkung der kulturellen Vielfalt anbelange, die Union nach Art. 167 Abs. 4 AEUV bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen der Verträge den kulturellen Aspekten, insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen, Rechnung trage. 53 In Rn. 53 des angefochtenen Urteils stellte das Gericht fest, dass daraus jedoch nicht folge, dass die Kommission der Union mit dem angefochtenen Beschluss eine allgemeine Gesetzgebungsbefugnis für den Schutz der Rechte der Angehörigen nationaler Minderheiten zugestanden habe, sondern lediglich, dass die Wahrung der Rechte der Minderheiten und die Stärkung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt als Werte und Ziele der Union bei deren Tätigkeiten in den von der in Rede stehenden geplanten EBI erfassten Bereichen zu berücksichtigen seien. 54 In den Rn. 54 bis 56 des angefochtenen Urteils stellte das Gericht weiter fest, dass Rumänien nicht in Abrede stelle, dass die Union in den konkreten Tätigkeitsbereichen, die von den in Art. 1 Abs. 2 des streitigen Beschlusses aufgeführten Rechtsakten erfasst seien, befugt sei, Rechtsakte zu erlassen, um die mit den einschlägigen Bestimmungen des AEU-Vertrags verfolgten Ziele zu erreichen. Es stellte fest, dass die Kommission daher grundsätzlich nicht daran gehindert sei, Legislativvorschläge vorzulegen, die die Tätigkeit der Union in ihren Zuständigkeitsbereichen ergänzen sollen, um die Wahrung der in Art. 2 EUV aufgeführten Werte und des in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV genannten Reichtums der kulturellen und sprachlichen Vielfalt in der Union sicherzustellen. 55 Damit hat das Gericht entgegen dem Vorbringen Rumäniens weder die Werte, auf die sich die Union gründet, den spezifischen Zielen der Union gleichgestellt, die es dieser ermöglichen, Rechtsakte zu erlassen, noch die Zuständigkeiten der Union so weit erweitert, dass angenommen werden könnte, dass die Union Rechtsakte ohne Rechtsgrundlage mit dem Ziel erlassen könnte, die Beachtung der Werte der Union sicherzustellen. Vielmehr hat das Gericht insoweit rechtsfehlerfrei entschieden, dass die Rechtsakte der Union, soweit sie wirksam auf eine Rechtsgrundlage gestützt seien, auch auf die Achtung der Werte der Union, wie die Wahrung der Rechte der Minderheiten sowie der kulturellen und sprachlichen Vielfalt, abzielen könnten. 56 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass diese erste Analyse in Anbetracht der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Prüfung der Rechtsgrundlage eines gegebenenfalls nach einer EBI auf Vorschlag der Kommission erlassenen Rechtsakts unberührt lässt. 57 Drittens ist festzustellen, dass, soweit Rumänien im Rahmen seines ersten Rechtsmittelgrundes allgemein geltend macht, dass die vom Gericht in den Rn. 60 bis 71 des angefochtenen Urteils vorgenommene Prüfung der neun in Art. 1 Abs. 2 des streitigen Beschlusses genannten Legislativvorschläge fehlerhaft sei, und sich dabei darauf beschränkt, beispielhaft bestimmte Beurteilungen des Gerichts zu beanstanden und Argumente, die es bereits vor dem Gericht vorgebracht hat, zu wiederholen, ein solches Vorbringen nicht den in Rn. 48 des vorliegenden Urteils genannten Zulässigkeitsanforderungen genügen kann, insbesondere, soweit damit in Wirklichkeit lediglich eine erneute Prüfung dieser Argumente erreicht werden soll. 58 Dieses Vorbringen ist daher als unzulässig zurückzuweisen. 59 Nach alledem ist der erste Rechtsmittelgrund als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen. Zum zweiten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen Art. 296 Abs. 2 AEUV Vorbringen der Parteien 60 Mit seinem zweiten Rechtsmittelgrund macht Rumänien im Wesentlichen geltend, das Gericht habe Art. 296 Abs. 2 AEUV in Bezug auf die Begründungspflicht der Kommission falsch ausgelegt. 61 Insoweit wirft es dem Gericht erstens vor, dass es davon ausgegangen sei, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts, wonach der Beachtung der Begründungspflicht in Fällen, in denen die Unionsorgane über ein weites Ermessen verfügten, eine umso größere Bedeutung zukomme, im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. 62 Das Gericht habe zu Unrecht angenommen, dass die Kommission bei der Registrierung einer geplanten EBI nicht über ein weites Ermessen verfüge. Jedenfalls aber dürfe die Kommission geplante EBI, die die Bedingungen des Art. 4 Abs. 2 Buchst. a bis d der Verordnung Nr. 211/2011 nicht erfüllten, nicht allein zu dem Zweck registrieren, eine leichte Zugänglichkeit der EBI sicherzustellen. Außerdem sei der Beschluss der Kommission über die Registrierung einer geplanten EBI ein endgültiger Beschluss, so dass sich die Kommission nicht auf eine rein formale Überprüfung der geplanten EBI beschränken dürfe. 63 Zweitens habe das Gericht in Rn. 88 des angefochtenen Urteils zu Unrecht angenommen, dass sich die Kommission darauf beschränken könne, allgemein die Bereiche darzulegen, in denen Rechtsakte der Union erlassen werden könnten, ohne darauf hinzuweisen, dass die Maßnahmen, auf die sich die in Rede stehende geplante EBI beziehe, darauf abzielten, den Schutz nationaler und sprachlicher Minderheiten zu verbessern und die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Union zu stärken. 64 Eine solche Begründung reiche jedoch nicht aus, um dem Betroffenen die Feststellung zu ermöglichen, ob der betreffende Beschluss begründet oder eventuell mit einem Mangel behaftet sei, der seine Anfechtung ermögliche. Die Unzulänglichkeit einer solchen Begründung sei im vorliegenden Fall besonders problematisch, da der streitige Beschluss erheblich von dem zuvor erlassenen Beschluss abweiche, nämlich dem in Rn. 8 des vorliegenden Urteils erwähnten Beschluss C(2013) 5969 final, und zwar auch in Bezug auf die Möglichkeit der teilweisen Registrierung der in Rede stehenden geplanten EBI. 65 Daraus folge, dass das Gericht zu Unrecht festgestellt habe, dass die Begründungspflicht beachtet worden sei, da die Kommission die rechtlichen Erwägungen, denen in der Systematik des streitigen Beschlusses eine wesentliche Bedeutung zukomme, nicht wiedergegeben und außerdem ihren Standpunkt grundlegend geändert habe, ohne die Entwicklungen näher darzulegen, die eine solche Änderung hätten rechtfertigen können. 66 Nach Ansicht der Kommission und Ungarns ist der zweite Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen. Würdigung durch den Gerichtshof 67 Nach ständiger Rechtsprechung zur Begründungspflicht nach Art. 296 AEUV muss die Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein und die Überlegungen des Organs, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann (Urteil vom 12. September 2017, Anagnostakis/Kommission, C‑589/15 P, EU:C:2017:663, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 68 Ebenfalls nach ständiger Rechtsprechung ist das Begründungserfordernis nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand seines Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteil vom 12. September 2017, Anagnostakis/Kommission, C‑589/15 P, EU:C:2017:663, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 69 Rumänien ist erstens der Ansicht, das Gericht habe den Umfang der Begründungspflicht der Kommission fehlerhaft bestimmt, indem es angenommen habe, dass die Kommission bei der Registrierung einer geplanten EBI nach Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 211/2011 nicht über ein weites Ermessen im Sinne der u. a. auf das Urteil vom 21. November 1991, Technische Universität München (C‑269/90, EU:C:1991:438, Rn. 14), zurückgehenden Rechtsprechung verfüge. 70 Insoweit stellte das Gericht in Rn. 84 des angefochtenen Urteils fest, dass die Kommission bei der Registrierung einer geplanten EBI nicht über ein weites Ermessen verfüge, da Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 211/2011 bestimme, dass die Kommission eine geplante EBI „registriert“, sofern die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a bis d der Verordnung festgelegten Bedingungen erfüllt seien, insbesondere wenn die geplante EBI nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem die Kommission befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen. Umgekehrt „verweigert“ die Kommission nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 211/2011 die Registrierung der EBI als Bürgerinitiative, wenn nach einer ersten Prüfung offenkundig ist, dass die letztgenannte Bedingung nicht erfüllt ist. 71 Damit hat das Gericht keinen Rechtsfehler begangen. Die Verwendung des Indikativ Präsens in Art. 4 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 211/2011 sowie die Aufzählung der Bedingungen für die Registrierung in Art. 4 Abs. 2 Buchst. a bis d zeigen nämlich, dass die Kommission in Bezug auf die Registrierung einer geplanten EBI nicht über ein weites Ermessen verfügt, sondern im Gegenteil verpflichtet ist, diese Registrierung vorzunehmen, wenn die geplante EBI sämtliche dieser Bedingungen erfüllt. 72 Da diese Erwägung für sich genommen geeignet ist, die Schlussfolgerung des Gerichts bezüglich des Fehlens eines weiten Ermessens der Kommission zu rechtfertigen, ist es nicht erforderlich, das in Rn. 62 des vorliegenden Urteils dargestellte Vorbringen Rumäniens zu prüfen, mit dem im Wesentlichen die in Rn. 85 des angefochtenen Urteils zur Stützung dieser Schlussfolgerung angeführte Begründung beanstandet wird. Selbst wenn dieses Vorbringen begründet wäre, könnte es nämlich nicht zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen. 73 Zweitens wirft Rumänien dem Gericht vor, in Rn. 88 des angefochtenen Urteils entschieden zu haben, dass es keinen Verstoß gegen die Begründungspflicht darstelle, wenn sich die Kommission „darauf beschränkt, allgemein“ die Bereiche „aufzuzählen“, in denen Rechtsakte der Union erlassen werden könnten. 74 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in dieser Randnummer des angefochtenen Urteils im Wesentlichen festgestellt hat, dass die Kommission ihrer Begründungspflicht dadurch nachgekommen sei, dass sie allgemein die Bereiche aufgeführt habe, in denen Rechtsakte der Union erlassen werden könnten und die den Bereichen entsprächen, in denen die Organisatoren der EBI die Vorlage von Legislativvorschlägen begehrt hätten. 75 Entgegen der Auffassung, die Rumänien zu vertreten scheint, lässt eine solche Begründung aber zum einen die Gründe erkennen, aus denen die Kommission der Ansicht ist, dass die in Rede stehende geplante EBI unter ihre Befugnisse fallen könne, gemäß deren sie einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorlegen könne. 76 Zum anderen obliegt es der Kommission im Stadium der Registrierung einer geplanten EBI weder, zu prüfen, ob der Nachweis für alle vorgebrachten tatsächlichen Gesichtspunkte erbracht ist, noch, zu prüfen, ob die Begründung der geplanten EBI und der vorgeschlagenen Maßnahmen ausreichend ist. Die Kommission hat sich zum Zweck der Beurteilung der Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 vorgesehenen Bedingung für die Registrierung auf die Prüfung zu beschränken, ob aus objektiver Sicht die vorgeschlagenen, abstrakt beabsichtigten Maßnahmen auf der Grundlage der Verträge getroffen werden könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. März 2019, Izsák und Dabis/Kommission, C‑420/16 P, EU:C:2019:177, Rn. 62). 77 Somit hat das Gericht rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Begründung des streitigen Beschlusses insoweit nicht unzureichend sei. 78 Außerdem ist im Hinblick auf die Anforderungen an die Begründung, die sich aus der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergeben, festzustellen, dass die Begründung des streitigen Beschlusses es Rumänien ganz offensichtlich ermöglicht hat, die Gründe zu erkennen, aus denen die Kommission der Ansicht war, dass die in Rede stehende geplante EBI und insbesondere die in Art. 1 Abs. 2 dieses Beschlusses genannten Legislativvorschläge nicht offensichtlich außerhalb ihrer Befugnisse lagen, und, wie aus dem angefochtenen Urteil hervorgeht, dem Unionsrichter offensichtlich die Ausübung der Kontrolle des genannten Beschlusses ermöglicht hat. 79 Nach alledem ist der zweite Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen. Zum dritten Rechtsmittelgrund: Verfahrensfehler des Gerichts im mündlichen Verfahren Vorbringen der Parteien 80 Mit seinem dritten Rechtsmittelgrund macht Rumänien geltend, das Gericht habe u. a. im mündlichen Verfahren mehrere Verfahrensfehler begangen. 81 Unter Hinweis auf den Ablauf des Verfahrens vor dem Gericht und insbesondere auf die mündliche Verhandlung, die auf Antrag Rumäniens vor dem Gericht stattfand, verweist dieser Mitgliedstaat u. a. auf punktuelle Fragen, die Gegenstand des Sitzungsberichts waren, sowie auf die prozessleitenden Maßnahmen, die das Gericht für erforderlich hielt. Rumänien weist auch darauf hin, dass die Erörterungen in der mündlichen Verhandlung, einschließlich der vom Gericht in dieser mündlichen Verhandlung unmittelbar gestellten Fragen, nur Aspekte der Klage im Zusammenhang mit deren Zulässigkeit und dem Stand des Verfahrens zur Sammlung, Überprüfung und Bescheinigung der Unterstützungsbekundungen oder der Vorlage der geplanten EBI an die Kommission betroffen hätten. 82 Nach Ansicht Rumäniens haben die Parteien folglich mit Ausnahme der Frage der Einschlägigkeit des Urteils vom 7. März 2019, Izsák und Dabis/Kommission (C‑420/16 P, EU:C:2019:177), die im schriftlichen und im mündlichen Verfahren erörtert worden sei, im mündlichen Verfahren zahlreiche Aspekte betreffend die Begründetheit der Klage, auf die sich das angefochtene Urteil stütze, nicht kontradiktorisch erörtert. Das mündliche Verfahren sollte nach Auffassung Rumäniens aber der Klärung und Erörterung der wesentlichen Punkte der Rechtssache für die Entscheidung dienen. Obwohl das Gericht im vorliegenden Fall beschlossen habe, das mündliche Verfahren zu eröffnen, habe es dieses Verfahren seines Inhalts beraubt, indem es die mit der Durchführung dieses Verfahrens verbundenen Verfahrensgarantien beseitigt habe. 83 Nach Ansicht der Kommission und Ungarns ist der dritte Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen. Würdigung durch den Gerichtshof 84 Mit seinem dritten Rechtsmittelgrund macht Rumänien im Wesentlichen geltend, dass die wesentlichen Punkte, auf die sich das angefochtene Urteil stütze, im mündlichen Verfahren nicht kontradiktorisch erörtert worden seien. 85 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens im Allgemeinen das Recht der Verfahrensbeteiligten umfasst, zu den Tatsachen und Schriftstücken Stellung nehmen zu können, auf die eine gerichtliche Entscheidung gestützt wird, und die dem Gericht vorgelegten Beweise und Erklärungen sowie die rechtlichen Gesichtspunkte zu erörtern, die das Gericht von Amts wegen berücksichtigt hat und auf die es seine Entscheidung gründen möchte. Für die Erfüllung der Anforderungen im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren kommt es nämlich darauf an, dass die Beteiligten sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Umstände, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind, kontradiktorisch erörtern können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, EU:C:2009:742, Rn. 52 und 56). 86 Im vorliegenden Fall steht fest, dass sich das Gericht mit dem angefochtenen Urteil ausschließlich zu den von Rumänien geltend gemachten Klagegründen äußerte, die die Parteien im schriftlichen und im mündlichen Verfahren vor dem Gericht kontradiktorisch erörtern konnten. Dem Gericht kann daher nicht vorgeworfen werden, dadurch gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verstoßen zu haben, dass es nicht zu jedem einzelnen der vorgebrachten Argumente spezifische Fragen stellte. 87 Zudem hat Rumänien keinen für den Ausgang des Verfahrens wesentlichen Gesichtspunkt genannt, von dem es nicht hätte Kenntnis nehmen können und zu dem es nicht entweder im Rahmen des schriftlichen Verfahrens oder im Rahmen des mündlichen Verfahrens vor dem Gericht hätte Stellung nehmen können. 88 Der dritte Klagegrund ist somit als unbegründet zurückzuweisen. 89 Da keiner der Gründe des Rechtsmittelführers durchgreift, ist das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen. Kosten 90 Nach Art. 184 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist. 91 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. 92 Da Rumänien mit seinen Rechtsmittelgründen unterlegen ist und die Kommission beantragt hat, es zur Tragung der Kosten zu verurteilen, sind ihm neben seinen eigenen Kosten die Kosten der Kommission aufzuerlegen. 93 Nach Art. 184 Abs. 4 der Verfahrensordnung können einer erstinstanzlichen Streithilfepartei, wenn sie das Rechtsmittel nicht selbst eingelegt hat, im Rechtsmittelverfahren Kosten nur dann auferlegt werden, wenn sie am schriftlichen oder mündlichen Verfahren vor dem Gerichtshof teilgenommen hat. Nimmt eine solche Partei am Verfahren teil, so kann der Gerichtshof ihr ihre eigenen Kosten auferlegen. 94 Da Ungarn am Verfahren vor dem Gerichtshof teilgenommen hat, sind ihm unter den Umständen des vorliegenden Falles seine eigenen Kosten aufzuerlegen. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen. 2. Rumänien trägt neben seinen eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission. 3. Ungarn trägt seine eigenen Kosten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 21. Dezember 2021.#Strafverfahren gegen PM u. a.#Vorabentscheidungsersuchen der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie und des Tribunalul Bihor.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption – Natur und Rechtswirkungen – Verbindlichkeit für Rumänien – Rechtsstaatlichkeit – Richterliche Unabhängigkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Korruptionsbekämpfung – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Art. 325 Abs. 1 AEUV – ‚PIF‘‑Übereinkommen – Strafverfahren – Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) über die Rechtmäßigkeit der Erhebung bestimmter Beweise und die Besetzung von Spruchkörpern im Bereich der schweren Korruption – Verpflichtung der nationalen Richter, den Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) volle Wirksamkeit zu verschaffen – Disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter im Fall der Nichtbeachtung dieser Entscheidungen – Befugnis, Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), die nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, unangewendet zu lassen – Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts.#Verbundene Rechtssachen C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19.
62019CJ0357
ECLI:EU:C:2021:1034
2021-12-21T00:00:00
Gerichtshof, Bobek
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0357 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 21. Dezember 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Entscheidung 2006/928/EG – Verfahren für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption – Natur und Rechtswirkungen – Verbindlichkeit für Rumänien – Rechtsstaatlichkeit – Richterliche Unabhängigkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Korruptionsbekämpfung – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Art. 325 Abs. 1 AEUV – ‚PIF‘‑Übereinkommen – Strafverfahren – Urteile der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) über die Rechtmäßigkeit der Erhebung bestimmter Beweise und die Besetzung von Spruchkörpern im Bereich der schweren Korruption – Verpflichtung der nationalen Richter, den Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) volle Wirksamkeit zu verschaffen – Disziplinarische Verantwortlichkeit der Richter im Fall der Nichtbeachtung dieser Entscheidungen – Befugnis, Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof), die nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, unangewendet zu lassen – Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts“ In den verbundenen Rechtssachen C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19 betreffend fünf Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) mit Entscheidungen vom 6. Mai 2019 (C‑357/19), 13. Mai 2019 (C‑547/19), 31. Oktober 2019 (C‑811/19) und 19. November 2019 (C‑840/19), beim Gerichtshof eingegangen am 6. Mai, 15. Juli, 4. November bzw. 19. November 2019, sowie vom Tribunalul Bihor (Landgericht Bihor, Rumänien) mit Entscheidung vom 14. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Mai 2019 (C‑379/19), in den Strafverfahren gegen PM (C 357/19), RO (C 357/19), SP (C 357/19), TQ (C‑357/19), KI (C‑379/19), LJ (C‑379/19), JH (C‑379/19), IG (C‑379/19), FQ (C‑811/19), GP (C‑811/19), HO (C‑811/19), IN (C‑811/19), NC (C‑840/19), Beteiligte: Ministerul Public – Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție – Direcţia Naţională Anticorupţie (C‑357/19, C‑811/19 und C‑840/19), QN (C‑357/19), UR (C‑357/19), VS (C‑357/19), WT (C‑357/19), Autoritatea Naţională pentru Turism (C‑357/19), Agenţia Naţională de Administrare Fiscală (C‑357/19), SC Euro Box Promotion SRL (C‑357/19), Direcţia Naţională Anticorupţie – Serviciul Teritorial Oradea (C‑379/19), JM (C‑811/19), und im Verfahren CY, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ gegen Inspecţia Judiciară, Consiliul Superior al Magistraturii, Înalta Curte de Casație și Justiție (C‑547/19) erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, des Kammerpräsidenten S. Rodin sowie der Richter M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter), M. Safjan, F. Biltgen und N. Piçarra, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von PM, vertreten durch V. Rădulescu und V. Tobă, avocați, – von RO, vertreten durch O. Ţopa und R. Chiriţă, avocați, – von TQ, vertreten durch M. Mareş, avocat, – von KI und LJ, vertreten durch R. Chiriță, F. Mircea und O. Chiriță, avocați, – von CY, vertreten durch P. Rusu, avocat, und durch C. Bogdan, – der Asociația „Forumul Judecătorilor din România“, vertreten durch D. Călin und L. Zaharia, – von FQ, vertreten durch A. Georgescu, avocat, – von NC, vertreten durch D. Lupaşcu und G. Thuan Dit Dieudonné, avocats, – des Ministerul Public – Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție – Direcţia Naţională Anticorupţie, vertreten durch C. Nistor und D. Ana als Bevollmächtigte, – der Direcția Națională Anticorupție – Serviciul Teritorial Oradea, vertreten durch D. Ana als Bevollmächtigte, – der Inspecția Judiciară, vertreten durch L. Netejoru als Bevollmächtigten, – des Consiliul Superior al Magistraturii, vertreten durch L. Savonea als Bevollmächtigte, – der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch C.‑R. Canţăr, S.‑A. Purza, E. Gane, R. I. Haţieganu und L. Liţu, dann durch S.‑A. Purza, E. Gane, R. I. Haţieganu und L. Liţu als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch J. Baquero Cruz, I. Rogalski, P. Van Nuffel, M. Wasmeier und H. Krämer, dann durch J. Baquero Cruz, I. Rogalski, P. Van Nuffel und M. Wasmeier als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. März 2021 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen im Wesentlichen die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, von Art. 325 Abs. 1 AEUV, von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 des am 26. Juli 1995 in Brüssel unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, Anhang zum Rechtsakt des Rates vom 26. Juli 1995 (ABl. 1995, C 316, S. 48, im Folgenden: PIF‑Übereinkommen), der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56) sowie des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts. 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen – von Strafverfahren gegen PM, RO, TQ und SP (C‑357/19), KI, LJ, JH und IG (C‑379/19), FQ, GP, HO und IN (C‑811/19) sowie NC (C‑840/19) wegen Straftaten u. a. der Bestechung und des Mehrwertsteuerbetrugs; – eines Rechtsstreits zwischen CY und der Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ (im Folgenden: Forum der Richter Rumäniens) auf der einen und der Inspecţia Judiciară (Justizinspektion, Rumänien), dem Consiliul Superior al Magistraturii (Oberster Richterrat, Rumänien) und der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien, im Folgenden: Oberster Kassations- und Gerichtshof) auf der anderen Seite wegen der Verhängung einer Disziplinarsanktion gegen CY (C‑547/19). Rechtlicher Rahmen Unionsrecht PIF‑Übereinkommen 3 In Art. 1 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens heißt es: „Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften a) im Zusammenhang mit Ausgaben jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend – die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, unrechtmäßig erlangt oder zurückbehalten werden; – das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge; – die missbräuchliche Verwendung solcher Mittel zu anderen Zwecken als denen, für die sie ursprünglich gewährt worden sind; b) im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend – die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden; …“ 4 Art. 2 Abs. 1 dieses Übereinkommens bestimmt: „Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligung an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50000 [Euro] nicht überschreiten.“ 5 Mit Rechtsakt vom 27. September 1996 schloss der Rat die Ausarbeitung des Protokolls zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1996, C 313, S. 1) ab. Dieses Protokoll erfasst nach seinen Art. 2 und 3 Bestechlichkeits- und Bestechungstaten. Beitrittsvertrag 6 Art. 2 Abs. 2 und 3 des am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Vertrags zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der Republik Bulgarien und Rumänien über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Europäischen Union (ABl. 2005, L 157, S. 11, im Folgenden: Beitrittsvertrag) bestimmt: „(2)   Die Aufnahmebedingungen und die aufgrund der Aufnahme erforderlichen Anpassungen der Verträge, auf denen die Union beruht, sind in der diesem Vertag beigefügten Akte festgelegt; sie gelten ab dem Tag des Beitritts bis zum Tag des Inkrafttretens des Vertrags über eine Verfassung für Europa. Die Bestimmungen der Akte sind Bestandteil dieses Vertrags. (3)   … Rechtsakte, die vor dem Inkrafttreten des in Artikel 1 Absatz 3 genannten Protokolls auf der Grundlage dieses Vertrags oder der in Absatz 2 genannten Akte erlassen wurden, bleiben in Kraft; ihre Rechtswirkungen bleiben erhalten, bis diese Rechtsakte geändert oder aufgehoben werden.“ Beitrittsakte 7 Art. 2 der am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Bulgarien und Rumäniens und die Anpassungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht (ABl. 2005, L 157, S. 203, im Folgenden: Beitrittsakte), sieht vor: „Ab dem Tag des Beitritts sind die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank für Bulgarien und Rumänien verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte.“ 8 Art. 37 der Beitrittsakte lautet: „Hat Bulgarien oder Rumänien seine im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine ernste Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorgerufen, einschließlich der Verpflichtungen in allen sektorbezogenen Politiken, die wirtschaftliche Tätigkeiten mit grenzüberschreitender Wirkung betreffen, oder besteht die unmittelbare Gefahr einer solchen Beeinträchtigung, so kann die Kommission für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt auf begründeten Antrag eines Mitgliedstaats oder auf eigene Initiative geeignete Maßnahmen erlassen. Diese Maßnahmen müssen verhältnismäßig sein, wobei vorrangig Maßnahmen, die das Funktionieren des Binnenmarkts am wenigsten stören, zu wählen und gegebenenfalls bestehende sektorale Schutzmechanismen anzuwenden sind. Solche Schutzmaßnahmen dürfen nicht als willkürliche Diskriminierung oder als versteckte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten angewandt werden. Die Schutzklausel kann schon vor dem Beitritt aufgrund der Ergebnisse der Überwachung geltend gemacht werden, und die Maßnahmen treten am ersten Tag der Mitgliedschaft in Kraft, sofern nicht ein späterer Zeitpunkt vorgesehen ist. Die Maßnahmen werden nicht länger als unbedingt nötig aufrechterhalten und werden auf jeden Fall aufgehoben, sobald die einschlägige Verpflichtung erfüllt ist. Sie können jedoch über den in Absatz 1 genannten Zeitraum hinaus angewandt werden, solange die einschlägigen Verpflichtungen nicht erfüllt sind. Aufgrund von Fortschritten der betreffenden neuen Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen kann die Kommission die Maßnahmen in geeigneter Weise anpassen. Die Kommission unterrichtet den Rat rechtzeitig, bevor sie die Schutzmaßnahmen aufhebt, und trägt allen Bemerkungen des Rates in dieser Hinsicht gebührend Rechnung.“ 9 Art. 38 der Beitrittsakte bestimmt: „Treten bei der Umsetzung, der Durchführung oder der Anwendung von Rahmenbeschlüssen oder anderen einschlägigen Verpflichtungen, Instrumenten der Zusammenarbeit oder Beschlüssen in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung im Bereich des Strafrechts im Rahmen des Titels VI des EU-Vertrags und von Richtlinien und Verordnungen in Bezug auf die gegenseitige Anerkennung im Bereich des Zivilrechts im Rahmen des Titels IV des EG-Vertrags in Bulgarien oder Rumänien ernste Mängel auf oder besteht die Gefahr ernster Mängel, so kann die Kommission für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt auf begründeten Antrag eines Mitgliedstaats oder auf eigene Initiative und nach Konsultation der Mitgliedstaaten angemessene Maßnahmen treffen und die Bedingungen und Einzelheiten ihrer Anwendung festlegen. Diese Maßnahmen können in Form einer vorübergehenden Aussetzung der Anwendung einschlägiger Bestimmungen und Beschlüsse in den Beziehungen zwischen Bulgarien oder Rumänien und einem oder mehreren anderen Mitgliedstaat(en) erfolgen; die Fortsetzung einer engen justiziellen Zusammenarbeit bleibt hiervon unberührt. Die Schutzklausel kann schon vor dem Beitritt aufgrund der Ergebnisse der Überwachung geltend gemacht werden und die Maßnahmen treten am ersten Tag der Mitgliedschaft in Kraft, sofern nicht ein späterer Zeitpunkt vorgesehen ist. Die Maßnahmen werden nicht länger als unbedingt nötig aufrechterhalten und werden auf jeden Fall aufgehoben, sobald die Mängel beseitigt sind. Sie können jedoch über den in Absatz 1 genannten Zeitraum hinaus angewandt werden, solange die Mängel weiter bestehen. Aufgrund von Fortschritten des betreffenden neuen Mitgliedstaats bei der Beseitigung der festgestellten Mängel kann die Kommission die Maßnahmen nach Konsultation der Mitgliedstaaten in geeigneter Weise anpassen. Die Kommission unterrichtet den Rat rechtzeitig, bevor sie die Schutzmaßnahmen aufhebt, und trägt allen Bemerkungen des Rates in dieser Hinsicht gebührend Rechnung.“ 10 Art. 39 Abs. 1 bis 3 der Beitrittsakte sieht vor: „(1)   Falls auf der Grundlage der von der Kommission sichergestellten kontinuierlichen Überwachung der Verpflichtungen, die Bulgarien und Rumänien im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangen sind, und insbesondere auf der Grundlage der Überwachungsberichte der Kommission eindeutig nachgewiesen ist, dass sich die Vorbereitungen im Hinblick auf die Übernahme und Umsetzung des Besitzstands in Bulgarien oder Rumänien auf einem Stand befinden, der die ernste Gefahr mit sich bringt, dass einer dieser Staaten in einigen wichtigen Bereichen offenbar nicht in der Lage ist, die Anforderungen der Mitgliedschaft bis zum Beitrittstermin 1. Januar 2007 zu erfüllen, so kann der Rat auf Empfehlung der Kommission einstimmig beschließen, den Zeitpunkt des Beitritts des betreffenden Staates um ein Jahr auf den 1. Januar 2008 zu verschieben. (2)   Werden bei der Erfüllung einer oder mehrerer der in Anhang IX Nummer I aufgeführten Verpflichtungen und Anforderungen durch Rumänien ernste Mängel festgestellt, so kann der Rat ungeachtet des Absatzes 1 mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission in Bezug auf Rumänien einen Beschluss gemäß Absatz 1 fassen. (3)   Ungeachtet des Absatzes 1 und unbeschadet des Artikels 37 kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission nach einer im Herbst 2005 vorzunehmenden eingehenden Bewertung der Fortschritte Rumäniens auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik den in Absatz 1 genannten Beschluss in Bezug auf Rumänien fassen, wenn bei der Erfüllung der Verpflichtungen im Rahmen des Europa-Abkommens oder bei der Erfüllung einer oder mehrerer der in Anhang IX Nummer II aufgeführten Verpflichtungen und Anforderungen durch Rumänien ernste Mängel festgestellt werden.“ 11 Anhang IX („Besondere Verpflichtungen und Anforderungen, die Rumänien beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen am 14. Dezember 2004 übernommen bzw. akzeptiert hat [gemäß Artikel 39 der Beitrittsakte]“) der Beitrittsakte enthält in Abschnitt I folgende Passage: „In Bezug auf Artikel 39 Absatz 2 … 4. Wesentlich verschärftes Vorgehen gegen Korruption und insbesondere gegen Korruption auf hoher Ebene, indem die Korruptionsbekämpfungsgesetze rigoros durchgesetzt werden und die effektive Unabhängigkeit der Landesstaatsanwaltschaft für die Bekämpfung der Korruption (Parchet[u]l Na[ț]ional Anticorup[ț]ie [PNA]) sichergestellt wird und indem ab November 2005 einmal jährlich ein überzeugender Bericht über die Tätigkeit der PNA im Bereich der Bekämpfung der Korruption auf hoher Ebene vorgelegt wird. Die PNA muss mit allen personellen und finanziellen Mitteln sowie allen Schulungsmöglichkeiten und technischen Mitteln ausgestattet werden, die für die Wahrnehmung ihrer unerlässlichen Aufgabe erforderlich sind. 5. … [I]n die [nationale] Strategie [zur Korruptionsbekämpfung] muss die Verpflichtung aufgenommen werden, die schwerfällige Strafprozessordnung bis Ende 2005 zu überarbeiten, um sicherzustellen, dass Korruptionsfälle rasch und auf transparente Weise bearbeitet und angemessene Sanktionen mit abschreckender Wirkung vorgesehen werden; … …“ Entscheidung 2006/928 12 Die Entscheidung 2006/928 wurde im Zusammenhang mit dem für den 1. Januar 2007 vorgesehenen Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union u. a. auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erlassen. Die Erwägungsgründe 1 bis 6 und 9 dieser Entscheidung lauten: „(1) Die Europäische Union gründet auf dem Rechtsstaatsprinzip, das allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist. (2) Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und der Binnenmarkt, die mit dem Vertrag über die Europäische Union bzw. dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geschaffen wurden, beruhen auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass die Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen und die Verwaltungs- und Gerichtspraxis aller Mitgliedstaaten in jeder Hinsicht mit dem Rechtsstaatsprinzip im Einklang stehen. (3) Dies bedeutet, dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches, unabhängiges und effizientes Justiz- und Verwaltungssystem verfügen müssen, das ausreichend dafür ausgestattet ist, unter anderem Korruption zu bekämpfen. (4) Am 1. Januar 2007 tritt Rumänien der Europäischen Union bei. Die Kommission nimmt zur Kenntnis, dass Rumänien erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die Vorbereitungen auf die Mitgliedschaft zum Abschluss zu bringen, hat jedoch in ihrem Bericht vom 26. September 2006 noch unerledigte Fragen insbesondere im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden ermittelt, bei denen es weiterer Fortschritte bedarf, um zu gewährleisten, dass sie die Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarkts und des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts umsetzen und anwenden können. (5) Nach Artikel 37 der Beitrittsakte kann die Kommission geeignete Maßnahmen erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass Rumänien die eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorruft. Nach Artikel 38 der Beitrittsakte kann die Kommission geeignete Maßnahmen erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass in Rumänien ernste Mängel bei der Umsetzung, der Durchführung oder der Anwendung von Rechtsakten auftreten, die auf der Grundlage des Titels VI des EU-Vertrags oder des Titels IV des EG-Vertrags erlassen wurden. (6) Die noch unerledigten Fragen im Zusammenhang mit Rechenschaftspflicht und Effizienz der Justiz und der Vollzugsbehörden erfordern die Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Bekämpfung der Korruption. … (9) Diese Entscheidung ist zu ändern, wenn die Bewertung durch die Kommission ergibt, dass die Vorgaben angepasst werden müssen. Diese Entscheidung ist aufzuheben, wenn alle Vorgaben zufriedenstellend erfüllt sind“. 13 Art. 1 der Entscheidung 2006/928 sieht vor: „Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben. Die Kommission kann jederzeit mit verschiedenen Maßnahmen technische Hilfe leisten oder Informationen zu den Vorgaben sammeln und austauschen. Ferner kann die Kommission zu diesem Zweck jederzeit Fachleute nach Rumänien entsenden. Die rumänischen Behörden leisten in diesem Zusammenhang die erforderliche Unterstützung.“ 14 Art. 2 dieser Entscheidung bestimmt: „Die Kommission übermittelt dem Europäischen Parlament und dem Rat ihre Stellungnahme und ihre Feststellungen zum Bericht Rumäniens zum ersten Mal im Juni 2007. Danach erstattet die Kommission nach Bedarf, mindestens jedoch alle sechs Monate erneut Bericht.“ 15 Art. 4 der Entscheidung lautet: „Diese Entscheidung ist an alle Mitgliedstaaten gerichtet.“ 16 Der Anhang dieser Entscheidung hat folgenden Wortlaut: „Vorgaben für Rumänien nach Artikel 1: 1. Gewährleistung transparenterer und leistungsfähigerer Gerichtsverfahren durch Stärkung der Kapazitäten und Rechenschaftspflicht des Obersten Richterrats, Berichterstattung und Kontrolle der Auswirkungen neuer Zivil- und Strafprozessordnungen, 2. Einrichtung einer Behörde für Integrität mit folgenden Zuständigkeiten: Überprüfung von Vermögensverhältnissen, Unvereinbarkeiten und möglichen Interessenskonflikten und Verabschiedung verbindlicher Beschlüsse als Grundlage für abschreckende Sanktionen, 3. Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene, 4. Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen.“ Rumänisches Recht Verfassung Rumäniens 17 Titel III („Träger staatlicher Gewalt“) der Constituția României (Verfassung Rumäniens) umfasst u. a. ein Kapitel VI („Rechtsprechende Gewalt“), das Art. 126 enthält. Dieser Artikel bestimmt: „(1)   Die Rechtsprechung erfolgt durch den Obersten Kassations- und Gerichtshof sowie durch die übrigen durch Gesetz errichteten Gerichte. … (3)   Der Oberste Kassations- und Gerichtshof gewährleistet entsprechend seiner Zuständigkeit die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gesetzes durch die übrigen Gerichte. (4)   Die Besetzung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs und die Regeln für seine Arbeitsweise werden durch ein Organgesetz festgelegt. … (6)   Die gerichtliche Kontrolle von Verwaltungshandlungen der Träger staatlicher Gewalt im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wird gewährleistet; ausgenommen hiervon sind Handlungen, die die Beziehungen zum Parlament betreffen, und militärische Befehle. Die Verwaltungsgerichte sind für die Entscheidung über Rechtsbehelfe zuständig, die von Personen eingelegt werden, die durch für verfassungswidrig erklärte Verordnungen oder gegebenenfalls durch Bestimmungen solcher Verordnungen geschädigt worden sind.“ 18 Der die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof, Rumänien) (im Folgenden: Verfassungsgerichtshof) betreffende Titel V der Verfassung Rumäniens umfasst die Art. 142 bis 147. Art. 142 („Struktur“) Abs. 1 bis 3 der Verfassung bestimmt: „(1)   Der Verfassungsgerichtshof ist der Garant für den Vorrang der Verfassung. (2)   Der Verfassungsgerichtshof ist mit neun Richtern besetzt, die für eine Amtszeit von neun Jahren ernannt werden, die nicht verlängert oder erneuert werden kann. (3)   Drei Richter werden von der Camera Deputaților [(Abgeordnetenkammer)], drei vom Senatul [(Senat)] und drei vom Preşedintele României [(Präsident Rumäniens)] ernannt.“ 19 Art. 143 der Verfassung Rumäniens lautet: „Die Richter des Verfassungsgerichtshofs müssen über hervorragende juristische Qualifikationen, ein hohes Maß an fachlicher Kompetenz und mindestens 18 Jahre Erfahrung im juristischen Beruf oder in der juristischen Hochschulausbildung verfügen.“ 20 Art. 144 der Verfassung Rumäniens bestimmt: „Das Amt eines Richters am Verfassungsgerichtshof ist mit allen anderen öffentlichen oder privaten Aufgaben, ausgenommen eine Lehrtätigkeit in der juristischen Hochschulausbildung, unvereinbar.“ 21 Art. 145 der Verfassung Rumäniens lautet: „Die Richter des Verfassungsgerichtshofs sind in der Ausübung ihres Amtes unabhängig und während der gesamten Amtszeit unabsetzbar.“ 22 Art. 146 der Verfassung Rumäniens sieht vor: „Der Verfassungsgerichtshof hat die folgenden Aufgaben: … d) er entscheidet über die bei den Gerichten oder bei der Handelsschiedsgerichtsbarkeit erhobenen Einreden der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und Verordnungen; die Einrede der Verfassungswidrigkeit kann unmittelbar vom Avocatul Poporului [(Volksanwalt)] erhoben werden; e) er entscheidet über verfassungsrechtliche Konflikte zwischen Trägern staatlicher Gewalt auf Antrag des Präsidenten Rumäniens, eines der Präsidenten der beiden Kammern, des Prim-ministrul [(Ministerpräsident)] oder des Präsidenten des Obersten Richterrats; …“ 23 Art. 147 Abs. 4 der Verfassung Rumäniens bestimmt: „Die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs werden im Monitorul Oficial al României [(Amtsblatt Rumäniens)] veröffentlicht. Sie sind ab dem Tag der Veröffentlichung allgemein verbindlich und entfalten Rechtswirkung nur für die Zukunft.“ 24 Art. 148 Abs. 2 und 4 der Verfassung Rumäniens bestimmt: „(2)   Die Vorschriften der Gründungsverträge der Europäischen Union sowie die anderen zwingenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts gehen entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts nach Maßgabe der Beitrittsakte vor. (3)   Die Bestimmungen der Abs. 1 und 2 gelten entsprechend für den Beitritt zu den Änderungsakten der Gründungsverträge der Europäischen Union. (4)   Das Parlament, der Präsident Rumäniens, die Regierung und die rechtsprechende Gewalt gewährleisten die Erfüllung der sich aus der Beitrittsakte und den Bestimmungen in Abs. 2 ergebenden Pflichten.“ Strafgesetzbuch 25 Art. 154 Abs. 1 des Codul penal (Strafgesetzbuch) sieht vor: „Die Fristen für die Verjährung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit betragen: a) 15 Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe von mehr als 20 Jahren bedroht ist; b) zehn Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren und höchstens 20 Jahren bedroht ist; c) acht Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren und höchstens zehn Jahren bedroht ist; d) fünf Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr und höchstens fünf Jahren bedroht ist; e) drei Jahre, wenn die begangene Straftat nach dem Gesetz mit Freiheitsstrafe von weniger als einem Jahr oder mit Geldstrafe bedroht ist.“ 26 Art. 155 Abs. 4 des Strafgesetzbuchs sieht vor: „Werden die in Art. 154 vorgesehenen Verjährungsfristen einmal überschritten, so gelten sie unabhängig von der Anzahl der Unterbrechungen als vollendet.“ Strafprozessordnung 27 Art. 40 Abs. 1 des Codul de procedură penală (Strafprozessordnung) bestimmt: „Der Oberste Kassations- und Gerichtshof entscheidet in erster Instanz über Straftaten des Hochverrats sowie über Straftaten, die begangen werden von Senatoren, Abgeordneten und rumänischen Mitgliedern des Europäischen Parlaments, Regierungsmitgliedern, Richtern des Verfassungsgerichtshofs, Mitgliedern des Obersten Richterrats, Richtern des Obersten Kassations- und Gerichtshofs sowie Staatsanwälten des Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție [(Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof)].“ 28 Art. 142 Abs. 1 der Strafprozessordnung in der vor dem 14. März 2016 geltenden Fassung lautete: „Der Staatsanwalt führt die technische Überwachung durch oder kann anordnen, dass sie von der Strafverfolgungsbehörde oder von spezialisierten Polizeibeamten oder von anderen spezialisierten Organen des Staates durchgeführt wird.“ 29 In Art. 281 Abs. 1 der Strafprozessordnung heißt es: „Verstöße gegen Rechtsvorschriften haben stets die Nichtigkeit zur Folge, wenn sie betreffen: … b) die sachliche und persönliche Zuständigkeit von Gerichten, wenn das Urteil von einem dem gesetzlich zuständigen Gericht nachgeordneten Gericht erlassen wurde; …“ 30 Art. 342 der Strafprozessordnung lautet: „Gegenstand des Verfahrens vor der Vorverfahrenskammer ist die Prüfung – nach Vorlage an ein Gericht – der Zuständigkeit und Rechtmäßigkeit der Anrufung des Gerichts sowie die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Beweiserhebung und der Vornahme der Handlungen durch die Strafverfolgungsorgane.“ 31 Art. 426 Abs. 1 der Strafprozessordnung bestimmt: „Gegen rechtskräftige Entscheidungen in Strafverfahren kann in folgenden Fällen eine Nichtigkeitsklage erhoben werden: … d) wenn das Berufungsgericht nicht dem Gesetz entsprechend besetzt war oder ein Fall von Unvereinbarkeit vorlag; …“ 32 Art. 428 Abs. 1 der Strafprozessordnung sieht vor: „Eine Nichtigkeitsklage aus den in Art. 426 Buchst. a und c bis h genannten Gründen kann innerhalb von 30 Tagen nach Zustellung der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts erhoben werden.“ Gesetz Nr. 47/1992 33 Art. 3 der Legea nr. 47/1992 privind organizarea și funcționarea Curții Constituționale (Gesetz Nr. 47/1992 über die Organisation und die Arbeitsweise des Verfassungsgerichtshofs) vom 18. Mai 1992 (neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 807 vom 3. Dezember 2010) sieht vor: „(1)   Die Zuständigkeiten des Verfassungsgerichtshofs sind die in der Verfassung und in diesem Gesetz festgelegten. (2)   Bei der Ausübung der ihm übertragenen Befugnisse ist allein der Verfassungsgerichtshof berechtigt, über seine Zuständigkeit zu entscheiden. (3)   Die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofs nach Abs. 2 kann von keinem Träger staatlicher Gewalt angefochten werden.“ 34 In Art. 34 Abs. 1 dieses Gesetzes heißt es: „Der Verfassungsgerichtshof entscheidet über verfassungsrechtliche Konflikte zwischen Trägern staatlicher Gewalt auf Antrag des Präsidenten Rumäniens, eines der Präsidenten der beiden Kammern, des Ministerpräsidenten oder des Präsidenten des Obersten Richterrats.“ Gesetz Nr. 78/2000 35 Art. 5 Abs. 1 der Legea nr. 78/2000 pentru prevenirea, descoperirea și sancționarea faptelor de corupție (Gesetz Nr. 78/2000 über die Prävention, Ermittlung und Sanktionierung von Korruptionsdelikten) vom 18. Mai 2000 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 219 vom 18. Mai 2000) bestimmt: „Im Sinne dieses Gesetzes sind die in den Art. 289 bis 292 des Strafgesetzbuchs aufgeführten Straftaten Korruptionsdelikte, und zwar auch dann, wenn sie von den in Art. 308 des Strafgesetzbuchs genannten Personen begangen werden.“ 36 Die in Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 78/2000 genannten Artikel des Strafgesetzbuchs betreffen die Straftatbestände der Bestechlichkeit (Art. 289), der Bestechung (Art. 290), der Einflussnahme (Art. 291) bzw. des Erkaufens von Einflussnahme (Art. 292). 37 Art. 29 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 78/2000 sieht vor: „Für die Entscheidung in erster Instanz über die in diesem Gesetz vorgesehenen Straftaten werden spezialisierte Spruchkörper eingerichtet.“ Gesetz Nr. 303/2004 38 Art. 99 der Legea nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor şi procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über den Status von Richtern und Staatsanwälten) vom 28. Juni 2004 (neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 826 vom 13. September 2005) in der durch die Legea nr. 24/2012 (Gesetz Nr. 24/2012) vom 17. Januar 2012 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 51 vom 23. Januar 2012) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 303/2004) sieht vor: „Disziplinarvergehen sind: … o) die Nichtbeachtung der Vorschriften über die Zuteilung der Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip; … ș) die Nichtbeachtung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs …; …“ 39 Art. 100 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor: „Disziplinarsanktionen, die je nach Schwere des Verstoßes gegen Richter und Staatsanwälte verhängt werden können, sind: … e) der Ausschluss aus der Richter- und Staatsanwälteschaft.“ 40 Art. 101 des Gesetzes bestimmt: „Die in Art. 100 vorgesehenen Disziplinarsanktionen werden von den Abteilungen des Obersten Richterrats nach Maßgabe seines Organgesetzes verhängt.“ Gesetz Nr. 304/2004 41 Die Legea nr. 304/2004 privind organizarea judiciară (Gesetz Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens) vom 28. Juni 2004 (neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 827 vom 13. September 2005) wurde u. a. geändert durch – die Legea nr. 202/2010 privind unele măsuri pentru accelerarea soluționării proceselor (Gesetz Nr. 202/2010 über Maßnahmen zur Beschleunigung der Entscheidung von Gerichtsverfahren) vom 25. Oktober 2010 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 714 vom 26. Oktober 2010); – die Legea nr. 255/2013 pentru punerea în aplicare a Legii nr. 135/2010 privind Codul de procedură penală și pentru modificarea și completarea unor acte normative care cuprind dispoziții procesual penale (Gesetz Nr. 255/2013 zur Durchführung des Gesetzes Nr. 135/2010 über die Strafprozessordnung und zur Änderung und Vervollständigung bestimmter Rechtsakte mit strafverfahrensrechtlichen Regelungen) vom 19. Juli 2013 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 515 vom 14. August 2013); – die Legea nr. 207/2018 pentru modificarea și completarea Legii nr. 304/2004 privind organizarea judiciară (Gesetz Nr. 207/2018 zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes Nr. 304/2004 über die Organisation des Justizwesens) vom 20. Juli 2018 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 636 vom 20. Juli 2018). 42 Art. 19 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der zuletzt durch das Gesetz Nr. 207/2018 geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 304/2004 in geänderter Fassung) bestimmt: „Zu Beginn jedes Jahres kann das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs auf Vorschlag von dessen Präsidenten oder Vizepräsidenten nach Maßgabe der Anzahl und Art der Rechtssachen, des Umfangs der Tätigkeit jeder Abteilung sowie der Spezialisierung der Richter und der Notwendigkeit, deren Berufserfahrung zu nutzen, die Bildung spezialisierter Spruchkörper im Rahmen der Abteilungen des Obersten Kassations- und Gerichtshofs genehmigen.“ 43 Art. 24 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor: „Die Spruchkörper mit fünf Richtern entscheiden über Berufungen gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, über Kassationsbeschwerden gegen Berufungsentscheidungen der Spruchkörper mit fünf Richtern nach vorheriger Zulassung, über Beschwerden gegen Beschlüsse, die die Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs im erstinstanzlichen Verfahren erlassen hat, über Disziplinarangelegenheiten gemäß dem Gesetz und in anderen Angelegenheiten im Rahmen der ihnen durch Gesetz übertragenen Zuständigkeiten.“ 44 Art. 29 Abs. 1 des Gesetzes lautet: „Das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs hat folgende Zuständigkeiten: a) Genehmigung der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise sowie der Funktions- und Stellenpläne des Obersten Kassations- und Gerichtshofs; … f) Wahrnehmung weiterer, in der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs vorgesehener Zuständigkeiten.“ 45 In Art. 31 Abs. 1 des Gesetzes heißt es: „In Strafsachen sind die Spruchkörper wie folgt besetzt: a) In Rechtssachen, für die nach dem Gesetz in erster Instanz der Oberste Kassations- und Gerichtshof zuständig ist, besteht der Spruchkörper aus drei Richtern; …“ 46 Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung bestimmt: „(1)   Zu Beginn jedes Jahres genehmigt das Leitungsgremium auf Vorschlag des Präsidenten oder der Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs die Zahl und die Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern. … (4)   Die Richter, die diesen Spruchkörpern angehören, werden in öffentlicher Sitzung vom Präsidenten oder, bei dessen Abwesenheit, von einem der beiden Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs durch Losentscheid bestimmt. Die Mitglieder der Spruchkörper können nur in Ausnahmefällen, unter Berücksichtigung objektiver Kriterien, die in der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs festgelegt sind, ausgewechselt werden. (5)   Den Vorsitz im Spruchkörper mit fünf Richtern führen der Präsident des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, einer der beiden Vizepräsidenten oder einer der Abteilungspräsidenten, wenn sie gemäß Abs. 4 als Mitglied des betreffenden Spruchkörpers bestimmt worden sind. (6)   Wenn für einen Spruchkörper mit fünf Richtern keine der vorgenannten Personen als Mitglied bestimmt wurde, wird der Vorsitz im Spruchkörper von einem Richter im Rotationsverfahren in der Reihenfolge des Dienstalters der Richter geführt. (7)   Rechtssachen, die in die Zuständigkeit der Spruchkörper mit fünf Richtern fallen, werden nach dem Zufallsprinzip mit Hilfe eines computergestützten Systems zugewiesen.“ 47 Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der Fassung des Gesetzes Nr. 202/2010 bestimmte: „(1)   In Strafsachen werden zu Beginn jedes Jahres zwei Spruchkörper mit fünf Richtern gebildet, die ausschließlich mit Mitgliedern der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs besetzt werden. … (4)   Das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs genehmigt die Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern. Die Richter, die diesen Spruchkörpern angehören, werden vom Präsidenten oder, bei dessen Abwesenheit, vom Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs bestimmt. Die Mitglieder der Spruchkörper können nur in Ausnahmefällen unter Berücksichtigung objektiver Kriterien, die in der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs festgelegt sind, ausgewechselt werden. (5)   Den Vorsitz im Spruchkörper mit fünf Richtern führt der Präsident oder der Vizepräsident des Obersten Kassations- und Gerichtshofs. Bei deren Abwesenheit kann der Vorsitz in dem Spruchkörper von einem vom Präsidenten oder, bei dessen Abwesenheit, vom Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs zu diesem Zweck bestimmten Abteilungspräsidenten geführt werden. (6)   Rechtssachen, die in die Zuständigkeit der Spruchkörper gemäß den Abs. 1 und 2 fallen, werden nach dem Zufallsprinzip mit Hilfe eines computergestützten Systems zugewiesen.“ 48 In der Fassung des Gesetzes Nr. 255/2013 war der Wortlaut der Abs. 1 und 6 von Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 nahezu identisch mit dem der Abs. 1 und 6 der in der vorstehenden Randnummer genannten Fassung dieses Artikels, während die Abs. 4 und 5 dieses Artikels vorsahen: „(4)   Das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs genehmigt auf Vorschlag des Präsidenten der Strafabteilung die Zahl und die Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern. Die Richter, die diesen Spruchkörpern angehören, werden in öffentlicher Sitzung vom Präsidenten oder, bei dessen Abwesenheit, vom Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs durch Losentscheid bestimmt. Die Mitglieder der Spruchkörper können nur in Ausnahmefällen unter Berücksichtigung objektiver Kriterien, die in der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs festgelegt sind, ausgewechselt werden. (5)   Den Vorsitz im Spruchkörper mit fünf Richtern führt der Präsident oder der Vizepräsident des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, wenn er dem Spruchkörper gemäß Abs. 4 angehört, der Präsident der Strafabteilung oder gegebenenfalls das dienstälteste Mitglied.“ 49 In Art. 33 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung heißt es: „(1)   Der Präsident oder, bei seiner Abwesenheit, einer der Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs führt den Vorsitz in den Vereinigten Abteilungen, im Spruchkörper, der für die Revision aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit zuständig ist, sowie im Spruchkörper für die Entscheidung von Rechtsfragen, im Spruchkörper mit fünf Richtern und in jedem Spruchkörper im Rahmen der Abteilungen, wenn er an der Verhandlung teilnimmt. … (3)   Die Abteilungspräsidenten können den Vorsitz in jedem Spruchkörper der Abteilung führen, während die anderen Richter den Vorsitz im Rotationsverfahren führen.“ 50 Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der Fassung des Gesetzes Nr. 202/2010 sah vor: „Der Präsident oder, bei seiner Abwesenheit, der Vizepräsident des Obersten Kassations- und Gerichtshofs führt den Vorsitz in den Vereinigten Abteilungen, im Spruchkörper mit fünf Richtern sowie in jedem Spruchkörper im Rahmen der Abteilungen, wenn er an der Verhandlung teilnimmt.“ 51 Art. 33 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 304/2004 in der Fassung des Gesetzes Nr. 255/2013 lautet: „Der Präsident oder, bei seiner Abwesenheit, einer der Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs führt den Vorsitz in den Vereinigten Abteilungen, im Spruchkörper, der für die Revision aus Gründen der Rechtseinheitlichkeit zuständig ist, sowie im Spruchkörper für die Entscheidung von Rechtsfragen, im Spruchkörper mit fünf Richtern und in jedem Spruchkörper im Rahmen der Abteilungen, wenn er an der Verhandlung teilnimmt.“ Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs 52 Art. 28 des Regulamentul privind organizarea şi funcţionarea administrativă a Înaltei Curţi de Casaţie şi Justiţie (Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs) vom 21. September 2004 (im Folgenden: Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise) in der durch die Hotărârea nr. 3/2014 pentru modificarea şi completarea Regulamentului privind organizarea şi funcţionarea administrativă a Înaltei Curţi de Casaţie şi Justiţie (Beschluss Nr. 3/2014 zur Änderung und Ergänzung der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise des Obersten Kassations- und Gerichtshofs) vom 28. Januar 2014 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 75 vom 30. Januar 2014) bestimmte: „(1)   Der Oberste Kassations- und Gerichtshof umfasst Spruchkörper mit fünf Richtern, deren gerichtliche Zuständigkeit gesetzlich festgelegt ist. … (4)   Den Vorsitz in den Spruchkörpern mit fünf Richtern führt je nach Fall der Präsident, der Vizepräsident, der Präsident der Strafabteilung oder das dienstälteste Mitglied.“ 53 Art. 29 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmte: „Zur Bildung der Spruchkörper mit fünf Richtern in Strafsachen benennt der Präsident oder, bei seiner Abwesenheit, einer der Vizepräsidenten des Obersten Kassations- und Gerichtshofs jedes Jahr durch Losentscheid in öffentlicher Sitzung je nach Fall vier oder fünf Richter der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs für jeden Spruchkörper.“ Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen Den Ausgangsrechtsstreitigkeiten gemeinsame Gesichtspunkte 54 Die Ausgangsrechtsstreitigkeiten haben sich aus einer umfangreichen Reform im Bereich Justiz und Korruptionsbekämpfung in Rumänien ergeben. Diese Reform wird seit 2007 auf Unionsebene gemäß dem Verfahren für Zusammenarbeit und Überprüfung (im Folgenden: VZÜ), das durch die Entscheidung 2006/928 anlässlich des Beitritts Rumäniens zur Europäischen Union eingeführt worden ist, überwacht. 55 Die Rechtsstreitigkeiten betreffen Strafverfahren, in deren Rahmen sich die vorlegenden Gerichte die Frage stellen, ob sie nach dem Unionsrecht bestimmte Urteile des Verfassungsgerichtshofs, die in den Jahren 2016 bis 2019 ergangen sind, unangewendet lassen dürfen, nämlich die Urteile Nr. 51/2016 vom 16. Februar 2016 (Rechtssache C‑379/19), Nr. 302/2017 vom 4. Mai 2017 (Rechtssache C‑379/19), Nr. 685/2018 vom 7. November 2018 (Rechtssachen C‑357/19, C‑547/19 und C‑840/19), Nr. 26/2019 vom 16. Januar 2019 (Rechtssache C‑379/19) sowie Nr. 417/2019 vom 3. Juli 2019 (Rechtssachen C‑811/19 und C‑840/19). 56 Die vorlegenden Gerichte weisen darauf hin, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs nach nationalem Recht allgemein verbindlich seien und dass ihre Nichtbeachtung durch Richter und Staatsanwälte gemäß Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004 ein Disziplinarvergehen darstelle. Wie sich aus der Verfassung Rumäniens ergebe, sei der Verfassungsgerichtshof aber nicht Teil des rumänischen Justizsystems und habe den Charakter einer politisch-rechtsprechenden Einrichtung. Außerdem habe der Verfassungsgerichtshof mit dem Erlass der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteile die ihm von der Verfassung Rumäniens zugewiesenen Zuständigkeiten überschritten und in die Zuständigkeiten der ordentlichen Gerichte eingegriffen sowie deren Unabhängigkeit beeinträchtigt. Im Übrigen würden die Urteile Nrn. 685/2018 und 417/2019 eine systemische Gefahr der Straflosigkeit im Bereich der Korruptionsbekämpfung in sich bergen. 57 In diesem Zusammenhang verweisen die vorlegenden Gerichte u. a. auf die Berichte der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens vom 27. Januar 2016 (COM[2016] 41 final), vom 13. November 2018 (COM[2018] 851 final, im Folgenden: VZÜ-Bericht vom November 2018) und vom 22. Oktober 2019 (COM[2019] 499 final). 58 Schließlich verweisen die vorlegenden Gerichte auch auf das Urteil Nr. 104/2018 des Verfassungsgerichtshofs, aus dem hervorgehe, dass das Unionsrecht keinen Vorrang vor der rumänischen Verfassungsordnung habe und die Entscheidung 2006/928 keine Bezugsnorm im Rahmen einer Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nach Art. 148 der Verfassung Rumäniens darstellen könne. Rechtssache C‑357/19 59 Mit Urteil vom 28. März 2017, das von einem mit drei Richtern besetzten Spruchkörper der Strafabteilung erlassen wurde, verurteilte der Oberste Kassations- und Gerichtshof u. a. PM, die zur Zeit der ihr zur Last gelegten Taten Ministerin war, RO, TQ und SP wegen in den Jahren 2010 bis 2012 begangener Straftaten der Korruption, des Amtsmissbrauchs im Zusammenhang mit der Verwaltung von Unionsmitteln und des Mehrwertsteuerbetrugs. Die gegen dieses Urteil von den Betroffenen und vom Ministerul Public – Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție – Direcția Națională Anticorupție (Staatsanwaltschaft – Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof – Nationale Antikorruptionsdirektion, Rumänien) (im Folgenden: DNA) eingelegten Berufungen wurden mit Urteil vom 5. Juni 2018 des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, das von einem Spruchkörper mit fünf Richtern erlassen wurde, zurückgewiesen. Dieser Spruchkörper mit fünf Richtern war gemäß der Praxis des Obersten Kassations- und Gerichtshofs für den betreffenden Zeitraum nach Maßgabe der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise dieses Gerichts mit dem Präsidenten der Strafabteilung und vier weiteren, durch Losentscheid bestimmten Richtern besetzt. Das Urteil vom 5. Juni 2018 ist rechtskräftig geworden. 60 Mit dem am 7. November 2018 verkündeten Urteil Nr. 685/2018 stellte der Verfassungsgerichtshof, der vom Ministerpräsidenten gemäß Art. 146 Buchst. e der Verfassung Rumäniens angerufen worden war, zunächst einen verfassungsrechtlichen Konflikt zwischen dem Parlament und dem Obersten Kassations- und Gerichtshof fest, hervorgerufen durch die Entscheidungen des Leitungsgremiums der Letztgenannten, die darin bestanden, gemäß der genannten Praxis unter Außerachtlassung von Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung nur vier der fünf Mitglieder der über Berufungen entscheidenden Spruchkörper mit fünf Richtern und nicht alle diese Richter durch Losentscheid zu bestimmen, stellte weiter fest, dass die Entscheidung einer Rechtssache in der Berufungsinstanz durch einen solchermaßen rechtswidrig besetzten Spruchkörper mit der absoluten Nichtigkeit der erlassenen Entscheidung sanktioniert werde, und wies schließlich darauf hin, dass dieses Urteil gemäß Art. 147 Abs. 4, der Verfassung Rumäniens ab dem Zeitpunkt seiner Veröffentlichung auf anhängige Rechtssachen, auf Rechtssachen, über die bereits entschieden worden sei, sofern für die Rechtsunterworfenen die Frist für die Einlegung der geeigneten außerordentlichen Rechtsbehelfe noch nicht abgelaufen sei, sowie auf künftige Fälle anwendbar sei. 61 Nach der Veröffentlichung des Urteils Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichtshofs legten PM, RO, TQ und SP sowie die DNA gemäß Art. 426 Abs. 1 der Strafprozessordnung außerordentliche Rechtsbehelfe beim Obersten Kassations- und Gerichtshof ein und beantragten, das Urteil vom 5. Juni 2018 für nichtig zu erklären und ein neues Verfahren zur Entscheidung über die Berufungen zu eröffnen. Zur Stützung ihrer Rechtsbehelfe machten sie geltend, das Urteil Nr. 685/2018 sei verbindlich und entfalte Rechtswirkungen für das Urteil des Obersten Kassations- und Gerichtshofs vom 5. Juni 2018, da der Spruchkörper mit fünf Richtern, der über diese Berufungen entschieden habe, nicht gemäß dem Gesetz in seiner Auslegung durch den Verfassungsgerichtshof besetzt gewesen sei. Das vorlegende Gericht erachtete diese außerordentlichen Rechtsbehelfe u. a. mit der Begründung für zulässig, dass sie innerhalb der gesetzlichen Frist von 30 Tagen ab Zustellung dieses Urteils eingelegt worden seien, und entschied, die Vollstreckung der Freiheitsstrafen bis zur Entscheidung über diese Rechtsbehelfe auszusetzen. 62 Das vorlegende Gericht wirft u. a. die Frage auf, ob Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b und Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens einer Anwendung des Urteils Nr. 685/2018 im Ausgangsverfahren entgegenstehen, das die Nichtigerklärung der Gerichtsentscheidungen, die vor der Verkündung dieses Urteils rechtskräftig geworden sind, und die Eröffnung eines neuen Berufungsverfahrens in Rechtssachen, die Betrug und schwere Korruption betreffen, zur Folge hätte. 63 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei es Sache der nationalen Gerichte, den sich aus Art. 325 Abs. 1 AEUV ergebenden Verpflichtungen unter der gebotenen Achtung der in der Charta garantierten Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze volle Wirkung zu verleihen und Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts unangewendet zu lassen, die der Anwendung wirksamer und abschreckender Sanktionen bei Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union entgegenstünden. In Anbetracht dieser Rechtsprechung stelle sich die Frage, ob die sich aus Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie aus Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b und Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten auch die Vollstreckung bereits verhängter strafrechtlicher Sanktionen betreffe. Es stelle sich außerdem die Frage, ob die Wendung „und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ in Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht nur Fälle der Korruption im eigentlichen Sinne umfasse, sondern auch den Betrugsversuch, der im Zusammenhang mit einem betrügerisch vergebenen öffentlichen Auftrag begangen worden sei, der aus Mitteln der Union hätte finanziert werden sollen, aber infolge der Verweigerung der Finanzierung durch die diese Mittel verwaltende Behörde vollständig zulasten des Staatshaushalts finanziert worden sei. In diesem Zusammenhang habe im vorliegenden Fall die Gefahr einer Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Union bestanden, auch wenn sich diese Gefahr nicht verwirklicht habe. 64 Des Weiteren weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass sich nach den Art. 2 und 19 EUV jeder Mitgliedstaat vergewissern müsse, dass die zu seinem Rechtsbehelfssystem gehörenden Gerichte in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen den Erfordernissen der Unabhängigkeit genügten, um den Rechtsunterworfenen einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. Die Gewährleistung der Unabhängigkeit setze nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs voraus, dass die Richter ihre richterlichen Funktionen in völliger Autonomie ausüben könnten, ohne hierarchisch untergeordnet zu sein, um gegen Interventionen und Druck von außen geschützt zu sein, die ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen und ihre Entscheidungen beeinflussen könnten. 65 Außerdem fragt sich das vorlegende Gericht, insbesondere angesichts der Bedeutung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit, der verlange, dass das Gesetz vorhersehbar und bestimmt sein müsse und nicht rückwirkend sein dürfe, ob der Begriff des „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ in Art. 47 Abs. 2 der Charta der vom Verfassungsgerichtshof vorgenommenen Auslegung hinsichtlich der Rechtswidrigkeit der Besetzung der Spruchkörper mit fünf Richtern entgegenstehe. Nach der aus den Urteilen vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105), und vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936), hervorgegangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs seien die nationalen Gerichte bei der Entscheidung, Bestimmungen des materiellen Strafrechts unangewendet zu lassen, verpflichtet, darauf zu achten, dass die Grundrechte der Personen, die einer Straftat beschuldigt würden, gewahrt würden, wobei sie jedoch nationale Schutzstandards für die Grundrechte anwenden könnten, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt werde, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt würden. 66 Im vorliegenden Fall steht nach Ansicht des vorlegenden Gerichts das Unionsrecht u. a. der Anwendung des Urteils Nr. 685/2018 entgegen, da dieses Urteil zur Nichtigerklärung der rechtskräftigen, von einem Spruchkörper mit fünf Richtern erlassenen Entscheidungen des Obersten Kassations- und Gerichtshofs führen und den in einer erheblichen Anzahl von Fällen schweren Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union verhängten Strafen ihre Wirksamkeit und ihre abschreckende Wirkung nehmen würde. Es würde den Anschein von Straflosigkeit erwecken und sogar eine systemische Gefahr der Straflosigkeit durch den Eintritt der Verjährung bergen, da die Verfahren vor dem Erlass eines endgültigen Urteils infolge der erneuten Prüfung der betreffenden Fälle komplex und langwierig wären. Außerdem stünden die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und der Rechtssicherheit dem entgegen, dass das Urteil Nr. 685/2018 verbindliche Rechtswirkungen für zum Zeitpunkt seiner Verkündung bereits rechtskräftig gewordene strafrechtliche Entscheidungen haben könne, wenn keine ernsthaften Gründe vorlägen, die die Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren in diesen Rechtssachen in Frage stellen könnten, was durch den VZÜ-Bericht vom November 2018 bestätigt werde. 67 Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die ernste Gefahr bestehe, dass den Antworten des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen in Anbetracht der in Rn. 58 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs im innerstaatlichen Recht die Wirkung genommen werde. 68 Unter diesen Umständen hat der Oberste Kassations- und Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b sowie Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens und der Grundsatz der Rechtssicherheit dahin auszulegen, dass sie dem Erlass einer Entscheidung durch eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung, den Verfassungsgerichtshof, entgegenstehen, mit der über die Rechtmäßigkeit der Besetzung von Spruchkörpern entschieden wird und damit die Voraussetzungen für die Zulässigkeit außerordentlicher Rechtsbehelfe gegen rechtskräftige, innerhalb eines bestimmten Zeitraums ergangene gerichtliche Entscheidungen geschaffen werden? 2. Ist Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung die fehlende Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Spruchkörpers, dem ein Richter mit Leitungsfunktion angehört, der nicht nach dem Zufallsprinzip ernannt worden ist, sondern auf der Grundlage einer transparenten, bekannten und zwischen den Parteien unstreitigen Regel, die in allen von diesem Spruchkörper behandelten Rechtssachen gilt, in nach nationalem Recht verbindlicher Weise feststellt? 3. Ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht erlaubt, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, die aufgrund einer Befassung mit einem Verfassungskonflikt ergangen ist und nach nationalem Recht verbindlich ist, unangewendet zu lassen? Rechtssache C‑379/19 69 Am 22. August 2016 leitete die Direcţia Naţională Anticorupţie – Serviciul Teritorial Oradea (Regionale Dienststelle Oradea der DANN, Rumänien) vor dem Tribunalul Bihor (Landgericht Bihor, Rumänien) die Strafverfolgung gegen KI, LJ, JH und IG ein, denen vorgeworfen wird, Straftaten des Erkaufens von Einflussnahme, der Bestechung, der Bestechlichkeit sowie der Beihilfe zum Erkaufen von Einflussnahme und der Beihilfe zur Bestechung begangen zu haben. 70 Im Rahmen dieses Verfahrens beantragten KI und LJ gemäß Art. 342 der Strafprozessordnung, von diesem Verfahren Beweismittel auszunehmen, die in Protokollen über die Niederschrift von Abhörmaßnahmen des Serviciul Român de Informații (Rumänischer Nachrichtendienst) (im Folgenden: SRI) bestehen. Zur Stützung dieses Antrags beriefen sich die Betroffenen auf das Urteil Nr. 51/2016, mit dem der Verfassungsgerichtshof Art. 142 Abs. 1 der Strafprozessordnung für verfassungswidrig erklärte, soweit dieser die Durchführung von Überwachungsmaßnahmen im Rahmen eines Strafverfahrens durch „andere spezialisierte Organe des Staates“, insbesondere durch den SRI, zulässt. 71 Mit Beschluss vom 27. Januar 2017 wies die Vorverfahrenskammer des Tribunalul Bihor (Landgericht Bihor) die Anträge von KI und LJ u. a. mit der Begründung zurück, dass die Beweiserhebung rechtmäßig gewesen sei, da das Urteil Nr. 51/2016 nur für die Zukunft wirke, und eröffnete das Hauptverfahren gegen KI, LJ, JH und IG. Das gegen diesen Beschluss eingelegte Rechtsmittel wurde von der Curtea de Apel Oradea (Berufungsgericht Oradea, Rumänien) zurückgewiesen, wobei das Berufungsgericht ebenfalls der Ansicht war, dass das Urteil Nr. 51/2016 auf die in diesem Fall angeordneten technischen Überwachungsmaßnahmen nicht anwendbar sei, da dieses Urteil, das im Monitorul Oficial al României vom 14. März 2016 veröffentlicht worden sei, gemäß Art. 147 Abs. 4 der Verfassung Rumäniens nur für die Zukunft Wirkungen entfalte. 72 Im Strafverfahren vor dem vorlegenden Gericht beantragten IG, KI, LJ und JH im Wesentlichen, die Protokolle über die Niederschrift von Abhörmaßnahmen, falls der SRI an der Durchführung der Überwachungsbeschlüsse beteiligt gewesen sein sollte, für absolut nichtig zu erklären. Neben dem Urteil Nr. 51/2016 beriefen sich die Betroffenen insoweit auf die Urteile Nrn. 302/2017 und 26/2019, mit denen der Verfassungsgerichtshof Art. 281 Abs. 1 Buchst. b der Strafprozessordnung für verfassungswidrig erklärte, da dieser die Verletzung der Bestimmungen über die sachliche und persönliche Zuständigkeit des für die Strafverfolgung zuständigen Organs nicht mit absoluter Nichtigkeit sanktionierte (Urteil Nr. 302/2017), und das Bestehen eines verfassungsrechtlichen Konflikts zwischen dem Parlament und dem Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casație și Justiție (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof) feststellte, der sich daraus ergab, dass zwei Kooperationsvereinbarungen, die in den Jahren 2009 und 2016 zwischen der DNA und dem SRI unter Verstoß gegen die verfassungsmäßige Zuständigkeit der DNA geschlossen wurden, dazu führten, dass das Verfahrensrecht, das die Ausübung der Strafverfolgung regle, beeinträchtigt wurde (Urteil Nr. 26/2019). 73 Nach einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht bei der DNA wurde festgestellt, dass neun Überwachungsbeschlüsse mit technischer Unterstützung des SRI und zwei, nach der Veröffentlichung des Urteils Nr. 51/2016, ohne Mitwirkung dieses Dienstes durchgeführt worden waren. 74 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es vorrangig über den Antrag auf Ausschluss von Beweismitteln zu entscheiden habe, und hat insbesondere Zweifel, ob es die Urteile Nrn. 51/2016, 302/2017 und 26/2019 anwenden muss. Aufgrund der kombinierten Wirkung dieser drei Urteile würde es nämlich genügen, dass der Richter die Beteiligung des SRI an der Durchführung eines Überwachungsbeschlusses feststelle, damit die Maßnahmen der Beweiserhebung absolut nichtig seien und die entsprechenden Beweismittel ausgeschlossen seien. 75 Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass nach den noch geltenden nationalen Vorschriften die Zulässigkeit eines Antrags auf Ausschluss von Beweismitteln davon abhänge, dass dieser Antrag vor dem Abschluss der Phase vor der Vorverfahrenskammer gestellt worden sei. Außerdem würden die verfassungsrechtlichen Vorschriften den Urteilen des Verfassungsgerichtshofs nur Ex-nunc-Wirkung verleihen. Letzterer habe folglich im Wege der Rechtsprechung die Anwendung seiner Urteile in anhängigen Rechtssachen festgeschrieben und damit den Gerichten die Verpflichtung auferlegt, sämtliche in Rede stehenden Verfahrenshandlungen oder Beweismittel als rechtswidrig zu behandeln, ohne dass die Möglichkeit bestünde, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, selbst wenn diese Handlungen, wie im vorliegenden Fall, auf der Grundlage von Vorschriften vorgenommen worden seien, für die zum Zeitpunkt ihrer Anwendung die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit gegolten habe. 76 Zum einen sei aber Rumänien verpflichtet, Korruption zu bekämpfen, und habe die Kommission im VZÜ-Bericht vom November 2018 festgestellt, dass Rumänien die nationale Korruptionsbekämpfungsstrategie unter Einhaltung der im August 2016 von der Regierung festgelegten Fristen weiter umsetzen müsse. Zum anderen müsse sich der Verfassungsgerichtshof nach Art. 146 der Verfassung Rumäniens auf die Kontrolle der Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung Rumäniens beschränken und dürfe nicht so weit gehen, das Gesetz auszulegen, es anzuwenden und rückwirkende Rechtsvorschriften einzuführen. Außerdem erscheine das Bestreben des Verfassungsgerichtshofs, durch die Wirkung seiner Urteile die Wahrung der Verfahrensrechte der Parteien im Rahmen eines Strafverfahrens unmittelbar zu gewährleisten, angesichts der Mechanismen, über die der rumänische Staat zu diesem Zweck verfüge – wie das am 1. August 2018 in Kraft getretene Protokoll Nr. 16 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) – übermäßig. Zudem lehne es der Gerichtshof in seiner auf das Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107), zurückgehenden Rechtsprechung ab, eine Grenze für den Vorrang des Unionsrechts vor günstigeren nationalen Grundrechten anzuerkennen. 77 Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts weist das Ausgangsverfahren einen hinreichend engen Bezug zum Unionsrecht auf, da es die Ausübung seiner gerichtlichen Zuständigkeit gemäß den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der richterlichen Unabhängigkeit betrifft, und wirft Fragen zur Natur und zu den Wirkungen des VZÜ sowie zum Vorrang des Unionsrechts vor der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs auf. Letzterer habe die sich aus der Verfassung Rumäniens und dem Unionsrecht ergebende Zuständigkeit der rumänischen Gerichte, Recht zu sprechen, beschränkt, indem er in dem in Rn. 58 des vorliegenden Urteils angeführten Urteil Nr. 104/2018 entschieden habe, dass die Entscheidung 2006/928 im Rahmen einer Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit nach Art. 148 der Verfassung Rumäniens keine Bezugsnorm darstellen könne. 78 Daher sei es erforderlich, dass der Gerichtshof kläre, ob das VZÜ verbindlich sei, und, bejahendenfalls, ob diese Verbindlichkeit nicht nur den Maßnahmen zuzuerkennen sei, die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten ausdrücklich empfohlen worden seien, sondern auch sämtlichen Feststellungen in diesen Berichten, insbesondere denjenigen, die nationale Maßnahmen beträfen, die gegen die Empfehlungen der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) und der Gruppe der Staaten gegen Korruption (GRECO) verstießen. Außerdem stelle sich in Anbetracht der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der richterlichen Unabhängigkeit die Frage, ob ein nationaler Richter, ohne Gefahr zu laufen, dass gegen ihn gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Disziplinarmaßnahmen verhängt würden, bei der Ausübung seiner richterlichen Zuständigkeit die Wirkungen der Urteile des Verfassungsgerichtshofs in dem Fall ausschließen könne, in dem dieser die Grenzen seiner Zuständigkeiten überschreite. 79 Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Bihor (Landgericht Bihor) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind das mit der Entscheidung 2006/928 eingeführte VZÜ und die in den im Rahmen dieses Verfahrens erstellten Berichten aufgestellten Anforderungen für den rumänischen Staat verbindlich? 2. Ist Art. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass die Verpflichtung des Mitgliedstaats, die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu wahren, auch das Erfordernis umfasst, dass Rumänien die mit den Berichten im Rahmen des mit der Entscheidung 2006/928 eingeführten VZÜ aufgestellten Anforderungen erfüllt, und zwar auch hinsichtlich der Enthaltung eines Verfassungsgerichts – einer politisch-rechtsprechenden Institution – bezüglich der Auslegung des Gesetzes sowie der Festlegung der konkreten und verbindlichen Art und Weise seiner Anwendung durch die Gerichte, die in die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte fallen, und bezüglich der Einführung neuer Rechtsvorschriften, die in die ausschließliche Zuständigkeit des Gesetzgebers fällt? Verlangt das Unionsrecht, dass die Wirkungen einer solchen, von einem Verfassungsgericht erlassenen Entscheidung beseitigt werden? Steht das Unionsrecht einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, die die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern regelt, die die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs im Zusammenhang mit der formulierten Frage nicht anwenden? 3. Verbietet der in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117) die Ersetzung der Befugnisse des Richters durch die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs (Urteile Nrn. 51/2016, 302/2017 und 26/2019), die zur Folge haben, dass das Strafverfahren nicht vorhersehbar ist (Rückwirkung) und es unmöglich ist, das Gesetz in der konkreten Rechtssache auszulegen und anzuwenden? Steht das Unionsrecht einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, die die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern regelt, die die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs im Zusammenhang mit der formulierten Frage nicht anwenden? 80 Mit Schreiben vom 27. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Juli 2019, hat das Tribunalul Bihor (Landgericht Bihor) dem Gerichtshof mitgeteilt, dass die Curtea de Appel de Oradea (Berufungsgericht Oradea, Rumänien) mit Beschluss vom 18. Juni 2019 auf Antrag der DNA die Entscheidung über die Aussetzung des Verfahrens aufgehoben und die Fortsetzung des Verfahrens in Bezug auf andere als die im Vorabentscheidungsersuchen genannten Problematiken angeordnet habe. Auf Nachfrage des Gerichtshofs hat das Tribunal Bihor (Landgericht Bihor) mit Schreiben vom 26. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 7. August 2019, klargestellt, dass die Beantwortung der vorgelegten Fragen durch den Gerichtshof noch immer erforderlich sei. Das bei ihm anhängige Verfahren werde nämlich fortgesetzt, ohne dass die mittels der Überwachungsbeschlüsse, auf die sich die Vorlagefragen bezögen, erlangten Beweise verwertet werden könnten. Außerdem hat das Tribunalul Bihor (Landgericht Bihor) darauf hingewiesen, dass die Justizinspektion gegen den vorlegenden Richter eine Disziplinaruntersuchung wegen Nichtbeachtung der in den Vorlagefragen genannten Urteile des Verfassungsgerichtshofs eingeleitet habe. Rechtssache C‑547/19 81 Die Justizinspektion leitete gegen CY, Richter an der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien), ein Disziplinarverfahren bei der Richterdisziplinarabteilung des Obersten Richterrats mit der Begründung ein, CY habe das in Art. 99 Buchst. o des Gesetzes Nr. 303/2004 vorgesehene Disziplinarvergehen begangen. 82 Mit Beschluss vom 28. März 2018 wies die Richterdisziplinarabteilung des Obersten Richterrats einen vom Forum der Richter Rumäniens gestellten Antrag auf Beitritt zum Verfahren zur Unterstützung von CY als unzulässig ab. Gegen diesen Beschluss legten das Forum der Richter Rumäniens und CY beim Obersten Kassations- und Gerichtshof ein Rechtsmittel ein. 83 Mit Entscheidung vom 2. April 2018 verhängte die Richterdisziplinarabteilung des Oberster Richterrats gegen CY die in Art. 100 Buchst. e des Gesetzes Nr. 303/2004 vorgesehene Disziplinarsanktion des Ausschlusses aus der Richterschaft. Gegen diese Entscheidung legten das Forum der Richter Rumäniens und CY beim Obersten Kassations- und Gerichtshof ein Rechtsmittel ein. 84 Diese beiden Rechtssachen wurden nach dem Zufallsprinzip einem Spruchkörper mit fünf Richtern dieses Gerichts zugewiesen und anschließend wegen ihres Zusammenhangs verbunden. Die Besetzung dieses Spruchkörpers war durch Losentscheid vom 30. Oktober 2017 festgelegt worden. 85 Am 8. November 2018 erließ das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs im Anschluss an die Verkündung des in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführten Urteils Nr. 685/2018 eine Entscheidung betreffend die Auslosung der Mitglieder der Spruchkörper mit fünf Richtern. Im Dezember 2018 erließ der Oberste Richterrat zwei Entscheidungen, mit denen Regeln eingeführt wurden, um die Übereinstimmung mit den Anforderungen aus diesem Urteil zu gewährleisten. Um diesen Entscheidungen nachzukommen, schritt der Oberste Kassations- und Gerichtshof erneut zur Auslosung neuer Spruchkörper für das Jahr 2018, was bereits zugewiesene Rechtssachen, in denen bis zum Ende jenes Jahres keine Maßnahme angeordnet worden war, einschloss, darunter die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden verbundenen Rechtssachen. 86 Vor dem neuen Spruchkörper erhob CY u. a. eine Einrede der Rechtswidrigkeit der Besetzung dieses Spruchkörpers und stellte u. a. die Vereinbarkeit des Urteils Nr. 685/2018 und der nachfolgenden Entscheidungen des Obersten Richterrats mit Art. 2 EUV in Abrede. Insoweit wies CY darauf hin, dass der Verfassungsgerichtshof und der Oberste Richterrat ihre Befugnisse überschritten hätten und dass, wenn diese beiden Behörden nicht in die Tätigkeit des Obersten Kassations- und Gerichtshofs eingegriffen hätten, der Grundsatz der Kontinuität des Spruchkörpers nicht verletzt worden wäre und die Rechtssache ordnungsgemäß einem der Spruchkörper mit fünf Richtern zugewiesen worden wäre. 87 Um über die von CY erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit entscheiden zu können, möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob ein Eingreifen des Verfassungsgerichtshofs in den Ablauf der Rechtspflege, wie es sich aus dem Urteil Nr. 685/2018 ergibt, mit der in Art. 2 EUV festgelegten Rechtsstaatlichkeit sowie mit der nach Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta garantierten Unabhängigkeit der Justiz vereinbar ist. 88 Insoweit hebt das vorlegende Gericht erstens die politische Dimension der Ernennung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs sowie deren besondere Position in der Architektur der Staatsgewalten hervor. 89 Zweitens sei das in Art. 146 Buchst. e der Verfassung Rumäniens vorgesehene Verfahren zur Feststellung eines verfassungsrechtlichen Konflikts zwischen Trägern staatlicher Gewalt als solches problematisch, da nach dieser Bestimmung politische Organe zur Einleitung dieses Verfahrens befugt seien. Außerdem sei die Grenze zwischen der Rechtswidrigkeit eines Rechtsakts und dem Vorliegen eines verfassungsrechtlichen Konflikts besonders schmal und ermögliche es einem beschränkten Kreis von Rechtssubjekten, parallel zu den vor den ordentlichen Gerichten eröffneten Rechtsbehelfen Rechtsbehelfe einzulegen. Dieser Umstand in Verbindung mit der politischen Dimension der Ernennung der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs ermögliche es diesem, zu politischen Zwecken oder im Interesse politisch einflussreicher Personen in den Ablauf der Rechtspflege einzugreifen. 90 Drittens hält das vorlegende Gericht die vom Verfassungsgerichtshof im Urteil Nr. 685/2018 getroffene Feststellung, dass zwischen der Judikative und der Legislative ein verfassungsrechtlicher Konflikt bestehe, für problematisch. In diesem Urteil habe der Verfassungsgerichtshof seine eigene Auslegung von im Rang unter der Verfassung stehenden unklaren Bestimmungen, nämlich der Art. 32 und 33 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung, der vom Obersten Kassations- und Gerichtshof in Ausübung seiner Zuständigkeit vorgenommenen Auslegung entgegengesetzt und diesem Gericht eine systematische Verkennung des Willens des Gesetzgebers vorgeworfen, um das Bestehen eines solchen verfassungsrechtlichen Konflikts feststellen zu können. 91 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich somit die Frage, ob die Art. 2 und 19 EUV sowie Art. 47 der Charta dem entgegenstehen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Rechtsprechung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs durch ein Eingreifen des Verfassungsgerichtshofs überprüft und sanktioniert werden kann. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass ein willkürliches Eingreifen des Verfassungsgerichtshofs in Form einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Tätigkeit des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, die an die Stelle gesetzlicher Gerichtsverfahren wie der verwaltungsgerichtlichen Klage oder der im Rahmen von Gerichtsverfahren erhobenen prozessualen Einreden trete, eine negative Auswirkung auf die Unabhängigkeit der Justiz und die Fundamente der Rechtsstaatlichkeit im Sinne von Art. 2 EUV haben könne, da der Verfassungsgerichtshof nicht Teil des Justizsystems sei und nicht mit Zuständigkeiten der Rechtsprechung ausgestattet sei. 92 Unter diesen Umständen hat der Oberste Kassations- und Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Sind Art. 2 EUV, Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einem Eingreifen eines Verfassungsgerichts (eines Organs, das nach nationalem Recht kein Gericht ist) bezüglich der Art und Weise, in der das oberste Gericht die im Rang unter der Verfassung stehenden Rechtsvorschriften bei der Bildung der Spruchkörper ausgelegt und angewandt hat, entgegenstehen? Rechtssache C‑811/19 93 Mit Urteil eines Spruchkörpers mit drei Richtern vom 8. Februar 2018 verurteilte die Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs FQ, GP, HO, IN und JM wegen Korruptions- und Geldwäschedelikten sowie Korruptionsdelikten gleichgestellten Straftaten, begangen in den Jahren 2009 bis 2013 im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge im Rahmen eines Projekts, das hauptsächlich aus nicht rückzahlbaren Mitteln der Union finanziert wurde, zu Freiheitsstrafen zwischen zwei und acht Jahren. Vier der Angeklagten – darunter eine Person, die nacheinander Bürgermeister, Senator und Minister war – sowie die DNA legten gegen dieses Urteil Berufung ein. 94 Im Berufungsverfahren beantragten die Berufungsführer beim Obersten Kassations- und Gerichtshof, das Urteil vom 8. Februar 2018 für nichtig zu erklären, weil es von einem Spruchkörper erlassen worden sei, der unter Verstoß gegen die gesetzlichen Vorschriften nicht auf dem Gebiet der Korruption spezialisiert gewesen sei. 95 Die Berufungsführer beriefen sich insoweit auf das Urteil Nr. 417/2019, das am 3. Juli 2019 auf Befassung durch den Präsidenten der Abgeordnetenkammer ergangen ist, gegen den zu diesem Zeitpunkt bei einem Spruchkörper mit fünf Richtern des Obersten Kassations- und Gerichtshofs als Berufungsgericht selbst ein Strafverfahren wegen eines Sachverhalts anhängig war, der in den Anwendungsbereich des Gesetzes Nr. 78/2000 fiel. Mit diesem Urteil stellte der Verfassungsgerichtshof zunächst das Bestehen eines verfassungsrechtlichen Konflikts zwischen dem Parlament und dem Obersten Kassations- und Gerichtshof fest, der dadurch entstanden sei, dass Letzterer nicht die auf die erstinstanzliche Aburteilung von Straftaten spezialisierten Spruchkörper nach Art. 29 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 78/2000 gebildet habe, vertrat des Weiteren die Auffassung, dass die Entscheidung einer Rechtssache durch einen nicht spezialisierten Spruchkörper die absolute Nichtigkeit der verkündeten Entscheidung zur Folge habe, und ordnete schließlich an, dass alle Rechtssachen, über die der Oberste Kassations- und Gerichtshof vor dem 23. Januar 2019 in erster Instanz entschieden hatte und die noch nicht rechtskräftig geworden waren, von den gemäß dieser Bestimmung gebildeten spezialisierten Spruchkörpern erneut geprüft würden. In diesem Urteil befand der Verfassungsgerichtshof nämlich, dass zu diesem Zeitpunkt, dem 23. Januar 2019, das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs zwar eine Entscheidung erlassen habe, die dahin lautete, dass alle Spruchkörper mit drei Richtern als für die Entscheidung von Korruptionsfällen spezialisiert anzusehen seien, mit dieser Entscheidung eine Verfassungswidrigkeit aber erst ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses und nicht für die Vergangenheit vermieden werden konnte. 96 Zur Stützung seines Vorabentscheidungsersuchens führt das vorlegende Gericht aus, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straftaten – wie die Korruptionsdelikte, die im Zusammenhang mit Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge begangen worden seien, die hauptsächlich mit Mitteln der Union finanziert würden, sowie Geldwäschedelikte – die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigten oder beeinträchtigen könnten. 97 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich erstens die Frage, ob Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 4 der Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug (ABl. 2017, L 198, S. 29) und Art. 58 der Richtlinie (EU) 2015/849 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinie 2006/70/EG der Kommission (ABl. 2015, L 141, S. 73) dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass ein nationales Gericht eine Entscheidung einer Behörde anwendet, die nicht Teil des Justizsystems ist, wie das Urteil Nr. 417/2019 des Verfassungsgerichtshofs, mit dem über die Begründetheit eines ordentlichen Rechtsbehelfs entschieden und die Rückverweisung der Rechtssachen mit der Folge angeordnet worden sei, dass die Strafverfolgung durch die Eröffnung eines neuen erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens in Frage gestellt worden sei. Die Mitgliedstaaten seien nämlich verpflichtet, wirksame und abschreckende Maßnahmen zu ergreifen, um rechtswidrige Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen. 98 In diesem Zusammenhang sei auch zu klären, ob die Wendung „und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ in Art. 325 Abs. 1 AEUV Korruptionsdelikte im eigentlichen Sinne erfasse, insbesondere, da Art. 4 der Richtlinie 2017/1371 die Straftaten der „Bestechlichkeit“ und der „Bestechung“ definiere. Diese Klarstellung sei erforderlich, da einer der Angeklagten des Ausgangsverfahrens in seiner Eigenschaft als Senator und Minister Einfluss auf Beamte ausgeübt habe, sie dazu verleitet habe, unter Verstoß gegen ihre Aufgaben zu handeln, und einen beträchtlichen Prozentsatz des Wertes der öffentlichen Aufträge erhalten habe, die hauptsächlich aus Mitteln der Union finanziert worden seien. 99 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich ebenso wie in der Rechtssache C‑357/19, Euro Box Promotion u. a., die Frage, ob der in Art. 2 EUV verankerte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, ausgelegt im Licht von Art. 47 der Charta, einer Beeinflussung des Ablaufs der Rechtspflege durch ein Eingreifen wie des sich aus dem Urteil Nr. 417/2019 ergebenden entgegenstehen. Mit dem genannten Urteil habe der Verfassungsgerichtshof, ohne über gerichtliche Zuständigkeiten zu verfügen, verbindliche Maßnahmen erlassen, die die Eröffnung neuer Gerichtsverfahren wegen der angeblich fehlenden Spezialisierung der Spruchkörper der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs auf dem Gebiet der Korruptionsdelikte zur Folge hätten, obwohl alle Richter dieser Strafabteilung bereits aufgrund ihrer Eigenschaft als Richter dieses Gerichts diese Spezialisierungsvoraussetzung erfüllten. 100 Zweitens sei in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der Bedeutung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit die Bedeutung des Begriffs des „zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts“ in Art. 47 Abs. 2 der Charta zu klären, um festzustellen, ob diese Bestimmung der vom Verfassungsgerichtshof vorgenommenen Auslegung betreffend die Rechtswidrigkeit der Besetzung des Gerichts entgegenstehe. 101 Drittens hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob der nationale Richter verpflichtet ist, das Urteil Nr. 417/2019 unangewendet zu lassen, um die volle Wirksamkeit der Unionsvorschriften zu gewährleisten. Allgemein sei außerdem zu prüfen, ob die Wirkungen von Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs, die gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit in Rechtssachen verstießen, die ausschließlich dem nationalen Recht unterlägen, auszuschließen seien. Diese Fragen würden sich insbesondere deshalb stellen, weil die rumänische Disziplinarregelung die Verhängung einer Disziplinarsanktion gegen einen Richter vorsehe, wenn dieser die Wirkungen der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs ausschließe. 102 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass das Urteil Nr. 417/2019, das die Nichtigerklärung der vor dem 23. Januar 2019 in erster Instanz ergangenen Urteile der Spruchkörper mit drei Richtern der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs zur Folge habe, gegen den Grundsatz der Wirksamkeit strafrechtlicher Sanktionen im Fall schwerwiegender rechtswidriger Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union verstoße. Dieses Urteil erwecke nämlich zum einen den Anschein der Straflosigkeit und berge zum anderen angesichts der Komplexität und der Dauer des Verfahrens, das der Verkündung eines endgültigen Urteils im Anschluss an eine erneute Prüfung der betreffenden Rechtssachen vorausgehe, aufgrund der nationalen Vorschriften über die Verfolgungsverjährung eine systemische Gefahr der Straflosigkeit bei schweren Straftaten. So habe das Gerichtsverfahren im Ausgangsverfahren aufgrund seiner Komplexität allein in der ersten Instanz etwa vier Jahre gedauert. Ferner ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass der im Unionsrecht verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dem entgegenstehe, dass durch eine Entscheidung einer außerhalb der Justiz stehenden rechtsprechenden Einrichtung verfahrensrechtliche Maßnahmen festgelegt würden, die eine erneute Prüfung bestimmter Rechtssachen in erster Instanz mit der Folge verlangten, dass die Strafverfolgung ohne ernsthafte Gründe für Zweifel an der Wahrung des Rechts der Angeklagten auf ein faires Verfahren in Frage gestellt werde. Im vorliegenden Fall könne der Umstand, dass die Spruchkörper der Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs aus Richtern bestünden, die bei ihrer Ernennung an dieses Gericht in Strafsachen spezialisiert gewesen seien, aber nicht als Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf Zugang zu den Gerichten angesehen werden. 103 Unter diesen Umständen hat der Oberste Kassations- und Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 58 der Richtlinie 2015/849 und Art. 4 der Richtlinie 2017/1371 dahin auszulegen, dass sie dem Erlass einer Entscheidung durch eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung, den Verfassungsgerichtshof, entgegenstehen, mit der über eine prozessuale Einrede entschieden wird, die sich auf eine möglicherweise rechtswidrige Besetzung der Spruchkörper bezieht – im Hinblick auf den (in der Verfassung Rumäniens nicht vorgesehenen) Grundsatz der Spezialisierung der Richter am Obersten Kassations- und Gerichtshof – und durch die ein Gericht verpflichtet wird, die (devolutiv) in der Berufung befindliche Sache zur erneuten Verhandlung im ersten Rechtszug vor demselben Gericht zurückzuverweisen? 2. Sind Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union und Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung die Rechtswidrigkeit der Besetzung der Spruchkörper innerhalb einer Abteilung eines obersten Gerichts (Spruchkörper, die mit amtierenden Richtern besetzt sind, die zum Zeitpunkt der Beförderung u. a. die Voraussetzung der Spezialisierung erfüllt haben, die für die Beförderung zur Strafabteilung des obersten Gerichts verlangt wird) feststellt? 3. Ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht gestattet, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, mit der eine im Rang unterhalb der Verfassung stehende, die Organisation des Obersten Kassations- und Gerichtshofs betreffende Rechtsnorm, die Teil des Gesetzes über die Prävention, Ermittlung und Sanktionierung von Korruptionsdelikten ist und von einem Gericht seit 16 Jahren konstant im selben Sinne ausgelegt worden ist, unangewendet zu lassen? 4. Ist nach Art. 47 der Charta die Spezialisierung der Richter und die Errichtung spezialisierter Spruchkörper bei einem obersten Gericht vom Grundsatz des freien Zugangs zur Justiz erfasst? Rechtssache C‑840/19 104 Mit Urteil eines Spruchkörpers mit drei Richtern vom 26. Mai 2017 verurteilte die Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs NC zu u. a. einer Freiheitsstrafe von vier Jahren, weil er in seinen parlamentarischen und ministeriellen Funktionen den Straftatbestand der Einflussnahme gemäß Art. 291 Abs. 1 Strafgesetzbuch in Verbindung mit Art. 6 und Art. 7 Buchst. a des Gesetzes Nr. 78/2000 im Zusammenhang mit der Vergabe eines öffentlichen Auftrags, der größtenteils aus Mitteln der Union finanziert wurde, begangen hatte. Nachdem die DNA und NC gegen dieses Urteil Berufung eingelegt hatten, bestätigte die Strafabteilung des Obersten Kassations- und Gerichtshofs mit Urteil eines Spruchkörpers mit fünf Richtern vom 28. Juni 2018 die Verurteilung und wies die Berufung zurück. Dieses Urteil wurde rechtskräftig. 105 Nach der Veröffentlichung des in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführten Urteils Nr. 685/2018 erhoben NC und die DNA außerordentliche Rechtsbehelfe auf Nichtigerklärung, wobei sie im Wesentlichen geltend machten, der Oberste Kassations- und Gerichtshof, der über die gegen das Urteil vom 26. Mai 2017 eingelegten Berufungen entschieden habe, sei nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen, da nur vier der fünf Mitglieder dieses Spruchkörpers durch Losentscheid bestimmt worden seien. 106 Mit Urteilen eines Spruchkörpers mit fünf Richtern vom 25. Februar und 20. Mai 2019 gab der Oberste Kassations- und Gerichtshof den außerordentlichen Rechtsbehelfen im Licht des Urteils Nr. 685/2018 statt, erklärte die Verurteilung von NC für ungültig und verwies die von diesem und der DNA eingelegten Berufungen zur erneuten Prüfung zurück. 107 Während das Berufungsverfahren noch bei einem Spruchkörper mit fünf Richtern des Obersten Kassations- und Gerichtshofs zur erneuten Prüfung anhängig war, erließ der Verfassungsgerichtshof sein in Rn. 95 des vorliegenden Urteils angeführtes Urteil Nr. 417/2019. 108 Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob dieses Urteil mit Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 47 der Charta und Art. 4 der Richtlinie 2017/1371 vereinbar ist. Was insbesondere Art. 325 AEUV betrifft, bringt das vorlegende Gericht im Wesentlichen die gleichen Gründe vor wie die in der Rechtssache C‑811/19 angeführten. Das vorlegende Gericht fügt hinzu, dass die Gerichtsverfahren im Ausgangsrechtsstreit etwa vier Jahre gedauert hätten und dass sich die Rechtssache infolge der Anwendung des Urteils Nr. 685/2018 im Stadium eines Verfahrens zur erneuten Prüfung der Berufung befinde. Die Anwendung des Urteils Nr. 417/2019 führe außerdem zur Wiedereröffnung eines Verfahrens zur Entscheidung in der Sache, was zur Folge habe, dass ein und dasselbe Verfahren zweimal in erster Instanz und dreimal in der Berufungsinstanz durchgeführt werde. 109 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass mit dem Urteil Nr. 417/2019 verbindliche Verfahrensmaßnahmen festgelegt worden seien, die die Eröffnung neuer Gerichtsverfahren erforderlich machten, weil es an einer Spezialisierung der erstinstanzlichen Spruchkörper in Bezug auf die im Gesetz Nr. 78/2000 vorgesehenen Straftaten gefehlt habe. Aufgrund dieses Urteils bestehe somit die Gefahr der Straflosigkeit in einer beträchtlichen Zahl von Fällen, die schwere Straftaten beträfen. Unter diesen Umständen würde das Erfordernis der Effektivität nach Art. 325 AEUV und das Grundrecht des Angeklagten auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist beeinträchtigt. 110 Ebenso ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass dem Gerichtshof wie in den Rechtssachen C‑357/19, C‑547/19 und C‑811/19 die Frage zu stellen sei, ob das Eingreifen des Verfassungsgerichtshofs mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar sei. Das vorlegende Gericht betont die Bedeutung der Beachtung der Urteile des Verfassungsgerichtshofs und weist darauf hin, dass sich seine Frage nicht auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs im Allgemeinen, sondern nur auf das Urteil Nr. 417/2019 beziehe. In diesem Urteil habe der Verfassungsgerichtshof seine eigene Auslegung derjenigen des Obersten Kassations- und Gerichtshofs betreffend die jeweiligen abweichenden Bestimmungen des Gesetzes Nr. 78/2000 und des geänderten Gesetzes Nr. 304/2004 über die Bildung spezialisierter Spruchkörper entgegengesetzt und in die Zuständigkeiten des letztgenannten Gerichts eingegriffen, indem es die erneute Prüfung bestimmter Rechtssachen angeordnet habe. 111 Unter diesen Umständen hat der Oberste Kassations- und Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 19 Abs. 1 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV und Art. 4 der Richtlinie 2017/1371, erlassen auf der Grundlage von Art. 83 Abs. 2 AEUV, dahin auszulegen, dass sie dem Erlass einer Entscheidung durch eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung, den Verfassungsgerichtshof, entgegenstehen, die vorschreibt, dass in einem bestimmten Zeitraum entschiedene Korruptionssachen, die in der Berufung anhängig sind, zur erneuten Verhandlung zurückzuverweisen sind, weil auf der Ebene des obersten Gerichts keine auf diesem Gebiet spezialisierten Spruchkörper errichtet worden waren, obgleich sie die Spezialisierung der Richter anerkennt, mit denen die Spruchkörper besetzt waren? 2. Sind Art. 2 EUV und Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass eine außerhalb der Justiz stehende Einrichtung die Rechtswidrigkeit der Besetzung der Spruchkörper innerhalb einer Abteilung eines obersten Gerichts (Spruchkörper, die mit amtierenden Richtern besetzt sind, die zum Zeitpunkt der Beförderung u. a. die Voraussetzung der Spezialisierung erfüllt haben, die für die Beförderung zum obersten Gericht verlangt wird) feststellt? 3. Ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er es dem nationalen Gericht erlaubt, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung, die aufgrund einer Befassung mit einem Verfassungskonflikt ergangen ist und nach nationalem Recht verbindlich ist, unangewendet zu lassen? Verfahren vor dem Gerichtshof Zur Verbindung 112 Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. Februar 2020 sind die Rechtssachen C‑357/19 und C‑547/19 auf der einen und die Rechtssachen C‑811/19 und C‑840/19 auf der anderen Seite zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 21. Mai 2021 sind diese Rechtssachen sowie die Rechtssache C‑379/19 in Anbetracht ihres Zusammenhangs zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Zu den Anträgen auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens und zur vorrangigen Behandlung 113 Die vorlegenden Gerichte in den Rechtssachen C‑357/19, C‑379/19, C‑811/19 und C‑840/19 haben beantragt, die Vorabentscheidungsersuchen in diesen Rechtssachen gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. 114 Zur Stützung ihrer Anträge haben die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Situation der im Rahmen der Ausgangsverfahren beschuldigten Personen eine rasche Beantwortung erfordere. Was konkret die Rechtssachen C‑357/19, C‑811/19 und C‑840/19 anbelangt, haben sie außerdem vorgetragen, dass der Zeitablauf die etwaige Strafvollstreckung gefährden würde. 115 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung vorsieht, dass der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert. 116 Insoweit ist daran zu erinnern, dass ein solches beschleunigtes Verfahren ein Verfahrensinstrument ist, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll. Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass das beschleunigte Verfahren keine Anwendung finden kann, wenn die Sensibilität und die Komplexität der durch einen Fall aufgeworfenen rechtlichen Fragen kaum mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind, insbesondere, wenn es nicht angebracht erscheint, das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof zu verkürzen (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). 117 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs in den Rechtssachen C‑357/19 und C‑379/19 mit Beschlüssen vom 23. Mai bzw. 17. Juni 2019 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, die Anträge auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren zurückzuweisen. Zum einen konnte nämlich der Grund, der darauf gestützt war, dass diese Anträge Strafverfahren beträfen und deshalb eine zügige Beantwortung erforderten, um die rechtliche Situation der im Rahmen der Ausgangsverfahren beschuldigten Personen zu klären, für sich genommen nicht genügen, um zu rechtfertigen, dass diese Rechtssachen dem in Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung vorgesehenen beschleunigten Verfahren unterworfen werden, da solche Umstände nicht geeignet sind, eine außerordentliche Dringlichkeitssituation im Sinne von Rn. 116 des vorliegenden Urteils zu erzeugen (vgl. entsprechend Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. September 2018, Minister for Justice and Equality, C‑508/18 und C‑509/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:766, Rn. 11 und die dort angeführte Rechtsprechung). 118 Zum anderen ist festzustellen, dass, auch wenn zunächst davon auszugehen ist, dass Vorlagefragen, die sich auf grundlegende Bestimmungen des Unionsrechts beziehen, von überragender Bedeutung für das ordnungsgemäße Funktionieren des Gerichtssystems der Union sind, für das die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte wesentlich ist, sich der sensible und komplexe Charakter dieser Fragen schwerlich für die Anwendung des beschleunigten Verfahrens eignen würde (vgl. entsprechend Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 105, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 34). 119 In Anbetracht der Art der vorgelegten Fragen hat der Präsident des Gerichtshofs jedoch mit Entscheidung vom 18. September 2019 den Rechtssachen C‑357/19 und C‑379/19 gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung eine vorrangige Behandlung gewährt. 120 Was die Rechtssachen C‑811/19 und C‑840/19 betrifft, zeigen diese Rechtssachen in der Zusammenschau mit den Rechtssachen C‑357/19 und C‑379/19, dass bei den rumänischen Gerichten in zahlreichen Strafsachen, in denen es um den Ablauf der Verjährungsfrist und damit die Gefahr einer Straflosigkeit geht, Unsicherheit hinsichtlich der Auslegung und Anwendung des Unionsrechts besteht. Unter diesen Umständen und angesichts des Stands der Bearbeitung der Rechtssachen C‑357/19, C‑379/19 und C‑547/19, die ähnliche Fragen zur Auslegung des Unionsrechts aufwerfen, hat der Präsident des Gerichtshofs mit Beschluss vom 28. November 2019 entschieden, die Rechtssachen C‑811/19 und C‑840/19 einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens 121 Die gemeinsame mündliche Verhandlung, die für die vorliegenden Rechtssachen vorgesehen war, wurde aufgrund der Gesundheitskrise im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie dreimal verschoben und schließlich mit Entscheidung vom 3. September 2020 endgültig abgesagt. Die Große Kammer des Gerichtshofs hat gemäß Art. 61 Abs. 1 der Verfahrensordnung beschlossen, die Fragen, die den Parteien und den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten, die schriftliche Erklärungen abgegeben haben, im Hinblick auf die mündliche Verhandlung mitgeteilt worden waren, in Fragen zur schriftlichen Beantwortung umzuwandeln. CY, PM, RO, KI, LJ, NC, FQ, das Forum der Richter Rumäniens, die DNA, die regionale Dienststelle Oradea der DNA, die rumänische Regierung und die Kommission haben dem Gerichtshof fristgerecht ihre Antworten auf diese Fragen übermittelt. 122 Mit Schriftsatz, der am 16. April 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat PM die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt. Zur Stützung ihres Antrags hat PM unter Bezugnahme auf die Art. 19, 20, 31 und 32 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union sowie auf die Art. 64, 65, 80 und 81 der Verfahrensordnung im Wesentlichen geltend gemacht, dass das Fehlen einer mündlichen Verhandlung ihr Recht auf ein faires Verfahren und den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens beeinträchtige. 123 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der in Art. 47 der Charta verankerte Anspruch auf rechtliches Gehör keine absolute Verpflichtung zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung in allen Verfahren vorsieht. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Rechtssache keine Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft, die sich nicht unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen ließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Sacko, C‑348/16, EU:C:2017:591, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 124 So sieht Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung für das mündliche Verfahren vor dem Gerichtshof vor, dass der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entscheiden kann, keine mündliche Verhandlung abzuhalten, wenn er sich durch die im schriftlichen Verfahren eingereichten Schriftsätze oder Erklärungen für ausreichend unterrichtet hält, um eine Entscheidung zu erlassen. Nach Art. 76 Abs. 3 der Verfahrensordnung findet diese Bestimmung jedoch keine Anwendung, wenn ein mit Gründen versehener Antrag auf mündliche Verhandlung von einem in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten, der nicht am schriftlichen Verfahren teilgenommen hat, gestellt worden ist. Im vorliegenden Fall hat jedoch keiner dieser Beteiligten einen entsprechenden Antrag gestellt. 125 Nach alledem konnte der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung ohne Verstoß gegen die sich aus Art. 47 der Charta ergebenden Erfordernisse beschließen, in den vorliegenden Rechtssachen keine mündliche Verhandlung abzuhalten. Im Übrigen hat der Gerichtshof, wie in Rn. 121 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, den Parteien und den Beteiligten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, Fragen zur schriftlichen Beantwortung gestellt und es ihnen damit ermöglicht, dem Gerichtshof zusätzliche Aspekte vorzutragen; von dieser Möglichkeit hat u. a. PM Gebrauch gemacht. 126 Nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof zwar jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist. 127 Der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens, den PM gestellt hat, nachdem die Schlussanträge des Generalanwalts verlesen worden waren, lässt jedoch keine neue Tatsache erkennen, die geeignet wäre, die vom Gerichtshof zu erlassende Entscheidung zu beeinflussen. Außerdem ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er am Ende des vor ihm durchgeführten Verfahrens über alle für die Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑357/19 erforderlichen Informationen verfügt. 128 Nach alledem ist dem Antrag von PM auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens nach Anhörung des Generalanwalts nicht stattzugeben. Zu den Vorlagefragen Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 129 Die Parteien PM, RO, TQ, KI, LJ und NC der Ausgangsverfahren sowie die polnische Regierung haben Zweifel hinsichtlich der Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung bestimmter Fragen der vorlegenden Gerichte geäußert. 130 Die insoweit von PM, RO und TQ aufgeworfenen Fragen betreffen die Vorlagefragen in der Rechtssache C‑357/19, die von KI und LJ aufgeworfenen Fragen die Vorlagefragen in der Rechtssache C‑379/19 und die von NC aufgeworfenen Fragen die Vorlagefragen in der Rechtssache C‑840/19. Die polnische Regierung stellt die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der Vorlagefragen in den Rechtssachen C‑357/19, C‑811/19 und C‑840/19 sowie der dritten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑379/19 in Frage. 131 Diese Parteien der Ausgangsverfahren und die polnische Regierung bringen drei Reihen von Argumenten vor. Zunächst beträfen die von den vorlegenden Gerichten aufgeworfenen Fragen zur Vereinbarkeit der Rechtsprechung aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen des Verfassungsgerichtshofs mit dem Unionsrecht die Organisation des Justizsystems, einen Bereich also, in dem die Union über keine Zuständigkeit verfüge. Sodann enthalte das Unionsrecht keine Normen über die Tragweite und die Wirkungen der Urteile eines nationalen Verfassungsgerichts, so dass diese Fragen nicht das Unionsrecht, sondern das nationale Recht beträfen. Schließlich würden die vorlegenden Gerichte den Gerichtshof in Wirklichkeit auffordern, sich zur Rechtmäßigkeit dieser Urteile des Verfassungsgerichtshofs sowie zu bestimmten Tatsachenfeststellungen des Verfassungsgerichtshofs zu äußern, was nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs falle. 132 Hierzu ist festzustellen, dass die Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, sei es von Bestimmungen des Primärrechts, u. a. Art. 2, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 AEUV und Art. 47 der Charta, sei es von Bestimmungen des abgeleiteten Rechts, u. a. der Entscheidung 2006/928. Außerdem betreffen diese Ersuchen ein Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union, für dessen Auslegung der Gerichtshof zuständig ist, nämlich das PIF‑Übereinkommen. 133 Zudem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Gleiche gilt im Bereich der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit der Richter wegen Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts. 134 Was das Vorbringen betrifft, wonach der Gerichtshof mit den Vorabentscheidungsersuchen im Wesentlichen dazu aufgefordert werde, die Tragweite, die Wirkungen und die Rechtmäßigkeit der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteile des Verfassungsgerichtshofs zu beurteilen und sich zu bestimmten von diesem zugrunde gelegten Tatsachen zu äußern, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass in einem Verfahren nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, zwar allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig ist, es jedoch Sache des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht, das ihn um Vorabentscheidung ersucht hat, unter Berücksichtigung der Angaben in der Vorlageentscheidung zu dem auf den Rechtsstreit anwendbaren nationalen Recht und zu dem ihn kennzeichnenden Sachverhalt die Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die sich als erforderlich für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erweisen können (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). 135 Zum anderen ist der Gerichtshof, auch wenn es nicht seine Sache ist, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften oder einer nationalen Rechtspraxis mit dem Unionsrecht zu beurteilen, gleichwohl befugt, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung). 136 Nach alledem ist der Gerichtshof für die Beantwortung der in den vorliegenden Rechtssachen gestellten Fragen, einschließlich der in Rn. 130 des vorliegenden Urteils genannten, zuständig. Zur Zulässigkeit Rechtssache C‑379/19 137 KI wendet die Unzulässigkeit aller drei Vorlagefragen in der Rechtssache C‑379/19 ein. In Bezug auf die erste Frage macht er geltend, dass die Antwort darauf offensichtlich sei, wobei er darauf hinweist, dass weder die Entscheidung 2006/928 noch die Empfehlungen in den auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichten der Kommission im Rahmen des Ausgangsverfahrens geltend gemacht worden seien. Was die zweite und die dritte Frage anbelangt, ist KI der Ansicht, dass die damit aufgeworfenen Fragen keinerlei Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens aufwiesen, da das vorlegende Gericht in Wirklichkeit nur versuche, sich seiner Verpflichtung zu entziehen, die Rechtsprechung aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen des Verfassungsgerichtshofs anzuwenden, was die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit seiner Mitglieder auslöse. 138 Bezüglich des Umstands, dass die richtige Auslegung des Unionsrechts im vorliegenden Fall so offenkundig sei, dass sie keinen Raum für vernünftige Zweifel lasse, genügt insoweit der Hinweis, dass ein solcher Umstand, wenn er erwiesen ist, den Gerichtshof dazu veranlassen kann, durch Beschluss nach Art. 99 der Verfahrensordnung zu entscheiden, aber weder das nationale Gericht daran hindern kann, eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, noch zur Unzulässigkeit dieser Frage führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 96). 139 Außerdem spricht nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 116, und vom 2. September 2021, INPS [Geburts- und Mutterschaftsbeihilfen für Inhaber einer kombinierten Erlaubnis], C‑350/20, EU:C:2021:659, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 140 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht im Rahmen eines Strafverfahrens, das u. a. Korruptionsdelikte betrifft, mit einem Antrag der beschuldigten Personen befasst worden ist, in Anwendung mehrerer Urteile des Verfassungsgerichtshofs Beweismittel, die in Protokollen über die Niederschrift von Abhörmaßnahmen bestehen, vom Verfahren auszuschließen. Gerade aber wegen seiner Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Urteile – deren Nichtbeachtung durch ein nationales Gericht außerdem die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der Richter, die an der Entscheidung bei diesem Gericht mitgewirkt haben, auslösen kann – mit dem Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, hat das vorlegende Gericht beschlossen, den Gerichtshof im Rahmen der zweiten und der dritten Vorlagefrage u. a. zur Auslegung dieser Bestimmung zu befragen. Was die Entscheidung 2006/928 anbelangt, auf die sich die erste Vorlagefrage bezieht, ist festzustellen, dass dieses Unabhängigkeitserfordernis in Anbetracht des dritten Erwägungsgrundes dieser Entscheidung, auf den im Vorabentscheidungsersuchen Bezug genommen wird, durch die im Anhang dieser Entscheidung angeführten Vorgaben und die Empfehlungen in den auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichten der Kommission konkretisiert wird. Der Zusammenhang zwischen dem Ausgangsverfahren und den drei Vorlagefragen geht somit klar aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor. 141 Nach alledem sind die Vorlagefragen in der Rechtssache C‑379/19 zulässig. Rechtssache C‑547/19 142 Die Justizinspektion stellt die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens mit der Begründung in Abrede, dass die Art. 2 und 19 EUV sowie Art. 47 der Charta, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersuche, auf das Ausgangsverfahren nicht anwendbar seien. 143 Hierzu ist festzustellen, dass sich der Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑547/19 auf einen Rechtsbehelf bezieht, den ein Richter beim vorlegenden Gericht gegen die gegen ihn verhängte Disziplinarsanktion des Ausschlusses aus der Richterschaft eingelegt hat und mit dem der Betroffene die Rechtmäßigkeit der Besetzung dieses Gerichts in Abrede stellt, die gemäß den im Urteil Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichtshofs aufgestellten Anforderungen vorgenommen wurde. Das vorlegende Gericht muss daher über diese prozessuale Einrede entscheiden und sich in diesem Rahmen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung aus diesem Urteil, die seiner Ansicht nach geeignet ist, seine Unabhängigkeit in Frage zu stellen, zur Rechtmäßigkeit seiner eigenen Besetzung äußern. 144 Das vorlegende Gericht ist aber eine Einrichtung der Justiz, die als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat. Im vorliegenden Fall findet Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV somit auf das vorlegende Gericht Anwendung, das nach dieser Bestimmung sicherstellen muss, dass die Disziplinarregelung für Richter der nationalen Gerichte, die Bestandteil der nationalen Rechtsbehelfssysteme in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gerecht wird, indem sie insbesondere gewährleistet, dass die im Rahmen von Disziplinarverfahren gegen Richter dieser Gerichte erlassenen Entscheidungen von einer Einrichtung überprüft werden, die ihrerseits die Garantien eines wirksamen Rechtsschutzes erfüllt, zu denen die Unabhängigkeit zählt (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Rahmen der Auslegung dieser Bestimmung sind sowohl Art. 2 EUV als auch Art. 47 der Charta zu berücksichtigen. 145 Daraus folgt, dass das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑547/19 zulässig ist. Rechtssachen C‑357/19, C‑811/19 und C‑840/19 146 In der Rechtssache C‑357/19 wenden PM, RO und TQ sowie die polnische Regierung die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens ein. Zunächst weisen PM und RO darauf hin, dass ihre persönliche rechtliche Situation in keinerlei Zusammenhang mit Straftaten stehe, die die finanziellen Interessen der Union und damit Art. 325 Abs. 1 AEUV beeinträchtigten. RO und TQ weisen sodann darauf hin, dass sich das vorlegende Gericht, indem es die außerordentlichen Rechtsbehelfe für zulässig erklärt habe, bereits zur Frage der Anwendbarkeit des Urteils Nr. 685/2018 des Verfassungsgerichtshofs geäußert habe, so dass es für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht mehr erforderlich sei, diese Frage zu klären. Die polnische Regierung schließlich vertritt die Auffassung, dass die Rechtssache C‑357/19 nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit nicht in den Anwendungsbereich der Charta falle. 147 In der Rechtssache C‑811/19 stellt die polnische Regierung ebenfalls die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens in Abrede und macht geltend, dass auch diese Rechtssache nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle und die Charta daher nicht anzuwenden sei. 148 In der Rechtssache C‑840/19 macht NC geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig. In Bezug auf die erste Frage ist er der Ansicht, dass Art. 325 AEUV auf diese Rechtssache nicht anwendbar sei, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zuwiderhandlung die finanziellen Interessen der Union nicht beeinträchtige. Bezüglich der dritten Frage macht NC geltend, dass die Antwort auf diese Frage unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts keinen Raum für vernünftige Zweifel lasse. Allgemein ist NC der Ansicht, dass die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht von der Beantwortung der Vorlagefragen abhänge, und macht darüber hinaus geltend, dass die Informationen und Einschätzungen des vorlegenden Gerichts bezüglich des Verfassungsgerichtshofs, insbesondere zu dessen Urteil Nr. 417/2019, unvollständig und teilweise fehlerhaft seien. Die polnische Regierung hält das Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑840/19 aus denselben Gründen wie in der Rechtssache C‑811/19 für unzulässig. 149 Zu diesen verschiedenen Aspekten ist bereits in Rn. 139 des vorliegenden Urteils darauf hingewiesen worden, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. 150 Was die Rechtssache C‑357/19 anbelangt, geht aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass diesem ein Strafverfahren zugrunde liegt, das gegen mehrere Personen eingeleitet wurde, die wegen Korruptionsdelikten im Zusammenhang mit der Verwaltung von Mitteln der Union und wegen Straftaten des Mehrwertsteuerbetrugs verfolgt werden. In den Rechtssachen C‑811/19 und C‑840/19 hat das vorlegende Gericht darauf hingewiesen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafverfahren Korruptionsdelikte im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge betroffen hätten, die im Rahmen von mit Mitteln der Union finanzierten Projekten vergeben worden seien. In Anbetracht dieser Gesichtspunkte, deren Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat, scheint es, dass die Ausgangsverfahren zum Teil Mehrwertsteuerbetrugsdelikte betreffen, die die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen können und somit unter Art. 325 Abs. 1 AEUV fallen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 31 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Hinsichtlich der Korruptionsdelikte im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge, die im Rahmen von mit Mitteln der Union finanzierten Projekten vergeben wurden, werfen die vorlegenden Gerichte u. a. die Frage auf, ob Art. 325 Abs. 1 AEUV auf solche Straftaten anwendbar ist, so dass das Argument der etwaigen Unanwendbarkeit dieser Bestimmung die Zulässigkeit der insoweit gestellten Fragen nicht in Frage stellen kann. 151 Da das vorlegende Gericht in den Rechtssachen C‑357/19, C‑811/19 und C‑840/19 der Ansicht ist, dass die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den Urteilen Nrn. 685/2018 und 417/2019 die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigen und die Korruptionsbekämpfung behindern könne, fragt es den Gerichtshof außerdem nach der Auslegung u. a. von Art. 325 Abs. 1 AEUV und von Art. 19 Abs. 1 EUV sowie des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts, um entscheiden zu können, ob es diese Urteile anwenden oder im Gegenteil unangewendet lassen muss. Die Anwendbarkeit dieser Urteile hätte nach den Angaben des vorlegenden Gerichts zur Folge, dass dem Rechtsbehelf stattgegeben oder ein Verfahren zur Entscheidung in der Sache wiedereröffnet werden müsste. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die erbetene Auslegung von Art. 325 AEUV, Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta, auf die in den Vorabentscheidungsersuchen Bezug genommen wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Prüfung der Rechtsbehelfe in den Ausgangsverfahren steht. 152 Was den Umstand betrifft, dass die Antwort auf die dritte Frage in der Rechtssache C‑840/19 keinen Raum für Zweifel lasse, ist festzustellen, dass ein Umstand dieser Art, wie sich aus Rn. 138 des vorliegenden Urteils ergibt, weder ein nationales Gericht daran hindern kann, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, noch zur Unzulässigkeit dieser Frage führen kann. 153 Folglich sind die Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen C‑357/19, C‑811/19 und C‑840/19 zulässig. Zur Beantwortung der Fragen 154 Mit ihren Vorabentscheidungsersuchen fragen die vorlegenden Gerichte den Gerichtshof nach der Auslegung mehrerer Grundsätze und Bestimmungen des Unionsrechts wie Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV, der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, Art. 2 des PIF‑Übereinkommens und die Entscheidung 2006/928. Die Fragen, die sie insoweit aufwerfen, betreffen – die Frage, ob die Entscheidung 2006/928 und die auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte für Rumänien verbindlich sind (erste Frage in der Rechtssache C‑379/19); – die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung oder Praxis – wonach Urteile im Bereich der Korruption und des Mehrwertsteuerbetrugs, die in erster Instanz nicht von in diesem Bereich spezialisierten Spruchkörpern bzw. in der Berufungsinstanz nicht von Spruchkörpern erlassen wurden, deren Mitglieder sämtlich durch Losentscheid bestimmt wurden, absolut nichtig sind, so dass die betreffenden Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsfälle, gegebenenfalls infolge eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gegen rechtskräftige Berufungsurteile, in erster und/oder zweiter Instanz erneut geprüft werden müssen – mit dem Unionsrecht, namentlich mit Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des PIF‑Übereinkommens (erste Frage in den Rechtssachen C‑357/19 und C‑840/19 sowie erste und vierte Frage in der Rechtssache C‑811/19); – die Frage, ob eine nationale Regelung oder Praxis, wonach die nationalen ordentlichen Gerichte an Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts über die Zulässigkeit bestimmter Beweise und die Rechtmäßigkeit der Besetzung der Spruchkörper, die auf dem Gebiet der Korruption, des Mehrwertsteuerbetrugs und der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit von Richtern entscheiden, gebunden sind und – aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie der Auffassung sind, dass diese Rechtsprechung gegen Bestimmungen des Unionsrechts verstößt, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, namentlich zum einen mit Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie mit der Entscheidung 2006/928 und zum anderen mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts (zweite und dritte Frage in den Rechtssachen C‑357/19, C‑379/19, C‑811/19 und C‑840/19 sowie einzige Frage in der Rechtssache C‑547/19). Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑379/19 155 Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑379/19 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Entscheidung 2006/928 sowie die Empfehlungen in den auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichten der Kommission für Rumänien verbindlich sind. 156 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung 2006/928 eine Handlung eines Organs der Union, nämlich der Kommission, ist, die auf der Grundlage der Beitrittsakte, die zum Primärrecht der Union gehört, ergangen ist, und insbesondere einen Beschluss im Sinne von Art. 288 Abs. 4 AEUV darstellt. Die Berichte der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, die im Rahmen des mit der genannten Entscheidung geschaffenen VZÜ erstellt werden, sind ebenfalls als Handlungen eines Organs der Union anzusehen, deren Rechtsgrundlage das Unionsrecht ist, nämlich Art. 2 dieser Entscheidung (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 149). 157 Wie aus den Erwägungsgründen 4 und 5 der Entscheidung 2006/928 hervorgeht, wurde diese im Zusammenhang mit dem Beitritt Rumäniens zur Union erlassen, der am 1. Januar 2007 auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erfolgte, die die Kommission ermächtigten, geeignete Maßnahmen zu erlassen, wenn die unmittelbare Gefahr, dass Rumänien die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen nicht erfüllt und dadurch eine schwere Beeinträchtigung des Funktionierens des Binnenmarkts hervorruft, bzw. die unmittelbare Gefahr ernster Mängel in Rumänien hinsichtlich der Beachtung des Unionsrechts betreffend den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts besteht. 158 Die Entscheidung 2006/928 wurde aber wegen des Bestehens unmittelbarer Gefahren der in den Art. 37 und 38 der Beitrittsakte genannten Art erlassen. Wie nämlich aus dem Monitoring-Bericht der Kommission vom 26. September 2006 über den Stand der Beitrittsvorbereitungen Bulgariens und Rumäniens (KOM[2006] 549 endgültig) hervorgeht, auf den im vierten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/928 Bezug genommen wird, stellte die Kommission fest, dass in Rumänien Mängel u. a. in den Bereichen Justiz und Korruption fortbestanden, und schlug dem Rat vor, den Beitritt dieses Staates zur Union von der Einführung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung zur Behebung dieser Mängel abhängig zu machen. Zu diesem Zweck wurden mit dieser Entscheidung, wie u. a. aus deren Erwägungsgründen 4 und 6 hervorgeht, das VZÜ eingeführt und in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung die in Art. 1 der Entscheidung genannten und in deren Anhang ausgeführten Vorgaben festgelegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 157 und 158). 159 Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und der Binnenmarkt beruhen insoweit – wie es in den Erwägungsgründen 2 und 3 der Entscheidung 2006/928 heißt – auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, dass ihre Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen und ihre Verwaltungs- und Gerichtspraxis in jeder Hinsicht mit dem Rechtsstaatsprinzip im Einklang stehen, was bedeutet, dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches, unabhängiges und effizientes Justiz- und Verwaltungssystem verfügen müssen, das ausreichend dafür ausgestattet ist, u. a. Korruption zu bekämpfen (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 159). 160 Nach Art. 49 EUV, wonach jeder europäische Staat beantragen kann, Mitglied der Union zu werden, besteht die Union aber aus Staaten, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen. Aus Art. 2 EUV geht insbesondere hervor, dass sich die Union auf Werte wie die Rechtsstaatlichkeit gründet, die allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich u. a. durch Gerechtigkeit auszeichnet, gemeinsam sind. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere zwischen deren Gerichten auf der Prämisse beruht, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen, auf die sich, wie es im genannten Artikel heißt, die Union gründet (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 160 und die dort angeführte Rechtsprechung). 161 Somit stellt die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte eine Vorbedingung für den Beitritt jedes europäischen Staates, der Mitglied der Union werden möchte, zur Union dar. In diesem Kontext wurde das VZÜ mit der Entscheidung 2006/928 eingeführt, um die Wahrung des Wertes der Rechtsstaatlichkeit in Rumänien zu gewährleisten (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 161). 162 Außerdem ist die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben. Ein Mitgliedstaat darf daher seine Rechtsvorschriften nicht dergestalt ändern, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 EUV konkretisiert wird. Die Mitgliedstaaten müssen somit dafür Sorge tragen, dass sie jeden nach Maßgabe dieses Wertes eintretenden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Justiz vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 162 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 51). 163 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die vor dem Beitritt von den Organen der Union erlassenen Rechtsakte, zu denen die Entscheidung 2006/928 zählt, für Rumänien nach Art. 2 der Beitrittsakte seit seinem Beitritt zur Union bindend sind und gemäß Art. 2 Abs. 3 des Beitrittsvertrags bis zu ihrer Aufhebung in Kraft bleiben (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 163). 164 Was insbesondere die auf der Grundlage der Art. 37 und 38 der Beitrittsakte erlassenen Maßnahmen anbelangt, ermächtigte zwar der jeweilige Abs. 1 dieser Artikel die Kommission, die in diesen Artikeln genannten Maßnahmen „für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt“ zu erlassen, jedoch ist im jeweiligen Abs. 2 dieser Artikel ausdrücklich vorgesehen worden, dass die so erlassenen Maßnahmen über diesen Zeitraum hinaus angewandt werden könnten, solange die einschlägigen Verpflichtungen nicht erfüllt wären oder die festgestellten Mängel fortbestünden, und dass die genannten Maßnahmen erst aufgehoben würden, wenn die einschlägige Verpflichtung erfüllt oder der betreffende Mangel beseitigt wäre. Außerdem wird im neunten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/928 selbst klargestellt, dass diese „aufzuheben [ist], wenn alle Vorgaben zufriedenstellend erfüllt sind“. 165 Folglich entfaltet die Entscheidung 2006/928 ihre Wirkungen über den Zeitpunkt des Beitritts Rumäniens zur Union hinaus, solange sie nicht aufgehoben worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 165). 166 Bezüglich der Frage, ob und inwieweit die Entscheidung 2006/928 für Rumänien verbindlich ist, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 288 Abs. 4 AEUV wie Art. 249 Abs. 4 EG vorsieht, dass Beschlüsse „in allen ihren Teilen“ für diejenigen „verbindlich“ sind, die sie bezeichnen. 167 Gemäß ihrem Art. 4 ist die Entscheidung 2006/928 an alle Mitgliedstaaten gerichtet, was Rumänien seit seinem Beitritt einschließt. Diese Entscheidung ist daher für diesen Mitgliedstaat seit seinem Beitritt zur Union in allen ihren Teilen verbindlich. Mit dieser Entscheidung wird Rumänien somit verpflichtet, die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben zu erfüllen und der Kommission gemäß Art. 1 Abs. 1 jährlich über die insoweit erzielten Fortschritte zu berichten (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 167 und 168). 168 Insbesondere bezüglich dieser Vorgaben ist hinzuzufügen, dass diese, wie sich aus den Rn. 157 bis 162 des vorliegenden Urteils ergibt, aufgrund der von der Kommission vor dem Beitritt Rumäniens zur Union u. a. in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung festgestellten Mängel festgelegt wurden und bezwecken, die Achtung des in Art. 2 EUV verankerten Wertes der Rechtsstaatlichkeit durch diesen Mitgliedstaat zu gewährleisten, was Voraussetzung für die Wahrnehmung aller Rechte ist, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben. Außerdem konkretisieren diese Vorgaben die von Rumänien beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen am 14. Dezember 2004 übernommenen bzw. akzeptierten besonderen Verpflichtungen und Anforderungen, die in Anhang IX der Beitrittsakte aufgeführt sind, betreffend u. a. die Bereiche Justiz und Korruptionsbekämpfung. Daher bestand, wie sich aus den Erwägungsgründen 4 und 6 der Entscheidung 2006/928 ergibt, der Zweck der Einführung des VZÜ und der Festlegung der Vorgaben darin, den Beitritt Rumäniens zur Union zu vollenden, um die von der Kommission vor dem Beitritt in diesen Bereichen festgestellten Mängel zu beheben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 169 bis 171). 169 Daraus folgt, dass die Vorgaben für Rumänien verbindlich sind, so dass dieser Mitgliedstaat der besonderen Verpflichtung unterliegt, diese Vorgaben zu erreichen und alsbald die zu deren Erreichung geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Ebenso ist dieser Mitgliedstaat verpflichtet, von der Durchführung aller Maßnahmen abzusehen, die die Erreichung dieser Vorgaben gefährden könnten (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 172). 170 Zu den von der Kommission auf der Grundlage der Entscheidung 2006/928 erstellten Berichten ist darauf hinzuweisen, dass für die Feststellung, ob eine Handlung der Union verbindliche Wirkungen erzeugt, auf das Wesen dieser Handlung abzustellen ist und ihre Wirkungen anhand objektiver Kriterien wie z. B. des Inhalts der Handlung zu beurteilen sind, wobei gegebenenfalls der Zusammenhang ihres Erlasses und die Befugnisse des die Handlung vornehmenden Organs zu berücksichtigen sind (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 173 und die dort angeführte Rechtsprechung). 171 Im vorliegenden Fall sind die auf der Grundlage der Entscheidung 2006/928 erstellten Berichte gemäß deren Art. 2 Abs. 1 zwar nicht an Rumänien, sondern an das Parlament und den Rat gerichtet. Außerdem enthalten diese Berichte zwar eine Analyse der Situation in Rumänien und werden darin Anforderungen in Bezug auf diesen Mitgliedstaat formuliert, doch werden mit den darin enthaltenen Schlussfolgerungen unter Bezugnahme auf diese Anforderungen „Empfehlungen“ an diesen Mitgliedstaat gerichtet. 172 Allerdings sind diese Berichte, wie sich aus Art. 1 in Verbindung mit Art. 2 der genannten Entscheidung ergibt, dazu bestimmt, die Fortschritte, die Rumänien im Hinblick auf die von diesem Mitgliedstaat zu erreichenden Vorgaben erzielt hat, zu analysieren und zu bewerten. Was insbesondere die Empfehlungen in diesen Berichten anbelangt, so werden diese im Hinblick auf die Verwirklichung dieser Ziele formuliert, um die Reformen dieses Mitgliedstaats in dieser Hinsicht zu leiten (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 175). 173 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, sowie die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben; diese Verpflichtung obliegt im Rahmen seiner Zuständigkeiten jedem Organ des betreffenden Mitgliedstaats (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 176 und die dort angeführte Rechtsprechung). 174 Unter diesen Umständen muss Rumänien, um den im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben zu entsprechen, den in den von der Kommission aufgrund dieser Entscheidung erstellten Berichten formulierten Anforderungen und Empfehlungen gebührend Rechnung tragen. Insbesondere darf dieser Mitgliedstaat keine Maßnahmen in den von den Vorgaben erfassten Bereichen erlassen oder beibehalten, die das von diesen Vorgaben vorgeschriebene Ergebnis gefährden könnten. In dem Fall, dass die Kommission in einem solchen Bericht Zweifel an der Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit einer der Vorgaben äußert, obliegt es Rumänien, redlich mit diesem Organ zusammenzuarbeiten, um unter vollständiger Beachtung dieser Vorgaben und der Bestimmungen der Verträge die bei der Erfüllung dieser Vorgaben aufgetretenen Schwierigkeiten zu überwinden (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 177). 175 Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑379/19 zu antworten, dass die Entscheidung 2006/928 für Rumänien in allen ihren Teilen verbindlich ist, solange sie nicht aufgehoben worden ist. Die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben sollen sicherstellen, dass dieser Mitgliedstaat den in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit beachtet, und sind für diesen Mitgliedstaat in dem Sinne verbindlich, dass er verpflichtet ist, die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, wobei er gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die von der Kommission auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte, insbesondere die in diesen Berichten formulierten Empfehlungen, gebührend zu berücksichtigen hat. Zur ersten Frage in den Rechtssachen C‑357/19 und C‑840/19 sowie zur ersten und zur vierten Frage in der Rechtssache C‑811/19 176 Mit der ersten Frage in den Rechtssachen C‑357/19 und C‑840/19 sowie der ersten und der vierten Frage in der Rechtssache C‑811/19, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des PIF‑Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach Urteile im Bereich der Korruption und des Mehrwertsteuerbetrugs, die in erster Instanz nicht von in diesem Bereich spezialisierten Spruchkörpern bzw. in der Berufungsinstanz nicht von Spruchkörpern erlassen wurden, deren Mitglieder sämtlich durch Losentscheid bestimmt wurden, absolut nichtig sind, so dass die betreffenden Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsfälle, gegebenenfalls infolge eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gegen rechtskräftige Urteile, in erster und/oder zweiter Instanz erneut geprüft werden müssen. 177 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht in diesen Rechtssachen die erheblichen Auswirkungen hervorhebt, die die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den Urteilen Nrn. 685/2018 und 417/2019 betreffend die Besetzung der Spruchkörper des Obersten Kassations- und Gerichtshofs auf die Wirksamkeit der Strafverfolgung, der Sanktionen sowie der Vollstreckung der Sanktionen im Bereich der Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsdelikte, wie sie gegen die Angeklagten verhängt wurden, haben könnte; zu den Angeklagten zählen Personen, die zur Zeit der ihnen zur Last gelegten Taten die höchsten Ämter des rumänischen Staates bekleideten. Es möchte daher vom Gerichtshof wissen, ob eine solche Rechtsprechung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. 178 Die Fragen, die es insoweit stellt, beziehen sich zwar formal auf Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des PIF‑Übereinkommens, ohne auf die Entscheidung 2006/928 Bezug zu nehmen, doch sind diese Entscheidung sowie die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben für die Beantwortung dieser Fragen relevant. Obgleich das vorlegende Gericht in seinen Fragen auch auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und die Richtlinien 2015/849 und 2017/1371 Bezug nimmt, erscheint hingegen eine Prüfung, die sich darüber hinaus auf die letztgenannten Bestimmungen erstrecken würde, nicht erforderlich, um auf die mit diesen Fragen aufgeworfenen Fragestellungen zu antworten. Zu diesen Richtlinien ist im Übrigen festzustellen, dass der in den Ausgangsverfahren maßgebliche Zeitraum vor ihrem Inkrafttreten liegt. 179 Unter diesen Umständen sind die genannten Fragen sowohl anhand von Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des PIF‑Übereinkommens als auch anhand der Entscheidung 2006/928 zu beantworten. 180 Insoweit sieht das Unionsrecht, wie in Rn. 133 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, bei seinem gegenwärtigen Stand, keine Vorschriften über die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten und insbesondere nicht über die Besetzung der Spruchkörper im Bereich der Korruption und des Betrugs vor. Daher fallen diese Vorschriften grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Allerdings haben diese Staaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. 181 Was Art. 325 Abs. 1 AEUV anbelangt, so verpflichtet diese Bestimmung die Mitgliedstaaten, Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit abschreckenden Maßnahmen zu bekämpfen (Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 25). 182 Um den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, obliegt es in diesem Zusammenhang namentlich den Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die tatsächliche und vollständige Erhebung der Eigenmittel sicherzustellen, die in den Einnahmen bestehen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 31 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 51 und 52). Ebenso sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Beträge wiedereinzuziehen, die dem Empfänger einer teilweise aus dem Unionshaushalt finanzierten Subvention zu Unrecht gezahlt worden sind (Urteil vom 1. Oktober 2020, Úrad špeciálnej prokuratúry, C‑603/19, EU:C:2020:774, Rn. 55). 183 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 94 und 95 seiner Schlussanträge in den Rechtssachen C‑357/19 und C‑547/19 im Kern ausgeführt hat, umfasst der Begriff der „finanziellen Interessen“ der Union im Sinne von Art. 325 Abs. 1 AEUV daher nicht nur die dem Unionshaushalt zur Verfügung gestellten Einnahmen, sondern auch die von diesem Haushalt gedeckten Ausgaben. Diese Auslegung wird durch die Definition des Begriffs „Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der [Union]“ in Art. 1 Abs. 1 Buchst. a und b des PIF‑Übereinkommens bestätigt, der sich auf verschiedene vorsätzliche Handlungen oder Unterlassungen im Zusammenhang sowohl mit Ausgaben als auch mit Einnahmen bezieht. 184 Was ferner den Ausdruck „sonstige rechtswidrige Handlungen“ in Art. 325 Abs. 1 AEUV betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „rechtswidrige Handlungen“ üblicherweise gesetzwidrige Verhaltensweisen bezeichnet. Dabei weist das Attribut „sonstige“ darauf hin, dass alle diese Verhaltensweisen unterschiedslos erfasst werden. Im Übrigen kann im Hinblick auf die Bedeutung, die dem Schutz der finanziellen Interessen der Union, einem ihrer Ziele, beizumessen ist, der Begriff „rechtswidrige Handlung“ nicht eng ausgelegt werden (Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone, C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 185 Wie der Generalanwalt in Nr. 100 seiner Schlussanträge in den Rechtssachen C‑357/19 und C‑547/19 im Kern ausgeführt hat, umfasst der Begriff „rechtswidrige Handlung“ u. a. jede Bestechlichkeit von Beamten oder jeden Missbrauch eines öffentlichen Amtes durch Beamte, die bzw. der geeignet ist, die finanziellen Interessen der Union zu beeinträchtigen, z. B. in Form einer unrechtmäßigen Erlangung von Mitteln der Union. In diesem Zusammenhang ist es unerheblich, ob das Korruptionsdelikt in einer Handlung oder in einer Unterlassung des betroffenen Beamten zum Ausdruck kommt, da eine Unterlassung die finanziellen Interessen der Union ebenso schädigen kann wie eine Handlung und mit einem solchen Delikt untrennbar verbunden sein kann, wie z. B. das Versäumnis eines Beamten, die erforderlichen Kontrollen und Überprüfungen für vom Unionshaushalt gedeckte Ausgaben durchzuführen, oder die Genehmigung unangemessener oder unzutreffender Ausgaben aus Mitteln der Union. 186 Der Umstand, dass sich Art. 2 Abs. 1 des PIF‑Übereinkommens in Verbindung mit dessen Art. 1 Abs. 1 nur auf Betrug bezieht, der sich gegen die finanziellen Interessen der Union richtet, kann diese Auslegung von Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht entkräften, der ausdrücklich auf „Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen“ abstellt. Wie sich zudem aus Art. 1 Buchst. a des PIF‑Übereinkommens ergibt, erfüllt eine missbräuchliche Verwendung von Mitteln aus dem Unionshaushalt zu anderen Zwecken als denen, für die sie ursprünglich gewährt worden sind, den Tatbestand des Betrugs; eine solche missbräuchliche Verwendung kann zudem auch Ursache oder Ergebnis einer Korruptionshandlung sein. Damit zeigt sich, dass Korruptionshandlungen mit Betrugsfällen zusammenhängen können und umgekehrt die Begehung eines Betrugs durch Korruptionshandlungen erleichtert werden kann, so dass sich eine etwaige Beeinträchtigung der finanziellen Interessen in bestimmten Fällen aus dem Zusammentreffen eines Mehrwertsteuerbetrugs mit Korruptionshandlungen ergeben kann. Wie der Generalanwalt in Nr. 98 seiner Schlussanträge in den Rechtssachen C‑357/19 und C‑547/19 im Kern ausgeführt hat, wird das mögliche Vorliegen eines solchen Zusammenhangs durch das Protokoll zum PIF‑Übereinkommen bestätigt, das nach seinen Art. 2 und 3 Bestechlichkeits- und Bestechungstaten erfasst. 187 Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass auch Unregelmäßigkeiten, die keine konkreten finanziellen Auswirkungen haben, die finanziellen Belange der Union ernsthaft beeinträchtigen können (Urteil vom 21. Dezember 2011, Chambre de commerce et d’industrie de l’Indre, C‑465/10, EU:C:2011:867, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie der Generalanwalt in Nr. 103 seiner Schlussanträge in den Rechtssachen C‑357/19 und C‑547/19 ausgeführt hat, können unter Art. 325 Abs. 1 AEUV daher nicht nur Taten fallen, die tatsächlich einen Verlust an Eigenmitteln verursachen, sondern auch der Versuch solcher Taten. 188 In diesem Zusammenhang ist hinzuzufügen, dass, was Rumänien anbelangt, die Pflicht zur Bekämpfung von Korruption zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, wie sie sich aus Art. 325 Abs. 1 AEUV ergibt, durch die besonderen Verpflichtungen ergänzt wird, die dieser Mitgliedstaat beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen am 14. Dezember 2004 übernommen hat. Gemäß Ziff. I Nr. 4 des Anhangs IX der Beitrittsakte hat sich dieser Mitgliedstaat nämlich u. a. zu einem „[w]esentlich verschärfte[n] Vorgehen gegen Korruption und insbesondere gegen Korruption auf hoher Ebene, indem die Korruptionsbekämpfungsgesetze rigoros durchgesetzt werden“, verpflichtet. Diese besondere Verpflichtung wurde in der Folge durch den Erlass der Entscheidung 2006/928 konkretisiert, mit der Vorgaben festgelegt wurden, um die von der Kommission vor dem Beitritt Rumäniens zur Union u. a. im Bereich der Korruptionsbekämpfung festgestellten Mängel zu beheben. So ist in Nr. 3 des Anhangs dieser Entscheidung, in dem diese Vorgaben aufgeführt sind, die Vorgabe der „Konsolidierung bereits erreichter Fortschritte bei der Durchführung fachmännischer und unparteiischer Untersuchungen bei Korruptionsverdacht auf höchster Ebene“ genannt und in Nr. 4 dieses Anhangs die Vorgabe der „Ergreifung weiterer Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Korruption, insbesondere in den Kommunalverwaltungen“. 189 Wie in Rn. 169 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, sind die Vorgaben, zu deren Erfüllung sich Rumänien somit verpflichtet hat, für diesen Mitgliedstaat in dem Sinne verbindlich, dass er der besonderen Verpflichtung unterliegt, diese Vorgaben zu erreichen und alsbald die zu deren Erreichung geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Ebenso ist dieser Mitgliedstaat verpflichtet, von der Durchführung aller Maßnahmen abzusehen, die die Erreichung dieser Vorgaben gefährden könnten. Die Verpflichtung zur wirksamen Bekämpfung der Korruption, insbesondere der Korruption auf höchster Ebene, die sich aus den im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben in Verbindung mit den besonderen Verpflichtungen Rumäniens ergibt, ist jedoch nicht auf Fälle der Korruption zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union beschränkt. 190 Im Übrigen ergibt sich zum einen aus den Vorgaben in Art. 325 Abs. 1 AEUV – die dazu verpflichten, Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen zu bekämpfen – und zum anderen aus den Vorgaben in der Entscheidung 2006/928 – die verlangen, Korruption im Allgemeinen zu verhüten und zu bekämpfen –, dass Rumänien für solche Straftaten die Anwendung wirksamer und abschreckender Sanktionen vorsehen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 53). 191 Insoweit kann dieser Mitgliedstaat zwar die anwendbaren Sanktionen frei wählen, wobei es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination aus beiden handeln kann, doch ist er nach Art. 325 Abs. 1 AEUV verpflichtet, dafür zu sorgen, dass gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete schwere Betrugs- und Korruptionsdelikte durch wirksame und abschreckende Strafen geahndet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 27). Des Weiteren ergibt sich, was Korruptionsdelikte im Allgemeinen anbelangt, die Verpflichtung, wirksame und abschreckende Strafen vorzusehen, für Rumänien aus der Entscheidung 2006/928, da diese Entscheidung, wie in Rn. 189 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, diesen Mitgliedstaat verpflichtet, Korruption, insbesondere Korruption auf höchster Ebene, wirksam und unabhängig von einer etwaigen Beeinträchtigung der finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen. 192 Außerdem ist es Sache Rumäniens, sicherzustellen, dass seine strafrechtlichen und strafverfahrensrechtlichen Vorschriften eine wirksame Ahndung von Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union und von Korruptionsdelikten im Allgemeinen ermöglichen. Somit fallen zwar die zur Bekämpfung dieser Straftaten vorgesehenen Sanktionen und eingerichteten Strafverfahren in die Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats, doch wird diese Zuständigkeit nicht nur durch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Äquivalenz beschränkt, sondern auch durch den Grundsatz der Effektivität, der besagt, dass diese Sanktionen wirksam und abschreckend sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 2018, Scialdone, C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 29, und vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 29 und 30). Dieses Effektivitätserfordernis erstreckt sich notwendigerweise sowohl auf die Verfolgung und die Sanktionierung von Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union und von Korruptionsdelikten im Allgemeinen als auch auf die Vollstreckung der verhängten Strafen, da die Sanktionen nicht wirksam und abschreckend sein können, wenn sie nicht vollstreckt werden. 193 In diesem Zusammenhang obliegt es in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Er hat gegebenenfalls die Rechtslage zu ändern und sicherzustellen, dass die Verfahrensvorschriften, die für die Verfolgung und Sanktionierung von Betrugsstraftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union und von Korruptionsdelikten im Allgemeinen gelten, nicht so gestaltet sind, dass aus ihnen selbst innewohnenden Gründen die systemische Gefahr besteht, dass solche Straftaten ungeahndet bleiben, und dabei auch den Schutz der Grundrechte der Beschuldigten zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 65, und vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 31). 194 Die nationalen Gerichte müssen den Verpflichtungen, die sich aus Art. 325 Abs. 1 AEUV und der Entscheidung 2006/928 ergeben, volle Wirkung verleihen und innerstaatliche Rechtsvorschriften unangewendet lassen, wenn diese im Rahmen eines Verfahrens über schwere Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder über Korruptionsdelikte im Allgemeinen der Verhängung effektiver und abschreckender Strafen zur Bekämpfung solcher Straftaten entgegenstehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 32, und vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 249 und 251). 195 Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben in den Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen C‑357/19, C‑811/19 und C‑840/19, die in den Rn. 60, 95 und 107 des vorliegenden Urteils zusammengefasst worden sind, hervor, dass der Verfassungsgerichtshof nach Anrufung durch den Präsidenten der Abgeordnetenkammer mit Urteil Nr. 417/2019 vom 3. Juli 2019 anordnete, dass alle Rechtssachen, über die der Oberste Kassations- und Gerichtshof vor dem 23. Januar 2019 in erster Instanz entschieden hatte und in denen die von diesem Gericht erlassenen Entscheidungen zum Zeitpunkt dieses Urteils noch nicht rechtskräftig geworden waren, von den im Einklang mit Art. 29 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 78/2000 in der Auslegung durch den Verfassungsgerichtshof gebildeten spezialisierten Spruchkörpern erneut zu prüfen seien. Nach diesen Angaben implizieren die Erkenntnisse aus dem Urteil Nr. 417/2019 eine erneute Prüfung in erster Instanz u. a. aller Rechtssachen, die am 23. Januar 2019 in der Berufungsinstanz anhängig waren oder in denen das Berufungsurteil zu diesem Zeitpunkt noch Gegenstand eines außerordentlichen Rechtsmittels sein konnte. Aus den genannten Angaben geht außerdem hervor, dass der Verfassungsgerichtshof nach Anrufung durch den Ministerpräsidenten in seinem Urteil Nr. 685/2018 vom 7. November 2018 entschied, dass die Bestimmung von nur vier der fünf Mitglieder der über Berufungen entscheidenden Spruchkörper mit fünf Richtern des Obersten Kassations- und Gerichtshofs durch Losentscheid gegen Art. 32 des Gesetzes Nr. 304/2004 in geänderter Fassung verstoßen habe. Dabei stellte er klar, dass dieses Urteil ab dem Zeitpunkt seiner Veröffentlichung u. a. für anhängige Rechtssachen und für Rechtssachen, über die bereits entschieden worden sei, gelte, sofern für die Rechtsunterworfenen die Frist für die Einlegung der geeigneten außerordentlichen Rechtsbehelfe noch nicht abgelaufen sei, und dass die Rechtsprechung aus diesem Urteil eine erneute Prüfung all dieser Rechtssachen in der Berufungsinstanz verlangt, und zwar durch Spruchkörper, deren Mitglieder sämtlich durch Losentscheid bestimmt werden. 196 Wie sich im Übrigen aus Rn. 108 des vorliegenden Urteils ergibt, kann die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den in der vorstehenden Randnummer angeführten Urteilen mehrmals nacheinander Anwendung finden. Dies kann bei einem Angeklagten in einer Situation wie der von KN die Notwendigkeit einer doppelten Prüfung der Rechtssache in erster Instanz und gegebenenfalls einer dreifachen Prüfung in der Berufungsinstanz nach sich ziehen. 197 Somit hat die sich aus dieser Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ergebende Notwendigkeit einer erneuten Prüfung der betreffenden Korruptionsfälle zwangsläufig zur Folge, dass die Dauer der entsprechenden Strafverfahren verlängert wird. Indes hatte Rumänien sich, wie sich aus Ziff. I Nr. 5 des Anhangs IX der Beitrittsakte ergibt, verpflichtet, „die schwerfällige Strafprozessordnung bis Ende 2005 zu überarbeiten, um sicherzustellen, dass Korruptionsfälle rasch und auf transparente Weise bearbeitet und angemessene Sanktionen mit abschreckender Wirkung vorgesehen werden“. Überdies hat der Gerichtshof entschieden, dass in Anbetracht der spezifischen Verpflichtungen, die diesem Mitgliedstaat nach der Entscheidung 2006/928 im Bereich der Korruptionsbekämpfung obliegen, die nationalen Vorschriften und die nationale Praxis in diesem Bereich nicht dazu führen dürfen, dass sich die Dauer der Ermittlungen bei Korruptionsdelikten verlängert oder in irgendeiner anderen Weise die Bekämpfung der Korruption geschwächt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 214). 198 Zudem hat das vorlegende Gericht in den Rechtssachen C‑357/19, C‑811/19 und C‑840/19 nicht nur auf die Komplexität und die Dauer einer solchen erneuten Prüfung vor dem Obersten Kassations- und Gerichtshof verwiesen, sondern auch auf die nationalen Verjährungsregeln, insbesondere auf Art. 155 Abs. 4 des Strafgesetzbuchs, wonach die Verjährung unabhängig von der Anzahl der Unterbrechungen spätestens an dem Tag eintritt, an dem eine Frist verstrichen ist, die dem Doppelten der jeweiligen gesetzlichen Verjährungsfrist entspricht. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Anwendung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den Urteilen Nrn. 685/2018 und 417/2019 in einer beträchtlichen Zahl von Fällen zur Verjährung von Straftaten führen könne, so dass sie eine systemische Gefahr der Straflosigkeit bei schweren Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder bei Korruptionsdelikten im Allgemeinen berge. 199 Schließlich verfügt der Oberste Kassations- und Gerichtshof nach den Angaben in den Vorabentscheidungsersuchen über die ausschließliche Zuständigkeit für die Entscheidung über sämtliche Betrugsdelikte, die die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen können, und über Korruptionsdelikte im Allgemeinen, die von Personen begangen werden, die die höchsten Ämter des rumänischen Staates im Rahmen der Exekutive, der Legislative oder der Judikative bekleiden. 200 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass eine systemische Gefahr der Straflosigkeit nicht ausgeschlossen werden kann, wenn die Anwendung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den Urteilen Nrn. 685/2018 und 417/2019 in Verbindung mit der Anwendung der nationalen Verjährungsvorschriften bewirkt, dass eine ganz konkrete Gruppe von Personen nicht wirksam und abschreckend sanktioniert wird, nämlich im vorliegenden Fall diejenigen, die die höchsten Ämter des rumänischen Staates bekleiden und wegen der Begehung schwerer Betrugs- und/oder Korruptionstaten in Ausübung ihres Amtes durch ein Urteil des Obersten Kassations- und Gerichtshofs in erster Instanz und/oder in der Berufungsinstanz verurteilt wurden, wobei dieses Urteil Gegenstand einer Berufung und/oder eines außerordentlichen Rechtsmittels vor eben diesem Gericht gewesen ist. 201 Denn obwohl zeitlich begrenzt, können diese Urteile des Verfassungsgerichtshofs u. a. unmittelbare und allgemeine Auswirkungen auf diese Personengruppe haben, da sie die absolute Nichtigkeit eines solchen Urteils des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, mit dem eine Verurteilung ausgesprochen wurde, bewirken und eine erneute Prüfung der betreffenden Betrugs- und/oder Korruptionsfälle verlangen und dadurch dazu führen können, dass die Dauer der entsprechenden Strafverfahren über die geltenden Verjährungsfristen hinaus verlängert wird, wodurch die Gefahr der Straflosigkeit in Bezug auf die genannte Personengruppe systemisch wird. 202 Eine solche Gefahr würde aber das sowohl mit Art. 325 Abs. 1 AEUV als auch mit der Entscheidung 2006/928 verfolgte Ziel in Frage stellen, das darin besteht, Korruption auf höchster Ebene durch wirksame und abschreckende Sanktionen zu bekämpfen. 203 Daraus folgt, dass – sollte das vorlegende Gericht in den Rechtssachen C‑357/19, C‑811/19 und C‑840/19 zu dem Schluss gelangen, dass die Anwendung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den Urteilen Nrn. 685/2018 und 417/2019 in Verbindung mit der Anwendung der nationalen Verjährungsvorschriften, insbesondere der in Art. 155 Abs. 4 des Strafgesetzbuchs vorgesehenen absoluten Verjährungsfrist, ein systemisches Risiko der Straflosigkeit bei schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder bei Korruptionsdelikten im Allgemeinen birgt – die im nationalen Recht vorgesehenen Sanktionen zur Bekämpfung solcher Straftaten nicht als wirksam und abschreckend angesehen werden könnten, was mit Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des PIF‑Übereinkommens sowie mit der Entscheidung 2006/928 unvereinbar wäre. 204 Da die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafverfahren eine Durchführung von Art. 325 Abs. 1 AEUV und/oder der Entscheidung 2006/928 und damit des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellen, muss sich dieses vorlegende Gericht allerdings auch vergewissern, dass die Grundrechte, die den in den Ausgangsverfahren betroffenen Personen durch die Charta garantiert werden, insbesondere die in Art. 47 der Charta garantierten, beachtet werden. Im Bereich des Strafrechts ist die Beachtung dieser Rechte nicht nur im Ermittlungsverfahren zu gewährleisten, sobald gegen den Betroffenen eine Beschuldigung erhoben wird, sondern auch im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 68 und 71 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 17. Januar 2019, Dzivev u. a., C‑310/16, EU:C:2019:30, Rn. 33) sowie im Rahmen der Strafvollstreckung. 205 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta das Recht einer jeden Person verankert ist, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Mit dem Erfordernis, dass das Gericht „zuvor durch Gesetz errichtet“ sein muss, soll diese Bestimmung sicherstellen, dass die Organisation des Justizsystems durch ein von der Legislative im Einklang mit den Vorschriften über die Ausübung seiner Zuständigkeit erlassenes Gesetz geregelt wird, um zu verhindern, dass diese Organisation in das Ermessen der Exekutive gestellt wird. Dieses Erfordernis gilt für die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts sowie für alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die betreffende Rechtssache vorschriftswidrig macht, wie etwa die Vorschriften über die Besetzung des Spruchkörpers (vgl. entsprechend, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 EMRK, Urteile vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 73, sowie vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 129). 206 Eine vorschriftswidrige Besetzung der Spruchkörper stellt aber insbesondere dann einen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta dar, wenn die Art und Schwere der Vorschriftswidrigkeit dergestalt ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Verfahrens zur Besetzung der Spruchkörper beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betreffenden Richter geweckt werden, was der Fall ist, wenn es um Grundregeln geht, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit dieses Justizsystems sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 75, sowie vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 130). 207 Im vorliegenden Fall hat der Verfassungsgerichtshof in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen zwar entschieden, dass die frühere Praxis des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, die namentlich auf der Verordnung über die Organisation und die administrative Arbeitsweise beruhte, in Bezug auf die Spezialisierung und die Besetzung der Spruchkörper in Korruptionssachen nicht mit den geltenden nationalen Bestimmungen vereinbar gewesen sei, jedoch ist nicht ersichtlich, dass diese Praxis einen offenkundigen Verstoß gegen eine Grundregel des rumänischen Justizsystems darstellen würde, der geeignet wäre, den Charakter der Spruchkörper für Korruptionssachen des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, wie sie gemäß der genannten Praxis vor diesen Urteilen des Verfassungsgerichtshofs gebildet wurden, als „zuvor durch Gesetz errichtetes“ Gericht in Frage stellen könnte. 208 Außerdem hat, wie sich aus Rn. 95 des vorliegenden Urteils ergibt, das Leitungsgremium des Obersten Kassations- und Gerichtshofs am 23. Januar 2019 eine Entscheidung erlassen, die dahin lautete, dass alle Spruchkörper mit drei Richtern für die Entscheidung von Korruptionsfällen spezialisiert waren, wobei nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs mit dieser Entscheidung eine Verfassungswidrigkeit erst ab dem Zeitpunkt ihres Erlasses vermieden werden konnte, nicht aber für die Vergangenheit. Diese Entscheidung deutet in der Auslegung durch den Verfassungsgerichtshof darauf hin, dass die frühere Praxis des Obersten Kassations- und Gerichtshofs in Bezug auf die Spezialisierung keinen offenkundigen Verstoß gegen eine Grundregel des rumänischen Justizsystems darstellt. Das Erfordernis der Spezialisierung, das sich aus dem Urteil Nr. 417/2019 des Verfassungsgerichtshofs ergibt, wurde nämlich als durch den bloßen Erlass eines formalen Rechtsakts wie der Entscheidung vom 23. Januar 2019 erfüllt angesehen, die lediglich bestätigt, dass die Richter des Obersten Kassations- und Gerichtshofs, die vor dem Erlass dieser Entscheidung den Spruchkörpern für Korruptionssachen angehörten, in diesem Bereich spezialisiert waren. 209 Im Übrigen sind die Rechtssachen C‑357/19, C‑840/19 und C‑811/19 von der Rechtssache zu unterscheiden, in der das Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936), ergangen ist. In jener Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden, dass das nationale Gericht – wenn es zu der Auffassung gelangt, dass der Verpflichtung, die einschlägigen nationalen Vorschriften unangewendet zu lassen, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, wie er in Art. 49 der Charta niedergelegt ist, entgegensteht – nicht verpflichtet ist, dieser Verpflichtung nachzukommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 61). Dagegen stehen die sich aus Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta ergebenden Erfordernisse der Nichtanwendung der Rechtsprechung aus den Urteilen Nrn. 685/2018 und 417/2019 in den Rechtssachen C‑357/19, C‑840/19 und C‑811/19 nicht entgegen. 210 In seiner Antwort auf eine Frage des Gerichtshofs in der Rechtssache C‑357/19 hat PM geltend gemacht, dass das Erfordernis, dass Berufungsurteile in Korruptionssachen von Spruchkörpern erlassen werden müssten, deren sämtliche Mitglieder durch Losentscheid bestimmt seien, einen nationalen Schutzstandard für die Grundrechte darstelle. Die rumänische Regierung und die Kommission sind jedoch der Ansicht, dass eine solche Einstufung sowohl in Bezug auf dieses Erfordernis als auch in Bezug auf die Einführung von Ausbildungen mit einer Spezialisierung im Bereich der Korruptionsdelikte unzutreffend sei. 211 Selbst wenn diese Erfordernisse einen solchen nationalen Schutzstandard darstellen sollten, so genügt insoweit der Hinweis, dass – wenn das Gericht eines Mitgliedstaats die Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift oder Maßnahme mit den Grundrechten zu prüfen hat, die in einer Situation, in der das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt- Art. 53 der Charta bestätigt, dass es den nationalen Behörden und Gerichten freisteht, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29, vom 26. Februar 2013, Melloni, C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60, und vom 29. Juli 2019, Pelham u. a., C‑476/17, EU:C:2019:624, Rn. 80). 212 In dem Fall, dass das vorlegende Gericht in den Rechtssachen C‑357/19, C‑811/19 und C‑840/19 zu der in Rn. 203 des vorliegenden Urteils angeführten Schlussfolgerung gelangen sollte, würde die Anwendung des von PM geltend gemachten nationalen Schutzstandards, unterstellte man ihn als erwiesen, aber den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen, namentlich von Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des PIF‑Übereinkommens sowie der Entscheidung 2006/928. In diesem Fall würde die Anwendung dieses nationalen Schutzstandards nämlich eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten im Allgemeinen unter Verkennung des sich aus diesen Bestimmungen ergebenden Erfordernisses, wirksame und abschreckende Sanktionen vorzusehen, um Straftaten dieser Art zu bekämpfen, bergen. 213 Nach alledem ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑357/19 und C‑840/19 sowie auf die erste und die vierte Frage in der Rechtssache C‑811/19 zu antworten, dass Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des PIF‑Übereinkommens sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach Urteile im Bereich der Korruption und des Mehrwertsteuerbetrugs, die in erster Instanz nicht von in diesem Bereich spezialisierten Spruchkörpern bzw. in der Berufungsinstanz nicht von Spruchkörpern erlassen wurden, deren Mitglieder sämtlich durch Losentscheid bestimmt wurden, absolut nichtig sind, so dass die betreffenden Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsfälle, gegebenenfalls infolge eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gegen rechtskräftige Urteile, in erster und/oder zweiter Instanz erneut geprüft werden müssen, entgegenstehen, wenn die Anwendung dieser nationalen Regelung oder Praxis geeignet ist, eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten im Allgemeinen zu begründen. Die Verpflichtung, sicherzustellen, dass solche Straftaten Gegenstand wirksamer und abschreckender Strafen sind, entbindet das vorlegende Gericht nicht von der Prüfung der notwendigen Beachtung der in Art. 47 der Charta garantierten Grundrechte, ohne dass dieses Gericht einen nationalen Schutzstandard für die Grundrechte anwenden dürfte, der eine solche systemische Gefahr der Straflosigkeit mit sich bringen würde. Zur zweiten und zur dritten Frage in den Rechtssachen C‑357/19, C‑379/19, C‑811/19 und C‑840/19 sowie zur einzigen Frage in der Rechtssache C‑547/19 214 Mit der zweiten und der dritten Frage in den Rechtssachen C‑357/19, C‑379/19, C‑811/19 und C‑840/19 sowie der einzigen Frage in der Rechtssache C‑547/19, die zusammen zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte wissen, ob Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta sowie die Entscheidung 2006/928 auf der einen und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts in Verbindung mit diesen Bestimmungen und Art. 325 Abs. 1 AEUV auf der anderen Seite dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis entgegenstehen, wonach die ordentlichen Gerichte an die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind und – aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs der Auffassung sind, dass diese Rechtsprechung gegen die genannten Bestimmungen des Unionsrechts verstößt. – Zur Garantie der richterlichen Unabhängigkeit 215 Die vorlegenden Gerichte sind der Ansicht, dass die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen ihre Unabhängigkeit in Frage stellen könne und daher mit dem Unionsrecht, namentlich mit den in Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie in Art. 47 der Charta und der Entscheidung 2006/928 vorgesehenen Garantien, unvereinbar sei. Sie vertreten insoweit die Auffassung, dass der Verfassungsgerichtshof, der nicht Teil des rumänischen Justizsystems sei, seine Zuständigkeiten überschritten habe, indem er die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteile erlassen habe, und in die Zuständigkeiten der ordentlichen Gerichte eingegriffen habe, die darin bestünden, im Rang unter der Verfassung stehende Rechtsvorschriften auszulegen und anzuwenden. Die vorlegenden Gerichte weisen ferner darauf hin, dass die Nichtbeachtung der Urteile des Verfassungsgerichtshofs nach rumänischem Recht ein Disziplinarvergehen darstelle, so dass sie sich im Wesentlichen die Frage stellten, ob sie diese im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteile nach dem Unionsrecht unangewendet lassen könnten, ohne befürchten zu müssen, dass gegen sie ein Disziplinarverfahren eingeleitet werde. 216 Insoweit fällt, wie in Rn. 133 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, einschließlich der Errichtung, der Besetzung und der Arbeitsweise eines Verfassungsgerichts, in deren Zuständigkeit, jedoch haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. 217 Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteile vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108). 218 Wie im dritten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/928 bestätigt wird, bedeutet der Wert der Rechtsstaatlichkeit insbesondere, „dass alle Mitgliedstaaten über ein unparteiisches, unabhängiges und effizientes Justiz- und Verwaltungssystem verfügen müssen, das ausreichend dafür ausgestattet ist, unter anderem Korruption zu bekämpfen“. 219 Schon das Vorhandensein einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle, die der Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dient, ist einem Rechtsstaat inhärent. Insoweit ist es gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 EMRK und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 189 und 190 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 220 Daraus folgt, dass nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen hat, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung dieses Rechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden, wobei klarzustellen ist, dass diese Bestimmung in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 101 und 103 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 36 und 37, sowie von 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 191 und 192). 221 Um sicherzustellen, dass Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, in der Lage sind, den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteile vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 194). 222 Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung). 223 Ebenso kommt, wie sich u. a. aus dem dritten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/928 und den in den Nrn. 1 bis 3 des Anhangs dieser Entscheidung aufgeführten Vorgaben ergibt, der Existenz eines unparteiischen, unabhängigen und effizienten Justizsystems eine besondere Bedeutung für die Bekämpfung der Korruption, namentlich der Korruption auf höchster Ebene, zu. 224 Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, umfasst aber zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt verlangt, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Der letztgenannte Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 121 und 122 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 225 Diese nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 196, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). 226 Insoweit sind die betreffenden Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für den Status der Richter und die Ausübung ihres Amts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen und damit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 119 und 139 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 227 Was insbesondere die Vorschriften über die Disziplinarregelung betrifft, so verlangt das Erfordernis der Unabhängigkeit nach ständiger Rechtsprechung, dass diese Regelung die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Zu diesem Zweck scheint es von grundlegender Bedeutung zu sein, dass ein etwaiger Fehler in einer Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht zur Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Richters führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 198 und 234 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 134 und 138). Ferner stellt es eine wesentliche Garantie für die Unabhängigkeit der nationalen Richter dar, dass sie keinen Disziplinarverfahren oder ‑strafen für die Ausübung der – in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallenden – Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV ausgesetzt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 17 und 25, vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 59, sowie vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 91). 228 Außerdem ist nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 124 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 118). 229 Zwar gibt weder Art. 2 noch Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV noch irgendeine andere Bestimmung des Unionsrechts den Mitgliedstaaten ein konkretes verfassungsrechtliches Modell vor, das die Beziehungen und das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Staatsgewalten, namentlich in Bezug auf die Festlegung und Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten, regeln würde, doch müssen die Mitgliedstaaten gleichwohl insbesondere die sich aus diesen unionsrechtlichen Bestimmungen ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit der Gerichte beachten (vgl. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 EMRK Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 130). 230 Unter diesen Umständen stehen Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegen, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive, wie sie diese Bestimmungen verlangen, gewährleistet. Wenn dagegen das nationale Recht diese Unabhängigkeit nicht gewährleistet, stehen diese Bestimmungen des Unionsrechts einer solchen nationalen Regelung oder Praxis entgegen, da ein solches Verfassungsgericht nicht in der Lage ist, den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten. 231 Im vorliegenden Fall betreffen die Fragen, die die vorlegenden Gerichte im Hinblick auf das sich aus diesen unionsrechtlichen Bestimmungen ergebende Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit aufwerfen, zum einen eine Reihe von Aspekten, die den Status, die Besetzung und die Arbeitsweise des Verfassungsgerichtshofs betreffen, der die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteile erlassen hat. Die vorlegenden Gerichte weisen insbesondere darauf hin, dass der Verfassungsgerichtshof nach der Verfassung Rumäniens nicht Teil des Justizsystems sei, dass seine Mitglieder von Organen der Legislative und der Exekutive ernannt würden, die auch befugt seien, ihn anzurufen, und dass er seine Befugnisse überschritten und eine willkürliche Auslegung der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften vorgenommen habe. 232 Was den Umstand anbelangt, dass der Verfassungsgerichtshof nach der Verfassung Rumäniens nicht Teil des Justizsystems ist, ist in Rn. 229 des vorliegenden Urteils darauf hingewiesen worden, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten kein konkretes verfassungsrechtliches Modell vorgibt, das die Beziehungen und das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Staatsgewalten, namentlich in Bezug auf die Festlegung und Abgrenzung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten, regeln würde. Insoweit ist klarzustellen, dass das Unionsrecht der Errichtung eines Verfassungsgerichts, dessen Entscheidungen für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegensteht, sofern es die in den Rn. 224 bis 230 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernisse der Unabhängigkeit erfüllt. Die Vorabentscheidungsersuchen enthalten jedoch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Verfassungsgerichtshof, dem u. a. gemäß Art. 146 Buchst. d und e der Verfassung Rumäniens die Zuständigkeit übertragen ist, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verordnungen zu prüfen und über verfassungsrechtliche Konflikte zwischen Trägern staatlicher Gewalt zu entscheiden, diesen Erfordernissen nicht genügen würde. 233 Was die Voraussetzungen für die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichtshofs betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der bloße Umstand, dass die betreffenden Richter, wie es bei den Richtern des Verfassungsgerichtshofs nach Art. 142 Abs. 3 der Verfassung Rumäniens der Fall ist, von der Legislative und der Exekutive ernannt werden, keine Abhängigkeit dieser Richter von diesen Staatsgewalten schaffen oder Zweifel an der Unparteilichkeit der Mitglieder aufkommen lassen kann, wenn diese nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt sind und bei der Ausübung ihres Amtes keinen Weisungen unterliegen (vgl. entsprechend Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung). 234 Zwar kann es sich als notwendig erweisen, sicherzustellen, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Ernennungsentscheidungen so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, sind die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen, und dass dafür die genannten Voraussetzungen und Modalitäten u. a. so ausgestaltet sein müssen, dass sie den in Rn. 226 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen genügen (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung), jedoch lassen die Angaben in den Vorabentscheidungsersuchen nicht erkennen, dass die Bedingungen, unter denen die Ernennungen der Richter des Verfassungsgerichthofs, die die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteile erlassen haben, erfolgt sind, gegen die genannten Erfordernisse verstoßen würden. 235 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Verfassung Rumäniens diesen Angaben zufolge in Art. 142 Abs. 2 vorsieht, dass die Richter des Verfassungsgerichtshofs „für eine Amtszeit von neun Jahren ernannt werden, die nicht verlängert oder erneuert werden kann“, und in Art. 145 klarstellt, dass diese Richter „in der Ausübung ihres Amtes unabhängig und während der gesamten Amtszeit unabsetzbar [sind]“. Darüber hinaus legt Art. 143 dieser Verfassung die Voraussetzungen für die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichtshofs fest und verlangt zu diesem Zweck, dass diese „über hervorragende juristische Qualifikationen, ein hohes Maß an fachlicher Kompetenz und mindestens 18 Jahre Erfahrung im juristischen Beruf oder in der juristischen Hochschulausbildung“ verfügen, während Art. 144 der Verfassung den Grundsatz der Unvereinbarkeit des Amtes eines Richters des Verfassungsgerichts „mit allen anderen öffentlichen oder privaten Aufgaben, ausgenommen eine Lehrtätigkeit in der juristischen Hochschulausbildung“, festlegt. 236 Im vorliegenden Fall ist hinzuzufügen, dass der Umstand, dass der Verfassungsgerichtshof von Organen der Exekutive und der Legislative angerufen werden kann, mit der Natur und der Funktion eines für die Entscheidung über Verfassungsstreitigkeiten errichteten Gerichts zusammenhängt und für sich allein keinen Umstand darstellen kann, der seine Unabhängigkeit gegenüber diesen Staatsgewalten in Frage stellen könnte. 237 Was die Frage anbelangt, ob der Verfassungsgerichtshof in den Rechtssachen, in denen die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteile ergangen sind, nicht unabhängig und unparteiisch vorgegangen ist, so kann allein der von den vorlegenden Gerichten geltend gemachte Umstand, dass der Verfassungsgerichtshof seine Zuständigkeiten zulasten der rumänischen rechtsprechenden Gewalt überschritten und die einschlägige nationale Regelung willkürlich ausgelegt habe, unterstellte man ihn als erwiesen, nicht belegen, dass der Verfassungsgerichtshof die in den Rn. 224 bis 230 des vorliegenden Urteils angeführten Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht erfüllt. Die Vorabentscheidungsersuchen enthalten nämlich keinen weiteren substantiierten Anhaltspunkt dafür, dass diese Urteile in einem Kontext ergangen wären, der einen berechtigten Zweifel daran begründen würde, dass der Verfassungsgerichtshof diese Erfordernisse in vollem Umfang beachtet hat. 238 Was zum anderen die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit betrifft, die nach der in Rede stehenden nationalen Regelung für Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit im Fall der Nichtbeachtung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs eintreten kann, so trifft es zwar zu, dass die Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere nicht dazu führen darf, dass völlig ausgeschlossen ist, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit eines Richters in bestimmten, ganz außergewöhnlichen Fällen durch von ihm erlassene Gerichtsentscheidungen ausgelöst werden kann. Die Anforderung der Unabhängigkeit ist nämlich ganz sicher nicht dazu gedacht, etwaige schwerwiegende und völlig unentschuldbare Verhaltensweisen von Richtern zu billigen wie z. B. die vorsätzliche und böswillige oder besonders grob fahrlässige Missachtung von Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts, deren Einhaltung sie gewährleisten sollen, Willkür oder Rechtsverweigerung, wenn sie als diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, über Streitigkeiten zu entscheiden haben, die ihnen von Rechtsuchenden vorgelegt werden (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 137). 239 Jedoch ist es für die Wahrung der Unabhängigkeit der Gerichte und um auf diese Weise zu verhindern, dass die Disziplinarregelung entgegen ihrem legitimen Zweck zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen oder zur Ausübung von Druck auf Richter eingesetzt werden kann, von grundlegender Bedeutung, dass ein etwaiger Fehler in einer Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht zur Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Richters führen kann (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 138 und die dort angeführte Rechtsprechung). 240 Folglich muss die Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit eines Richters wegen einer Gerichtsentscheidung auf ganz außergewöhnliche Fälle wie die in Rn. 238 des vorliegenden Urteils genannten beschränkt bleiben und dabei durch objektive und überprüfbare Kriterien, die sich aus Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege ergeben, sowie durch Garantien beschränkt sein, die darauf abzielen, jegliche Gefahr eines Drucks von außen bezüglich des Inhalts von Gerichtsentscheidungen zu vermeiden und damit bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Richter und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 139 und die dort angeführte Rechtsprechung). 241 Im vorliegenden Fall lassen die Angaben in den Vorabentscheidungsersuchen – entgegen der in den Rn. 239 und 240 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung – nicht erkennen, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der nationalen Richter ordentlicher Gerichte wegen Nichtbeachtung der Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs, die in Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004 vorgesehen ist, dessen Wortlaut keine weitere Voraussetzung vorsieht, auf die ganz außergewöhnlichen, in Rn. 238 des vorliegenden Urteils angeführten Fälle beschränkt wäre. 242 Folglich sind Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegenstehen, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive, wie sie diese Bestimmungen verlangen, gewährleistet. Auf der anderen Seite sind diese Bestimmungen des EU-Vertrags und die genannte Entscheidung dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts durch die nationalen Richter ordentlicher Gerichte deren disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen kann. 243 Unter diesen Umständen – und da es um Rechtssachen geht, in denen die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung oder Praxis eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt – erscheint eine gesonderte Prüfung von Art. 47 der Charta, die die bereits in der vorstehenden Randnummer getroffene Feststellung nur bestätigen könnte, für die Beantwortung der Fragen der vorlegenden Gerichte und die Entscheidung der dort anhängigen Rechtsstreitigkeiten nicht erforderlich. – Zum Vorrang des Unionsrechts 244 Die vorlegenden Gerichte weisen darauf hin, dass die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen, deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht sie anzweifeln, nach Art. 147 Abs. 4 der Verfassung Rumäniens verbindlich sei und von den nationalen Gerichten beachtet werden müsse, wobei widrigenfalls gegen deren Mitglieder eine Disziplinarsanktion nach Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004 verhängt werde. Unter diesen Umständen möchten sie wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts einer solchen nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht und es einem nationalen Gericht erlaubt, eine Rechtsprechung dieser Art unangewendet zu lassen, ohne dass seine Mitglieder Gefahr laufen, disziplinarrechtlich sanktioniert zu werden. 245 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung zum EWG-Vertrag bereits entschieden hat, dass mit den Gemeinschaftsverträgen im Unterschied zu gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen eine neue eigene Rechtsordnung geschaffen wurde, die bei Inkrafttreten der Verträge in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen wurde und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Diese neue Rechtsordnung, zu deren Gunsten die Mitgliedstaaten in den durch die Verträge festgelegten Bereichen ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben und deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch deren Bürger sind, ist mit eigenen Organen ausgestattet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Februar 1963, van Gend & Loos, 26/62, EU:C:1963:1, S. 25, und vom 15. Juli 1964, Costa, 6/64, EU:C:1964:66, S. 1269). 246 Somit hat der Gerichtshof im Urteil vom 15. Juli 1964, Costa (6/64, EU:C:1964:66, S. 1269 bis 1271), den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts entwickelt, der den Vorrang dieses Rechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten begründet. Hierzu hat er festgestellt, dass die Schaffung einer eigenen Rechtsordnung durch den EWG-Vertrag, die von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommen wurde, zur Folge hat, dass die Mitgliedstaaten weder gegen diese Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen geltend machen können noch dem aus dem EWG-Vertrag hervorgegangenen Recht Vorschriften des nationalen Rechts gleich welcher Art entgegensetzen können. Andernfalls würde diesem Recht sein Gemeinschaftscharakter aberkannt und die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt. Außerdem würde es eine Gefahr für die Verwirklichung der Ziele des EWG-Vertrags bedeuten und hätte es eine nach diesem Vertrag verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zur Folge, wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte. 247 In Rn. 21 seines Gutachtens 1/91 (EWR-Abkommen – I) vom 14. Dezember 1991 (EU:C:1991:490) hat der Gerichtshof daher festgestellt, dass der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen wurde, die Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft darstellt und dass die wesentlichen Merkmale der so verfassten Rechtsordnung der Gemeinschaft insbesondere ihr Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen sind. 248 Diese wesentlichen Merkmale der Rechtsordnung der Union und die Bedeutung der ihr geschuldeten Achtung wurden im Übrigen durch die vorbehaltlose Ratifizierung der Verträge zur Änderung des EWG-Vertrags und insbesondere des Vertrags von Lissabon bestätigt. Bei der Annahme dieses Vertrags hat die Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten nämlich in ihrer Erklärung Nr. 17 zum Vorrang, die der Schlussakte der Regierungskonferenz, die den Vertrag von Lissabon angenommen hat, beigefügt ist (ABl. 2012, C 326, S. 346), ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben. 249 Hinzuzufügen ist, dass die Union nach Art. 4 Abs. 2 EUV die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen achtet. Die Union kann diese Gleichheit aber nur achten, wenn es den Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unmöglich ist, eine einseitige Maßnahme welcher Art auch immer gegen die Unionsrechtsordnung durchzusetzen. 250 Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung die frühere Rechtsprechung zum Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts bestätigt, der alle mitgliedstaatlichen Stellen verpflichtet, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 244 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 156, sowie vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). 251 Somit kann nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht dadurch beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nämlich für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 245 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 157, sowie vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung). 252 Hierzu ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs verpflichtet ist, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 247 und 248, sowie vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 80). 253 Was die Bestimmungen des Unionsrechts anbelangt, auf die in den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen Bezug genommen wird, ist aber darauf hinzuweisen, dass sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie die im Anhang der Entscheidung 2006/928 aufgeführten Vorgaben klar und präzise formuliert und an keine Bedingung geknüpft sind, so dass sie unmittelbare Wirkung haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 38 und 39, sowie vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 249 und 250). 254 In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass es nach Art. 19 EUV Sache der nationalen Gerichte und des Gerichtshofs ist, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den wirksamen Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus ihm erwachsen, wobei der Gerichtshof die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Republik Moldau, C‑741/19, EU:C:2021:655, Rn. 45). Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit ist es letztlich Sache des Gerichtshofs, die Tragweite des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts im Hinblick auf die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts zu präzisieren, da diese Tragweite weder von einer Auslegung von Bestimmungen des nationalen Rechts noch von einer Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts durch ein nationales Gericht, die nicht der Auslegung durch den Gerichtshof entspricht, abhängen darf. Zu diesem Zweck führt das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren, das das Schlüsselelement des durch die Verträge geschaffenen Gerichtssystems darstellt, einen Dialog von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten ein, der die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (Urteile vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 27). 255 Im vorliegenden Fall weisen die vorlegenden Gerichte darauf hin, dass sie nach der Verfassung Rumäniens an die Rechtsprechung aus den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen des Verfassungsgerichtshofs gebunden seien und dass sie diese Rechtsprechung, nicht ohne dass sich ihre Mitglieder einem Disziplinarverfahren oder einer Disziplinarsanktion aussetzen würden, unangewendet lassen könnten, selbst wenn sie im Licht eines vom Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren erlassenen Urteils der Ansicht wären, dass diese Rechtsprechung gegen das Unionsrecht verstoße. 256 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Entscheidung des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht hinsichtlich der Auslegung der betreffenden unionsrechtlichen Vorschriften bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens bindet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 257 Somit kann es einem nationalen Gericht, das von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat bzw. seiner Pflicht nachgekommen ist, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV vorzulegen, nicht verwehrt sein, das Unionsrecht nach Maßgabe der Entscheidung oder der Rechtsprechung des Gerichtshofs unmittelbar anzuwenden, da andernfalls die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung geschmälert würde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 20, und vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 39). Hinzuzufügen ist, dass die Befugnis, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um eine nationale Regelung oder Praxis beiseite zu lassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Normen des Unionsrechts bilden, Bestandteil des Amts des Unionsrichters ist, das dem nationalen Gericht obliegt, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Normen des Unionsrechts anzuwenden hat, so dass die Ausübung dieser Befugnis eine wesentliche Garantie der sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden richterlichen Unabhängigkeit darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 59, sowie vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 91). 258 Daher wäre jede nationale Regelung oder Praxis, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um eine nationale Vorschrift oder Praxis beiseite zu lassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Normen des Unionsrechts bilden, mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 41, sowie vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 36). 259 Eine nationale Regelung oder Praxis, wonach die Urteile des nationalen Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, obwohl diese im Licht eines vom Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren erlassenen Urteils der Ansicht sind, dass die Rechtsprechung aus diesen verfassungsgerichtlichen Urteilen gegen das Unionsrecht verstößt, ist aber geeignet, diese Gerichte daran zu hindern, die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts zu gewährleisten, wobei diese Hinderungswirkung dadurch verstärkt werden kann, dass das nationale Recht die etwaige Nichtbeachtung dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung als Disziplinarvergehen einstuft. 260 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 267 AEUV jeder nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, die geeignet ist, die nationalen Gerichte daran zu hindern, von der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Befugnis Gebrauch zu machen, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, bzw. gegebenenfalls der Verpflichtung dazu nachzukommen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 32 bis 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 103, und vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 93). Im Übrigen stellt nach der in Rn. 227 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung der Umstand, dass die nationalen Richter keinen Disziplinarverfahren oder ‑sanktionen für die Ausübung der – in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallenden – Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV ausgesetzt sind, eine wesentliche Garantie für ihre Unabhängigkeit dar. Auch in dem Fall, dass ein Richter eines nationalen ordentlichen Gerichts infolge der Antwort des Gerichtshofs zu der Auffassung gelangen sollte, dass die Rechtsprechung des nationalen Verfassungsgerichts nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist, kann der Umstand, dass dieser nationale Richter diese Rechtsprechung gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet lässt, keinesfalls geeignet sein, seine disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auszulösen. 261 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass Disziplinarverfahren nach Art. 99 Buchst. ș des Gesetzes Nr. 303/2004 gegen bestimmte Richter der vorlegenden Gerichte eingeleitet wurden, nachdem diese ihr Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hatten. Außerdem erscheint es, falls die Antwort des Gerichtshofs diese Gerichte dazu veranlassen sollte, die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Urteilen unangewendet zu lassen, in Anbetracht der in Rn. 58 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs nicht ausgeschlossen, dass die Richter dieser Gerichte der Gefahr ausgesetzt wären, disziplinarrechtlich sanktioniert zu werden. 262 Daraus folgt, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte an die Urteile des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind und – aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtsprechung aus diesen Urteilen nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs der Auffassung sind, dass diese Rechtsprechung gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV oder der Entscheidung 2006/928 verstößt. 263 Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage in den Rechtssachen C‑357/19, C‑379/19, C‑811/19 und C‑840/19 sowie auf die einzige Frage in der Rechtssache C‑547/19 zu antworten, dass – Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegenstehen, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive, wie sie diese Bestimmungen verlangen, gewährleistet. Auf der anderen Seite sind diese Bestimmungen des EU-Vertrags und die genannte Entscheidung dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts durch die nationalen Richter ordentlicher Gerichte deren disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen kann; – der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte an Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind und – aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs der Auffassung sind, dass diese Rechtsprechung gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV oder der Entscheidung 2006/928 verstößt. Kosten 264 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung ist für Rumänien in allen ihren Teilen verbindlich, solange sie nicht aufgehoben worden ist. Die in ihrem Anhang aufgeführten Vorgaben sollen sicherstellen, dass dieser Mitgliedstaat den in Art. 2 EUV genannten Wert der Rechtsstaatlichkeit beachtet, und sind für diesen Mitgliedstaat in dem Sinne verbindlich, dass er verpflichtet ist, die zur Erreichung dieser Vorgaben geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, wobei er gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die von der Europäischen Kommission auf der Grundlage dieser Entscheidung erstellten Berichte, insbesondere die in diesen Berichten formulierten Empfehlungen, gebührend zu berücksichtigen hat. 2. Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 2 des am 26. Juli 1995 in Luxemburg unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sowie die Entscheidung 2006/928 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach Urteile im Bereich der Korruption und des Mehrwertsteuerbetrugs, die in erster Instanz nicht von in diesem Bereich spezialisierten Spruchkörpern bzw. in der Berufungsinstanz nicht von Spruchkörpern erlassen wurden, deren Mitglieder sämtlich durch Losentscheid bestimmt wurden, absolut nichtig sind, so dass die betreffenden Korruptions- und Mehrwertsteuerbetrugsfälle, gegebenenfalls infolge eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gegen rechtskräftige Urteile, in erster und/oder zweiter Instanz erneut geprüft werden müssen, entgegenstehen, wenn die Anwendung dieser nationalen Regelung oder Praxis geeignet ist, eine systemische Gefahr der Straflosigkeit von schweren Betrugsdelikten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union oder von Korruptionsdelikten im Allgemeinen zu begründen. Die Verpflichtung, sicherzustellen, dass solche Straftaten Gegenstand wirksamer und abschreckender Strafen sind, entbindet das vorlegende Gericht nicht von der Prüfung der notwendigen Beachtung der in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Grundrechte, ohne dass dieses Gericht einen nationalen Schutzstandard für die Grundrechte anwenden dürfte, der eine solche systemische Gefahr der Straflosigkeit mit sich bringen würde. 3. Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung oder Praxis, wonach die Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts für die ordentlichen Gerichte bindend sind, nicht entgegenstehen, sofern das nationale Recht die Unabhängigkeit dieses Verfassungsgerichts gegenüber insbesondere der Legislative und der Exekutive, wie sie diese Bestimmungen verlangen, gewährleistet. Auf der anderen Seite sind diese Bestimmungen des EU-Vertrags und die genannte Entscheidung dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach jegliche Nichtbeachtung der Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts durch die nationalen Richter ordentlicher Gerichte deren disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit auslösen kann. 4. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte an Entscheidungen des nationalen Verfassungsgerichts gebunden sind und – aus diesem Grund und da sie widrigenfalls ein Disziplinarvergehen begehen würden – die Rechtsprechung aus diesen Entscheidungen nicht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lassen dürfen, obwohl sie im Licht eines Urteils des Gerichtshofs der Auffassung sind, dass diese Rechtsprechung gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 325 Abs. 1 AEUV oder der Entscheidung 2006/928 verstößt. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 25. November 2021.#État luxembourgeois gegen L.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour administrative (Luxemburg).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Richtlinie 2011/16/EU – Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 – Informationsersuchen – Entscheidung zur Anordnung der Übermittlung von Informationen – Weigerung, der Anordnung nachzukommen – Sanktion – ‚Voraussichtliche Erheblichkeit‘ der erbetenen Informationen – Keine namentliche und individuelle Identifizierung der betroffenen Steuerpflichtigen – Wendung ‚Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt‘ – Begründung des Informationsersuchens – Umfang – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung zur Anordnung der Übermittlung von Informationen – Art. 52 Abs. 1 – Beschränkung – Wahrung des Wesensgehalts des Rechts.#Rechtssache C-437/19.
62019CJ0437
ECLI:EU:C:2021:953
2021-11-25T00:00:00
Kokott, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0437 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 25. November 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung – Richtlinie 2011/16/EU – Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 – Informationsersuchen – Entscheidung zur Anordnung der Übermittlung von Informationen – Weigerung, der Anordnung nachzukommen – Sanktion – ‚Voraussichtliche Erheblichkeit‘ der erbetenen Informationen – Keine namentliche und individuelle Identifizierung der betroffenen Steuerpflichtigen – Wendung ‚Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt‘ – Begründung des Informationsersuchens – Umfang – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung zur Anordnung der Übermittlung von Informationen – Art. 52 Abs. 1 – Beschränkung – Wahrung des Wesensgehalts des Rechts“ In der Rechtssache C‑437/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) mit Entscheidung vom 23. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Mai 2019, in dem Verfahren État luxembourgeois gegen L erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters N. Wahl, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen: – von L, vertreten durch F. Trevisan und P. Mellina, avocats, – der luxemburgischen Regierung, vertreten durch C. Schiltz, T. Uri und A. Germeaux als Bevollmächtigte, – von Irland, vertreten durch M. Browne, G. Hodge, J. Quaney und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von S. Horan, BL, – der griechischen Regierung, vertreten durch K. Georgiadis, M. Tassopoulou und Z. Chatzipavlou als Bevollmächtigte, – der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten, – der französischen Regierung, vertreten zunächst durch A.‑L. Desjonquères und C. Mosser, dann durch A.‑L. Desjonquères als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo, avvocato dello Stato, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten zunächst durch W. Roels und N. Gossement, dann durch W. Roels als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. Juni 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG (ABl. 2011, L 64, S. 1). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem luxemburgischen Staat und L, einer Gesellschaft luxemburgischen Rechts, der die Rechtmäßigkeit einer finanziellen Sanktion betrifft, die gegen L verhängt wurde, weil diese sich geweigert hatte, auf ein Ersuchen um Informationsaustausch zwischen Mitgliedstaaten in Steuersachen bestimmte Informationen zu übermitteln. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 1, 2 und 6 bis 9 der Richtlinie 2011/16 heißt es: „(1) Im Zeitalter der Globalisierung wird der Bedarf der Mitgliedstaaten an gegenseitiger Amtshilfe im Bereich der Besteuerung immer vordringlicher. Durch die erhebliche Zunahme der Mobilität der Steuerpflichtigen, der Anzahl der grenzüberschreitenden Transaktionen und der Internationalisierung der Finanzinstrumente wird es für die Mitgliedstaaten immer schwieriger, die geschuldeten Steuern ordnungsgemäß festzusetzen. Diese zunehmende Schwierigkeit wirkt sich auf das Funktionieren der Steuersysteme aus und zieht Doppelbesteuerung nach sich, was wiederum zu Steuerbetrug und Steuerhinterziehung Anlass gibt … (2) Ein einzelner Mitgliedstaat ist daher nicht in der Lage, sein internes Steuersystem, insbesondere was die direkten Steuern angeht, zu verwalten, ohne Informationen aus anderen Mitgliedstaaten zu erhalten. Um die negativen Auswirkungen dieser Situation zu beseitigen, ist es unumgänglich, eine neue Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden der Mitgliedstaaten zu entwickeln. Es besteht Bedarf an Instrumenten zur Vertrauensbildung zwischen den Mitgliedstaaten, die dafür Sorge tragen, dass für alle Mitgliedstaaten dieselben Regeln, Pflichten und Rechte gelten. … (6) … Die vorliegende neue Richtlinie wird daher als geeignetes Instrument für eine wirksame Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden angesehen. (7) Diese Richtlinie baut auf dem durch die Richtlinie 77/799/EWG [des Rates vom 19. Dezember 1977 über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern (ABl. 1977, L 336, S. 15)] Erreichten auf, sieht aber klarere und präzisere Regeln für die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten vor, wenn dies erforderlich ist, um, insbesondere was den Austausch von Informationen angeht, den Anwendungsbereich der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden zwischen den Mitgliedstaaten auszudehnen. Klarere Regeln sollten es auch möglich machen, sämtliche juristische und natürliche Personen in der Union zu erfassen, wobei die immer größere Zahl der Arten von Rechtsvereinbarungen, einschließlich, aber nicht nur, klassische Vereinbarungen wie Trusts, Stiftungen oder Investmentfonds wie auch neuartige Vereinbarungen, die Steuerpflichtige in den Mitgliedstaaten schließen können, zu berücksichtigen sind. (8) … [Es] sollten mehr direkte Kontakte zwischen den Verwaltungsdienststellen vorgesehen werden, um die Zusammenarbeit effizienter zu machen und sie zu beschleunigen. … (9) Mitgliedstaaten sollten Informationen über einzelne Fälle austauschen, wenn sie von einem anderen Mitgliedstaat darum ersucht werden, und sollten die notwendigen Ermittlungen durchführen, um die betreffenden Informationen zu beschaffen. Mit dem Standard der ‚voraussichtlichen Erheblichkeit‘ soll gewährleistet werden, dass ein Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten im größtmöglichen Umfang stattfindet, und zugleich klargestellt werden, dass es den Mitgliedstaaten nicht gestattet ist, sich an Beweisausforschungen (‚fishing expeditions‘) zu beteiligen oder um Informationen zu ersuchen, bei denen es unwahrscheinlich ist, dass sie für die Steuerangelegenheiten eines bestimmten Steuerpflichtigen erheblich sind. Zwar enthält Artikel 20 dieser Richtlinie Verfahrensvorschriften, aber diese müssen großzügig ausgelegt werden, damit der effiziente Informationsaustausch nicht vereitelt wird.“ 4 Art. 1 („Gegenstand“) Abs. 1 der Richtlinie 2011/16 lautet: „Diese Richtlinie legt die Regeln und Verfahren fest, nach denen die Mitgliedstaaten untereinander im Hinblick auf den Austausch von Informationen zusammenarbeiten, die für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts der Mitgliedstaaten über die in Artikel 2 genannten Steuern voraussichtlich erheblich sind.“ 5 In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie heißt es: „Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … 11. ‚Person‘ a) eine natürliche Person; b) eine juristische Person; c) sofern diese Möglichkeit nach den geltenden Rechtsvorschriften besteht, eine Personenvereinigung, der die Rechtsfähigkeit zuerkannt wurde, die aber nicht über die Rechtsstellung einer juristischen Person verfügt, oder d) alle anderen Rechtsvereinbarungen gleich welcher Art und Form – mit oder ohne Rechtspersönlichkeit – die Vermögensgegenstände besitzen oder verwalten, welche einschließlich der daraus erzielten Einkünfte einer der von dieser Richtlinie erfassten Steuern unterliegen; …“ 6 Art. 5 („Verfahren für den Informationsaustausch auf Ersuchen“) der Richtlinie 2011/16 sieht vor: „Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde übermittelt die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde alle in Artikel 1 Absatz 1 genannten Informationen, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat.“ 7 Art. 20 („Standardformblätter und elektronische Formate“) dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Ersuchen um Informationen und behördliche Ermittlungen gemäß Artikel 5 sowie die entsprechenden Antworten, Empfangsbestätigungen, Ersuchen um zusätzliche Hintergrundinformationen und Mitteilungen über das Unvermögen zur oder die Ablehnung der Erfüllung des Ersuchens gemäß Artikel 7 werden soweit möglich mit Hilfe eines Standardformblatts übermittelt, das die Kommission nach dem Verfahren gemäß Artikel 26 Absatz 2 annimmt. Dem Standardformblatt können Berichte, Bescheinigungen und andere Schriftstücke oder beglaubigte Kopien von Schriftstücken oder Auszüge daraus beigefügt werden. (2)   Das Standardformblatt nach Absatz 1 beinhaltet zumindest die folgenden Informationen, die von der ersuchenden Behörde zu übermitteln sind: a) die Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt; b) der steuerliche Zweck, zu dem die Informationen beantragt werden. Die ersuchende Behörde kann – soweit bekannt und im Einklang mit den Entwicklungen auf internationaler Ebene – Name und Anschrift jeder Person, von der angenommen wird, dass sie über die gewünschten Informationen verfügt, wie auch jede Angabe übermitteln, welche die Beschaffung von Informationen durch die ersuchte Behörde erleichtern könnte. …“ Luxemburgisches Recht Gesetz vom 29. März 2013 8 Art. 6 des Gesetzes vom 29. März 2013 zur Umsetzung der Richtlinie 2011/16 und 1. zur Änderung des allgemeinen Steuergesetzes und 2. zur Aufhebung des geänderten Gesetzes vom 15. März 1979 über die internationale Amtshilfe im Bereich der direkten Steuern (Mémorial A 2013, S. 756) sieht vor: „Auf Ersuchen der ersuchenden Behörde übermittelt die ersuchte luxemburgische Behörde ihr alle für die Anwendung und Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts des ersuchenden Mitgliedstaats über die … Steuern voraussichtlich erheblichen Informationen, die sie besitzt oder die sie im Anschluss an behördliche Ermittlungen erhalten hat.“ Gesetz vom 25. November 2014 9 Das Gesetz vom 25. November 2014 über das auf den Informationsaustausch auf Ersuchen in Steuerangelegenheiten anzuwendende Verfahren sowie zur Änderung des Gesetzes vom 31. März 2010 über die Genehmigung der Besteuerungsübereinkünfte und über das darauf anzuwendende Verfahren für den Informationsaustausch auf Ersuchen (Mémorial A 2014, S. 4170, im Folgenden: Gesetz vom 25. November 2014) findet u. a. auf Ersuchen um Informationsaustausch gemäß Art. 6 des in der vorstehenden Randnummer angeführten Gesetzes vom 29. März 2013 Anwendung. 10 In Art. 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 heißt es: „(1)   Die Steuerbehörden sind befugt, die zur Durchführung des in den Übereinkünften und Gesetzen vorgesehenen Informationsaustauschs erbetenen Informationen aller Art von demjenigen zu verlangen, der über sie verfügt. (2)   Der Informationsinhaber ist verpflichtet, die verlangten Auskünfte vollständig, genau und unverändert innerhalb eines Monats nach Zustellung der die verlangten Auskünfte anordnenden Entscheidung zu erteilen. Diese Verpflichtung schließt die Übermittlung der unveränderten Schriftstücke ein, auf denen diese Auskünfte beruhen. …“ 11 Art. 3 dieses Gesetzes sah in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung vor: „(1)   Die zuständige Steuerverwaltung prüft die formale Ordnungsmäßigkeit des Ersuchens um Informationsaustausch. Das Ersuchen um Informationsaustausch ist formal ordnungsgemäß, wenn es die Angabe der rechtlichen Grundlage und der ersuchenden zuständigen Behörde sowie die weiteren in den Übereinkünften und Gesetzen vorgesehenen Angaben enthält. … (3)   Verfügt die zuständige Steuerverwaltung nicht über die erbetenen Informationen, stellt der Leiter der zuständigen Steuerbehörde oder dessen Vertreter dem Informationsinhaber seine die Erteilung der erbetenen Auskünfte anordnende Entscheidung durch eingeschriebenen Brief zu. … …“ 12 Art. 5 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt: „Werden die verlangten Auskünfte nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung der die Erteilung der erbetenen Auskünfte anordnenden Entscheidung erteilt, kann gegen den Informationsinhaber eine steuerliche Geldbuße von bis zu 250000 Euro verhängt werden. Ihre Höhe wird vom Leiter der zuständigen Finanzbehörde oder dessen Vertreter festgesetzt.“ 13 Art. 6 dieses Gesetzes lautete in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung: „(1)   Gegen die in Art. 3 Abs. 1 und 3 genannten Ersuchen um Informationsaustausch und Anordnungen findet kein Rechtsbehelf statt. (2)   Gegen die in Art. 5 genannten Entscheidungen kann der Informationsinhaber Abänderungsklage vor dem Verwaltungsgericht erheben. Diese Klage ist innerhalb eines Monats nach Zustellung der Entscheidung an den Inhaber der verlangten Informationen zu erheben. Die Klage hat aufschiebende Wirkung. …“ Gesetz vom 1. März 2019 14 Das Gesetz vom 1. März 2019 zur Änderung des Gesetzes vom 25. November 2014 über das auf den Informationsaustausch auf Ersuchen in Steuerangelegenheiten anzuwendende Verfahren (Mémorial A 2019, S. 112, im Folgenden: Gesetz vom 1. März 2019) trat am 9. März 2019 in Kraft. 15 Art. 6 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 in der Fassung des Gesetzes vom 1. März 2019 sieht vor: „(1)   Gegen die in Art. 3 Abs. 3 genannte Anordnung kann der Informationsinhaber Anfechtungsklage vor dem Verwaltungsgericht erheben. … (2)   Die Klage gegen die in Art. 3 Abs. 3 genannte Anordnung und die in Art. 5 genannte Entscheidung ist innerhalb eines Monats ab Zustellung der Anordnung oder Entscheidung an den Inhaber der erbetenen Informationen zu erheben. Die Klage hat aufschiebende Wirkung. …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 16 Am 27. April 2017 richtete die französische Steuerverwaltung u. a. auf der Grundlage der Richtlinie 2011/16 ein Informationsersuchen an die luxemburgische Steuerverwaltung (im Folgenden: Informationsersuchen vom 27. April 2017). 17 In diesem Ersuchen war F, eine Immobiliengesellschaft französischen Rechts, als im ersuchenden Staat zu überprüfende juristische Person und L, eine Gesellschaft luxemburgischen Rechts, als mittelbare Muttergesellschaft von F und zugleich als im ersuchten Staat zu überprüfende juristische Person angegeben. Zum steuerlichen Zweck dieses Ersuchens war darin angegeben, dass F eine Immobilie in Frankreich halte und L ebenfalls unmittelbar eine weitere Immobilie in Frankreich halte. Hierzu war erläutert, dass nach den französischen Rechtsvorschriften natürliche Personen, die in Frankreich belegene Immobilien unmittelbar oder mittelbar hielten, diese anmelden müssten und dass die französische Steuerverwaltung erfahren wolle, wer die Anteilseigner und wirtschaftlich Begünstigten von L seien. 18 Am 28. Februar 2018 kam der Directeur de l’administration des contributions directes (Direktor der Verwaltung für direkte Abgaben, Luxemburg) dem Informationsersuchen vom 27. April 2017 nach, indem er eine Entscheidung an L richtete, mit der er dieser aufgab, bis spätestens 5. April 2018 Informationen zum Zeitraum 1. Januar 2012 bis 31. Dezember 2016 zu übermitteln, die verschiedene Angaben betrafen, nämlich die Namen und Anschriften der Anteilseigner sowie – unabhängig von den zwischengeschalteten Strukturen – der tatsächlichen, direkten und indirekten Begünstigten von L, die Verteilung ihres Kapitals und eine Kopie ihrer Wertpapierregister (im Folgenden: Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018). In dieser Entscheidung wurde darauf hingewiesen, dass gegen sie gemäß Art. 6 des Gesetzes vom 25. November 2014 in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung kein Rechtsbehelf statthaft sei. 19 Am 5. April 2018 legte L gegen diese Entscheidung einen verwaltungsinternen förmlichen Rechtsbehelf ein. Mit Bescheid vom 4. Juni 2018 wies der Direktor der Verwaltung für direkte Abgaben diesen Rechtsbehelf als unzulässig zurück. Eine von L gegen diesen Bescheid erhobene Anfechtungsklage ist gegenwärtig beim Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, Luxemburg) anhängig. 20 Am 6. August 2018 erließ der Direktor der Verwaltung für direkte Abgaben gegen L eine Entscheidung, in der festgestellt wurde, dass L der Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 nicht nachgekommen sei, und daher gemäß Art. 5 des Gesetzes vom 25. November 2014 eine steuerliche Geldbuße gegen L verhängt wurde (im Folgenden: Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018). 21 Mit Klageschrift, die am 5. September 2018 bei der Kanzlei des Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) einging, erhob L Klage auf Abänderung, hilfsweise auf Aufhebung dieser Entscheidung. 22 Mit Urteil vom 18. Dezember 2018 hob das Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) die genannte Entscheidung mit der Begründung auf, dass ein Widerspruch zwischen der Bezeichnung des Steuerpflichtigen in der Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 und den Erläuterungen im Informationsersuchen vom 27. April 2017 hinsichtlich des Zwecks der erbetenen Informationen bestehe und daher weiterhin Zweifel hinsichtlich der Identität des Steuerpflichtigen bestünden, auf den sich dieses Ersuchen beziehe. Nach Ansicht des Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) legen diese Erläuterungen nämlich den Schluss nahe, dass die Ermittlungen der französischen Steuerverwaltung nicht F beträfen, die im Informationsersuchen vom 27. April 2017 gleichwohl als die Person bezeichnet worden sei, der diese Ermittlungen gälten, sondern vielmehr die wirtschaftlich begünstigten natürlichen Personen von L, die nach französischem Recht verpflichtet seien, den Besitz in Frankreich belegener Immobilien anzumelden. Aufgrund dieser Ungewissheit über die Identität des Steuerpflichtigen, auf den sich dieses Ersuchen beziehe, sei davon auszugehen, dass den erbetenen Informationen offenkundig die voraussichtliche Erheblichkeit fehle. 23 Mit am 21. Dezember 2018 bei der Kanzlei der Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof, Luxemburg) eingegangenem Schriftsatz legte der luxemburgische Staat gegen dieses Urteil Berufung ein. 24 In ihrer Vorlageentscheidung vertritt die Cour administrative erstens hinsichtlich der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen die Auffassung, dass entgegen der Ansicht des Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) kein Widerspruch zwischen der Bezeichnung des Steuerpflichtigen in der Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 und dem mit dem Informationsersuchen vom 27. April 2017 verfolgten steuerlichen Zweck bestehe. 25 Aus dem gesamten Inhalt dieses Ersuchens ergebe sich nämlich, dass es sich bei F und L um die juristischen Personen handle, die als Gesellschaften, die in Frankreich belegene Immobilien hielten, von der im ersuchenden Staat geführten steuerlichen Ermittlung betroffen seien. In Anbetracht der Anmeldepflichten, denen natürliche Personen, die Anteilseigner und wirtschaftlich Begünstigte solcher Gesellschaften seien, nach französischem Recht unterlägen, ist die Cour administrative der Auffassung, dass sich derartige Ermittlungen auch auf die Feststellung der Identität dieser natürlichen Personen erstrecken dürften, wobei die Anteilseigner und wirtschaftlich Begünstigten von L nach der hier in Rede stehenden Gesellschaftsstruktur auch wirtschaftlich Begünstigte von F seien. Daraus folge, dass den erbetenen Informationen unter diesem Gesichtspunkt nicht die voraussichtliche Erheblichkeit fehle. 26 Die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) weist jedoch darauf hin, dass das Informationsersuchen vom 27. April 2017 die Anteilseigner und wirtschaftlich Begünstigten von L nicht namentlich und individuell bezeichne, sondern sich auf sie als Gruppe von Personen beziehe, die Gegenstand einer globalen Bezeichnung anhand gemeinsamer, von der ersuchenden Behörde abgesteckter Kriterien seien. 27 Gemäß den Vorschriften der Richtlinie 2011/16 in der Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund (C‑682/15, EU:C:2017:373), sei aber die Bezeichnung des Steuerpflichtigen, dem die Ermittlung im ersuchenden Staat gelte, ein Element, das das Informationsersuchen zwingend enthalten müsse, um die voraussichtliche Erheblichkeit der erbetenen Informationen zu begründen, die ihrerseits eine Voraussetzung der Rechtmäßigkeit eines solchen Ersuchens darstelle. 28 Diese Richtlinie lege zwar den Inhalt dieser Verpflichtung, den von der Ermittlung im ersuchenden Staat betroffenen Steuerpflichtigen zu bezeichnen, nicht näher fest, doch genüge es zur Erfüllung der durch die Richtlinie aufgestellten Anforderung der Identifizierung nicht, dass die Identität dieses Steuerpflichtigen bestimmbar sei. Nach dem gewöhnlichen Wortsinn setze die Identifizierung einer Person nämlich die Angabe von Merkmalen voraus, die ausreichten, um sie zu individualisieren. 29 Daher sei der Begriff „Bezeichnung“ des Steuerpflichtigen im Sinne dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass das Informationsersuchen selbst bereits ausreichende Informationen enthalten müsse, die eine individuelle Identifizierung des oder der von der Ermittlung im ersuchenden Staat betroffenen Steuerpflichtigen ermöglichten, und dass es nicht ausreiche, wenn mit dem Ersuchen lediglich gemeinsame Merkmale übermittelt würden, anhand deren sich eine mehr oder weniger große Gruppe nicht näher bezeichneter Personen bestimmen lasse, mit dem Ziel, gerade die Auskünfte zu erhalten, die erforderlich seien, um diese zu ermitteln. 30 Zwar ergebe sich aus dem Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund (C‑682/15, EU:C:2017:373), dass zur Auslegung dieses Begriffs „Bezeichnung“ auch Art. 26 des Musterabkommens der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Kommentar zu diesem Artikel zu berücksichtigen seien. Dieser Kommentar in der Fassung einer nach dem Erlass der Richtlinie 2011/16 erfolgten Aktualisierung lasse aber die Annahme zu, dass ein Informationsersuchen, das sich auf eine Gruppe von nicht individuell identifizierten Steuerpflichtigen beziehe, gleichwohl die Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit erfüllen könne, wenn es sich um eine gezielte, auf die Kontrolle der Einhaltung einer präzisen gesetzlichen Verpflichtung gerichtete Untersuchung in Bezug auf eine begrenzte Gruppe und nicht bloß um eine allgemeine steueraufsichtliche Ermittlung handle. 31 Doch selbst unter der Annahme, dass die schrittweisen Änderungen des genannten Kommentars bei der Auslegung dieser Richtlinie anwendbar und maßgeblich seien, da sie eine Entwicklung in der Auslegung des Standards der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen widerspiegelten, hat die Cour administrative Zweifel daran, dass diese Entwicklung bewirken könne, dass das durch die genannte Richtlinie aufgestellte Erfordernis der individuellen Identifizierung des von der Ermittlung betroffenen Steuerpflichtigen außer Acht zu lassen sei. 32 Zweitens weist die Cour administrative zur Ausübung des Rechts der Informationen besitzenden Person auf einen Rechtsbehelf gegen eine gegen sie erlassene Anordnung, Informationen zu übermitteln, darauf hin, dass L im vorliegenden Fall, da kein direkter Rechtsbehelf gegen eine solche Entscheidung vorgesehen sei, Klage gegen die Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018 erhoben habe und die Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 in diesem Rahmen inzident anfechte. 33 Insoweit hebt die Cour administrative hervor, dass Art. 6 Abs. 2 des Gesetzes vom 25. November 2014 dieser Klage aufschiebende Wirkung hinsichtlich der Vollziehung der Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018 verleihe, bis eine endgültige gerichtliche Entscheidung über diese Klage ergehe. Sie weist jedoch darauf hin, dass L verpflichtet sei, sowohl die erbetenen Informationen zu übermitteln als auch die Geldbuße zu zahlen, wenn die Rechtmäßigkeit der Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 und der Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018 im Rahmen dieser Klage endgültig festgestellt werden sollte. 34 Dann aber hätte, so die Cour administrative, die Informationsinhaberin erst im Rahmen ihrer Klage gegen die wegen Nichtbeachtung der Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet werde, erlassene Geldbußenentscheidung Kenntnis von den in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 genannten Mindestinformationen bezüglich u. a. des steuerlichen Zwecks des dieser Anordnung zugrunde liegenden Informationsersuchens erhalten. Sie hätte somit zu keinem Zeitpunkt über eine angemessene Frist verfügt, um in voller Kenntnis aller Mindestinformationen darüber zu entscheiden, ob sie der Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet werde, nachkommen wolle. 35 Es stelle sich daher die Frage, ob sich aus dem in Art. 47 der Charta verankerten Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nicht ergeben müsse, dass der Informationen besitzenden Person nach einer möglichen endgültigen Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet werde, und der Entscheidung über die Festsetzung der Geldbuße eine gewisse Frist für die Befolgung der Anordnungsentscheidung gewährt werden sollte und die Geldbuße nur dann fällig werden könne, wenn diese Person der Anordnung nicht fristgerecht nachkomme. 36 Unter diesen Umständen hat die Cour administrative (Verwaltungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen, dass ein von einer Behörde eines ersuchenden Mitgliedstaats gestelltes Ersuchen um Auskunftsaustausch, in dem die Steuerpflichtigen, auf die sich das Ersuchen bezieht, allein anhand ihrer Eigenschaft als Anteilseigner und wirtschaftlich Begünstigte einer juristischen Person bestimmt sind, ohne zuvor von der ersuchenden Behörde individuell namentlich identifiziert worden zu sein, den in dieser Vorschrift aufgestellten Identifizierungserfordernissen entspricht? 2. Bei Bejahung der ersten Frage: Sind Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen, dass die Einhaltung des Standards der voraussichtlichen Erheblichkeit voraussetzt, dass die Behörde des ersuchenden Mitgliedstaats zum Nachweis darüber, dass trotz des Fehlens einer individuellen Identifizierung der betreffenden Steuerpflichtigen keine Beweisausforschung vorliegt, auf der Grundlage eindeutiger und hinreichender Erklärungen belegen kann, dass sie eine gezielte Untersuchung betreffend eine beschränkte Personengruppe und nicht bloß eine einfache allgemeine steueraufsichtliche Ermittlung durchführt und diese Untersuchung durch den begründeten Verdacht der Nichteinhaltung einer bestimmten gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt ist? 3. Ist Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass einem Bürger, – gegen den die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats eine nach dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats selbst nicht mit einer verwaltungsrechtlichen Klage anfechtbare finanzielle Verwaltungssanktion wegen Nichteinhaltung einer behördlichen Entscheidung verhängt hat, mit der ihm aufgegeben wurde, im Rahmen eines Austauschs zwischen nationalen Steuerverwaltungen nach der Richtlinie 2011/16 Informationen zu übermitteln, und der die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Rahmen einer gegen die finanzielle Sanktion gerichteten verwaltungsrechtlichen Klage inzident angefochten und – erst im Verlauf des auf seine Klage gegen die Sanktion eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens hin Kenntnis von den Mindestinformationen gemäß Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 erhalten hat, nach der inzident erfolgten endgültigen Anerkennung der Gültigkeit der Anordnungsentscheidung und der Entscheidung über die Festsetzung der Geldbuße, die ihm gegenüber ergangen sind, ein Aufschub für die Zahlung der Geldbuße gewährt werden muss, damit er, nachdem er auf diese Weise Kenntnis von den Einzelheiten in Bezug auf die vom zuständigen Richter endgültig bestätigte voraussichtliche Erheblichkeit erhalten hat, der Anordnungsentscheidung nachkommen kann? Verfahren vor dem Gerichtshof 37 Durch Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 15. Januar 2020 ist das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs bis zur Verkündung des Urteils in den verbundenen Rechtssachen C‑245/19 und C‑246/19, Luxemburgischer Staat (Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen), ausgesetzt worden. 38 Das Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat (Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen) (C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795), ist dem vorlegenden Gericht im vorliegenden Verfahren zugestellt worden, um zu überprüfen, ob es beabsichtigt, sein Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten. Mit Schreiben vom 16. November 2020, das am 17. November 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es dieses Ersuchen aufrechterhalten wolle. Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. November 2020 ist daher die Fortsetzung des vorliegenden Verfahrens beschlossen worden. 39 Am 2. Februar 2021 sind die Parteien des Ausgangsverfahrens und die übrigen in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Beteiligten gemäß Art. 61 Abs. 1 der Verfahrensordnung gebeten worden, einige Fragen schriftlich zu beantworten. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens, die luxemburgische Regierung, Irland, die griechische, die spanische, die französische, die italienische, die polnische und die finnische Regierung sowie die Kommission haben diese Fragen beantwortet. Zu den Vorlagefragen Zur ersten und zur zweiten Frage 40 Mit der ersten und der zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen sind, dass sich ein Auskunftsersuchen auf Informationen bezieht, die nicht offenkundig voraussichtlich unerheblich sind, wenn die Personen, denen eine Kontrolle oder Ermittlung im Sinne der letztgenannten Vorschrift gilt, in diesem Ersuchen zwar nicht namentlich und individuell bezeichnet sind, die ersuchende Behörde aber auf der Grundlage eindeutiger und hinreichender Erklärungen belegt, dass sie eine gezielte, eine beschränkte Personengruppe betreffende Untersuchung durchführt, die durch einen begründeten Verdacht der Nichteinhaltung einer bestimmten gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt ist. 41 Zur Beantwortung dieser Fragen ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass sich aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 der Richtlinie 2011/16 ergibt, dass die voraussichtliche Erheblichkeit der von einem Mitgliedstaat bei einem anderen Mitgliedstaat erbetenen Informationen eine Voraussetzung ist, die das Informationsersuchen erfüllen muss, damit der ersuchte Mitgliedstaat verpflichtet ist, ihm zu entsprechen, und dadurch eine Voraussetzung der Rechtmäßigkeit der von diesem Mitgliedstaat an eine Person, die über diese Informationen verfügt, gerichteten Anordnung, die betreffenden Informationen zu übermitteln, und der gegen sie wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängten Sanktion ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 74). 42 Insoweit ergibt sich aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16, dass der Zweck der Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen darin besteht, es der ersuchenden Behörde zu ermöglichen, alle Informationen zu verlangen und zu erlangen, von denen sie nach vernünftigem Ermessen davon ausgehen kann, dass sie sich für ihre Untersuchung als erheblich erweisen werden, ohne ihr jedoch zu gestatten, den Rahmen der Untersuchung offensichtlich zu überschreiten oder der ersuchten Behörde eine übermäßige Belastung aufzuerlegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 68, und vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 110). 43 In Anbetracht der mit der Richtlinie 2011/16 eingeführten Zusammenarbeit zwischen den Steuerbehörden, die – wie aus den Erwägungsgründen 2, 6 und 8 der Richtlinie hervorgeht – auf Regeln beruht, die das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten bilden sollen und eine effiziente und schnelle Zusammenarbeit ermöglichen, muss die ersuchte Behörde der ersuchenden Behörde nämlich grundsätzlich vertrauen und annehmen, dass das ihr vorgelegte Informationsersuchen sowohl mit dem nationalen Recht der ersuchenden Behörde im Einklang steht als auch für die Bedürfnisse ihrer Ermittlung erforderlich ist. Jedenfalls darf die ersuchte Behörde die von der ersuchenden Behörde vorgenommene Beurteilung des etwaigen Nutzens der erbetenen Informationen nicht durch ihre eigene ersetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 77). 44 Zwar verfügt die ersuchende Behörde, die die dem Ersuchen um Informationsaustausch zugrunde liegenden Ermittlungen führt, bei der anhand der Umstände des Falles durchzuführenden Beurteilung, ob die erbetenen Informationen voraussichtlich erheblich sind, über einen Beurteilungsspielraum, kann jedoch die ersuchte Behörde nicht um Informationen ersuchen, die für die betreffende Ermittlung völlig unerheblich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung). 45 Somit können Informationen, die für die Zwecke der im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 erwähnten Beweisausforschungen („fishing expeditions“) erbeten werden, keinesfalls als „voraussichtlich erheblich“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 113 und 114). 46 Insoweit muss die ersuchte Behörde prüfen, ob die Begründung des an sie gerichteten Informationsersuchens der ersuchenden Behörde ausreicht, um zu belegen, dass den fraglichen Informationen unter Berücksichtigung der Identität des Steuerpflichtigen, gegen den sich die dem Ersuchen zugrunde liegende Ermittlung richtet, der Zwecke einer solchen Untersuchung und, falls es erforderlich ist, die fraglichen Informationen von einer Person zu erhalten, in deren Besitz sie sich befinden, der Identität dieser Person, die voraussichtliche Erheblichkeit nicht völlig fehlt (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Hierzu ergibt sich aus dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16, dass zu den für diese Prüfung erheblichen Gesichtspunkten, die von der ersuchenden Behörde anzugeben sind, u. a. die in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a und b dieser Richtlinie genannten gehören, nämlich die Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt, und der steuerliche Zweck, zu dem um die Informationen ersucht wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 79). 48 Vor diesem Hintergrund ist daher davon auszugehen, dass sich aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16 in der Auslegung durch die in den Rn. 41 bis 47 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, dass die „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, im Sinne der letztgenannten Vorschrift, einen der Gesichtspunkte darstellt, den die Begründung des Informationsersuchens zwingend enthalten muss, damit die ersuchte Behörde feststellen kann, dass den erbetenen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit nicht völlig fehlt, und der ersuchte Mitgliedstaat somit verpflichtet ist, diesem Ersuchen zu entsprechen. 49 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16 hinsichtlich der Bedeutung der Wendung „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, nicht auf die innerstaatlichen Rechtsordnungen verweist. 50 Daher ist davon auszugehen, dass es sich bei dieser Wendung um ein autonomes Konzept des Unionsrechts handelt, das im gesamten Unionsgebiet einheitlich auszulegen ist, wobei nicht nur der Wortlaut dieser Bestimmung, sondern auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Venezuela/Rat [Beeinträchtigung eines Drittstaats], C‑872/19 P, EU:C:2021:507, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Was zunächst den Wortlaut von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Ausdruck „Bezeichnung“ nach seinem allgemeinen Wortsinn alle Angaben erfasst, die eine Person individualisieren können, ohne sich auf ihre namentliche Identifizierung zu beschränken, wie die Generalanwältin in den Nrn. 46 und 47 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat. 52 Was ferner den Zusammenhang betrifft, in den sich diese Vorschrift einfügt, ist zum einen hervorzuheben, dass Art. 3 Nr. 11 dieser Richtlinie den Begriff „Person“ weit definiert, da dieser nicht nur natürliche Personen erfasst, sondern auch juristische Personen, Personenvereinigungen, denen die Rechtsfähigkeit zuerkannt wurde, oder alle anderen Rechtsvereinbarungen gleich welcher Art und Form mit oder ohne Rechtspersönlichkeit. 53 Somit umfasst diese Definition auch eine Gesamtheit juristischer Personen, deren Identität nicht anhand personenbezogener Daten wie der Personenstandsangaben einer natürlichen Person festgestellt werden kann. Zum Zweck der Überprüfung der Angabe bezüglich der Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt, im Sinne der in den Rn. 46 und 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung müssen diese Personen daher durch eine Gesamtheit tatsächlicher und rechtlicher Unterscheidungsmerkmale identifiziert werden können. 54 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 20 dieser Richtlinie enthaltenen Verfahrensvorschriften gemäß dem neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 großzügig ausgelegt werden müssen, damit der effiziente Informationsaustausch nicht vereitelt wird, da mit dem Standard der „voraussichtlichen Erheblichkeit“ gewährleistet werden soll, dass ein Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten im größtmöglichen Umfang stattfindet. 55 Folglich muss das in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie genannte Erfordernis, dass das Informationsersuchen Begründungselemente enthalten muss, die sich auf die Bezeichnung der Personen, denen die Untersuchung oder Ermittlung gilt, beziehen, ebenfalls großzügig dahin ausgelegt werden, dass es nicht unbedingt eine individuelle und namentliche Identifizierung dieser Personen verlangt. 56 Was schließlich die Ziele der Richtlinie 2011/16 angeht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das Ziel der Bekämpfung des internationalen Steuerbetrugs und der internationalen Steuerhinterziehung u. a. in den Art. 5 bis 7 dieser Richtlinie zum Ausdruck kommt, indem ein Verfahren zum Informationsaustausch auf Ersuchen eingeführt wird, das es den zuständigen nationalen Behörden ermöglicht, effizient und schnell zusammenzuarbeiten, um im Rahmen von Ermittlungen betreffend einen bestimmten Steuerpflichtigen Informationen zu sammeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 86 und 89 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 57 Hierzu baut diese Richtlinie nach ihrem siebten Erwägungsgrund auf dem durch die Richtlinie 77/799 Erreichten auf, indem sie klarere und präzisere Regeln für die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten vorsieht, wenn dies erforderlich ist, um den Anwendungsbereich dieser Zusammenarbeit auszudehnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 47). Insbesondere geht aus diesem Erwägungsgrund hervor, dass diese Regeln es auch möglich machen sollten, sämtliche juristische und natürliche Personen in der Union zu erfassen, wobei die immer größere Zahl der Arten von Rechtsvereinbarungen, die Steuerpflichtige in den Mitgliedstaaten schließen können, zu berücksichtigen sind. 58 Wie die Generalanwältin in Nr. 52 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, begründete eine Auslegung der Wendung „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, die darauf hinausliefe, Informationsersuchen zu verbieten, die sich nicht auf von der ersuchenden Behörde namentlich und individuell identifizierte Personen beziehen, aber die Gefahr, dass dem Informationsersuchen als Instrument der Zusammenarbeit die praktische Wirksamkeit genommen würde, und liefe somit dem mit diesem Instrument verfolgten Ziel der Bekämpfung von internationalem Steuerbetrug und internationaler Steuerhinterziehung zuwider. 59 Eine solche Auslegung liefe nämlich darauf hinaus, Informationsersuchen wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu verbieten, mit denen im Rahmen einer steuerlichen Untersuchung, deren Reichweite durch die ersuchende Behörde bereits festgelegt ist, bezweckt wird, eine begrenzte Gruppe von Personen, die verdächtigt werden, den mutmaßlichen Verstoß oder die mutmaßliche Unterlassung begangen zu haben, anhand gemeinsamer Eigenschaften oder Merkmale, die sie von anderen unterscheiden, zu individualisieren. 60 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sowohl das Informationsersuchen als auch die Anordnungsentscheidung in der ersten Phase dieser Untersuchung oder Ermittlung ergangen sind, die dazu dient, Informationen zu sammeln, von denen die ersuchende Behörde naturgemäß keine genaue und vollständige Kenntnis hat (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 121). 61 Somit ergibt sich aus einer Auslegung nach Wortlaut, Kontext und Zweck der Wendung „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16, dass diese Wendung nicht nur den Namen und andere personenbezogene Angaben umfasst, sondern auch unterscheidungskräftige Eigenschaften oder Merkmale, anhand deren die Person oder die Personen, der bzw. denen diese Untersuchung oder Ermittlung gilt, identifiziert werden kann bzw. können. 62 Daraus folgt, dass die „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, im Sinne dieser Vorschrift als Angabe im Sinne der Rn. 48 des vorliegenden Urteils, die die Begründung des Informationsersuchens zwingend enthalten muss, damit die ersuchte Behörde feststellen kann, dass den erbetenen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit nicht völlig fehlt, nicht nur Personen, die von der ersuchenden Behörde namentlich und individuell identifiziert werden, sondern auch eine begrenzte Gruppe von Personen erfassen kann, die anhand gemeinsamer Eigenschaften oder Merkmale, die sie von anderen unterscheiden, identifizierbar sind. 63 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass nach der in den Rn. 44 und 45 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs die ersuchende Behörde zwar über einen Beurteilungsspielraum bei der Bewertung der voraussichtlichen Erheblichkeit der erbetenen Informationen verfügt, von der ersuchten Behörde jedoch keine Informationen zum Zweck einer Beweisausforschung, wie sie im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 genannt ist, anfordern kann, da solche Informationen nicht als „voraussichtlich erheblich“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie angesehen werden können. 64 Drittens sind daher in Bezug auf ein Informationsersuchen, das sich nicht auf namentlich und individuell identifizierte Personen bezieht, die Angaben zu präzisieren, die die ersuchende Behörde der ersuchten Behörde übermitteln muss, um dieser die Feststellung zu ermöglichen, dass die Informationen nicht zum Zweck einer solchen Beweisausforschung erbeten werden und ihnen damit die voraussichtliche Erheblichkeit nicht völlig fehlt im Sinne der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung. Wie die Generalanwältin in Nr. 54 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist nämlich die Gefahr einer Beweisausforschung besonders hoch, wenn das Informationsersuchen eine Gruppe nicht namentlich und individuell identifizierter Steuerpflichtiger betrifft. 65 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach der in Rn. 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die Angaben in der Begründung, die sich auf die „Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt“, im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/16 beziehen, neben den Angaben, die sich auf den steuerlichen Zweck dieses Ersuchens im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie beziehen, vorliegen müssen. 66 Des Weiteren ergibt sich aus dem neunten Erwägungsgrund und Art. 20 der Richtlinie 2011/16 in der Auslegung durch die in den Rn. 42 bis 45 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine ersuchende Behörde weder Informationen erbitten darf, die den Rahmen ihrer steuerlichen Untersuchung offenkundig überschreiten, noch der ersuchenden Behörde eine übermäßige Belastung auferlegen darf. 67 Daher ist, wie die Generalanwältin in den Nrn. 58 bis 62 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die ersuchende Behörde verpflichtet, erstens die Gruppe der Steuerpflichtigen, denen eine Untersuchung oder Ermittlung gilt, so konkret und umfassend wie möglich zu beschreiben und dabei die unterscheidungskräftigen Eigenschaften oder Merkmale der zu dieser Gruppe gehörenden Personen anzugeben, damit die ersuchte Behörde sie identifizieren kann, zweitens zu erläutern, welchen spezifischen steuerlichen Pflichten diese Personen unterliegen, und drittens darzulegen, warum Grund zu der Annahme besteht, dass diese Personen die Unterlassungen oder Verstöße begangen haben, die Gegenstand der Untersuchung oder Ermittlung sind. 68 Im vorliegenden Fall scheint, wie die Generalanwältin in Nr. 64 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Begründung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Informationsersuchens, wie sie der in der Vorlageentscheidung enthaltenen und in Rn. 17 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Sachverhaltsschilderung zu entnehmen ist, die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils ausgeführten Voraussetzungen zu erfüllen – was jedoch das vorlegende Gericht im Rahmen einer Gesamtwürdigung des Inhalts dieses Ersuchens zu überprüfen hat. 69 Schließlich entspricht diese Auslegung der Vorschriften der Richtlinie 2011/16 der Auslegung des in Art. 26 Abs. 1 des OECD-Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen verwendeten Begriffs „voraussichtliche Erheblichkeit“ der erbetenen Informationen, die sich aus den am 17. Juli 2012 angenommenen Kommentaren des OECD-Rates zu diesem Artikel ergibt. 70 Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass der u. a. im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/16 enthaltene Ausdruck „voraussichtliche Erheblichkeit“ der erbetenen Informationen den in Art. 26 Abs. 1 dieses Musterabkommens verwendeten Ausdruck widerspiegelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 67). 71 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in den Nrn. 5.1 und 5.2 der Kommentare zu Art. 26 des OECD-Musterabkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ausgeführt ist, dass „ein Auskunftsersuchen nicht schon deshalb eine ‚fishing expedition‘ darstellt, weil in ihm nicht der Name oder die Anschrift (oder beides) des Steuerpflichtigen, dem die Untersuchung oder Ermittlung gilt, angegeben ist“, sofern der ersuchende Staat „genügend andere Informationen [aufnimmt], um eine Identifizierung des Steuerpflichtigen zu ermöglichen“. Außerdem wird in diesen Nummern klargestellt, dass die Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit auch in Fällen erfüllt sein kann, die „eine Gruppe von (namentlich oder auf andere Weise identifizierten) Steuerpflichtigen betreffen“. 72 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 dahin auszulegen sind, dass sich ein Auskunftsersuchen auf Informationen bezieht, die nicht offenkundig voraussichtlich unerheblich sind, wenn die Personen, denen eine Kontrolle oder Ermittlung im Sinne der letztgenannten Vorschrift gilt, in diesem Ersuchen zwar nicht namentlich und individuell bezeichnet sind, die ersuchende Behörde aber auf der Grundlage eindeutiger und hinreichender Erklärungen belegt, dass sie eine gezielte, eine beschränkte Personengruppe betreffende Untersuchung durchführt, die durch einen begründeten Verdacht der Nichteinhaltung einer bestimmten gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt ist. Zur dritten Frage Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 73 Die luxemburgische Regierung stellt implizit die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der dritten Frage in Abrede. Sie macht im Wesentlichen geltend, dass diese Frage rein innerstaatliche Aspekte betreffe, die sich auf die zeitliche Anwendung nationaler Verfahrensregeln bezögen und daher keinen Bezug zum Unionsrecht aufwiesen. Da Art. 47 der Charta auf einen innerstaatlichen Rechtsstreit aber nur Anwendung finde, wenn dieser einen hinreichenden Bezug zum Unionsrecht aufweise, falle die dritte Frage nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs. 74 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das Gesetz vom 25. November 2014 eine Durchführung dieser Richtlinie darstellt, da es die Modalitäten des durch die Richtlinie 2011/16 eingeführten Verfahrens zum Informationsaustausch auf Ersuchen, insbesondere die zur Gewährleistung des reibungslosen Funktionierens dieses Verfahrens festgelegten Modalitäten der Durchführung und der Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, mit denen die Übermittlung von Informationen angeordnet wird, und von Entscheidungen, mit denen Sanktionen wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt werden, präzisiert und daher in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 34 bis 41, und vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 45 und 46). 75 Daraus folgt, dass Art. 47 der Charta gemäß ihrem Art. 51 Abs. 1 anwendbar (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 42 und 50, sowie vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 46) und der Gerichtshof für die Beantwortung der dritten Frage zuständig ist. Zur Zulässigkeit 76 Die luxemburgische Regierung äußert auch Zweifel an der Zulässigkeit der dritten Frage. Zum einen habe der Informationsinhaberin zwar gemäß Art. 6 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. November 2014 in der auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung nur gegen die Entscheidung über die Verhängung einer Sanktion wegen Nichtbefolgung der Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet werde, ein Rechtsbehelf zugestanden, doch sei durch das Gesetz vom 1. März 2019 eine Anfechtungsklage gegen die letztgenannte Entscheidung eingeführt worden. 77 Da das Gesetz vom 1. März 2019 Verfahrensregeln vorsehe, könne es ab dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens auf laufende Sachverhalte Anwendung finden. Da dieses Gesetz auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbar sei, sei folglich die dritte Frage für die Entscheidung dieses Rechtsstreits nicht erheblich, da die Informationsinhaberin gemäß diesem Gesetz nunmehr berechtigt sei, eine Anfechtungsklage gegen die Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet werde, zu erheben, um diese unmittelbar anzufechten. 78 Zum anderen habe im vorliegenden Fall die Gesellschaft, die Inhaberin der Informationen sei, selbst unter der Geltung des Gesetzes vom 25. November 2014 in der auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung über einen wirksamen Rechtsbehelf verfügt, mit dem sie die Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 unmittelbar habe anfechten können. 79 Diese Gesellschaft hat nämlich, wie Rn. 19 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, neben der Klage gegen die Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018 eine Anfechtungsklage gegen die Entscheidung des Direktors der Verwaltung für direkte Abgaben erhoben, mit der der von ihr gegen die Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 eingelegte verwaltungsinterne förmliche Rechtsbehelf für unzulässig erklärt worden war. Diese Anfechtungsklage, von der feststeht, dass sie keine aufschiebende Wirkung in Bezug auf die letztgenannte Entscheidung hat, ist gegenwärtig beim Verwaltungsgericht anhängig. Dieses hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen, bis der Gerichtshof die im vorliegenden Verfahren zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen beantwortet hat. 80 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor Din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 115 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 81 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor Din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 116 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 82 Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung insbesondere „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen. Das Vorabentscheidungsverfahren setzt daher insbesondere voraus, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil berücksichtigt werden kann (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor Din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 117 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 83 Im vorliegenden Fall ist zum einen hinsichtlich des durch das Gesetz vom 1. März 2019 eingeführten direkten Rechtsbehelfs gegen Entscheidungen, mit denen die Übermittlung von Informationen angeordnet wird, festzustellen, dass dieses Gesetz, wie das vorlegende Gericht in seiner Antwort zur Aufrechterhaltung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ausgeführt hat, auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar ist. Dieser Rechtsstreit ist nämlich vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes anhängig geworden und geht auf einen Rechtsbehelf zurück, der nicht gegen eine Entscheidung eingelegt wurde, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet wurde, sondern gegen eine spätere Entscheidung, mit der eine Sanktion wegen der Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt wurde. 84 Zum anderen genügt zu der in Rn. 79 des vorliegenden Urteils genannten Anfechtungsklage der Hinweis, dass diese, wie die luxemburgische Regierung selbst in ihrer Antwort auf die vom Gerichtshof gestellten Fragen zur schriftlichen Beantwortung ausgeführt hat, unter der Annahme, dass sie zulässig wäre, jedenfalls gegenstandslos würde, wenn am Ende des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren die Rechtmäßigkeit der Anordnungsentscheidung vom 28. Februar 2018 und der Geldbußenentscheidung vom 6. August 2018 inzident endgültig anerkannt würde. 85 Unter diesen Umständen ist die Beantwortung der dritten Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits, mit dem das vorlegende Gericht befasst ist, erheblich und erforderlich im Sinne der in den Rn. 80 bis 82 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung und diese Frage daher zulässig. Zum Inhalt 86 Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass einer Informationen besitzenden Person, – gegen die eine Geldbuße wegen Nichtbefolgung einer Entscheidung verhängt wurde, mit der die Übermittlung von Informationen im Rahmen eines Informationsaustauschs zwischen nationalen Steuerverwaltungen nach der Richtlinie 2011/16 angeordnet wurde und die nach dem internen Recht des ersuchten Mitgliedstaats nicht mit einer verwaltungsrechtlichen Klage anfechtbar ist, und – die die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Rahmen einer verwaltungsrechtlichen Klage gegen die Entscheidung, mit der eine Sanktion wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt wurde, inzident in Frage gestellt hat und so im Lauf des diesen Rechtsbehelf betreffenden gerichtlichen Verfahrens Kenntnis von den in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Mindestinformationen erlangt hat, nach der inzident erfolgten endgültigen Anerkennung der Rechtmäßigkeit dieser ihr gegenüber ergangenen Entscheidungen, ein Aufschub für die Zahlung der Geldbuße gewährt werden muss, damit sie, nachdem sie auf diese Weise Kenntnis von den Umständen erhalten hat, die sich auf die vom zuständigen Richter endgültig bestätigte voraussichtliche Erheblichkeit beziehen, der Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet wird, nachkommen kann. 87 Zur Beantwortung dieser Frage ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt. Dieser Schutz kann somit von einer juristischen Person als durch das Recht der Union garantiertes Recht im Sinne von Art. 47 Abs. 1 der Charta geltend gemacht werden, um einen sie belastenden Rechtsakt wie eine Anordnung zur Übermittlung von Informationen oder eine wegen Nichtbeachtung dieser Anordnung verhängte Sanktion gerichtlich anzufechten (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 57 und 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 88 Folglich muss einer juristischen Person wie der Beklagten des Ausgangsverfahrens, gegen die die zuständige nationale Behörde solche Entscheidungen erlassen hat, gegen diese Entscheidungen das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuerkannt werden, dessen Ausübung von den Mitgliedstaaten nur eingeschränkt werden kann, wenn die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 59, 60 und 64). 89 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass das nationale Gericht, bei dem eine Klage gegen die dem Verwaltungsunterworfenen wegen Nichtbefolgung der Anordnung zur Übermittlung von Informationen auferlegte Geldbuße anhängig ist, die Rechtmäßigkeit der Anordnung prüfen können muss, damit den Anforderungen von Art. 47 der Charta Genüge getan ist. Folglich hat ein Verwaltungsunterworfener, gegen den eine Geldbuße verhängt wurde, weil er eine Verwaltungsentscheidung nicht befolgt hatte, mit der von ihm im Rahmen eines Austauschs zwischen nationalen Steuerbehörden aufgrund der Richtlinie 2011/16 die Mitteilung von Informationen verlangt wurde, das Recht, die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung anzufechten (Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 56 und 59). 90 In diesem Kontext hat der Gerichtshof zum einen entschieden, dass für die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle erforderlich ist, dass die Begründung der ersuchenden Behörde das nationale Gericht in die Lage versetzt, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Informationsersuchens auszuüben. In Anbetracht des Beurteilungsspielraums der ersuchenden Behörde im Sinne der in den Rn. 42 und 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gelten die in den Rn. 43 und 46 des vorliegenden Urteils dargelegten Grenzen, denen die Prüfung durch die ersuchte Behörde unterliegt, ebenso für die Kontrolle durch das Gericht. Daher muss das Gericht nur prüfen, ob sich die Anordnung zur Übermittlung von Informationen auf ein hinreichend begründetes Ersuchen der ersuchenden Behörde stützt, das Informationen betrifft, denen im Hinblick auf die in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 genannten Angaben zur Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt, und zum steuerlichen Zweck der erbetenen Informationen die voraussichtliche Erheblichkeit nicht offenkundig völlig fehlt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 84 bis 86). 91 Zum anderen hat der Gerichtshof klargestellt, dass das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats, damit es seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann, zwar Zugang zu dem vom ersuchenden Mitgliedstaat an den ersuchten Mitgliedstaat übermittelten Informationsersuchen haben können muss, es aber nicht erforderlich ist, dass der betreffende Verwaltungsunterworfene zu dem gesamten Informationsersuchen Zugang hat, damit seine Sache im Hinblick auf die Voraussetzung der voraussichtlichen Erheblichkeit in einem fairen Verfahren verhandelt wird. Hierfür genügt, dass er im Rahmen seines gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen die Anordnung zur Übermittlung von Informationen und die Entscheidung zur Verhängung einer Sanktion wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung Zugang zu den in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16 genannten Mindestinformationen hat, nämlich der Bezeichnung der Person, der die Untersuchung oder Ermittlung gilt, und des steuerlichen Zwecks der erbetenen Informationen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 92, 99 und 100). 92 Hierzu ist jedoch hervorzuheben, dass es für die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta gewährleisteten gerichtlichen Kontrolle erforderlich ist, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann, entweder durch die Lektüre der Entscheidung selbst oder durch eine auf seinen Antrag hin erfolgte Mitteilung dieser Gründe, unbeschadet der Befugnis des zuständigen Gerichts, von der betreffenden Behörde die Übermittlung dieser Gründe zu verlangen, um es ihm zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, das zuständige Gericht anzurufen, und um dieses vollständig in die Lage zu versetzen, die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der fraglichen nationalen Entscheidung auszuüben (Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken, C‑225/19 und C‑226/19, EU:C:2020:951, Rn. 43 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 93 Somit muss eine Entscheidung, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet wird, nicht nur auf ein im Licht der in den Rn. 41 bis 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gültiges Informationsersuchen gestützt, sondern auch ordnungsgemäß begründet sein, um dem Adressaten dieser Entscheidung zu ermöglichen, deren Tragweite zu erfassen und zu entscheiden, ob er gerichtlich gegen diese vorgeht oder nicht. 94 Außerdem hat der Gerichtshof auch auf die ständige Rechtsprechung hingewiesen, nach der zum Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. gehört, dass die Person, die Inhaber dieses Rechts ist, Zugang zu einem Gericht erhalten kann, das über die Befugnis verfügt, die Achtung der ihr durch das Unionsrecht garantierten Rechte sicherzustellen und zu diesem Zweck alle für die bei ihm anhängige Streitigkeit relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen zu prüfen; dabei darf diese Person nicht gezwungen sein, gegen eine Regel oder eine rechtliche Verpflichtung zu verstoßen und sich der mit diesem Verstoß verbundenen Sanktion auszusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 66). 95 In Bezug auf die im Ausgangsverfahren anwendbaren innerstaatlichen Rechtsvorschriften hat der Gerichtshof aber bereits festgestellt, dass die Person, an die eine die Übermittlung von Informationen anordnende Entscheidung gerichtet ist, nach diesen Rechtsvorschriften nur dann, wenn sie zum einen diese Entscheidung nicht beachtet, und wenn zum anderen anschließend aus diesem Grund eine Sanktion gegen sie verhängt wird, über eine Möglichkeit verfügt, diese Entscheidung im Rahmen des ihr gegen eine solche Sanktion zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfs inzident anzufechten (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 67). 96 Somit hat eine solche Person im Fall einer willkürlichen oder unverhältnismäßigen Anordnung der Übermittlung von Informationen keinen Zugang zu einem Gericht, es sei denn, sie verstößt gegen diese Entscheidung, indem sie es ablehnt, der in ihr enthaltenen Anordnung nachzukommen, und setzt sich damit der Sanktion aus, die an die Nichtbeachtung der Entscheidung geknüpft ist. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Person einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genießt (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 68). 97 Daher hat der Gerichtshof entschieden, dass diese nationalen Rechtsvorschriften, soweit sie einer Informationen besitzenden Person, an die die zuständige nationale Behörde eine die Übermittlung dieser Informationen anordnende Entscheidung richtet, die Möglichkeit verwehren, einen unmittelbaren Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einzulegen, nicht den Wesensgehalt des durch Art. 47 der Charta garantierten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf achten, und dass folglich Art. 52 Abs. 1 der Charta einer solchen Regelung entgegensteht (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 69). 98 Damit die Wirksamkeit des Wesensgehalts dieses Rechts unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens gewahrt wird, muss daher die Person, an die die Entscheidung gerichtet ist, mit der die Übermittlung von Informationen angeordnet wird, nachdem diese Entscheidung gegebenenfalls durch das zuständige Gericht bestätigt wurde, die Möglichkeit erhalten, dieser Entscheidung innerhalb der hierfür nach dem nationalen Recht ursprünglich vorgesehenen Frist nachzukommen, ohne dass dies die Aufrechterhaltung der Sanktion zur Folge hat, der sie sich zur Ausübung ihres Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf aussetzen musste. Erst wenn die betreffende Person dieser Entscheidung nicht innerhalb dieser Frist nachkommt, wird die verhängte Sanktion fällig. 99 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine Informationen besitzende Person, – gegen die eine Geldbuße wegen Nichtbefolgung einer Entscheidung verhängt wurde, mit der die Übermittlung von Informationen im Rahmen eines Informationsaustauschs zwischen nationalen Steuerverwaltungen nach der Richtlinie 2011/16 angeordnet wurde und die nach dem internen Recht des ersuchten Mitgliedstaats nicht mit einer verwaltungsrechtlichen Klage anfechtbar ist, und – die die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Rahmen einer verwaltungsrechtlichen Klage gegen die Entscheidung, mit der eine Sanktion wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt wurde, inzident in Frage gestellt hat und so im Lauf des diesen Rechtsbehelf betreffenden gerichtlichen Verfahrens Kenntnis von den in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Mindestinformationen erlangt hat, nach der endgültigen Anerkennung der Rechtmäßigkeit dieser gegen sie ergangenen Entscheidungen die Möglichkeit erhalten muss, der Anordnung zur Übermittlung von Informationen innerhalb der hierfür nach dem nationalen Recht ursprünglich vorgesehenen Frist nachzukommen, ohne dass dies die Aufrechterhaltung der Sanktion zur Folge hat, der sie sich zur Ausübung seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf aussetzen musste. Erst wenn die betreffende Person dieser Entscheidung nicht innerhalb dieser Frist nachkommt, wird die verhängte Sanktion fällig. Kosten 100 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 1 Abs. 1, Art. 5 und Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2011/16/EU des Rates vom 15. Februar 2011 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung und zur Aufhebung der Richtlinie 77/799/EWG sind dahin auszulegen, dass sich ein Auskunftsersuchen auf Informationen bezieht, die nicht offenkundig voraussichtlich unerheblich sind, wenn die Personen, denen eine Kontrolle oder Ermittlung im Sinne der letztgenannten Vorschrift gilt, in diesem Ersuchen zwar nicht namentlich und individuell bezeichnet sind, die ersuchende Behörde aber auf der Grundlage eindeutiger und hinreichender Erklärungen belegt, dass sie eine gezielte, eine beschränkte Personengruppe betreffende Untersuchung durchführt, die durch einen begründeten Verdacht der Nichteinhaltung einer bestimmten gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt ist. 2. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine Informationen besitzende Person, – gegen die eine Geldbuße wegen Nichtbefolgung einer Entscheidung verhängt wurde, mit der die Übermittlung von Informationen im Rahmen eines Informationsaustauschs zwischen nationalen Steuerverwaltungen nach der Richtlinie 2011/16 angeordnet wurde und die nach dem internen Recht des ersuchten Mitgliedstaats nicht mit einer verwaltungsrechtlichen Klage anfechtbar ist, und – die die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Rahmen einer verwaltungsrechtlichen Klage gegen die Entscheidung, mit der eine Sanktion wegen Nichtbefolgung dieser Anordnung verhängt wurde, inzident in Frage gestellt hat und so im Lauf des diesen Rechtsbehelf betreffenden gerichtlichen Verfahrens Kenntnis von den in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Mindestinformationen erlangt hat, nach der endgültigen Anerkennung der Rechtmäßigkeit dieser gegen sie ergangenen Entscheidungen die Möglichkeit erhalten muss, der Anordnung zur Übermittlung von Informationen innerhalb der hierfür nach dem nationalen Recht ursprünglich vorgesehenen Frist nachzukommen, ohne dass dies die Aufrechterhaltung der Sanktion zur Folge hat, der sie sich zur Ausübung seines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf aussetzen musste. Erst wenn die betreffende Person dieser Entscheidung nicht innerhalb dieser Frist nachkommt, wird die verhängte Sanktion fällig. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 28. Oktober 2021.#Vialto Consulting Kft. gegen Europäische Kommission.#Rechtsmittel – Schadensersatzklage – Außervertragliche Haftung – Instrument für Heranführungshilfe – Dezentrale Mittelverwaltung – Untersuchung des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Kontrollen vor Ort – Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96 – Art. 7 – Zugang zu EDV-Daten – Digitalforensische Maßnahme – Grundsatz des Vertrauensschutzes – Anhörungsrecht – Immaterieller Schaden.#Rechtssache C-650/19 P.
62019CJ0650
ECLI:EU:C:2021:879
2021-10-28T00:00:00
Hogan, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0650 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 28. Oktober 2021 (*1) „Rechtsmittel – Schadensersatzklage – Außervertragliche Haftung – Instrument für Heranführungshilfe – Dezentrale Mittelverwaltung – Untersuchung des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Kontrollen vor Ort – Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96 – Art. 7 – Zugang zu EDV-Daten – Digitalforensische Maßnahme – Grundsatz des Vertrauensschutzes – Anhörungsrecht – Immaterieller Schaden“ In der Rechtssache C‑650/19 P betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 3. September 2019, Vialto Consulting Kft. mit Sitz in Budapest (Ungarn), Prozessbevollmächtigte: D. Sigalas und S. Paliou, dikigoroi, Klägerin, andere Partei des Verfahrens: Europäische Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou, J. Baquero Cruz und A. Katsimerou als Bevollmächtigte, Beklagte im ersten Rechtszug, erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), und des Richters J.‑C. Bonichot, Generalanwalt: G. Hogan, Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Februar 2021, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. April 2021 folgendes Urteil 1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Vialto Consulting Kft. (im Folgenden: Vialto) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 26. Juni 2019, Vialto Consulting/Kommission (T‑617/17, nicht veröffentlicht, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2019:446), mit dem das Gericht ihre Klage auf Ersatz des Schadens abgewiesen hat, der ihr durch vermeintlich rechtswidriges Verhalten der Europäischen Kommission und des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) im Zusammenhang mit ihrem Ausschluss von dem Dienstleistungsvertrag mit der Referenz TR2010/0311.01-02/001 (im Folgenden: fraglicher Vertrag) entstanden sein soll. Rechtlicher Rahmen Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96 2 Art. 4 der Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96 des Rates vom 11. November 1996 betreffend die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort durch die Kommission zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vor Betrug und anderen Unregelmäßigkeiten (ABl. 1996, L 292, S. 2) lautet: „Die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort werden von der Kommission vorbereitet und durchgeführt; dies erfolgt in enger Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats, die rechtzeitig über Gegenstand, Ziel und Rechtsgrundlage der Kontrollen und Überprüfungen unterrichtet werden, damit sie die erforderliche Unterstützung gewähren können. Zu diesem Zweck können die Beauftragten des betreffenden Mitgliedstaats an den Kontrollen und Überprüfungen vor Ort teilnehmen. Darüber hinaus werden die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort auf Wunsch des betreffenden Mitgliedstaats gemeinsam von der Kommission und dessen zuständigen Behörden durchgeführt.“ 3 Art. 7 dieser Verordnung bestimmt: (1)   Die Kontrolleure der Kommission haben unter denselben Bedingungen wie die Kontrolleure der einzelstaatlichen Verwaltungen und unter Einhaltung der einzelstaatlichen Vorschriften Zugang zu allen Informationen und Unterlagen über die betreffenden Vorgänge, die sich für die ordnungsgemäße Durchführung der Kontrollen und Überprüfungen vor Ort als erforderlich erweisen. Sie können dieselben materiellen Kontrollmittel benutzen wie die Kontrolleure der einzelstaatlichen Verwaltungen und insbesondere zweckdienliche Unterlagen kopieren. Die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort können sich insbesondere erstrecken auf … – EDV-Daten, … (2)   Erforderlichenfalls obliegt es den Mitgliedstaaten, auf Ersuchen der Kommission die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, um insbesondere Beweisstücke zu sichern.“ 4 Art. 9 der Verordnung Nr. 2185/96 lautet: „Widersetzen sich die in Artikel 5 genannten Wirtschaftsteilnehmer einer Kontrolle oder Überprüfung vor Ort, so gewährt der betreffende Mitgliedstaat den Kontrolleuren der Kommission in Übereinstimmung mit seinen nationalen Rechtsvorschriften die erforderliche Unterstützung, damit sie ihren Auftrag zur Durchführung der Kontrollen und Überprüfungen vor Ort erfüllen können. Es ist Aufgabe der Mitgliedstaaten, unter Einhaltung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften etwaige notwendige Maßnahmen zu treffen.“ Beschluss 1999/352/EG, EGKS, Euratom 5 Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 1999/352/EG, EGKS, Euratom der Kommission vom 28. April 1999 zur Errichtung des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) (ABl. 1999, L 136, S. 20) sieht in Unterabs. 1 vor: „Das Amt übt die Befugnisse der Kommission zur Durchführung externer Verwaltungsuntersuchungen aus, welche dazu dienen, die Bekämpfung von Betrug, Korruption und allen anderen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zu verstärken, sowie die Befugnisse zur Betrugsbekämpfung bei allen sonstigen Tatsachen oder Handlungen, welche Verstöße gegen Gemeinschaftsbestimmungen darstellen.“ Verordnung (EG) Nr. 718/2007 6 Der erste Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 718/2007 der Kommission vom 12. Juni 2007 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1085/2006 des Rates zur Schaffung eines Instruments für Heranführungshilfe (IPA) (ABl. 2007, L 170, S. 1) lautet: „Zweck der Verordnung (EG) Nr. 1085/2006 (nachstehend IPA-Verordnung genannt) ist es, den begünstigten Ländern Heranführungshilfe zu leisten und sie auf ihrem Weg von der Nennung in Anhang II über die Nennung in Anhang I der Verordnung bis zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu unterstützen.“ 7 Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 718/2007 bestimmt: „Sofern in den Absätzen 2, 3 und 4 nichts anderes bestimmt ist, gilt für die Durchführung der Hilfe nach der IPA-Verordnung die dezentrale Mittelverwaltung, bei der die Kommission die Verwaltung bestimmter Maßnahmen dem begünstigten Land überträgt, jedoch die oberste Gesamtverantwortung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans nach Artikel 53c der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 [des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2002, L 248, S. 1)] und den einschlägigen Bestimmungen der Verträge behält. Für die Zwecke der Hilfe nach der IPA-Verordnung gilt die dezentrale Mittelverwaltung mindestens für die Ausschreibung, die Auftragsvergabe und die Zahlungen. …“ 8 In Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung heißt es: „Das begünstigte Land benennt die folgenden Stellen und Behörden: … f) eine operative Struktur für jede IPA-Komponente oder jedes Programm; …“ 9 Art. 28 dieser Verordnung sieht vor: „(1)   Für jede IPA-Komponente oder jedes Programm wird eine operative Struktur für die Verwaltung und die Durchführung der Hilfe nach der IPA-Verordnung eingerichtet. Die operative Struktur muss eine Stelle oder eine Gesamtheit von Stellen innerhalb der Verwaltung des begünstigten Landes sein. (2)   Die operative Struktur ist für die Verwaltung und Durchführung des betreffenden Programms bzw. der betreffenden Programme nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung zuständig. Für diese Zwecke hat sie eine Reihe von Aufgaben zu erfüllen, zu denen es unter anderem gehört, … f) für Ausschreibungsverfahren, Zuschussvergabeverfahren, den Abschluss der sich daraus ergebenden Verträge sowie die Zahlungen an den Endempfänger und die Wiedereinziehung von Mitteln beim Endempfänger zu sorgen; …“ Verordnung (EU, Euratom) Nr. 883/2013 10 Art. 3 der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 883/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. September 2013 über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (Euratom) Nr. 1074/1999 des Rates (ABl. 2013, L 248, S. 1) bestimmt: „(1)   Das Amt übt die der Kommission durch die Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96 übertragenen Befugnisse zur Durchführung von Kontrollen und Überprüfungen vor Ort in den Mitgliedstaaten und – gemäß den geltenden Vereinbarungen über Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung und sonstigen geltenden Rechtsinstrumenten – in Drittstaaten und in den Räumlichkeiten internationaler Organisationen aus. … (2)   Zur Feststellung des Vorliegens von Betrug oder Korruption oder jedweder sonstigen rechtswidrigen Handlung zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, der bzw. die im Zusammenhang mit einer Finanzhilfevereinbarung, einem Finanzhilfebeschluss oder einem Vertrag über eine Finanzhilfe der Union verübt wurde, kann das Amt gemäß den in der Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96 festgelegten Bestimmungen und Verfahren bei Wirtschaftsteilnehmern vor Ort Kontrollen und Überprüfungen durchführen. …“ 11 In Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2013 heißt es: „(1)   Nach Abschluss einer vom Amt durchgeführten Untersuchung wird unter der verantwortlichen Leitung des Generaldirektors ein Bericht erstellt. Dieser Bericht gibt Aufschluss über die Rechtsgrundlage der Untersuchung, die durchgeführten Verfahrensschritte, den festgestellten Sachverhalt und seine vorläufige rechtliche Bewertung, die geschätzten finanziellen Auswirkungen des Sachverhalts, die Einhaltung der Verfahrensgarantien nach Artikel 9 sowie die Schlussfolgerungen der Untersuchung. Dem Bericht werden Empfehlungen des Generaldirektors zu der Frage beigefügt, ob Maßnahmen ergriffen werden sollten oder nicht. In diesen Empfehlungen werden gegebenenfalls disziplinarische, verwaltungsrechtliche, finanzielle oder justizielle Maßnahmen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen sowie der zuständigen Behörden des betroffenen Mitgliedstaats genannt, wobei insbesondere Angaben zur geschätzten Höhe der wieder einzuziehenden Beträge sowie zur vorläufigen rechtlichen Bewertung des Sachverhalts gemacht werden. … (3)   Die nach Abschluss einer externen Untersuchung erstellten Berichte und Empfehlungen werden zusammen mit allen sachdienlichen Schriftstücken gemäß den für externe Untersuchungen geltenden Regelungen den zuständigen Behörden der betroffenen Mitgliedstaaten sowie erforderlichenfalls den zuständigen Dienststellen der Kommission übermittelt. …“ OLAF‑interne Leitlinien zu digitalforensischen Arbeitsverfahren für die Bediensteten des OLAF 12 Art. 4 Abs. 3 und 4 der OLAF‑internen Leitlinien vom 15. Februar 2016 zu digitalforensischen Arbeitsverfahren für die Bediensteten des OLAF (im Folgenden: OLAF‑Leitlinien) bestimmt: „(3)   Zu Beginn der digitalforensischen Maßnahme werden vom SDB [Spezialist für digitale Beweismittel] 1) sämtliche digitalen Speichermedien, die Gegenstand der forensischen Maßnahme sind, sowie deren physische Umgebung und ihre Anordnung dokumentiert und fotografiert und [wird] 2) eine Bestandsliste der digitalen Speichermedien erstellt. Die Bestandsliste wird in den Bericht über die digitalforensische Maßnahme aufgenommen, und die Fotoaufnahmen werden dem Bericht beigefügt. (4)   Grundsätzlich sollte der SDB eine vollständige digitalforensische Erfassung der in Artikel 3 erwähnten Geräte vornehmen. Soweit machbar, sollten der SDB und der Untersuchungsbeauftragte gemeinsam eine Sichtung dieser Geräte vornehmen, um festzustellen, ob sie für die Untersuchung möglicherweise relevante Daten enthalten und ob eine forensische Teilerfassung angezeigt wäre. Wenn dies der Fall ist, kann der SDB stattdessen eine forensische Teilerfassung der Daten vornehmen. Bei der Erfassung des digitalforensischen Abbilds werden eine kurze Beschreibung der Inhalte und das vom SDB hinzugefügte Aktenzeichen protokolliert.“ 13 Art. 8 Abs. 2 und 4 der OLAF‑Leitlinien sieht vor: „(2)   Das digitalforensische Abbild wird vom SDB auf den Forensik-Dateiserver im Forensiklabor übertragen. Die so übertragene Datei dient als forensische Arbeitsdatei. Sobald die forensische Arbeitsdatei fertiggestellt ist, unterrichtet der SDB den Untersuchungsbeauftragten. … (4)   Wenn die forensische Arbeitsdatei verfügbar ist, beantragt der Untersuchungsbeauftragte über das [CMS-Modul für Auskunftsersuchen] schriftlich die Indexierung der forensischen Arbeitsdatei und gegebenenfalls die Unterstützung des SDB oder des Spezialisten für operative Analyse bei der Ermittlung für die Untersuchung relevanter Daten. In dem letzteren Antrag ist anzugeben, worin das Ziel der Suchabfrage besteht und nach welcher Art von Beweisen und/oder Nachweisen der Untersuchungsbeauftragte sucht. Auf den schriftlichen Antrag des Untersuchungsbeauftragten hin extrahiert der SDB gemeinsam mit dem Untersuchungsbeauftragten aus der forensischen Arbeitsdatei die Daten, die den Suchkriterien entsprechen; der Untersuchungsbeauftragte hat nur Lesezugriff auf diese Daten.“ Vorgeschichte des Rechtsstreits 14 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits ist in den Rn. 1 bis 23 des angefochtenen Urteils geschildert und kann für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens wie folgt zusammengefasst werden. 15 Vialto ist eine Gesellschaft ungarischen Rechts, die Unternehmen und Einrichtungen des privaten und des öffentlichen Sektors berät. 16 Am 22. April 2011 schloss die Europäische Kommission mit der Republik Türkei eine Finanzierungsvereinbarung nach dem System der dezentralen Mittelverwaltung mit Ex-ante-Kontrolle, die Teil des nationalen Programms für die Republik Türkei im Rahmen der Komponente „Hilfe beim Übergang und Institutionenaufbau“ des Instruments für Heranführungshilfe (IPA) war. Benannte operative Struktur im Sinne von Art. 21 der Verordnung Nr. 718/2007 war die Central Finance and Contracts Unit (CFCU), eine Stelle der türkischen Verwaltung. 17 Am 17. Dezember 2013 wurde in der Beilage zum Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. 2013/S 244-423607) unter dem Az. EuropeAid/132338/D/SER/TR für die Vergabe eines Auftrags im nicht offenen Verfahren ein Aufruf zum Wettbewerb für die Erbringung von Dienstleistungen der externen Qualitätskontrolle im Rahmen des Projekts TR2010/0311.01 „Digitization of Land Parcel Identification System“ (Digitalisierung des Systems zur Identifizierung landwirtschaftlicher Parzellen, im Folgenden: fragliches Projekt) veröffentlicht. In dem Aufruf zum Wettbewerb war die CFCU als öffentlicher Auftraggeber benannt. 18 Am 19. September 2014 wurde der mit dem genannten Aufruf zum Wettbewerb verbundene Auftrag an ein von der Agrotec SpA koordiniertes Konsortium (im Folgenden: Konsortium) vergeben, das aus fünf Mitgliedern, darunter Vialto, bestand. Das Konsortium unterzeichnete mit der CFCU den fraglichen Vertrag. 19 Nach der Einleitung einer Untersuchung wegen des Verdachts von Korruption und Betrug im Zusammenhang mit dem fraglichen Projekt beschloss das OLAF, in den Räumlichkeiten von Vialto Kontrollen und Überprüfungen durchzuführen (im Folgenden: Kontrolle vor Ort). 20 Am 7. April 2016 erteilte das OLAF zwei Mandate, in denen die für die Durchführung der Kontrolle vor Ort und einer digitalforensischen technischen Maßnahme verantwortlichen Bediensteten benannt waren. Diesen Mandaten zufolge bestand der Zweck der Kontrolle vor Ort darin, bei Vialto Beweise für ihre etwaige Verwicklung in die korruptiven und betrügerischen Handlungen zu sammeln, die im Rahmen des fraglichen Projekts mutmaßlich begangen worden waren. Zweck der digitalforensischen Maßnahme war es, u. a. ein digitalforensisches Abbild aller digitalen Geräten von Vialto, die für die Durchführung des fraglichen Projekts verwendet wurden, der E-Mail-Korrespondenz von Vialto und ihrer Mitarbeiter, der funktionalen Mailboxen, die für die Durchführung des fraglichen Projekts verwendet wurden, und der Dateien oder Verzeichnisse im Netz von Vialto, die für die Untersuchung relevant sein konnten, anzufertigen. 21 Die Kontrolle vor Ort und die digitalforensische Maßnahme wurden vom 12. bis 14. April 2016 durchgeführt. Zu jedem Kontrolltag wurde vom OLAF ein Protokoll angefertigt. In dem Protokoll zum 14. April 2016 war vermerkt, dass Vialto sich geweigert habe, dem OLAF gewisse Informationen vorzulegen. Ein Vertreter von Vialto unterschrieb alle Protokolle, gegebenenfalls mit Anmerkungen. 22 Mit Schreiben vom 6. Mai 2016 reichte Vialto beim OLAF eine Beschwerde ein, mit der sie bestimmte Angaben in diesen Protokollen beanstandete und kommentierte. Das OLAF beantwortete ihre Beschwerde mit Schreiben vom 8. Juli 2016. 23 Mit Schreiben vom 14. September 2016 teilte das OLAF Vialto mit, dass sie für die Zwecke der Untersuchung des Korruptions- bzw. Betrugsverdachts in Bezug auf das fragliche Projekt als Betroffene angesehen werde, und forderte sie auf, binnen zehn Tagen Stellung zu nehmen. 24 Mit Schreiben vom 23. September 2016 übermittelte Vialto dem OLAF ihre Stellungnahme und erklärte, dass sie im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen gehandelt und alle Bedingungen für einen rechtmäßigen Zugang des OLAF zu ihren Daten erfüllt habe. 25 Mit Schreiben vom 29. September 2016 unterrichtete die CFCU Agrotec über die Kontrolle vor Ort, die in den Räumlichkeiten von Vialto durchgeführt worden war, sowie darüber, dass Vialto dem OLAF keinen Zugang zu bestimmten Daten gewährt habe, die das OLAF angefordert habe, um seine Untersuchung durchführen zu können. Sie fügte hinzu, dass Vialto nach Ansicht des OLAF durch ihr Verhalten gegen Art. 25 der für den fraglichen Vertrag geltenden Allgemeinen Bedingungen (im Folgenden: Allgemeine Bedingungen), der Überprüfungen, Kontrollen und Audits durch die Behörden der Europäischen Union betreffe, verstoßen habe. Das OLAF prüfe die Situation zusammen mit den zuständigen Dienststellen der Kommission. Unter Hinweis darauf, dass Agrotec nach den Allgemeinen Bedingungen ihr einziger Ansprechpartner für alle den Vertrag und die Finanzierung betreffenden Fragen sei, teilte die CFCU Agrotec mit, sie werde die Bezahlung der von Agrotec vorgelegten Rechnungen vorsorglich zumindest bis zum Abschluss der Untersuchung des OLAF einstellen. 26 Mit Schreiben vom 13. Oktober 2016 teilte die Generaldirektion Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen der Kommission (im Folgenden: GD Erweiterung) der CFCU mit, dass sich Vialto entgegen Art. 25 der Allgemeinen Bedingungen geweigert habe, bei der vom OLAF durchgeführten Untersuchung zu kooperieren, und forderte sie auf, die nach diesen Allgemeinen Bedingungen gebotenen Maßnahmen zu ergreifen und insoweit die Aussetzung der Erfüllung des fraglichen Vertrags oder des auf Vialto entfallenden Teils als eine der möglichen Maßnahmen gemäß den Art. 25 und 35 der Allgemeinen Bedingungen in Betracht zu ziehen. Sie fügte hinzu, die aufgrund des fraglichen Vertrags an Vialto gezahlten Beträge könnten nach ihrer Ansicht nicht aus dem Unionshaushalt finanziert werden, und forderte die CFCU auf, diese Beträge genau zu beziffern. 27 Mit Schreiben vom 9. November 2016 teilte das OLAF Vialto mit, dass es seine Untersuchung abgeschlossen habe, dass sein abschließender Untersuchungsbericht der GD Erweiterung zugeleitet worden sei und dass es dieser empfohlen habe, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung der aus dem schwerwiegenden Verstoß von Vialto gegen die Allgemeinen Bedingungen resultierenden Verfahren und Sanktionen sicherzustellen. 28 Mit Schreiben vom 11. November 2016 unterrichtete die CFCU Agrotec über den Abschluss der Untersuchung des OLAF und über dessen Feststellung, dass Vialto gegen Art. 25 der Allgemeinen Bedingungen verstoßen habe. Die CFCU teilte Agrotec auch mit, sie habe beschlossen, Vialto vom fraglichen Vertrag vollständig auszuschließen, diesen aber weiterhin zu erfüllen, statt ihn ganz auszusetzen, wie es die GD Erweiterung als eine mögliche Maßnahme empfohlen habe. Die CFCU forderte Agrotec daher auf, die Tätigkeit von Vialto unverzüglich zu beenden und die erforderlichen Schritte für deren Ausschluss aus dem Konsortium zu unternehmen, d. h., einen entsprechenden Nachtrag zum fraglichen Vertrag abzufassen. 29 Mit Schreiben an die CFCU vom 5. Dezember 2016 wandte sich Vialto gegen ihren Ausschluss vom fraglichen Vertrag. Die CFCU wies ihr Vorbringen mit Schreiben vom 10. Januar 2017 zurück. 30 Am 13. Dezember 2016 unterzeichneten die CFCU und Agrotec einen Nachtrag zum fraglichen Vertrag, der die Streichung von Vialto aus der Liste der Mitglieder des Konsortiums und die daraus zu ziehenden Konsequenzen insbesondere finanzieller Art zum Gegenstand hatte. Klage vor dem Gericht und angefochtenes Urteil 31 Mit am 7. September 2017 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift beantragte Vialto, die Kommission zu verurteilen, ihr 320944,56 Euro und 150000 Euro zuzüglich Zinsen als Ersatz des materiellen bzw. des immateriellen Schadens zu zahlen, die ihr aufgrund des angeblich rechtswidrigen Verhaltens der Kommission und des OLAF im Zusammenhang mit ihrem Ausschluss vom fraglichen Vertrag entstanden seien. 32 Vialto stützte diese Klage zum einen auf zwei Rügen, mit denen sie ein rechtswidriges Verhalten des OLAF geltend machte, nämlich erstens einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 und zweitens eine Verletzung des Rechts auf eine gute Verwaltung, des Diskriminierungsverbots, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Grundsatzes des Vertrauensschutzes. Zum anderen erhob sie eine Rüge, mit der sie ein rechtswidriges Verhalten der Kommission geltend machte, nämlich die Verletzung ihres Anhörungsrechts. 33 In der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht nahm Vialto ihren Antrag auf Ersatz des materiellen Schadens zurück und reduzierte den Betrag, den sie als Entschädigung für den angeblich erlittenen immateriellen Schaden verlangte, auf 25000 Euro zuzüglich Zinsen. 34 Mit dem angefochtenen Urteil wies das Gericht, nachdem es entschieden hatte, dass die Kommission zu Unrecht seine Zuständigkeit und damit die Zulässigkeit der Klage beanstandet habe, sämtliche von Vialto gegen das OLAF und die Kommission erhobenen Rügen zurück. 35 Das Gericht stellte zunächst in den Rn. 69 bis 73 des angefochtenen Urteils fest, dass die Daten, zu denen die Bediensteten des OLAF im vorliegenden Fall Zugang verlangt hatten, als für die Untersuchung des OLAF relevant anzusehen seien und dass die Anfertigung eines digitalforensischen Abbilds zu den Befugnissen der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 gehöre. Daraus zog es in den Rn. 74 bis 80 des angefochtenen Urteils den Schluss, dass die Bediensteten des OLAF mit ihrer Aufforderung, Vialto möge ihnen diese Daten zur Prüfung zugänglich machen, nicht gegen diese Bestimmung verstoßen hätten. 36 Das Gericht wies sodann das Vorbringen zurück, mit dem Vialto gerügt hatte, das OLAF habe das Recht auf eine gute Verwaltung, das Diskriminierungsverbot, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzt. Nachdem das Gericht in Rn. 114 des angefochtenen Urteils auf die Voraussetzungen hingewiesen hatte, die erfüllt sein müssen, um den letztgenannten Grundsatz geltend machen zu können, stellte es in den Rn. 116 und 117 dieses Urteils fest, dass sich die Bediensteten des OLAF auf Vialtos Weigerung hin, ihrem rechtmäßigen Ersuchen, die Daten erheben zu dürfen, nachzukommen, im vorliegenden Fall bereit erklärt hätten, hinsichtlich des Ortes der Datenerhebung und ‑bearbeitung sowie des dafür verwendeten Datenträgers von der in den OLAF‑Leitlinien geregelten Vorgehensweise abzuweichen. Das Gericht zog daraus in Rn. 118 des angefochtenen Urteils den Schluss, Vialto könne sich nicht auf eine hinreichend qualifizierte Verletzung des Grundsatzes des Schutzes des berechtigten Vertrauens berufen, das sie in die Anwendung einer sie begünstigenden abweichenden Praxis gesetzt habe, obwohl sie es abgelehnt habe, den Ersuchen nachzukommen, die die Bediensteten des OLAF im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 an sie gerichtet hätten. 37 Schließlich wies das Gericht die Rüge zurück, mit der Vialto eine Verletzung ihres Anhörungsrechts durch die Kommission beanstandet hatte. Hierzu stellte es zum einen in Rn. 121 des angefochtenen Urteils fest, dass Vialto im Schreiben an das OLAF zu der Kontrolle vor Ort Stellung genommen habe, und führe zum anderen in Rn. 122 dieses Urteils aus, dass die Entscheidung, Vialto vom fraglichen Vertrag auszuschließen, von der CFCU getroffen worden sei, ohne dass diese durch eine in diesem Sinne lautende Stellungnahme der GD Erweiterung gebunden gewesen wäre. 38 Daher wies das Gericht die Klage von Vialto in vollem Umfang ab, ohne die Voraussetzungen des hinreichend direkten Ursachenzusammenhangs zwischen dem beanstandeten Verhalten und dem behaupteten Schaden sowie des Vorliegens des Schadens zu prüfen. Anträge der Parteien 39 Mit ihrem Rechtsmittel beantragt Vialto, – das angefochtene Urteil aufzuheben und – der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 40 Für den Fall der Aufhebung stelle sie es in das Ermessen des Gerichtshofs, ob die Rechtssache zur Entscheidung an das Gericht zurückzuweisen sei. 41 Die Kommission beantragt, – das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen und – Vialto die Kosten aufzuerlegen. Zum Rechtsmittel 42 Vialto stützt ihr Rechtsmittel auf drei Gründe. Mit den ersten beiden macht sie geltend, dass dem Gericht Fehler unterlaufen seien, soweit es die beiden Rügen zurückgewiesen habe, die sich erstens auf einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 und zweitens auf eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes bezogen. Mit dem dritten Rechtsmittelgrund macht sie Fehler geltend, die dem Gericht unterlaufen seien, soweit es die Rüge der Verletzung des Anhörungsrechts zurückgewiesen habe. Zum ersten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 Zum ersten und zum zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes – Vorbringen der Parteien 43 Mit dem ersten und dem zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes macht Vialto geltend, dem Gericht seien mehrere Fehler in Bezug auf die dem OLAF im Rahmen einer Kontrolle vor Ort zustehenden Datenzugangs- und Datenerhebungsbefugnisse unterlaufen. 44 Erstens habe das Gericht die Tatsachen in zweierlei Hinsicht verfälscht und sei anschließend in Rn. 80 des angefochtenen Urteils zu dem unzutreffenden Schluss gelangt, das OLAF habe nicht gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 verstoßen, als es von Vialto Zugang zu den in Rn. 71 dieses Urteils genannten Daten verlangt habe. 45 Zum einen gehe es in der Rechtssache, in der das angefochtene Urteil ergangen sei, darum, ob sich ein Verstoß gegen diese Bestimmung daraus ergebe, dass das OLAF verlangt habe, diese Daten erheben zu dürfen, und nicht darum, ob sich der Verstoß daraus ergebe, dass das OLAF Zugang zu diesen Daten verlangt habe. 46 Diese Verfälschung habe zu einer fehlerhaften Rechtsanwendung durch das Gericht geführt; dieses hätte nach Auffassung von Vialto das in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 vorgesehene Zugangsrecht dahin auslegen müssen, dass es einerseits ein sehr weites Untersuchungsrecht umfasse, das für alle in dieser Bestimmung genannten Arten von Daten gelte, und andererseits ein Erhebungsrecht, das auf die Daten beschränkt sei, die einen Zusammenhang mit den von der Kontrolle betroffenen Vorgängen aufwiesen. 47 Zum anderen habe das Gericht die Tatsachen verfälscht, indem es in Rn. 80 des angefochtenen Urteils nicht festgestellt habe, dass Vialto dem OLAF Zugang zu den fraglichen Daten gewährt habe. Insbesondere hätte das Gericht nach Ansicht von Vialto den ihrer Klageschrift beigefügten Anhang zum Protokoll des OLAF zum dritten Tag der Kontrolle berücksichtigen müssen. Aus diesem Dokument gehe nämlich hervor, dass sie dem OLAF vollständigen Zugang zu ihrem Buchhaltungssystem und zu ihren Transaktionen gewährt habe. 48 Zweitens werde im angefochtenen Urteil die in dessen Rn. 74 getroffene Feststellung nicht begründet, wonach die Daten, deren Erhebung das OLAF im vorliegenden Fall verlangt habe, im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 mit den betreffenden Vorgängen im Zusammenhang gestanden hätten und für die ordnungsgemäße Durchführung der Kontrolle vor Ort erforderlich gewesen seien. Diese Feststellung sei somit willkürlich. 49 Drittens sei diese Feststellung, die auch in Rn. 83 des angefochtenen Urteils aufgegriffen werde, mit einem Rechtsfehler behaftet, da vor einer Recherche nach Schlüsselwörtern nicht davon ausgegangen werden könne, dass sämtliche vom OLAF angeforderten Daten, insbesondere die gesamte Korrespondenz und der gesamte Inhalt der Rechner zweier Angestellter von Vialto sowie deren gesamter Server und eine Kopie ihrer sämtlichen Transaktionen seit 2012 mit den von der Untersuchung betroffenen Vorgängen im Zusammenhang stünden und für diese erforderlich seien und das OLAF daher berechtigt gewesen sei, sie zu erheben. 50 Viertens habe das Gericht die Tatsachen verfälscht, indem es in Rn. 75 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, Vialto habe sich lediglich der Erfassung dieser Daten auf Datenträgern, die in die Räumlichkeiten des OLAF verbracht werden mussten, widersetzt; sie habe sich jedoch von Beginn an allgemein der Erhebung von Daten, die mit dem kontrollierten Projekt nicht im Zusammenhang stünden, widersetzt. 51 Die Kommission beantragt, den ersten und den zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes als unbegründet zurückzuweisen. – Würdigung durch den Gerichtshof 52 Erstens kann das Vorbringen von Vialto, wonach das Gericht den Inhalt der Rüge verfälscht habe, mit der sie in ihrer Klageschrift geltend gemacht hatte, dass das dem OLAF vorgeworfene Verhalten wegen eines Verstoßes gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 rechtswidrig gewesen sei, keinen Erfolg haben. 53 Das Gericht hat nämlich in Rn. 62 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass Vialto dem OLAF vorwirft, verlangt zu haben, entgegen dieser Bestimmung Daten erheben zu dürfen, die nicht im Zusammenhang mit dem fraglichen Projekt stünden. Außerdem hat das Gericht in Rn. 75 des angefochtenen Urteils präzisiert, dass Vialto vorträgt, den Bediensteten des OLAF den Zugang zu sämtlichen angeforderten Daten gewährt und sich lediglich der Erhebung dieser Daten widersetzt zu haben. 54 Daher kann nicht angenommen werden, dass das Gericht die Klageschrift dahin interpretiert hat, dass sich diese Rüge auf die Frage bezieht, ob ein Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 in dem Verlangen des OLAF auf Zugang zu diesen Daten und nicht in der Erhebung dieser Daten zu sehen ist. 55 Zweitens ist zu dem Vorbringen von Vialto, das Gericht habe die Tatsachen verfälscht, indem es in Rn. 80 des angefochtenen Urteils nicht festgestellt habe, dass Vialto dem OLAF Zugang zu sämtlichen angeforderten Daten gewährt habe, darauf hinzuweisen, dass diese Randnummer das Ergebnis der Erwägungen des Gerichts zur Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 darstellt und keine Bewertung des Verhaltens von Vialto enthält. Daraus folgt, dass dieses Vorbringen auf einem falschen Verständnis dieser Randnummer beruht. 56 Selbst unter der Annahme, dass Vialto sich mit diesem Vorbringen gegen die Gründe wenden wollte, die das Gericht zu einer solchen Schlussfolgerung veranlasst haben, ist darauf hinzuweisen, dass die Rn. 63 bis 78 des angefochtenen Urteils nicht die Feststellung enthalten, dass Vialto dem OLAF den Zugang zu den in Rn. 71 des angefochtenen Urteils genannten Daten verweigert hätte. 57 Hingegen hat das Gericht in Rn. 79 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass die Bediensteten des OLAF die Kontrolle vor Ort und die digitalforensische Maßnahme beendeten, ohne dass Vialto ihnen die Daten übermittelt hatte, die nach Ansicht von Vialto unter das Berufsgeheimnis fielen oder von den Vertragsklauseln, auf die sie sich beruft, erfasst waren. 58 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das Rechtsmittel gemäß Art. 256 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union auf Rechtsfragen beschränkt ist. Für die Feststellung und Beurteilung der relevanten Tatsachen sowie für die Beweiswürdigung ist daher allein das Gericht zuständig. Die Würdigung dieser Tatsachen und Beweise ist somit, außer im Fall ihrer Verfälschung, keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs im Rahmen eines Rechtsmittels unterläge (Urteil vom 25. Februar 2021, Dalli/Kommission, C‑615/19 P, EU:C:2021:133, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung). 59 Eine solche Verfälschung muss sich in offensichtlicher Weise aus den Akten ergeben, ohne dass es einer neuen Tatsachen- und Beweiswürdigung bedarf. Es obliegt dem Rechtsmittelführer, genau anzugeben, welche Tatsachen das Gericht verfälscht haben soll, und darzulegen, welche Beurteilungsfehler das Gericht seines Erachtens zu dieser Verfälschung veranlasst haben (Urteil vom 4. März 2020, Tulliallan Burlington/EUIPO, C‑155/18 P bis C‑158/18 P, EU:C:2020:151, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Vialto trägt im Wesentlichen vor, wenn das Gericht den Anhang des Protokolls des OLAF zum dritten Tag der Kontrolle vor Ort berücksichtigt hätte, in dem ihre Anmerkungen bezüglich des Verlaufs dieses Tags der Kontrolle vermerkt seien, hätte es feststellen müssen, dass Vialto dem OLAF vollständigen Zugang zu den angeforderten Daten gewährt habe. 61 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass dieses Dokument die Anmerkungen von Vialto zur Durchführung der Kontrolle wiedergibt, so dass damit lediglich ihre Sichtweise dieser Durchführung nachgewiesen werden kann. Das Gericht hat in Rn. 75 des angefochtenen Urteils jedoch präzisiert, dass Vialto vorträgt, den Bediensteten des OLAF Zugang zu sämtlichen angeforderten Daten gewährt zu haben. 62 Daraus folgt, dass mit dem Vorbringen von Vialto der Nachweis nicht erbracht ist, dass das Gericht die maßgeblichen Tatsachen oder Beweise verfälscht hat. Dieses Vorbringen ist daher als unbegründet zurückzuweisen. 63 Was drittens den angeblichen Begründungsmangel in Rn. 74 des angefochtenen Urteils betrifft, genügt der Hinweis, dass die Begründungspflicht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs vom Gericht nicht verlangt, bei seinen Ausführungen alle von den Parteien des Rechtsstreits vorgetragenen Argumente nacheinander erschöpfend zu behandeln; die Begründung des Gerichts kann daher implizit erfolgen, sofern sie es den Betroffenen ermöglicht, die Gründe zu erfahren, aus denen das Gericht ihrer Argumentation nicht gefolgt ist, und dem Gerichtshof ausreichende Angaben liefert, damit er seine Kontrollfunktion wahrnehmen kann (Urteil vom 25. Juni 2020, SatCen/KF, C‑14/19 P, EU:C:2020:492, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung). 64 Im vorliegenden Fall hat das Gericht in den Rn. 66 bis 73 des angefochtenen Urteils seine Feststellung begründet, dass die Daten, die das OLAF verlangt habe, erheben zu dürfen, im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 mit den betreffenden Vorgängen im Zusammenhang gestanden hätten und für die ordnungsgemäße Durchführung der Kontrolle vor Ort erforderlich gewesen seien. 65 Aus diesen Randnummern geht hervor, dass diese Feststellung vor allem auf den Wortlaut dieser Vorschrift gestützt ist, aus der sich nach Ansicht des Gerichts ergibt, dass das OLAF zum einen berechtigt ist, Zugang zu sämtlichen Informationen und Unterlagen, die den Sachverhalt betreffen, der Gegenstand seiner Untersuchung ist, zu erhalten und Kopien der Dokumente anzufertigen, die für die Durchführung der Kontrolle vor Ort erforderlich sind, und zum anderen bei der Bestimmung der für diesen Zweck erheblichen Daten über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügt. Sodann hat sich das Gericht auf den Zweck der vom OLAF im vorliegenden Fall durchgeführten Untersuchung und die angeforderten Daten gestützt, die nach seiner Auffassung in die in dieser Vorschrift genannte Kategorie fallen. Schließlich hat das Gericht auf die Besonderheiten der digitalforensischen Maßnahme hingewiesen, insbesondere die Erforderlichkeit, eine Indexierung der Daten durchzuführen, indem digitale Abbilder der betreffenden Daten angefertigt werden, um die für die Untersuchung relevanten Dokumente identifizieren zu können. 66 Diese Begründung ist ausreichend, um zum einen Vialto zu ermöglichen, die Gründe zu verstehen, aus denen ihrer Argumentation nicht gefolgt wurde, und zum anderen den Gerichtshof in die Lage zu versetzen, seine Kontrolle auszuüben. Die von Vialto geltend gemachte Rüge des Begründungsmangels ist daher als unbegründet zurückzuweisen. 67 Was viertens den behaupteten Rechtsfehler bezüglich der Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in Rn. 74 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, dass die Daten, die das OLAF im vorliegenden Fall verlangt habe, erheben zu dürfen, mit den betreffenden Vorgängen im Zusammenhang gestanden hätten und für die ordnungsgemäße Durchführung der Kontrolle vor Ort erforderlich gewesen seien. Zudem hat das Gericht in Rn. 80 des angefochtenen Urteils entschieden, dass das OLAF mit seiner Aufforderung, Vialto möge ihm diese Daten zur Prüfung zugänglich machen, nicht gegen diese Bestimmung verstoßen habe. 68 Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 sieht insoweit vor, dass die Kontrolleure der Kommission unter denselben Bedingungen wie die Kontrolleure der einzelstaatlichen Verwaltungen und unter Einhaltung der einzelstaatlichen Vorschriften Zugang zu allen Informationen und Unterlagen über die betreffenden Vorgänge haben, die sich für die ordnungsgemäße Durchführung der Kontrollen und Überprüfungen vor Ort als erforderlich erweisen. Sie können nach dieser Vorschrift dieselben materiellen Kontrollmittel wie die Kontrolleure der einzelstaatlichen Verwaltungen benutzen und insbesondere zweckdienliche Unterlagen kopieren. Zudem können sich die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort insbesondere auf EDV-Daten erstrecken. 69 Darüber hinaus ergibt sich aus Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 1999/352 und aus Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2013, dass die der Kommission durch die Verordnung Nr. 2185/96 eingeräumte Befugnis zur Durchführung von Kontrollen und Überprüfungen vor Ort vom OLAF ausgeübt wird. 70 Aus der Kombination dieser Vorschriften ergibt sich, dass die Bediensteten des OLAF im Rahmen einer Kontrolle vor Ort unter denselben Bedingungen wie die Kontrolleure der einzelstaatlichen Verwaltungen und unter Einhaltung der einzelstaatlichen Vorschriften Zugang zu allen Informationen, einschließlich EDV-Daten haben, die sich für die ordnungsgemäße Durchführung der Kontrolle vor Ort als erforderlich erweisen, und dass sie dieselben materiellen Kontrollmittel wie die Kontrolleure der einzelstaatlichen Verwaltungen benutzen und insbesondere zweckdienliche Unterlagen kopieren können. 71 Zwar verweist diese Vorschrift hinsichtlich der Bedingungen des Zugangs der Bediensteten des OLAF zu Informationen auf das Recht des betreffenden Mitgliedstaats, doch ist darauf hinzuweisen, dass Vialto nicht vorträgt, das OLAF habe bei der Kontrolle vor Ort die anwendbaren Vorschriften des ungarischen Rechts missachtet, und dass sie kein Argument in diesem Sinne geltend macht. 72 Außerdem wendet sich Vialto nicht gegen die Feststellungen des Gerichts zur Anfertigung eines digitalforensischen Abbilds in Rn. 73 des angefochtenen Urteils, in der auf die in Rn. 44 dieses Urteils enthaltenen Erläuterungen verwiesen wird. In diesen Randnummern hat das Gericht unter Heranziehung insbesondere der Art. 4 und 8 der OLAF‑Leitlinien festgestellt, dass im Rahmen eines solchen Verfahrens die Anfertigung eines digitalforensischen Abbilds der auf einem digitalen Datenträger gespeicherten Daten der Indexierung der Daten diene, die ihrerseits mit Hilfe spezieller forensischer Computersoftware eine Schlüsselwortsuche ermöglichen solle, mit der die Daten identifiziert würden, die für die Untersuchung des OLAF relevant seien. 73 Soweit Vialto mit ihrer Argumentation beabsichtigen sollte, die Anfertigung eines solchen digitalforensischen Abbilds sämtlicher auf bestimmten Datenträgern gespeicherter Daten dem Kopieren im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 sämtlicher auf diesen Datenträgern gespeicherter Dokumente gleichzustellen, ist hervorzuheben, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 78 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dieser Vorgang nur eine Zwischenstufe im Rahmen der Prüfung dieser Daten darstellt (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, Nexans France und Nexans/Kommission, C‑606/18 P, EU:C:2020:571, Rn. 63). 74 Auch wenn die Anfertigung eines solchen Abbilds in technischer Hinsicht zwangsläufig voraussetzt, dass alle fraglichen Daten zu einem Zeitpunkt, zu dem ihre Erheblichkeit noch nicht geprüft wurde, vorübergehend „kopiert“ werden, fällt dieser Vorgang daher unter die Ausübung des in Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 verankerten Rechts auf Informationszugang, da er ausschließlich dazu dient, die für die Untersuchung relevanten Dokumente zu identifizieren. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das OLAF mit diesem Vorgang sämtliche betreffenden Dokumente im Sinne dieser Vorschrift kopiert. Aus deren Wortlaut und Systematik ergibt sich nämlich, dass das Recht eines Kontrolleurs, zweckdienliche Unterlagen zu kopieren, im Unterschied zur Ausübung des Rechts auf Zugang zu Informationen darauf abzielt, dass der Kontrolleur von einigen der Dokumente, zu denen er Zugang hatte, die er als für seine Untersuchung relevant identifiziert hat, dauerhaft Kopien zurückbehält, wobei diese Dokumente später im Rahmen dieser Untersuchung verwendet werden können. 75 Vor diesem Hintergrund ist ersichtlich, dass das Gericht zur Recht angenommen hat, dass die Anfertigung eines solchen digitalforensischen Abbilds an die dem OLAF nach Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 eingeräumten Befugnisse zum Zugang zu den für die ordnungsgemäße Durchführung der Kontrolle vor Ort erforderlichen Informationen und zur Anfertigung von Kopien der zweckdienlichen Unterlagen geknüpft werden kann. 76 Vialto hat somit nicht nachgewiesen, dass die Feststellung des Gerichts in den Rn. 74 und 80 des angefochtenen Urteils, wonach das vom OLAF an Vialto gerichtete Ersuchen, die in Rn. 71 des angefochtenen Urteils genannten Daten erheben zu dürfen, um eine digitalforensische Maßnahme durchzuführen, nicht gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 verstößt, rechtsfehlerhaft ist. 77 Die gegen diese Feststellung geltend gemachte Rüge eines Rechtsfehlers ist daher als unbegründet zurückzuweisen. 78 Fünftens beruht das Vorbringen von Vialto, das Gericht habe in Rn. 75 des angefochtenen Urteils die Tatsachen verfälscht, auf einem fehlerhaften Verständnis der Rn. 75 des angefochtenen Urteils und ist ebenfalls als unbegründet zu verwerfen. In dieser Randnummer hat das Gericht nämlich lediglich festgestellt, dass sich Vialto dem Sammeln von Daten auf einem Datenträger, der aus ihren Räumlichkeiten verbracht werden sollte, widersetzte, was Vialto nicht bestreitet. 79 Daher sind der erste und der zweite Teil des ersten Rechtsmittelgrundes als unbegründet zu verwerfen. Zum dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes – Vorbringen der Parteien 80 Mit dem dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes macht Vialto erstens geltend, das Gericht habe in Rn. 77 des angefochtenen Urteils ihr auf die Wahrung des Berufsgeheimnisses und auf Klauseln von mit ihren Geschäftspartnern geschlossenen Verträgen gestütztes Vorbringen rechtsfehlerhaft als für die außervertragliche Haftung der Union unerheblich zurückgewiesen. Dieses Vorbringen sei für die Feststellung eines Verstoßes des OLAF gegen Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 von Bedeutung, denn damit könne belegt werden, dass die von Vialto geäußerten Vorbehalte gegen die Erhebung von Daten, die mit der Untersuchung nichts zu tun gehabt hätten, gerechtfertigt gewesen seien. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs habe Vialto beweisen müssen, dass die Geltendmachung dieser Vorbehalte nicht rechtsmissbräuchlich gewesen sei. 81 Zweitens habe das Gericht die Klageschrift mit der Feststellung in Rn. 79 des angefochtenen Urteils verfälscht, es sei nicht anzunehmen, dass das OLAF Vialto zu einer Verletzung ihres Berufsgeheimnisses oder der Klauseln von mit ihren Geschäftspartnern geschlossenen Verträgen gezwungen habe, denn Vialto habe keineswegs behauptet, vom OLAF zu einem solchen Verhalten gezwungen worden zu sein. 82 Die Kommission beantragt, den dritten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes als teils unzulässig, teils ins Leere gehend und jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen. – Würdigung durch den Gerichtshof 83 Was den Rechtsfehler betrifft, mit dem Rn. 77 des angefochtenen Urteils behaftet sein soll, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in dieser Randnummer festgestellt hat, dass das auf das Berufsgeheimnis und auf die vertraglichen Verpflichtungen gegenüber ihren Geschäftspartnern gestützte Vorbringen von Vialto für die außervertragliche Haftung der Union unerheblich sei, da dieses Vorbringen darauf abziele, die Weigerung von Vialto, dem OLAF einige der Daten zu übermitteln, zu denen das OLAF Zugang verlangt habe, zu begründen und nicht, dem OLAF oder der Kommission einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift, die bezwecke, den Einzelnen Rechte zu verleihen, vorzuwerfen. 84 In diesem Kontext ist das Vorbringen von Vialto, sie habe beweisen müssen, dass die von ihr gegenüber der Erhebung bestimmter Daten durch das OLAF geäußerten Vorbehalte nicht rechtsmissbräuchlich gewesen seien, nicht geeignet, um nachzuweisen, dass die im ersten Rechtszug vorgebrachten Argumente zum Berufsgeheimnis und zu den vertraglichen Verpflichtungen gegenüber ihren Geschäftspartnern geeignet waren, einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift, die bezweckt, den Einzelnen Rechte zu verleihen, darzutun. Dieses Argument geht deshalb ins Leere. 85 Das Gleiche gilt für die von Vialto geltend gemachte Verfälschung der Klageschrift. Denn selbst unter der Annahme, das Gericht habe, wie von Vialto geltend gemacht, die Klageschrift verfälscht, indem es sich veranlasst gesehen habe, in Rn. 79 des angefochtenen Urteils auf ein von Vialto nicht geltend gemachtes Argument einzugehen, das OLAF habe Druck auf sie ausgeübt und sie dadurch gezwungen, das Berufsgeheimnis und vertragliche Verpflichtungen gegenüber ihren Geschäftspartnern zu verletzen, wäre ein solcher Fehler nicht geeignet, die Zurückweisung der von Vialto im ersten Rechtszug geltend gemachten ersten Rüge in Frage zu stellen. 86 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs können nämlich Rügen, die gegen nicht tragende Gründe einer Entscheidung des Gerichts gerichtet sind, nicht zur Aufhebung dieser Entscheidung führen und gehen daher ins Leere (Urteil vom 25. Februar 2021, Dalli/Kommission, C‑615/19 P, EU:C:2021:133, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung). 87 Daher ist der dritte Teil des ersten Rechtsmittelgrundes als ins Leere gehend zurückzuweisen und dieser Rechtsmittelgrund insgesamt zurückzuweisen. Zweiter Rechtsmittelgrund: Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes Vorbringen der Parteien 88 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht Vialto eine Reihe von Argumenten geltend, mit denen dargetan werden soll, dass das Gericht in Rn. 118 des angefochtenen Urteils unzutreffend zu dem Ergebnis gelangt sei, dass die Bediensteten des OLAF im vorliegenden Fall nicht gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen hätten. 89 Erstens weise das angefochtene Urteil einen Begründungsmangel auf, soweit nicht erläutert werde, warum eine der drei Voraussetzungen, die erforderlich seien, um sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen zu können, im vorliegenden Fall nicht erfüllt sei. 90 Zweitens weise Rn. 118 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler auf, da das Gericht die Rechtsprechung missachtet habe, nach der die rückwirkende Rücknahme eines – rechtmäßigen oder rechtswidrigen – Verwaltungsakts, der individuelle Rechte oder ähnliche Vorteile verleihe, verboten sei. Die Zusicherungen, die von den Bediensteten des OLAF am ersten Tag der Kontrolle in Bezug auf das Verfahren zur Durchführung der Kontrolle gemacht worden seien, seien nämlich rechtmäßig gewesen. Hierzu präzisiert Vialto, dass eine Abweichung von den OLAF‑Leitlinien keinen Verstoß gegen die Verordnung Nr. 2185/96 darstelle. Daher hätten die Bediensteten des OLAF ihre Zusicherungen nicht nachträglich zurücknehmen und verlangen können, dass diese Kontrolle durchgeführt werde, als wären solche Zusicherungen nie gegeben worden. 91 Außerdem sei die rückwirkende Rücknahme eines Verwaltungsakts verboten, selbst wenn dieser als rechtswidrig anzusehen sei. 92 Drittens habe das Gericht in Rn. 118 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft entschieden, dass sich Vialto nicht auf eine Verletzung des berechtigten Vertrauens berufen könne, das sie in die Anwendung einer sie begünstigenden abweichenden Praxis gesetzt habe, obwohl sie es abgelehnt habe, den Aufforderungen nachzukommen, die die Bediensteten des OLAF im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 an sie gerichtet hätten. Insbesondere vermittle die Formulierung dieser Randnummer den Eindruck, dass Vialto bösgläubig gehandelt habe. Da die Aufforderungen der Bediensteten des OLAF mit dieser Vorschrift nicht im Einklang gestanden hätten, sei ihre Weigerung, ihnen nachzukommen, außerdem völlig rechtmäßig gewesen. Wären die Bediensteten des OLAF der Auffassung gewesen, Vialto habe sich rechtswidrig verhalten oder die Untersuchung behindert, hätten sie gemäß den Art. 4 und 9 der Verordnung Nr. 2185/96 die nationalen Behörden um Unterstützung bitten müssen. Die Bediensteten des OLAF hätten aber beschlossen, die Kontrolle zu beenden, ohne diese Vorgehensweise zu befolgen. 93 Die Kommission ist der Auffassung, dass der zweite Rechtsmittelgrund teils ins Leere gehe, jedenfalls aber unbegründet sei. Würdigung durch den Gerichtshof 94 Was erstens den angeblichen Begründungsmangel des angefochtenen Urteils angeht, ist darauf hinzuweisen, dass die Begründungspflicht nach der in Rn. 63 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs vom Gericht nicht verlangt, bei seinen Ausführungen alle von den Parteien des Rechtsstreits vorgetragenen Argumente nacheinander erschöpfend zu behandeln; die Begründung des Gerichts kann daher implizit erfolgen, sofern sie es den Betroffenen ermöglicht, die Gründe zu erfahren, aus denen das Gericht ihrer Argumentation nicht gefolgt ist, und dem Gerichtshof ausreichende Angaben liefert, damit er seine Kontrollfunktion wahrnehmen kann. 95 Nachdem das Gericht im vorliegenden Fall in Rn. 114 des angefochtenen Urteils auf die Voraussetzungen hingewiesen hatte, die erfüllt sein müssen, damit sich ein Einzelner auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen kann, hat es in Rn. 116 dieses Urteils festgestellt, dass sich die Bediensteten des OLAF hier auf Vialtos Weigerung hin, ihrem Ersuchen, die Daten erheben zu dürfen, nachzukommen, bereit erklärten, hinsichtlich des Ortes der Datenerhebung und ‑bearbeitung sowie des dafür verwendeten Datenträgers von der in den OLAF‑Leitlinien geregelten Vorgehensweise abzuweichen. Darüber hinaus hat das Gericht in Rn. 117 des angefochtenen Urteils darauf hingewiesen, dass das OLAF gemäß Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 zum Zugang zu den Daten berechtigt sei, zu denen Vialto ihm den Zugang verweigert habe. Das Gericht hat daraus in Rn. 118 des angefochtenen Urteils den Schluss gezogen, dass Vialto keine hinreichend qualifizierte Verletzung des Grundsatzes des Schutzes berechtigter Erwartungen geltend machen könne, die sie in die Anwendung einer sie begünstigenden abweichenden Praxis gesetzt habe, obwohl sie es abgelehnt habe, der Aufforderung nachzukommen, die die Bediensteten des OLAF im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 an sie gerichtet hätten. 96 Den Rn. 113 bis 118 des angefochtenen Urteils ist somit die Auffassung des Gerichts zu entnehmen, dass Vialto sich nicht auf ein berechtigtes Vertrauen in die Anwendung einer Vereinbarung berufen könne, der sie nicht habe nachkommen wollen. 97 Diese Begründung ist ausreichend, um Vialto zu ermöglichen, die Gründe zu erfahren, aus denen ihrer Argumentation nicht gefolgt wurde, und den Gerichtshof in die Lage zu versetzen, seine Kontrolle auszuüben. Die von Vialto geltend gemachte Rüge des Begründungsmangels ist daher als unbegründet zurückzuweisen. 98 Was zweitens das Argument von Vialto betrifft, das aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Voraussetzungen der Rücknahme eines rechtsbegründenden Verwaltungsakts hergeleitet wird, genügt der Hinweis, dass Vialto dieses Argument im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht hat. 99 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ein erstmals im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens vor dem Gerichtshof vorgebrachtes Angriffsmittel als unzulässig zurückzuweisen. Im Rahmen eines Rechtsmittels kann der Gerichtshof grundsätzlich nur prüfen, wie das Gericht die vor ihm erörterten Angriffs- und Verteidigungsmittel gewürdigt hat. Könnte eine Partei in diesem Rahmen ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel vorbringen, das sie vor dem Gericht nicht vorgebracht hat, könnte sie den Gerichtshof, dessen Rechtsmittelzuständigkeit begrenzt ist, mit einem Streitgegenstand befassen, der über denjenigen hinausgeht, über den das Gericht zu erkennen hatte (Urteil vom 30. Mai 2017, Safa Nicu Sepahan/Rat, C‑45/15 P, EU:C:2017:402, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung). 100 Folglich ist dieses Vorbringen als unzulässig zurückzuweisen. 101 Was drittens das Vorbringen von Vialto betrifft, das Gericht habe in Rn. 118 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerhaft entschieden, dass sie sich nicht auf eine Verletzung des Schutzes der berechtigten Erwartung berufen könne, die sie in die Anwendung einer sie begünstigenden abweichenden Praxis gesetzt habe, obwohl sie es abgelehnt habe, dem Ersuchen nachzukommen, das die Bediensteten des OLAF im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 an sie gerichtet hätten, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht mit dieser Bezugnahme auf die Weigerung von Vialto, bestimmte Informationen zu erteilen, obwohl sie sich hierzu verpflichtet hatte, implizit, aber notwendigerweise entschieden hat, dass sich Vialto nicht auf ein berechtigtes Vertrauen in die Anwendung einer Vereinbarung berufen kann, die sie beschlossen hatte, nicht einzuhalten. 102 Es ist aber davon auszugehen, dass Vialto, indem sie es ablehnte, Zusagen nachzukommen, die sie den Bediensteten des OLAF im Rahmen einer solchen Vereinbarung gegeben hatte, durch ihr Verhalten die Anwendung dieser Vereinbarung unmöglich machte, so dass sie sich anschließend nicht auf ein berechtigtes Vertrauen in deren Anwendung berufen kann. 103 Daraus folgt, dass das Gericht keinen Rechtsfehler begangen hat, als es in Rn. 118 des angefochtenen Urteils entschieden hat, dass Vialto sich nicht auf ein berechtigtes Vertrauen in die Anwendung einer Vereinbarung berufen könne, die sie beschlossen hatte, nicht einzuhalten. 104 Das Vorbringen von Vialto, Rn. 118 des angefochtenen Urteils sei mit einem Rechtsfehler behaftet, ist somit als unbegründet zurückzuweisen. 105 Viertens beruht das Vorbringen von Vialto, wonach die Formulierung der Rn. 118 des angefochtenen Urteils den Eindruck vermittle, dass sie bösgläubig gehandelt habe, auf einem falschen Verständnis des angefochtenen Urteils, da diese Randnummer keineswegs eine Bewertung in diesem Sinne enthält, und ist daher als unbegründet zurückzuweisen. 106 Was fünftens das Vorbringen von Vialto betrifft, die von den Bediensteten des OLAF durchgeführte Datenerhebung stehe nicht im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96, ergibt sich aus der Prüfung des ersten von Vialto geltend gemachten Rechtsmittelgrundes, dass auch dieses Vorbringen als unbegründet zu verwerfen ist. 107 Sechstens ist zu dem aus den Art. 4 und 9 der Verordnung Nr. 2185/96 hergeleiteten Argument von Vialto festzustellen, dass Vialto dieses nicht im ersten Rechtszug geltend gemacht hat, so dass es gemäß der in Rn. 99 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs als unzulässig zurückzuweisen ist. 108 Nach alledem ist der zweite Rechtsmittelgrund als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen. Dritter Rechtsmittelgrund: Verletzung des Anhörungsrechts Vorbringen der Parteien 109 Mit ihrem dritten Rechtsmittelgrund macht Vialto geltend, das Gericht habe mehrere Fehler begangen, als es ihre Argumente in Bezug auf die Verletzung ihres Anhörungsrechts in den Rn. 121 bis 123 des angefochtenen Urteils zurückgewiesen habe. 110 Erstens seien die Feststellungen in Rn. 121 des angefochtenen Urteils zu dem Umstand, dass sie vom OLAF angehört worden sei, für die Prüfung der Frage irrelevant, ob die GD Erweiterung ihr Anhörungsrecht verletzt habe. 111 Zweitens habe das Gericht die Tatsachen verfälscht, in dem es in den Rn. 94 und 122 des angefochtenen Urteils ausgeführt habe, dass die Stellungnahme dieser GD zu den gegenüber Vialto zu ergreifenden Maßnahmen für die CFCU nicht bindend gewesen sei. Aus den Akten ergebe sich nämlich, dass eine solche Aufforderung für die CFCU verbindlich gewesen sei. Es könne nicht anders sein, da eben diese GD das Projekt finanziere und somit den fraglichen Vertrag unterzeichnet habe. 112 Diese Verfälschung der Tatsachen habe zu einer fehlerhaften Rechtsanwendung durch das Gericht geführt. Das Gericht hätte nämlich entscheiden müssen, dass die GD Erweiterung verpflichtet gewesen sei, Vialto anzuhören, bevor sie von der CFCU verlangt habe, in Anbetracht des Verstoßes von Vialto gegen ihre Vertragspflichten die im fraglichen Vertrag vorgesehenen erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. 113 Drittens hätte auch die GD Erweiterung bei ihrer Empfehlung, die Erfüllung des fraglichen Vertrags ganz oder hinsichtlich des auf Vialto entfallenden Teils auszusetzen, Vialtos Recht auf Anhörung beachten müssen. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere aus dem Urteil vom 4. April 2019, OZ/EIB (C‑558/17 P, EU:C:2019:289), ergebe sich nämlich, dass das Anhörungsrecht auch zu wahren sei, wenn ein Unionsorgan unverbindliche Empfehlungen ausspreche. 114 Die Kommission stimmt der Bewertung, zu der das Gericht hinsichtlich des Anhörungsrechts gelangt ist, zu und spricht sich dafür aus, den dritten Rechtsmittelgrund als unbegründet zurückzuweisen. 115 Erstens sei im vorliegenden Fall, selbst unter der Annahme, dass die Kommission Vialto hätte anhören müssen, bevor sie ihre Empfehlung an die CFCU richtete, diese Formalität durch das OLAF als Dienststelle der Kommission, von der die Empfehlung stamme, erfüllt worden. 116 Zweitens habe das Gericht ohne Verfälschung der Tatsachen festgestellt, dass die Kommission die CFCU lediglich aufgefordert habe, die geeigneten Maßnahmen zu treffen, und dabei beispielhafte Empfehlungen hierzu formuliert habe. Die Stellungnahme der Kommission in Bezug auf Vialto sei daher für die CFCU nicht verbindlich gewesen. Der Umstand, dass die Kommission das Projekt finanziere, mache eine solche Stellungnahme nicht verbindlich. 117 Drittens verdeutliche das Urteil vom 4. April 2019, OZ/EIB (C‑558/17 P, EU:C:2019:289), dass die Anhörung vor der Einrichtung, die die Empfehlung ausgesprochen habe, untergeordneten Charakter habe, während der Schwerpunkt auf der Einrichtung liege, die die Entscheidung erlasse. Darüber hinaus unterscheide sich der Sachverhalt der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei, von dem der vorliegenden Rechtssache, da in der Erstgenannten die Einrichtung, die die Empfehlung ausgesprochen habe, und die Einrichtung, die die Entscheidung erlassen habe, zur selben Verwaltungsstruktur gehört hätten. Würdigung durch den Gerichtshof 118 Zu dem Rechtsfehler, den das Gericht in Rn. 122 des angefochtenen Urteils begangen haben soll, ist darauf hinzuweisen, dass das Gericht in dieser Randnummer entschieden hat, dass die GD Erweiterung nicht verpflichtet gewesen sei, Vialto anzuhören, bevor die CFCU ihre Entscheidung getroffen habe, Vialto vom fraglichen Vertrag auszuschließen, da die CFCU diese Entscheidung getroffen habe, ohne durch eine in diesem Sinne lautende Stellungnahme der GD Erweiterung gebunden zu sein. 119 Vialto wendet sich gegen diese Schlussfolgerung, wobei sie geltend macht, dass selbst unter der Annahme, dass die CFCU diese Entscheidung getroffen habe, ohne an eine in diesem Sinne lautende Stellungnahme der GD Erweiterung gebunden zu sein, die GD Erweiterung Vialto vor der Abgabe einer solchen Stellungnahme hätte anhören müssen. 120 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union das Recht auf eine gute Verwaltung u. a. das Recht jeder Person umfasst, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird. 121 Das Recht, gehört zu werden, garantiert somit jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen möglicherweise nachteilige Entscheidung erlassen wird (Urteil vom 4. Juni 2020, EAD/De Loecker, C‑187/19 P, EU:C:2020:444, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung). 122 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass das Anhörungsrecht zu den Verteidigungsrechten gehört, deren Wahrung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der auch dann Anwendung findet, wenn eine spezifische Regelung hierzu fehlt. Dieser Grundsatz gebietet es, dass die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den zu ihren Lasten angenommenen Gesichtspunkten, auf die solche Entscheidungen gestützt werden, in sachdienlicher Weise vorzutragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juni 2016, Marchiani/Parlament, C‑566/14 P, EU:C:2016:437, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 123 Außerdem ist, wie der Generalanwalt in Nr. 121 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine Verletzung der Verteidigungsrechte, zu denen das Anhörungsrecht gehört, anhand der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2011, Solvay/Kommission, C‑110/10 P, EU:C:2011:687, Rn. 63). 124 Was die fragliche Stellungnahme der GD Erweiterung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 10 der Verordnung Nr. 718/2007 im Rahmen der allgemeinen Grundsätze für die Durchführung der Heranführungshilfe zwar eine dezentrale Mittelverwaltung vorsieht, bei der die Kommission die Verwaltung bestimmter Maßnahmen dem begünstigten Land überträgt und die mindestens für die Ausschreibung, die Auftragsvergabe und die Zahlungen gilt. Außerdem benennt das begünstigte Land nach Art. 21 Abs. 1 Buchst. f dieser Verordnung eine operative Struktur für jede IPA-Komponente oder jedes Programm. Des Weiteren ergibt sich aus Art. 28 dieser Verordnung, dass die operative Struktur eine Stelle oder eine Gesamtheit von Stellen innerhalb der Verwaltung des begünstigten Landes sein muss, die für die Verwaltung und Durchführung dieser Hilfe nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung zuständig ist und u. a. für die Ausschreibungsverfahren, die Zuschussvergabeverfahren und den Abschluss der sich daraus ergebenden Verträge sorgt (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 4. Juli 2013, Diadikasia Symvouloi Epicheiriseon/Kommission u. a., C‑520/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:457, Rn. 32). 125 Daraus folgt, dass es sich bei von Drittstaaten vergebenen und für eine Hilfe im Rahmen des IPA in Betracht kommenden öffentlichen Aufträgen, die dem Grundsatz der dezentralen Mittelverwaltung unterliegen, nach wie vor um nationale Aufträge handelt und dass Unternehmen, die für die betreffenden Aufträge Angebote eingereicht oder einen Zuschlag erhalten haben, nur zu dem für den Auftrag verantwortlichen Drittstaat in rechtlichen Beziehungen stehen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 4. Juli 2013, Diadikasia Symvouloi Epicheiriseon/Kommission u. a., C‑520/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:457, Rn. 34). 126 Doch behält die Kommission, wie sich aus Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 718/2007 ergibt, die oberste Gesamtverantwortung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans und ist daher für die Feststellung der von der Finanzierung durch die Union gegebenenfalls ausgeschlossenen Beträge zuständig. 127 In Anbetracht der obersten Gesamtverantwortung der Kommission für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans ist daher festzustellen, dass vernünftigerweise davon ausgegangen werden kann, dass ein Schreiben, in dem die Kommission der CFCU empfiehlt, nicht mit Vialto zusammenzuarbeiten, und darauf hinweist, dass die an Vialto im Rahmen des fraglichen Projekts gezahlten Beträge jedenfalls nicht für eine Finanzierung aus dem Unionshaushalt in Betracht kommen, in der Praxis bedeutende Auswirkungen auf die Entscheidung der CFCU über die gegenüber Vialto hinsichtlich des fraglichen Vertrags zu treffenden Maßnahmen, die für Vialto nachteilig sein können, haben kann, die in nicht unerheblicher Weise über die Auswirkungen hinausgehen, die von einer bloßen Empfehlung zu erwarten sind. 128 Eine solche Stellungnahme der Kommission kann somit für den betreffenden Wirtschaftsteilnehmer so folgenschwer sein, dass ihm Gelegenheit gegeben werden muss, zu dem ihm zur Last gelegten Verhalten und zu den Maßnahmen, die ihm gegenüber im Zusammenhang mit dem fraglichen Vertrag getroffen werden sollen, Stellung zu nehmen, bevor die Kommission ihren Standpunkt zu diesen Fragen festlegt (vgl. entsprechend Urteil vom 10. Juli 2001, Ismeri Europa/Rechnungshof, C‑315/99 P, EU:C:2001:391, Rn. 29). 129 Diese Stellungnahme der Kommission ist daher als für Vialto nachteilige individuelle Maßnahme im Sinne von Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte anzusehen. 130 Daher ist festzustellen, dass das Gericht in Rn. 122 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen hat, indem es entschieden hat, dass die Kommission nicht verpflichtet gewesen sei, Vialto anzuhören, bevor die CFCU ihre Entscheidung traf, Vialto von dem fraglichen Vertrag auszuschließen. 131 Aus den Rn. 121 und 123 des angefochtenen Urteils geht des Weiteren hervor, dass das Gericht das Vorbringen von Vialto in Bezug auf die Verletzung des Anhörungsrechts durch die Kommission auch aufgrund des Umstands zurückgewiesen hat, dass Vialto im vorliegenden Fall vom OLAF angehört worden war. 132 Hierzu ist festzustellen, dass ein solcher Umstand die Kommission nicht zu der Annahme berechtigt, ihre Verpflichtung, die betreffende Person anzuhören, sei erfüllt. 133 Gemäß Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2013 erstellt nämlich das OLAF am Ende seiner Untersuchung einen Untersuchungsbericht, dem Empfehlungen seines Generaldirektors zu der Frage beigefügt werden, ob Maßnahmen ergriffen werden sollten oder nicht. Art. 11 Abs. 3 dieser Verordnung bestimmt, dass die nach Abschluss einer externen Untersuchung erstellten Berichte und Empfehlungen zusammen mit allen sachdienlichen Schriftstücken gemäß den für externe Untersuchungen geltenden Regelungen den zuständigen Behörden der betroffenen Mitgliedstaaten sowie erforderlichenfalls den zuständigen Dienststellen der Kommission übermittelt werden. 134 Aus dem Wortlaut und der Systematik dieser Bestimmungen ergibt sich, dass es der Behörde, an die sich diese Empfehlungen richten, obliegt, eine eigene Untersuchung durchzuführen und die betreffende Person vor dem Erlass einer Entscheidung, die für diese nachteilig sein könnte, anzuhören. 135 In diesem Kontext können auch die zwischen dem OLAF und der Kommission bestehenden strukturellen Verbindungen die Kommission nicht von einer solchen Verpflichtung entbinden, indem sie etwa die Annahme zuließen, Vialto sei bei ihrer Anhörung durch die Bediensteten des OLAF bereits von der Kommission angehört worden. 136 Somit ist dem dritten Rechtsmittelgrund stattzugeben und das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit die von Vialto geltend gemachte Rüge, die Kommission habe ihr Anhörungsrecht verletzt, als unbegründet zurückgewiesen wurde. Klage vor dem Gericht 137 Nach Art. 61 Abs. 1 seiner Satzung kann der Gerichtshof, wenn das Rechtsmittel begründet ist, den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen. 138 Nach ständiger Rechtsprechung hängt die außervertragliche Haftung der Union im Sinne von Art. 340 Abs. 2 AEUV vom Vorliegen einer Reihe von Voraussetzungen ab, nämlich der Rechtswidrigkeit des dem Unionsorgan vorgeworfenen Verhaltens, dem tatsächlichen Bestehen des Schadens und dem Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Verhalten des Organs und dem geltend gemachten Schaden (Urteil vom 25. Februar 2021, Dalli/Kommission, C‑615/19 P, EU:C:2021:133, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 139 Im vorliegenden Fall ist der Rechtsstreit zur Entscheidung reif, soweit es um die erste Voraussetzung bezüglich des Verhaltens der Kommission geht. 140 Aus der Begründung im Rahmen der Prüfung des dritten von Vialto geltend gemachten Rechtsmittelgrundes ergibt sich nämlich, dass Vialto nachgewiesen hat, dass die Kommission das Anhörungsrecht verletzt hat, das eine Rechtsvorschrift darstellt, die bezweckt, den Einzelnen Rechte zu verleihen. 141 Zum hinreichend qualifizierten Charakter dieses Verstoßes macht Vialto geltend, die Kommission könne nicht frei entscheiden, den Ausschluss von Vialto von dem Projekt zu verlangen, ohne ihr die Möglichkeit einzuräumen, angehört zu werden und ihre Verteidigungsrechte auszuüben. 142 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die bloße Verletzung des Unionsrechts ausreichen kann, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht anzunehmen, wenn das Unionsorgan nur über einen erheblich verringerten oder gar auf null reduzierten Gestaltungsspielraum verfügt (Urteil vom 20. Januar 2021, Kommission/Printeos, C‑301/19 P, EU:C:2021:39, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung). 143 Wie sich aus der Begründung im Rahmen der Prüfung des dritten Rechtsmittelgrundes ergibt, war die Kommission verpflichtet, Vialto anzuhören, bevor sie der CFCU ihre Stellungnahme zu den Maßnahmen übermittelte, die gegenüber Vialto im Zusammenhang mit dem fraglichen Vertrag zu treffen waren, so dass die Kommission insoweit über keinen Gestaltungsspielraum verfügte. 144 Im Übrigen ist der Rechtsstreit nicht zur Entscheidung reif. 145 Die übrigen Voraussetzungen der außervertraglichen Haftung der Union wurden vom Gericht nämlich nicht geprüft. 146 Darüber hinaus geht aus den Rn. 25 und 26 des angefochtenen Urteils hervor, dass Vialto ihren Standpunkt zum Umfang des ihr angeblich entstandenen Schadens in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht erheblich geändert hat. 147 In Anbetracht der vorstehend genannten Umstände ist der Gerichtshof nicht in der Lage, mit hinreichender Gewissheit über das tatsächliche Bestehen eines Schadens und das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Verletzung des Anhörungsrechts durch die Kommission und dem geltend gemachten Schaden zu entscheiden. 148 Daher ist der Rechtsstreit zur Entscheidung hierüber an das Gericht zurückzuverweisen. Kosten 149 Da die Sache an das Gericht zurückverwiesen wird, ist die Kostenentscheidung vorzubehalten. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 26. Juni 2019, Vialto Consulting/Kommission (T‑617/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:446), wird aufgehoben, soweit die von der Vialto Consulting Kft. erhobene Rüge, die Europäische Kommission habe das Anhörungsrecht verletzt, als unbegründet zurückgewiesen wurde. 2. Im Übrigen wird das Rechtsmittel zurückgewiesen. 3. Der Rechtsstreit wird an das Gericht der Europäischen Union zurückverwiesen, damit es über die Voraussetzungen der außervertraglichen Haftung der Europäischen Union entscheidet, die das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs zwischen der Verletzung des Anhörungsrechts durch die Europäische Kommission und dem geltend gemachten Schaden sowie das tatsächliche Bestehen eines Schadens betreffen. 4. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Griechisch.
Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 21. Oktober 2021.#Strafverfahren gegen ZX.#Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Art. 6 Abs. 3 – Anspruch der Verdächtigen oder der beschuldigten Personen auf Belehrung über ihre Rechte – Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Nationale Rechtsvorschriften, in denen kein Verfahrensweg für die Behebung einer inhaltlichen Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift nach einer vorbereitenden Verhandlung vorgesehen ist.#Rechtssache C-282/20.
62020CJ0282
ECLI:EU:C:2021:874
2021-10-21T00:00:00
Gerichtshof, Rantos
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62020CJ0282 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer) 21. Oktober 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Art. 6 Abs. 3 – Anspruch der Verdächtigen oder der beschuldigten Personen auf Belehrung über ihre Rechte – Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Nationale Rechtsvorschriften, in denen kein Verfahrensweg für die Behebung einer inhaltlichen Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift nach einer vorbereitenden Verhandlung vorgesehen ist“ In der Rechtssache C‑282/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 22. Juni 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 2020, in dem Strafverfahren gegen ZX, Beteiligte: Spetsializirana prokuratura, erlässt DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zehnten Kammer sowie der Richter I. Jarukaitis und M. Ilešič, Generalanwalt: A. Rantos, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér und M. Tátrai als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Van Nuffel, M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen ZX wegen des Besitzes von Falschgeld. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 14 und 41 der Richtlinie 2012/13 heißt es: „(14) … [Die vorliegende Richtlinie] legt gemeinsame Mindestnormen fest, die bei der Belehrung über die Rechte und bei der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Diese Richtlinie baut auf den in der Charta verankerten Rechten auf, insbesondere auf den Artikeln 6, 47 und 48 der Charta, und legt dabei die Artikel 5 und 6 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde. … … (41) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden. Mit dieser Richtlinie sollen insbesondere das Recht auf Freiheit, das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte gefördert werden. Sie sollte entsprechend umgesetzt werden.“ 4 Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie bestimmt in den Abs. 3 und 4: „(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden. (4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß diesem Artikel gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“ Bulgarisches Recht 5 Art. 246 Abs. 2 und 3 des Nakazatelno‑protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) sieht vor: „(2)   Im Bereich der Sachverhaltsangaben werden in der Anklageschrift genannt: die vom Angeklagten begangene Straftat; Zeit, Ort und Art der Begehung; Opfer und Höhe des Schadens; … (3)   … im Schlussteil der Anklageschrift werden genannt: … die rechtliche Qualifikation der begangenen Handlung…“ 6 In Art. 248 Abs. 1 und 3 der Strafprozessordnung heißt es: „(1)   Folgende Fragen werden in der vorbereitenden Verhandlung behandelt: … 3. Wurde im Lauf des Vorverfahrens ein heilbarer Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften begangen, der zu einer Einschränkung der Verfahrensrechte der beschuldigten Person, des Opfers oder seiner Rechtsnachfolger geführt hat? … (3)   In der Hauptverhandlung vor den Gerichten der ersten Instanz, den Berufungs- und den Kassationsgerichten können die in Abs. 1 Nr. 3 genannten Verstöße gegen Verfahrensrechte, die in der vorbereitenden Verhandlung – einschließlich auf Betreiben des Berichterstatters – nicht erörtert wurden oder als unwesentlich angesehen werden, nicht gerügt werden.“ 7 Art. 249 Abs. 2 der Strafprozessordnung lautet: „Wird das Verfahren auf der Grundlage von Art. 248 Abs. 1 Nr. 3 [der Strafprozessordnung] ausgesetzt, stellt das Gericht der Staatsanwaltschaft einen Beschluss zu, in dem die begangenen Verstöße bezeichnet sind.“ 8 Gemäß Art. 287 Abs. 1 der Strafprozessordnung „[formuliert d]ie Staatsanwaltschaft einen neuen Tatvorwurf, wenn sie im Lauf des gerichtlichen Ermittlungsverfahrens feststellt, dass Gründe für eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Angaben zum Tatvorwurf oder für die Anwendung eines Gesetzes zur Ahndung schwerwiegenderer Straftaten vorliegen“. Nach Art. 287 Abs. 3 wird eine Änderung des Tatvorwurfs von Verteidigungsgarantien flankiert, d. h. die Rechtssache wird auf Antrag der Verteidigung vertagt, damit diese sich anhand des geänderten Tatvorwurfs vorbereiten kann. Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 9 ZX wird in Bulgarien strafrechtlich dafür verfolgt, dass er am 19. Juli 2015 unter Verstoß gegen Art. 244 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs in Verbindung mit dessen Art. 244 Abs. 1 Falschgeld mit Wechselkurs im In- und Ausland, nämlich 88 Banknoten zu 200 Euro besessen hatte, von denen er wusste, dass sie gefälscht waren. 10 In der vorbereitenden Verhandlung war insbesondere erörtert worden, ob die Anklageschrift ordnungsgemäß sei. Sie war von ZX nicht beanstandet worden, und das zuständige Gericht entschied, dass die Anklageschrift formell ordnungsgemäß sei. 11 Nach Erhebung aller Beweise stellte das Gericht bei der Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen für eine Anhörung der Beteiligten und für eine Verkündung eines Urteils vorliegen, eine gewisse, in der vorbereitenden Verhandlung unbemerkt gebliebene Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift fest. So sei zunächst der Zeitraum, in dem der Beschuldigte die 88 gefälschten Banknoten besessen habe, nicht genau angegeben worden. Weiterhin seien in der Anklageschrift die Tatbestandsmerkmale der strafbewehrten Handlung unvollständig beschrieben worden, und schließlich habe ein Fehler bei der Angabe der mutmaßlich verletzten Vorschriften des bulgarischen Strafrechts vorgelegen. 12 In der Hauptverhandlung vom 12. Juni 2020 machte das vorlegende Gericht auf diese Mängel der Anklageschrift aufmerksam. Die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) äußerte daher den Wunsch, die Mängel unmittelbar durch eine Änderung des Tatvorwurfs zu beheben. ZX brachte vor, dass es trotz der Mängel bei der Subsumtion des Sachverhalts keine Grundlage für eine Änderung des Tatvorwurfs nach Art. 287 der Strafprozessordnung gebe. Er stellte dem vorlegenden Gericht anheim, die Fehler im Urteil zu korrigieren, um die korrekte Subsumtion der Straftat klarzustellen. 13 Das vorlegende Gericht führt aus, dass es im Rahmen des Ausgangsverfahrens zur Prüfung verpflichtet sei, ob unter Berücksichtigung der Erklärung der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung eine Behebung dieser Verfahrensmängel der Anklageschrift möglich sei, die es für wesentlich und ein Hindernis für den ordnungsgemäßen Ablauf des Strafprozesses hält. 14 Es ist insoweit der Ansicht, dass Veranlassung dazu bestanden hätte, die genannten Mängel in der vorbereitenden Verhandlung festzustellen, das gerichtliche Verfahren auszusetzen und die Sache an die Staatsanwaltschaft mit der Aufforderung zurückzuverweisen, die Mängel zu beheben und eine neue Anklageschrift zu erstellen. Dies sei aber nicht geschehen. Das vorlegende Gericht weist noch darauf hin, dass sich nach einer Gesetzesreform im Jahr 2017 (im Folgenden: Reform von 2017) aus Art. 248 Abs. 3 der Strafprozessordnung ergebe, dass von dieser Möglichkeit nur während der vorbereitenden Verhandlung Gebrauch gemacht werden könne, da das bulgarische Gesetz keinen Mechanismus vorsehe, um derartige Mängel der Anklageschrift nach dieser Verhandlung, insbesondere durch Zurückverweisung der Sache an die Staatsanwaltschaft, zu beheben. 15 In der ersten Vorlagefrage gehe es somit um die Frage, ob das im nationalen Recht vorgesehene Verbot, Mängel der Angaben über den Tatvorwurf nach der vorbereitenden Verhandlung zu erörtern, und insofern die Unmöglichkeit zur Behebung dieser Mängel mit Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 vereinbar seien. Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob diese Bestimmung auch nach der vorbereitenden Verhandlung gelte, beispielsweise im Lauf der nachfolgenden Verhandlungen, sobald die Beweiserhebung abgeschlossen sei, aber bevor das Gericht in der Sache über den Tatvorwurf entscheide. Es ist außerdem der Ansicht, dass das Verbot mit Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta, der sich auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und den Zugang zu einem unparteiischen Gericht beziehe, unvereinbar sein könne. 16 Für den Fall, dass der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die nationalen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht unvereinbar sind, möchte das vorlegende Gericht im Rahmen der zweiten Vorlagefrage wissen, auf welche Weise ein mit dem Recht des Beschuldigten auf Unterrichtung über den Tatvorwurf in Zusammenhang stehender Verfahrensmangel behoben werden kann. Da Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 gemäß dem Urteil vom 14. Mai 2020, Staatsanwaltschaft Offenburg (C‑615/18, EU:C:2020:376), unmittelbare Wirkung habe, bedürfe es einer verfahrensrechtlichen Regelung, um diese unmittelbare Wirkung zur Entfaltung zu bringen. 17 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts gibt es hierzu zwei mögliche Verfahrenswege. 18 Der erste Weg bestehe in der Anwendung von Art. 287 der Strafprozessordnung – der eine Änderung des Tatvorwurfs u. a. dann ermögliche, wenn dem Staatsanwalt ein Fehler bei der Formulierung der Anklageschrift unterlaufen sei, – in erweiternder Auslegung. Eine solche Änderung gehe mit den erforderlichen Garantien einher, damit sich der Beschuldigte verteidigen könne. Konkret würde das Gericht der Staatsanwaltschaft Gelegenheit geben, die relevanten Änderungen am Inhalt der Anklageschrift vorzunehmen, um die Unklarheit und die Unvollständigkeit zu beseitigen, wonach die Staatsanwaltschaft von Amts wegen die Verteidigung darüber unterrichten und ihr Gelegenheit geben würde, sich im Hinblick auf diese Änderungen vorzubereiten, was u. a. die Möglichkeit einschließe, neue Beweisanträge zu stellen. Die Möglichkeit, den Tatvorwurf im Sinne von Art. 287 der Strafprozessordnung zu ändern, sei allerdings bisher von den nationalen Gerichten nicht zur Behebung verfahrensrechtlicher Mängel der Anklageschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden genutzt worden. 19 Die Anwendung dieses Verfahrensweges würde aber zum einen dazu führen, dass die von Art. 248 Abs. 3 der Strafprozessordnung gewählte Lösung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar wäre. Zum anderen würde diese Anwendung voraussetzen, dass der verfahrensrechtliche Mangel der Anklageschrift nach Abschluss der Beweiserhebung aber vor der Erörterung in der Sache behoben werde. 20 Der zweite mögliche Weg bestehe darin, das in der Strafprozessordnung nach der Reform von 2017 vorgesehene Verbot unangewendet zu lassen und den Verfahrensweg anzuwenden, der bis zum Inkrafttreten dieser Reform gegolten habe, d. h. Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens, Zurückverweisung der Sache an die Staatsanwaltschaft zur Erstellung einer neuen Anklageschrift und Wiederaufnahme der Sache mit erneuter Befragung aller Zeugen. 21 Mit der zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht daher wissen, ob diese in Betracht kommenden Verfahrenswege mit dem Unionsrecht und insbesondere mit Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 vereinbar sind. Im Hinblick auf Art. 47 der Charta möchte es zudem wissen, welcher der Verfahrenswege am ehesten mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf Zugang zu einem unparteiischen Gericht vereinbar ist. 22 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich der Gerichtshof bereits zu einem gleichgelagerten Sachverhalt geäußert habe, nämlich einer Anklageschrift, die verfahrensrechtliche Mängel aufgewiesen habe, die das Recht des Angeklagten auf Kenntnis des Tatvorwurfs verletzt hätten. So ergebe sich aus den Urteilen vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392), und vom 12. Februar 2020, Kolev u. a. (C‑704/18, EU:C:2020:92), dass die nationalen Rechtsvorschriften einen hinreichend wirksamen Mechanismus vorsehen müssten, um Mängel der Anklageschrift, die die in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 genannten Rechte des Beschuldigten beeinträchtigten, entweder durch das Gericht selbst oder durch eine Zurückverweisung der Sache an die Staatsanwaltschaft zu beheben. Das vorlegende Gericht ist allerdings der Ansicht, dass sich aus diesen Urteilen keine Antwort auf die Fragen ergebe, die es sich stelle. 23 Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist eine nationale Rechtsvorschrift, nämlich Art. 248 Abs. 3 der Strafprozessordnung der Republik Bulgarien, wonach nach Abschluss der ersten Gerichtsverhandlung in einem Strafverfahren (vorbereitende Verhandlung) kein Verfahrensweg vorgesehen ist, der es ermöglicht, eine inhaltliche Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift, die zur Verletzung des Rechts des Angeklagten auf Unterrichtung über den Tatvorwurf führt, zu beheben, mit Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 und Art. 47 der Charta vereinbar? 2. Falls diese Frage verneint wird: Entspräche eine Auslegung der nationalen Vorschriften über die Änderung des Tatvorwurfs, die es dem Staatsanwalt im Verhandlungstermin erlaubt, diese inhaltliche Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift in einer Art und Weise zu beheben, die dem Recht des Angeklagten, den Tatvorwurf zu erfahren, tatsächlich und wirksam Rechnung trägt, den oben angeführten Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 sowie Art. 47 der Charta, oder entspräche es diesen oben angeführten Vorschriften, das nationale Verbot der Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens und Zurückverweisung der Sache an den Staatsanwalt zur Erstellung einer neuen Anklageschrift unangewendet zu lassen? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 24 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, in denen kein Verfahrensweg vorgesehen ist, der es ermöglicht, nach der vorbereitenden Verhandlung in einem Strafverfahren eine inhaltliche Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift, die zur Verletzung des Rechts der beschuldigten Person auf Übermittlung detaillierter Informationen über den Tatvorwurf führt, zu beheben. 25 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 der Richtlinie 2012/13 in seinen Bestimmungen Regelungen zum Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf definiert, um ein faires Verfahren zu gewährleisten und eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte zu ermöglichen (Urteil vom 13. Juni 2019, Moro, C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 43, und Beschluss vom 14. Januar 2021, UC und TD [Formfehler der Anklageschrift], C‑769/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:28, Rn. 43). 26 Wie in den Erwägungsgründen 14 und 41 der Richtlinie 2012/13 angegeben, baut diese auf den u. a. in den Art. 47 und 48 der Charta genannten Rechten auf und soll diese Rechte fördern. Im Einzelnen wird in Art. 6 der Richtlinie ausdrücklich ein Aspekt der in den Art. 47 und 48 Abs. 2 der Charta verankerten Rechte auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf Verteidigung verbürgt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 88, sowie vom 14. Mai 2020, Staatsanwaltschaft Offenburg, C‑615/18, EU:C:2020:376, Rn. 71). 27 Was zweitens den Zeitpunkt betrifft, zu dem die Inanspruchnahme der in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 verankerten Verfahrensrechte gewährleistet sein muss, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass dieser Zeitpunkt grundsätzlich spätestens derjenige ist, bevor das Strafgericht mit der inhaltlichen Prüfung das Tatvorwurfs beginnt und bevor die Verhandlung vor ihm aufgenommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2020, Kolev u. a., C‑704/18, EU:C:2020:92, Rn. 39, sowie Beschluss vom 14. Januar 2021, UC und TD [Formfehler der Anklageschrift], C‑769/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:28, Rn. 44). 28 Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass keine Bestimmung der Richtlinie 2012/13 dagegen spricht, dass das Gericht die erforderlichen Maßnahmen zur Behebung der Mängel der Anklageschrift ergreift, soweit dabei die Verteidigungsrechte und das Recht auf ein faires Verfahren gewahrt bleiben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 94). 29 Der Gerichtshof hat zudem bereits gestattet, dass die der Verteidigung übermittelten Informationen zum Tatvorwurf später abgeändert werden, insbesondere hinsichtlich der rechtlichen Würdigung des zur Last gelegten Sachverhalts. Solche Änderungen müssen der beschuldigten Person oder ihrem Rechtsanwalt allerdings so rechtzeitig mitgeteilt werden, dass diese noch die Möglichkeit haben, wirksam zu reagieren, bevor das Gericht in die abschließende Beratung eintritt. Diese Möglichkeit ist insofern in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2012/13 vorgesehen, wonach Änderungen der gemäß diesem Artikel im Lauf des Strafverfahrens gegebenen Informationen der beschuldigten Person umgehend mitgeteilt werden müssen, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 95). 30 Aus der dargestellten Rechtsprechung ergibt sich, dass die aus Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 hergeleiteten Rechte während der gesamten Dauer des Strafverfahrens gewährleistet sein müssen und damit im vorliegenden Fall auch nach der vorbereitenden Verhandlung in einer Strafsache. Das vorlegende Gericht führt allerdings aus, dass nach der Reform von 2017 von der Möglichkeit, das gerichtliche Verfahren auszusetzen und die Sache mit der Aufforderung an die Staatsanwaltschaft zurückzuverweisen, die verfahrensrechtlichen Mängel der Anklageschrift zu beheben und eine neue Anklageschrift zu erstellen, gemäß Art. 248 Abs. 3 der Strafprozessordnung nur im Lauf dieser Verhandlung Gebrauch gemacht werden könne, da das bulgarische Gesetz keinen Mechanismus vorsehe, um derartige Mängel nach dieser Verhandlung zu beheben. 31 Daraus folgt, dass solche Rechtsvorschriften weder mit Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13, noch mit Art. 47 der Charta vereinbar sind, da das Fehlen eines Verfahrensweges, der es nach dieser Verhandlung ermöglichen würde, Mängel der Anklageschrift zu beheben, die beschuldigte Person daran hindert, hinreichend detaillierte Informationen über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf zu erhalten, was die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte behindern kann. 32 Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, in denen kein Verfahrensweg vorgesehen ist, der es ermöglicht, nach der vorbereitenden Verhandlung in einem Strafverfahren eine inhaltliche Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift, die zur Verletzung des Rechts der beschuldigten Person auf Übermittlung detaillierter Informationen über den Tatvorwurf führt, zu beheben. Zur zweiten Frage 33 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie eine Auslegung eines nationalen Gesetzes über die Änderung des Tatvorwurfs verlangen, die es der Staatsanwaltschaft im Verhandlungstermin erlaubt, eine inhaltliche Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift unter tatsächlicher und wirksamer Wahrung der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person zu beheben, oder ob diese Bestimmungen verlangen, das in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Verbot, das gerichtliche Verfahren auszusetzen und die Sache zur Erstellung einer neuen Anklageschrift an die Staatsanwaltschaft zurückzuverweisen, unangewendet zu lassen. 34 Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass im Unionsrecht weder erläutert wird, welche nationale Stelle die Aufgabe hat, sich zu vergewissern, dass die beschuldigten Personen die in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 verankerten Rechte in Anspruch nehmen können, noch, welches Verfahren zu diesem Zweck durchzuführen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2020, Kolev u. a., C‑704/18, EU:C:2020:92, Rn. 40, sowie Beschluss vom 14. Januar 2021, UC und TD [Formfehler der Anklageschrift], C‑769/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:28, Rn. 44). 35 Die Festlegung der konkreten Modalitäten für die Umsetzung von Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 fällt somit unter dem Vorbehalt der Beachtung des Äquivalenzgrundsatzes – nach dem die nationalen Vorschriften nicht ungünstiger als diejenigen sein dürfen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen – und des Effektivitätsgrundsatzes – nach dem die nationalen Verfahrensmodalitäten die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen – in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2020, Kolev u. a., C‑704/18, EU:C:2020:92, Rn. 48 und 49, sowie Beschluss vom 14. Januar 2021, UC und TD [Formfehler der Anklageschrift], C‑769/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:28, Rn. 47 bis 49). 36 Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 steht insbesondere einer Regelung nicht entgegen, nach der das Recht der beschuldigten Person, über den Tatvorwurf unterrichtet zu werden, entweder von der Staatsanwaltschaft nach Zurückverweisung der Sache in die Ermittlungsphase des Strafverfahrens oder vom zuständigen Strafgericht, wenn in der Sache Anklage erhoben wird, gewährleistet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2020, Kolev u. a., C‑704/18, EU:C:2020:92, Rn. 44, sowie Beschluss vom 14. Januar 2021, UC und TD [Formfehler der Anklageschrift], C‑769/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:28, Rn. 46). 37 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass die Ausübung der in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 verankerten Rechte in einer Situation, in der das gesamte Strafverfahren noch nicht abgeschlossen ist, sowohl dadurch gewährleistet werden kann, dass dem Gericht ermöglicht wird, die Mängel der Anklageschrift im Rahmen der gerichtlichen Phase selbst zu beheben, als auch dadurch, dass die Staatsanwaltschaft, an die die Sache zurückverwiesen wird, Gelegenheit hat, die Mängel unter Wahrung der Verteidigungsrechte zu beheben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2020, Kolev u. a., C‑704/18, EU:C:2020:92, Rn. 54 und 55, sowie Beschluss vom 14. Januar 2021, UC und TD [Formfehler der Anklageschrift], C‑769/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:28, Rn. 49). 38 Der Gerichtshof hat insoweit hervorgehoben, dass der beschuldigten Person und ihrem Rechtsanwalt, wann immer die in Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 genannten Informationen erteilt werden, im Einklang mit dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens und der Waffengleichheit insbesondere ausreichend Zeit gewährt werden muss, diese Informationen zur Kenntnis zu nehmen, und sie in die Lage versetzt werden müssen, die Verteidigung wirksam vorzubereiten, etwaige Stellungnahmen einzureichen und gegebenenfalls alle Anträge insbesondere zur Sachverhaltsaufklärung zu stellen, die nach nationalem Recht statthaft sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2019, Moro, C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss vom 14. Januar 2021, UC und TD [Formfehler der Anklageschrift], C‑769/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:28, Rn. 50). 39 In Anbetracht der vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen danach, ob das Unionsrecht gebietet, entweder das nationale Recht unionsrechtskonform auszulegen oder die Bestimmung von Art. 248 Abs. 3 der Strafprozessordnung, wie sie sich aus der 2017 angenommenen Änderung ergebe, zugunsten einer Anwendung der vorherigen Bestimmung – die eine Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens und eine Zurückverweisung der Sache an die Staatsanwaltschaft ermöglichte – unangewendet zu lassen, ist darauf zu verweisen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts den nationalen Gerichten zur Gewährleistung der Wirksamkeit sämtlicher Bestimmungen des Unionsrechts auferlegt, ihr nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 57). 40 Nur dann, wenn das nationale Gericht, das die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, ist es verpflichtet, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Für den Fall, dass sich eine unionsrechtskonforme Auslegung als unmöglich erweist, ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaats daher verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht, unangewendet zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 eine solche unmittelbare Wirkung zuzusprechen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Staatsanwaltschaft Offenburg, C‑615/18, EU:C:2020:376, Rn. 72). 42 Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht aus, dass ihm die nationalen Rechtsvorschriften eine erweiternde Auslegung der Strafprozessordnung und insbesondere der in deren Art. 287 vorgesehenen Regelungen zur Änderung der Anklageschrift erlaubten, über die eine Möglichkeit zur Behebung verfahrensrechtlicher Mängel der Anklageschrift bestehe. Konkret würde das Gericht zur Gewährleistung der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person bei der Anwendung von Art. 287 der Strafprozessordnung zunächst der Staatsanwaltschaft die Gelegenheit geben, die relevanten Änderungen am Inhalt der Anklageschrift zur Behebung der Unklarheit und Unvollständigkeit vorzunehmen. Die Staatsanwaltschaft würde sodann die Verteidigung darüber informieren, und ihr schließlich die Möglichkeit einräumen, sich im Hinblick auf die Änderungen vorzubereiten, was gegebenenfalls die Stellung neuer Beweiseinträge einschließe. 43 Ein derartiger Mechanismus ist wohl insoweit mit Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 und Art. 47 der Charta vereinbar, als er eine wirksame Anwendung der sich aus Art. 6 Abs. 3 der der Richtlinie ergebenden Anforderungen gestattet und auch geeignet ist, das Recht der beschuldigten Person auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. 44 Unter diesen Umständen ist das vorlegende Gericht, da es in der Lage wäre, eine mit diesen Bestimmungen des Unionsrechts vereinbare Auslegung der Strafprozessordnung vorzunehmen, nicht verpflichtet, deren Art. 248 Abs. 3 in der Fassung einer im Jahr 2017 angenommenen Änderung unangewendet zu lassen. Das vorlegende Gericht wird jedoch die insoweit erforderlichen Feststellungen zu treffen haben. 45 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass das vorlegende Gericht verpflichtet ist, die nationalen Rechtsvorschriften über die Änderung des Tatvorwurfs, die der Staatsanwaltschaft die Behebung einer inhaltlichen Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift in der Hauptverhandlung unter tatsächlicher und wirksamer Wahrung der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person ermöglichen, so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen. Lediglich in dem Fall, in dem das vorlegende Gericht zu der Auffassung gelangen sollte, dass es keine Möglichkeit einer entsprechenden unionsrechtskonformen Auslegung gibt, hat es die nationale Bestimmung, die eine Aussetzung des Gerichtsverfahrens und eine Zurückverweisung der Sache an die Staatsanwaltschaft zur Erstellung einer neuen Anklageschrift verbietet, unangewendet zu lassen. Kosten 46 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, in denen kein Verfahrensweg vorgesehen ist, der es ermöglicht, nach der vorbereitenden Verhandlung in einem Strafverfahren eine inhaltliche Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift, die zur Verletzung des Rechts der beschuldigten Person auf Übermittlung detaillierter Informationen über den Tatvorwurf führt, zu beheben. 2. Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass das vorlegende Gericht verpflichtet ist, die nationalen Rechtsvorschriften über die Änderung des Tatvorwurfs, die der Staatsanwaltschaft die Behebung einer inhaltlichen Unklarheit und Unvollständigkeit der Anklageschrift in der Hauptverhandlung unter tatsächlicher und wirksamer Wahrung der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person ermöglichen, so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen. Lediglich in dem Fall, in dem das vorlegende Gericht zu der Auffassung gelangen sollte, dass es keine Möglichkeit einer entsprechenden unionsrechtskonformen Auslegung gibt, hat es die nationale Bestimmung, die eine Aussetzung des Gerichtsverfahrens und eine Zurückverweisung der Sache an die Staatsanwaltschaft zur Erstellung einer neuen Anklageschrift verbietet, unangewendet zu lassen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. Juli 2021.#Europäische Kommission gegen Republik Polen.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Disziplinarordnung für Richter – Rechtsstaatlichkeit – Richterliche Unabhängigkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Disziplinarvergehen aufgrund des Inhalts von Gerichtsentscheidungen – Unabhängige und durch Gesetz errichtete Disziplinargerichte – Einhaltung einer angemessenen Frist und Achtung der Verteidigungsrechte in Disziplinarverfahren – Art. 267 AEUV – Beschränkung des Rechts und der Pflicht der nationalen Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden.#Rechtssache C-791/19.
62019CJ0791
ECLI:EU:C:2021:596
2021-07-15T00:00:00
Gerichtshof, Tanchev
62019CJ0791 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 15. Juli 2021 (*1) „Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Disziplinarordnung für Richter – Rechtsstaatlichkeit – Richterliche Unabhängigkeit – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Disziplinarvergehen aufgrund des Inhalts von Gerichtsentscheidungen – Unabhängige und durch Gesetz errichtete Disziplinargerichte – Einhaltung einer angemessenen Frist und Achtung der Verteidigungsrechte in Disziplinarverfahren – Art. 267 AEUV – Beschränkung des Rechts und der Pflicht der nationalen Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden“ In der Rechtssache C‑791/19 betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 25. Oktober 2019, Europäische Kommission, zunächst vertreten durch K. Banks, S. L. Kalėda und H. Krämer, dann durch K. Banks, S. L. Kalėda und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte, Klägerin, unterstützt durch Königreich Belgien, vertreten durch C. Pochet, M. Jacobs und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte, Königreich Dänemark, zunächst vertreten durch M. Wolff, M. Jespersen und J. Nymann-Lindegren, dann durch M. Wolff und J. Nymann-Lindegren als Bevollmächtigte, Königreich der Niederlande, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte, Republik Finnland, vertreten durch M. Pere und H. Leppo als Bevollmächtigte, Königreich Schweden, vertreten durch C. Meyer-Seitz, H. Shev, A. Falk, J. Lundberg und H. Eklinder als Bevollmächtigte, Streithelfer, gegen Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, D. Kupczak, S. Żyrek, A. Dalkowska und A. Gołaszewska als Bevollmächtigte, Beklagte, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Vilaras, M. Ilešič, A. Kumin und N. Wahl sowie des Richters T. von Danwitz, der Richterinnen C. Toader und K. Jürimäe, der Richter C. Lycourgos und N. Jääskinen, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer, Generalanwalt: E. Tanchev, Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Dezember 2020, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Mai 2021 folgendes Urteil 1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Republik Polen dadurch, – dass sie zulässt, dass der Inhalt von Gerichtsentscheidungen als von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit begangenes Disziplinarvergehen gewertet werden kann (Art. 107 § 1 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych [Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit] vom 27. Juli 2001 [Dz. U. Nr. 98, Pos. 1070] in der Fassung, die sich aus den im Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej von 2019 [Pos. 52, 55, 60, 125, 1469 und 1495] veröffentlichten nachfolgenden Änderungen ergibt [im Folgenden: Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit], sowie Art. 97 §§ 1 und 3 der Ustawa o Sądzie Najwyższym [Gesetz über das Oberste Gericht] vom 8. Dezember 2017 [Dz. U. 2018, Pos. 5] in der im Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej von 2019 [Pos. 825] veröffentlichten konsolidierten Fassung [im Folgenden: neues Gesetz über das Oberste Gericht]), – dass sie die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) (im Folgenden: Disziplinarkammer), die für die Kontrolle der in Disziplinarverfahren gegen Richter ergangenen Entscheidungen zuständig ist, nicht gewährleistet (Art. 3 Nr. 5, Art. 27 und Art. 73 § 1 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht in Verbindung mit Art. 9a der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa [Gesetz über den Landesjustizrat] vom 12. Mai 2011 [Dz. U. Nr. 126, Pos. 714] in der durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw [Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze] vom 8. Dezember 2017 [Dz. U. 2018, Pos. 3] geänderten Fassung [im Folgenden: KRS-Gesetz]), – dass sie dem Präsidenten der Disziplinarkammer das Recht einräumt, in Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffenden Sachen das zuständige Disziplinargericht erster Instanz nach seinem Ermessen zu bestimmen (Art. 110 § 3 und Art. 114 § 7 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit), und somit nicht gewährleistet, dass Disziplinarsachen von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden werden, und – dass sie dem Justizminister die Zuständigkeit zur Ernennung eines Disziplinarbeauftragten des Justizministers überträgt (Art. 112b des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit) und damit nicht gewährleistet, dass Disziplinarverfahren gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit innerhalb einer angemessenen Frist entschieden werden, sowie vorsieht, dass die Handlungen, die mit der Ernennung eines Verteidigers sowie der Verteidigung durch diesen zusammenhängen, den Lauf des Disziplinarverfahrens nicht hemmen (Art. 113a dieses Gesetzes) und das Disziplinargericht das Verfahren trotz der entschuldigten Abwesenheit des benachrichtigten beschuldigten Richters oder seines Verteidigers durchführt (Art. 115a § 3 des Gesetzes) und somit die Achtung der Verteidigungsrechte der beschuldigten Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht gewährleistet, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat und dadurch, dass sie zulässt, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt wird, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen hat. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht EU-Vertrag und AEU-Vertrag 2 Art. 2 EUV lautet: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ 3 Art. 19 Abs. 1 EUV bestimmt: „Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“ 4 Art. 267 AEUV sieht vor: „Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung a) über die Auslegung der Verträge, b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen. Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet. …“ Charta 5 Titel VI („Justizielle Rechte“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) enthält u. a. Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“), der lautet: „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. … …“ Polnisches Recht Verfassung 6 Nach Art. 179 der Verfassung ernennt der Präsident der Republik Polen (im Folgenden: Präsident der Republik) die Richter auf Vorschlag der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) (im Folgenden: KRS) auf unbestimmte Zeit. 7 Art. 187 der Verfassung bestimmt: „(1)   Die [KRS] besteht aus: 1. dem Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], dem Justizminister, dem Präsidenten des [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] und einer vom Präsidenten der Republik berufenen Person, 2. fünfzehn Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und Militärgerichte gewählt worden sind, 3. vier Mitgliedern, die vom [Sejm (Erste Kammer des Parlaments, Polen)] aus der Mitte der Abgeordneten und zwei Mitgliedern, die vom Senat aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind. … (3)   Die Amtszeit der gewählten Mitglieder [der KRS] beträgt vier Jahre. (4)   Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise [der KRS] sowie die Wahl [ihrer] Mitglieder regelt ein Gesetz.“ Neues Gesetz über das Oberste Gericht 8 Das neue Gesetz über das Oberste Gericht trat in seiner ursprünglichen Fassung am 3. April 2018 in Kraft. Durch dieses Gesetz wurden zwei neue Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingerichtet: die Disziplinarkammer nach Art. 3 Nr. 5 dieses Gesetzes und die Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten). 9 Art. 6 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt: „§ 1.   Der Erste Präsident des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] legt den zuständigen Behörden eine Stellungnahme zu Unregelmäßigkeiten oder Lücken im Gesetz vor, deren Beseitigung erforderlich ist, um die Rechtsstaatlichkeit, die soziale Gerechtigkeit und die Kohärenz des Rechtssystems der Republik Polen zu gewährleisten. § 2.   Der Präsident des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet, legt den zuständigen Behörden eine Stellungnahme zu Unregelmäßigkeiten oder Lücken im Gesetz vor, deren Beseitigung erforderlich ist, um eine effiziente Befassung mit den in die Zuständigkeit dieser Kammer fallenden Rechtssachen zu gewährleisten oder um die Zahl der Disziplinarvergehen zu begrenzen.“ 10 Art. 7 §§ 3 und 4 dieses Gesetzes sieht vor: „§ 3.   Bei der Ausführung des Haushaltsplans des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] hat der Erste Präsident des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] die Befugnisse des Ministers für öffentliche Finanzen. § 4.   Bei der Ausführung des Haushaltsplans des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in Bezug auf die Arbeit der Disziplinarkammer werden die Befugnisse des Ministers für öffentliche Finanzen dem Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] übertragen, der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet.“ 11 Art. 20 des Gesetzes lautet: „In Bezug auf die Disziplinarkammer und die Richter, die ihr Amt in der Disziplinarkammer ausüben, werden die Befugnisse des Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], wie sie festgelegt sind in – Art. 14 § 1 Nrn. 1, 4 und 7, Art. 31 § 1, Art. 35 § 2, Art. 36 § 6, Art. 40 §§ 1 und 4 und Art. 51 §§ 7 und 14, vom Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] wahrgenommen, der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet; – Art. 14 §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 3 Satz 2, vom Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] im Einvernehmen mit dem Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] wahrgenommen, der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet.“ 12 Art. 27 § 1 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt: „Die Disziplinarkammer ist zuständig für 1. Disziplinarsachen, a) die Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, b) die vom [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] im Zusammenhang mit Disziplinarverfahren geprüft werden, die auf der Grundlage folgender Gesetze betrieben werden: … – Gesetz [über die ordentliche Gerichtsbarkeit] …, …“ 13 Nach Art. 35 § 2 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht kann der Erste Präsident des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einen Richter mit dessen Zustimmung auf eine Stelle in einer anderen Kammer versetzen. 14 Art. 73 § 1 dieses Gesetzes sieht vor: „Disziplinargerichte in Disziplinarsachen, die Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, sind 1. im ersten Rechtszug – der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit zwei Richtern der Disziplinarkammer und einem ehrenamtlichen Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)]; 2. im zweiten Rechtszug – der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit drei Richtern der Disziplinarkammer und zwei ehrenamtlichen Richtern des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)].“ 15 In Art. 97 des Gesetzes heißt es: „§ 1.   Stellt der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] bei der Prüfung einer Sache eine offensichtliche Missachtung von Vorschriften fest, richtet er – unabhängig von seinen weiteren Befugnissen – eine Fehlerfeststellung an das betreffende Gericht. Zuvor ist er verpflichtet, den oder die Richter des Spruchkörpers über die Möglichkeit zu informieren, sich innerhalb einer Frist von sieben Tagen schriftlich zu erklären. Die Aufdeckung und die Feststellung eines Fehlers haben keine Auswirkung auf den Ausgang der Sache. … § 3.   Übermittelt der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] eine Fehlerfeststellung, kann er die Prüfung einer Disziplinarsache bei einem Disziplinargericht beantragen. Disziplinargericht des ersten Rechtszugs ist der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)].“ 16 Zu den Übergangsbestimmungen des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht gehört u. a. dessen Art. 131, der bestimmt: „Bevor nicht alle Richterstellen in der Disziplinarkammer des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] besetzt sind, können keine Richter aus einer anderen Kammer [dieses Gerichts] auf eine Stelle in dieser Kammer versetzt werden.“ 17 Art. 131 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht wurde durch Art. 1 Nr. 14 der Ustawa o zmianie ustawy o Sądzie Najwyższym (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Oberste Gericht) vom 12. April 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 847), das am 9. Mai 2018 in Kraft getreten ist, geändert. In geänderter Fassung sieht dieser Artikel vor: „Richter, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes Stellen in anderen Kammern des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] innehaben, können auf Stellen in der Disziplinarkammer versetzt werden. Der Richter, der eine Stelle in einer anderen Kammer des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] innehat, legt nach Einholung der Zustimmung des Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], des Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet, und der Kammer, in der der seine Versetzung beantragende Richter tätig ist, [der KRS] bis zu dem Tag, an dem erstmals alle Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Disziplinarkammer ernannt sein werden, einen Antrag auf Versetzung auf eine Stelle in der Disziplinarkammer vor. Der [Präsident der Republik] nimmt auf Vorschlag [der KRS] die Ernennung eines Richters am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Disziplinarkammer bis zu dem Tag vor, an dem erstmals alle Stellen in dieser Kammer besetzt sein werden.“ Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit 18 Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit: „Ein Richter kann für Fehlverhalten im Amt, einschließlich einer offensichtlichen und groben Missachtung von Rechtsvorschriften und einer Verletzung der Würde des Amtes (Disziplinarvergehen), disziplinarisch belangt werden.“ 19 Art. 110 §§ 1 und 3 dieses Gesetzes bestimmt: „§ 1.   Zuständig für Disziplinarsachen, die Richter betreffen, sind 1. im ersten Rechtszug a) die Disziplinargerichte bei den Berufungsgerichten in der Besetzung mit drei Richtern, b) der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit zwei Richtern der Disziplinarkammer und einem ehrenamtlichen Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] bei Disziplinarvergehen, die die Tatbestandsmerkmale vorsätzlicher Straftaten, die von Amts wegen verfolgt werden, oder vorsätzlicher Steuerstraftaten erfüllen, sowie in Angelegenheiten, in denen der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] die Prüfung einer Disziplinarsache im Rahmen einer Fehlerfeststellung beantragt hat; 2. im zweiten Rechtszug – der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit zwei Richtern der Disziplinarkammer und einem ehrenamtlichen Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)]. … § 3.   Das Disziplinargericht, in dessen Bezirk der Richter, gegen den das Disziplinarverfahren anhängig ist, sein Amt ausübt, ist nicht befugt, über die in § 1 Nr. 1 Buchst. a genannten Angelegenheiten zu befinden. Das für die Entscheidung über die Sache zuständige Disziplinargericht wird auf Antrag des Disziplinarbeauftragten vom Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet, bestimmt.“ 20 Art. 112b des Gesetzes sieht vor: „§ 1.   Der Justizminister kann einen Disziplinarbeauftragten des Justizministers bestellen, um ein bestimmtes Verfahren gegen einen Richter zu betreiben. Die Bestellung eines Disziplinarbeauftragten des Justizministers schließt die Befassung anderer Disziplinarbeauftragter mit dieser Sache aus. § 2.   … In begründeten Fällen, insbesondere, wenn der Disziplinarbeauftragte des Justizministers verstirbt oder längere Zeit an der Ausübung seines Amtes gehindert ist, bestellt der Justizminister an seiner Stelle einen anderen Richter oder, im Fall eines Disziplinarvergehens, das die Tatbestandsmerkmale einer vorsätzlichen Straftat erfüllt, die von Amts wegen verfolgt wird, einen anderen Richter oder Staatsanwalt. § 3.   Der Disziplinarbeauftragte des Justizministers kann ein Verfahren auf Anweisung des Justizministers einleiten oder einem laufenden Verfahren beitreten. § 4.   Die Bestellung eines Disziplinarbeauftragten des Justizministers gilt zugleich als Anweisung zur Einleitung eines Ermittlungs- oder Disziplinarverfahrens. § 5.   Die Befassung des Disziplinarbeauftragten des Justizministers endet mit der Rechtskraft einer Entscheidung, mit der die Einleitung eines Disziplinarverfahrens abgelehnt, ein Disziplinarverfahren eingestellt oder ein Disziplinarverfahren abgeschlossen wird. Das Ende der Befassung des Disziplinarbeauftragten des Justizministers hindert den Justizminister nicht daran, in derselben Sache erneut einen Disziplinarbeauftragten des Justizministers zu bestellen.“ 21 Art. 113 §§ 2 und 3 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bestimmt: „§ 2.   Kann der beschuldigte Richter aus gesundheitlichen Gründen nicht an dem Verfahren vor dem Disziplinargericht teilnehmen, bestellt der Präsident des Disziplinargerichts oder das Disziplinargericht auf begründeten Antrag des beschuldigten Richters von Amts wegen einen Verteidiger aus dem Kreis der Rechtsanwälte oder Rechtsberater. Der beschuldigte Richter hat seinem Antrag eine Bescheinigung eines Amtsarztes beizufügen, die belegt, dass sein Gesundheitszustand es ihm nicht erlaubt, an dem Disziplinarverfahren teilzunehmen. § 3.   In Ausnahmefällen, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass die Nichteinreichung eines Antrags auf Gründe zurückzuführen ist, die der beschuldigte Richter nicht zu vertreten hat, kann ein Verteidiger ohne den Antrag nach § 2 von Amts wegen bestellt werden.“ 22 Art. 113a des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit lautet: „Handlungen im Zusammenhang mit der Bestellung eines Verteidigers von Amts wegen und dessen Aufnahme der Verteidigung hemmen nicht den Lauf des Disziplinarverfahrens.“ 23 Art. 114 § 7 dieses Gesetzes sieht vor: „Mit der Mitteilung der Disziplinarvorwürfe ersucht der Disziplinarbeauftragte den Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet, das für die Verhandlung der Sache im ersten Rechtszug zuständige Disziplinargericht zu bestimmen. Der Präsident des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet, bestimmt dieses Gericht binnen sieben Tagen nach Eingang des Ersuchens.“ 24 Art. 115a § 3 des Gesetzes bestimmt: „Das Disziplinargericht führt das Verfahren trotz entschuldigter Abwesenheit des benachrichtigten beschuldigten Richters oder seines Verteidigers durch, es sei denn, dass dies dem ordnungsgemäßen Ablauf des Disziplinarverfahrens zuwiderläuft.“ Gesetz über die KRS 25 In Art. 9a des KRS-Gesetzes heißt es: „1.   Der Sejm wählt aus den Reihen der Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], an den ordentlichen Gerichten, an den Verwaltungsgerichten und an den Militärgerichten 15 Mitglieder [der KRS] für eine gemeinsame Amtszeit von vier Jahren. 2.   Bei der Wahl nach Abs. 1 trägt der Sejm soweit wie möglich dem Erfordernis Rechnung, dass Richter verschiedener Arten und Ebenen von Gerichten [in der KRS] vertreten sein sollten. 3.   Die gemeinsame Amtszeit der aus den Reihen der Richter gewählten neuen Mitglieder [der KRS] beginnt an dem auf ihre Wahl folgenden Tag. Die scheidenden Mitglieder [der KRS] üben ihre Tätigkeit bis zu dem Tag aus, an dem die gemeinsame Amtszeit der neuen Mitglieder [der KRS] beginnt.“ 26 Die Übergangsvorschrift in Art. 6 des am 17. Januar 2018 in Kraft getretenen Gesetzes vom 8. Dezember 2017 zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze sieht vor: „Die Amtszeit der in Art. 187 Abs. 1 Nr. 2 der [Verfassung] genannten Mitglieder [der KRS], die nach den bisherigen Bestimmungen gewählt wurden, dauert bis zu dem Tag, der dem Beginn der Amtszeit der neuen Mitglieder [der KRS] vorausgeht, jedoch nicht länger als 90 Tage ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes, sofern sie nicht wegen des Ablaufs der Amtszeit früher endet.“ Vorverfahren 27 Da die Kommission der Ansicht war, dass die Republik Polen durch den Erlass der neuen Disziplinarordnung für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen habe, richtete sie am 3. April 2019 ein Mahnschreiben an diesen Mitgliedstaat. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 1. Juni 2019, in dem sie jeden Verstoß gegen das Unionsrecht abstritt. 28 Am 17. Juli 2019 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie an ihrer Auffassung festhielt, dass die neue Disziplinarordnung gegen die genannten Unionsrechtsvorschriften verstoße. Sie forderte die Republik Polen daher auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme binnen zweier Monate nach ihrem Erhalt nachzukommen. In ihrer Antwort vom 17. September 2019 wies die Republik Polen die Rügen der Kommission als unbegründet zurück. 29 Da die Kommission diese Antwort nicht für überzeugend hielt, hat sie beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben. Verfahren vor dem Gerichtshof 30 Mit gesondertem Schriftsatz, der am 25. Oktober 2019 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Kommission nach Art. 133 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. Zur Begründung dieses Antrags hat die Kommission vorgetragen, dass die Rügen, die sie in ihrer Klage gegen die neue Disziplinarordnung für polnische Richter geltend mache, auf systemischen Verletzungen der zur Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit erforderlichen Garantien beruhten. Das Gebot der Rechtssicherheit erfordere daher eine rasche Prüfung der Rechtssache, um die Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Disziplinarordnung mit dem Unionsrecht auszuräumen. 31 Art. 133 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs sieht vor, dass der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des Klägers oder des Beklagten und nach Anhörung der Gegenpartei, des Berichterstatters und des Generalanwalts entscheiden kann, eine Rechtssache einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen der Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert. 32 Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll. Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch hervor, dass das beschleunigte Verfahren keine Anwendung finden kann, wenn die Sensibilität und die Komplexität der durch einen Fall aufgeworfenen rechtlichen Fragen kaum mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind, insbesondere, wenn es nicht angebracht erscheint, das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof zu verkürzen (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, im Folgenden: Urteil Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., EU:C:2021:393, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung). 33 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 26. November 2019 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, den in Rn. 30 des vorliegenden Urteils genannten Antrag der Kommission zurückzuweisen. 34 Auch wenn zunächst davon auszugehen ist, dass die mit der vorliegenden Klage aufgeworfenen Fragen, die sich auf grundlegende Bestimmungen des Unionsrechts beziehen, von überragender Bedeutung für das ordnungsgemäße Funktionieren des Gerichtssystems der Union sind, für das die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte wesentlich ist, eignete sich der sensible und komplexe Charakter dieser Fragen, die sich in den Rahmen umfangreicher Justizreformen in Polen einfügen, nämlich schwerlich für die Anwendung des beschleunigten Verfahrens (vgl. entsprechend Urteil Asociaţia “Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 105 und die dort angeführte Rechtsprechung). 35 In Anbetracht des Gegenstands der Klage und der Art der damit aufgeworfenen Fragen hat der Präsident des Gerichtshofs jedoch mit Entscheidung vom 26. November 2019 der vorliegenden Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung eine vorrangige Behandlung gewährt. 36 Mit gesondertem Schriftsatz, der am 23. Januar 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Kommission zudem einen Antrag auf einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV und Art. 160 Abs. 2 der Verfahrensordnung gestellt, mit denen der Republik Polen aufgegeben werden sollte, bis zum Erlass des Urteils in der Hauptsache – die Anwendung der Bestimmungen von Art. 3 Nr. 5, Art. 27 und Art. 73 § 1 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht, auf denen die Zuständigkeit der Disziplinarkammer beruht, sowohl im ersten als auch im zweiten Rechtszug in Disziplinarsachen gegen Richter zu entscheiden, auszusetzen, – es zu unterlassen, die bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren an einen Spruchkörper zu verweisen, der die insbesondere im Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, im Folgenden: Urteil A. K. u. a., EU:C:2019:982) definierten Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht erfüllt, und – der Kommission spätestens einen Monat nach Zustellung des Beschlusses des Gerichtshofs, mit dem die beantragten einstweiligen Anordnungen erlassen werden, alle Maßnahmen mitzuteilen, die sie getroffen hat, um diesem Beschluss in vollem Umfang nachzukommen. 37 Mit Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277), hat der Gerichtshof diesem Antrag bis zur Verkündung des das Verfahren in der vorliegenden Rechtssache beendenden Urteils stattgegeben. 38 Das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden sind durch Entscheidungen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 11., 19. und 20. Februar 2020 als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden. 39 Im Anschluss an das schriftliche Verfahren, in dem die Republik Polen eine Klagebeantwortung und anschließend als Entgegnung auf die Erwiderung der Kommission eine Gegenerwiderung sowie eine Antwort auf die Streithilfeschriftsätze der in der vorstehenden Randnummer genannten, als Streithelfer auftretenden fünf Mitgliedstaaten eingereicht hat, sind die Parteien in einer mündlichen Verhandlung angehört worden, die am 1. Dezember 2020 stattgefunden hat. Der Generalanwalt hat seine Schlussanträge am 6. Mai 2021 gestellt. Das mündliche Verfahren ist folglich an diesem Tag abgeschlossen worden. 40 Mit am 10. Juni 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenem Schriftsatz hat die Republik Polen die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt. Zur Begründung dieses Antrags führt sie im Wesentlichen aus, dass sie mit den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht einverstanden sei. Diese ließen zudem erkennen, dass die Umstände der vorliegenden Rechtssache nicht hinreichend geklärt worden seien. 41 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung des Gerichtshofs keine Möglichkeit für die Parteien vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Zum anderen stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Der Gerichtshof kann jedoch gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält. 44 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof allerdings nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er nach dem schriftlichen Verfahren und der mündlichen Verhandlung, die vor ihm stattgefunden hat, über alle entscheidungserheblichen Informationen verfügt. Aus diesen Gründen ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen. Zur Klage 45 Die Kommission stützt ihre Klage auf fünf Rügen, von denen die ersten vier Verstöße gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der fünfte einen Verstoß gegen Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV betreffen. Zu den ersten vier Rügen: Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Zur Anwendbarkeit und Tragweite von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Vorbringen der Parteien 46 Nach Ansicht der Kommission ist entgegen dem Vorbringen der Republik Polen in ihrer Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im vorliegenden Fall anwendbar. Diese Bestimmung verpflichte die Mitgliedstaaten nämlich, sicherzustellen, dass die nationalen Stellen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts über Fragen der Anwendung oder Auslegung dieses Rechts entscheiden könnten – was bei den polnischen Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit und dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) der Fall sei –, den Anforderungen zur Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes, zu denen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieser Stellen gehörten, genügten. 47 Diese Anforderungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzten u. a. voraus, dass es Vorschriften gebe, die es ermöglichten, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Stellen für Einflussnahmen von außen und an ihrer Neutralität in Bezug auf die einander gegenüberstehenden Interessen auszuräumen. Insoweit betreffe die Unabhängigkeit der Justiz nicht nur die Ausübung gerichtlicher Funktionen in bestimmten Rechtssachen, sondern auch die Gerichtsorganisation und die Frage, ob die betreffende Stelle die Gewähr für einen „Eindruck der Unabhängigkeit“ biete, der geeignet sei, das Vertrauen zu erhalten, das die Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft erwecken müssten. 48 Wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe, sei es zu diesem Zweck insbesondere erforderlich, dass die Disziplinarordnung für Richter die erforderliche Gewähr dafür biete, jegliche Gefahr zu vermeiden, dass sie als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt werde. Das verlange den Erlass von Vorschriften, die festlegten, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründeten und welche Sanktionen konkret anwendbar seien, die die Einschaltung einer unabhängigen Stelle gemäß einem Verfahren vorsähen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstelle, und die Möglichkeit festschrieben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten. 49 In ihrer Klagebeantwortung trägt die Republik Polen u. a. vor, dass die Art. 47 und 48 der Charta auf Disziplinarsachen, die nationale Richter beträfen, nicht anwendbar seien, da kein Fall der Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta vorliege. Insbesondere stelle Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV weder die Grundlage für Grundrechte der Verteidigung noch für den Anspruch auf rechtliches Gehör innerhalb einer angemessenen Frist dar. Die auf der Grundlage der von der Kommission beanstandeten Verfahrensvorschriften durchgeführten Disziplinarverfahren hätten rein internen Charakter, und die polnischen Behörden hätten bei der Festlegung dieser Verfahren keine vom Unionsrecht erfassten Bereiche im Sinne dieses Artikels in Verbindung mit Art. 5 EUV und den Art. 3 und 4 AEUV geregelt. – Würdigung durch den Gerichtshof 50 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Union aus Staaten besteht, die die in Art. 2 EUV genannten Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, diese achten und sich für deren Förderung einsetzen. Aus Art. 2 EUV geht insbesondere hervor, dass sich die Union auf Werte wie die Rechtsstaatlichkeit gründet, die allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft, die sich u. a. durch Gerechtigkeit auszeichnet, gemeinsam sind. Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und insbesondere ihren Gerichten beruht auf der grundlegenden Prämisse, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilen, auf die sich, wie es in diesem Artikel heißt, die Union gründet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531‚ Rn. 42 und 43 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 160 und die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Außerdem ist die Achtung der in Art. 2 EUV verankerten Werte durch einen Mitgliedstaat eine Voraussetzung für den Genuss aller Rechte, die sich aus der Anwendung der Verträge auf diesen Mitgliedstaat ergeben. Ein Mitgliedstaat darf daher seine Rechtsvorschriften nicht dergestalt ändern, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 EUV konkretisiert wird. Die Mitgliedstaaten müssen somit dafür Sorge tragen, dass sie jeden nach Maßgabe dieses Wertes eintretenden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Justiz vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden (Urteile vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 63 bis 65 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 162). 52 Nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist es Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 190 und die dort angeführte Rechtsprechung). 53 Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist außerdem darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 192 und die dort angeführte Rechtsprechung). 54 Somit hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV u. a. dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind und die somit möglicherweise in dieser Eigenschaft über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil vom2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, im Folgenden: Urteil A. B. u. a., EU:C:2021:153, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Es ist jedoch unstreitig, dass sowohl der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und insbesondere die zu ihm gehörende Disziplinarkammer als auch die polnischen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein können und dass sie als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind, so dass sie den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz gerecht werden müssen (vgl. Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 56, und vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 104). 56 Zwar fällt, worauf die Republik Polen hinweist, die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit, doch haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 102). 57 Da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist, ist letztere Bestimmung bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311‚ Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). Um sicherzustellen, dass Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, in der Lage sind, einen solchen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 194 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Die Anforderung der Unabhängigkeit der Gerichte, die dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311‚ Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 59 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt die nach dem Unionsrecht erforderliche Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311‚ Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Insoweit sind die betreffenden Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für den Status der Richter und die Ausübung ihres Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen, und damit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 197 und die dort angeführte Rechtsprechung). 61 Was im Einzelnen die Vorschriften der Disziplinarordnung für Richter betrifft, so verlangt die Anforderung der Unabhängigkeit, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, nach ständiger Rechtsprechung, dass die Disziplinarordnung die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass sie als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Insoweit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 198 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Nach alledem können die von der Kommission im Rahmen der ersten vier Rügen beanstandeten nationalen Disziplinarvorschriften Gegenstand einer Kontrolle anhand von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sein. Es ist daher zu prüfen, ob die von der Kommission behaupteten Verstöße gegen diese Vorschrift tatsächlich vorliegen. Zur zweiten Rüge – Vorbringen der Parteien 63 Mit ihrer zweiten Rüge, die zuerst zu prüfen ist, macht die Kommission einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geltend, da die Disziplinarkammer, die im ersten und im zweiten Rechtszug über Disziplinarsachen, die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beträfen, und, je nach Fall, entweder im zweiten Rechtszug oder im ersten und im zweiten Rechtszug über Disziplinarsachen, die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit beträfen, zu entscheiden habe, nicht die erforderliche Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit biete. 64 Zwar könne nicht schon das Tätigwerden eines Exekutivorgans bei der Ernennung von Richtern die richterliche Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit beeinträchtigen. Im vorliegenden Fall sei jedoch zu berücksichtigen, dass das Zusammentreffen und die gleichzeitige Einführung verschiedener Gesetzesreformen in Polen zu einem strukturellen Bruch geführt hätten, der es nicht mehr erlaube, den Eindruck der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz und das Vertrauen zu wahren, das die Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft schaffen müssten, und jeden berechtigten Zweifel der Rechtsunterworfenen an der Unempfänglichkeit der Disziplinarkammer für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen. 65 Dieser Bruch ergebe sich aus verschiedenen Faktoren, darunter dem Umstand, dass die Disziplinarkammer, die u. a. mit der richterlichen Zuständigkeit in Disziplinarsachen gegen Richter betraut sei, ganz neu geschaffen worden sei und ihr zugleich innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ein hohes Maß an organisatorischer und finanzieller Autonomie eingeräumt worden sei, über das die anderen Kammern dieses Gerichts nicht verfügten, sowie aus der Tatsache, dass ohne ersichtliche Rechtfertigung und als Ausnahme von der geltenden allgemeinen Regel vorgesehen worden sei, dass die in dieser neuen Kammer zu besetzenden Stellen nur durch Ernennung neuer Richter durch den Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS und nicht durch Versetzung bereits in anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) tätiger Richter besetzt werden könnten. 66 In diesem Zusammenhang sei auch von Bedeutung, dass die KRS unmittelbar vor der Ernennung dieser neuen Richter in der Disziplinarkammer durch Verkürzung der laufenden Amtszeiten ihrer Mitglieder vollständig neu besetzt worden sei, und zwar auf der Grundlage neuer Regeln für das Verfahren der Ernennung der 15 Mitglieder der KRS, die Richter seien, indem deren Wahl nicht mehr wie bisher durch die Richter selbst erfolge, sondern durch den Sejm. Infolge dieser Neuerungen würden nunmehr 23 der 25 Mitglieder der KRS von der Legislative oder der Exekutive ernannt oder verträten diese, was zu einer Politisierung der KRS und folglich zu einer Zunahme des Einflusses von Legislative und Exekutive auf das Verfahren zur Ernennung von Richtern der Disziplinarkammer führe, wie insbesondere sowohl die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht (sogenannte Venedig-Kommission) in ihrem Gutachten Nr. 904/2017 vom 11. Dezember 2017 (CDL[2017]031) als auch die Gruppe der Staaten gegen Korruption (GRECO) in ihrem Ad-hoc-Bericht vom 23. März 2018 über Polen festgestellt hätten. 67 In ihrer Klagebeantwortung trägt die Republik Polen vor, dass sowohl das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer, das im Übrigen dem Verfahren in anderen Mitgliedstaaten gleiche, als auch die anderen Garantien, die diesen Mitgliedern nach ihrer Ernennung zustünden, die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer gewährleisten könnten. 68 Die Voraussetzungen, die Bewerber für das Amt eines Richters am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erfüllen müssten, seien nämlich im nationalen Recht erschöpfend festgelegt. Das Ernennungsverfahren bestehe nach Veröffentlichung einer öffentlichen Ausschreibung aus einer von der KRS durchgeführten Auswahl, auf deren Grundlage die KRS einen Vorschlag zur Ernennung der ausgewählten Bewerber mache, der schließlich zum Ernennungsakt durch den Präsidenten der Republik führe, der nicht verpflichtet sei, dem Vorschlag der KRS zu folgen. 69 Außerdem unterscheide sich die neue Zusammensetzung der KRS kaum von der bei den Landesjustizräten, die in einigen anderen Mitgliedstaaten eingerichtet worden seien, und habe dazu beigetragen, die demokratische Legitimität dieser Einrichtung zu stärken und zu gewährleisten, dass die polnischen Richter darin besser repräsentiert würden. 70 Schließlich ergebe sich die Unabhängigkeit der Richter der Disziplinarkammer nach ihrer Ernennung aus einem ausgeklügelten System von Garantien, die u. a. die unbefristete Dauer ihrer Amtszeit, ihre Unabsetzbarkeit, ihre Immunität, ihre Verpflichtung, unpolitisch zu bleiben, sowie verschiedene berufliche Unvereinbarkeiten und eine besonders hohe Vergütung beträfen. Das hohe Maß an Verwaltungs‑, Finanz- und Rechtsprechungsautonomie der Disziplinarkammer könne die Unabhängigkeit dieser Einrichtung stärken, indem es ihre Mitglieder vor den Risiken schütze, die mit einer strukturellen Unterordnung oder Kollegialität verbunden seien, wenn sie im Disziplinarverfahren gegen Richter der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu entscheiden hätten. 71 Die Unabhängigkeit der Disziplinarkammer von der polnischen Exekutive spiegele sich darüber hinaus auch in den Entscheidungen dieser Kammer wider. Aus diesen gehe z. B. hervor, dass von 18 Beschwerden des Justizministers gegen Richter betreffende Urteile erstinstanzlicher Disziplinargerichte in sieben Fällen die angefochtenen Urteile bestätigt worden seien, in fünf Fällen Urteile durch die Verhängung strengerer Disziplinarstrafen abgeändert worden seien, in zwei Fällen die Disziplinarkammer Freisprüche aufgehoben und Disziplinarstrafen verhängt habe, sie in zwei weiteren Fällen Freisprüche aufgehoben, die Begehung der Straftat bestätigt und auf die Verhängung einer Sanktion verzichtet habe, in einem Fall das Urteil aufgehoben und das Disziplinarverfahren wegen des Todes des betreffenden Richters eingestellt worden sei und die Disziplinarkammer in einem weiteren Fall das betreffende Urteil aufgehoben und auf die Verhängung einer Sanktion verzichtet habe, nachdem sie das betreffende Vergehen neu als geringfügiges Disziplinarvergehen gewertet habe. 72 In ihrer Erwiderung macht die Kommission geltend, dass das nach Erhebung der vorliegenden Klage ergangene Urteil A. K. u. a. inzwischen die Begründetheit der vorliegenden Rüge bestätigt habe. 73 Gleiches gelte für das Urteil vom 5. Dezember 2019 (III PO 7/18) und die Beschlüsse vom 15. Januar 2020 (III PO 8/18 und III PO 9/18), mit denen der Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen], Polen), der das vorlegende Gericht in den Rechtssachen gewesen sei, in denen das Urteil A. K. u. a. ergangen sei, auf der Grundlage der Erkenntnisse aus diesem Urteil entschieden habe, dass die KRS in ihrer derzeitigen Zusammensetzung kein unparteiisches, von der polnischen Legislative und Exekutive unabhängiges Organ sei und dass die Disziplinarkammer kein „Gericht“ im Sinne von Art. 47 der Charta, Art. 6 EMRK und Art. 45 Abs. 1 der Verfassung sei. In diesen Entscheidungen habe der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) neben den bereits in Rn. 65 des vorliegenden Urteils genannten Faktoren u. a. darauf verwiesen, dass erstens der Disziplinarkammer auch eine ausschließliche Zuständigkeit für Rechtssachen in Bezug auf die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in den Bereichen Arbeits- und Sozialversicherungsrecht sowie Versetzung in den Ruhestand übertragen worden sei, also alles Angelegenheiten, die zuvor in die Zuständigkeit der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit gefallen seien, dass zweitens während des Ernennungsverfahrens der betreffenden Richter die Möglichkeiten eines erfolglosen Kandidaten, die Beschlüsse der KRS anzufechten, infolge verschiedener nachfolgender Änderungen des KRS-Gesetzes erheblich eingeschränkt worden seien, dass drittens die als Richter in der Disziplinarkammer berufenen Personen sehr ausgeprägte Verbindungen zur polnischen Legislative oder Exekutive gehabt hätten und dass viertens die Disziplinarkammer seit ihrer Einrichtung insbesondere darauf hingewirkt habe, dass die dem Gerichtshof in den Rechtssachen, in denen das Urteil A. K. u. a. ergangen sei, vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen zurückgezogen würden. 74 Die in den genannten Entscheidungen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) getroffenen Feststellungen seien später in einer Entschließung vom 23. Januar 2020 mit Wirkung eines Rechtsgrundsatzes wiederholt worden, die der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in der Zusammensetzung der Kammern für Zivil‑, Straf- sowie Arbeits- und Sozialversicherungssachen erlassen habe. 75 Außerdem befänden sich Richter der Disziplinarkammer gegenüber den Richtern der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in einer privilegierten Stellung. Dem Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 5. Dezember 2019 (III PO 7/18) lasse sich nämlich auch entnehmen, dass die Arbeitsbelastung der Disziplinarkammer erheblich geringer sei als die der anderen Kammern dieses Gerichts, obwohl die Mitglieder der Disziplinarkammer, wie die Republik Polen in ihrer Klagebeantwortung ausgeführt habe, eine Vergütung erhielten, die um etwa 40 % höher sei als die der Richter der anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht). 76 Was die von der Republik Polen angeführten Garantien angehe, die die Richter der Disziplinarkammer nach ihrer Ernennung angeblich schützten, so ergebe sich aus den Erkenntnissen aus dem Urteil A. K. u. a., dass es unabhängig vom Bestehen dieser Garantien erforderlich bleibe, sich durch eine Gesamtbetrachtung der nationalen Bestimmungen über die Schaffung der betreffenden Einrichtung, insbesondere diejenigen über die ihr übertragenen Zuständigkeiten, ihre Zusammensetzung und die Verfahren zur Ernennung der Richter, die in ihr tätig sein sollten, zu vergewissern, dass diese verschiedenen Faktoren bei den Rechtsunterworfenen, seien die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen ließen. 77 In ihrer Gegenerwiderung macht die Republik Polen geltend, aus der Klageschrift der Kommission gehe hervor, dass sich deren zweite Rüge auf eine rechtliche Würdigung der nationalen Bestimmungen, die Gegenstand der vorliegenden Klage seien, und nicht auf die Feststellung von Tatsachen beziehe. Die Parameter im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer, die nach dem Urteil A. K. u. a. vom vorlegenden Gericht in den Ausgangsverfahren, in denen jenes Urteil ergangen sei, zu prüfen seien, hätten aber keinen Bezug zur Beurteilung der abstrakten Vereinbarkeit dieser nationalen Bestimmungen mit dem Unionsrecht, sondern gehörten zum Sachverhalt. Daher seien die Entscheidungen, die der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) im Anschluss an das Urteil A. K. u. a. erlassen habe, für die Beurteilung der diesem Mitgliedstaat im Rahmen der vorliegenden Klage vorgeworfenen Vertragsverletzung unerheblich. Die Entschließung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 23. Januar 2020 betreffe nicht die Zuständigkeit der Disziplinarkammer und sei zudem vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) mit Urteil vom 20. April 2020 für verfassungswidrig erklärt worden. 78 Schließlich legt die Republik Polen als Anlage zu ihrer Gegenerwiderung Unterlagen vor, die insgesamt etwa 2300 Seiten umfassen und einen vollständigen Überblick über die Entscheidungen der Disziplinarkammer geben sollen. Diese bestärkten sie in ihrer Überzeugung, dass die Disziplinarkammer in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit entscheide. Aus einer ebenfalls diesem Schriftsatz beigefügten vergleichenden Übersicht über die Entscheidungen, die in den Disziplinarverfahren ergangen seien, die auf Beschwerde des Justizministers in den Jahren 2017 bis 2019 eröffnet worden seien, ergebe sich, dass die Strafkammer des Obersten Gerichts in den Jahren 2017 und 2018 sechs von 14 Beschwerden des Justizministers stattgegeben habe und die Disziplinarkammer in den Jahren 2018 und 201917 von 44, was vergleichbare Proportionen zeige. 79 Das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden sind der Ansicht, dass sich u. a. aus dem Urteil A. K. u. a. ergebe, dass die Disziplinarkammer die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an ihre Unparteilichkeit und Unabhängigkeit nicht erfülle. Nach Ansicht des Königreichs Belgien kann sich diese Schlussfolgerung außerdem auf verschiedene Instrumente stützen, die im Rahmen internationaler Gremien erlassen worden seien, wie z. B. die Europäische Charta über das Richterstatut und die Stellungnahme Nr. 977/2019 der Venedig-Kommission vom 16. Januar 2020 über die Änderungen, die am 20. Dezember 2019 u. a. am Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit und am neuen Gesetz über das Oberste Gericht vorgenommen worden seien. – Würdigung durch den Gerichtshof 80 Wie sich aus der in Rn. 61 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, ist es nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Sache jedes Mitgliedstaats, dafür zu sorgen, dass die Disziplinarordnung für Richter der nationalen Gerichte, die Bestandteil ihrer Rechtsbehelfssysteme in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gerecht wird, indem sie insbesondere gewährleistet, dass die im Rahmen von Disziplinarverfahren gegen Richter dieser Gerichte erlassenen Entscheidungen von einer Einrichtung überprüft werden, die ihrerseits die Garantien eines wirksamen Rechtsschutzes erfüllt, zu denen die Unabhängigkeit zählt (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 35). 81 Aus Art. 27 § 1, Art. 73 § 1 und Art. 97 § 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht sowie aus Art. 110 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit geht hervor, dass Disziplinarentscheidungen gegen polnische Richter nunmehr in die Zuständigkeit der Disziplinarkammer fallen, die mit dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht eingerichtet wurde. Diese Kammer entscheidet im ersten und im zweiten Rechtszug in Disziplinarsachen, die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) betreffen, und, je nach Fall, entweder im zweiten Rechtszug oder im ersten und im zweiten Rechtszug in Disziplinarsachen, die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffen. Aus den in der vorstehenden Randnummer angeführten Grundsätzen ergibt sich somit, dass eine Einrichtung wie die Disziplinarkammer nach dem Unionsrecht, insbesondere nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, jede Gewähr für ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bieten muss. 82 Wie der Gerichtshof insoweit bereits entschieden hat, kann die bloße Aussicht für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Gefahr zu laufen, in einem Disziplinarverfahren belangt zu werden, das zur Anrufung einer Einrichtung führen kann, deren Unabhängigkeit nicht gewährleistet wäre, deren eigene Unabhängigkeit beeinträchtigen (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 90). 83 Insoweit ist insbesondere zu berücksichtigen, dass Disziplinarmaßnahmen schwerwiegende Auswirkungen auf das Leben und die Laufbahn der mit einer Sanktion belegten Richter haben können. Wie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hat, muss die ausgeübte gerichtliche Kontrolle dem Disziplinarcharakter der in Rede stehenden Entscheidungen angepasst sein. Leite ein Mitgliedstaat ein solches Disziplinarverfahren ein, stehe nämlich das öffentliche Vertrauen in die Arbeitsweise und Unabhängigkeit der Justiz auf dem Spiel; in einem demokratischen Staat sei dieses Vertrauen Garant für Rechtsstaatlichkeit (vgl. in diesem Sinne EGMR, 6. November 2018, Ramos Nunes de Carvalho e Sá/Portugal, CE:ECHR:2018:1106JUD005539113, § 196, sowie 9. März 2021, Eminağaoğlu/Türkei, CE:ECHR:2021:0309JUD007652112, § 97). 84 Mit ihrer zweiten Rüge macht die Kommission im Wesentlichen geltend, dass die Disziplinarkammer in Anbetracht des besonderen Kontexts, in dem sie geschaffen worden sei, bestimmter Merkmale, die sie aufweise, und des Verfahrens, das zur Ernennung der in ihr tätigen Richter geführt habe, nicht den in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV aufgestellten Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genüge. 85 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, wie die Kommission und die Streithelfer ausgeführt haben, bereits in seinem Urteil A. K. u. a. ein Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen]) zu prüfen hatte, das u. a. die Frage betraf, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass eine Einrichtung wie die Disziplinarkammer den insbesondere in Art. 47 der Charta aufgestellten Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genügt. 86 Wie sich aus dem Tenor des Urteils A. K. u. a. ergibt, hat der Gerichtshof insoweit entschieden, dass eine Einrichtung kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn die objektiven Bedingungen, unter denen die Einrichtung geschaffen wurde, ihre Merkmale sowie die Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen. Solche Zweifel können daher dazu führen, dass die Einrichtung nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. 87 Wie aus den Rn. 52 und 57 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ist Art. 47 der Charta bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen. 88 Zur Klärung der Frage, ob die Disziplinarkammer als die Einrichtung, die für die Kontrolle der Entscheidungen in Disziplinarverfahren gegen Richter zuständig ist, die in die Lage kommen können, das Unionsrecht auslegen und anwenden zu müssen, die unionsrechtliche Anforderung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllt, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass – wie die Kommission geltend gemacht hat – die Schaffung dieser Kammer durch das neue Gesetz über das Oberste Gericht im allgemeineren Kontext größerer Reformen der Justizorganisation in Polen erfolgt ist. Zu diesen Reformen gehören insbesondere auch diejenigen, die sich aus der Verabschiedung des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht sowie aus den Änderungen des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und des Gesetzes über die KRS ergeben. 89 In diesem Zusammenhang ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission vorgetragen hat, der ganz neu geschaffenen Disziplinarkammer gemäß Art. 27, Art. 73 § 1, Art. 97 § 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 110 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit eigens eine ausschließliche Zuständigkeit sowohl für die Entscheidung über Disziplinarsachen als auch für die Entscheidung über arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten sowie Ruhestandsangelegenheiten, die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) betreffen, sowie die Zuständigkeit für die Entscheidung über Disziplinarsachen, die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffen, je nach Fall, entweder im zweiten Rechtszug oder im ersten und im zweiten Rechtszug eingeräumt wurde. 90 Wie der Gerichtshof bereits in den Rn. 148 und 149 des Urteils A. K. u. a. in Bezug auf Rechtssachen betreffend die Versetzung der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in den Ruhestand festgestellt hat, erfolgte die Übertragung dieser Zuständigkeit an die Disziplinarkammer u. a. parallel zum Erlass von Bestimmungen des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht, mit denen das Ruhestandsalter für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) herabgesetzt und diese Maßnahme auf die amtierenden Richter dieses Gerichts angewandt wurde und zugleich dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen wurde, den aktiven Dienst dieser Richter über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern. In seinem Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531), hat der Gerichtshof insoweit entschieden, dass die Republik Polen durch den Erlass dieser nationalen Bestimmungen die Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beeinträchtigt und gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat. 91 Zweitens ist festzustellen, dass, wie die Kommission vorgetragen und auch der Gerichtshof in Rn. 151 des Urteils A. K. u. a. ausgeführt hat, aus der durch das neue Gesetz über das Oberste Gericht eingeführten Regelung, insbesondere aus den Art. 6, 7 und 20 dieses Gesetzes, hervorgeht, dass die Disziplinarkammer, obwohl sie formal als Kammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingerichtet wurde, innerhalb dieses Gerichts im Vergleich zu dessen anderen Kammern über eine besonders weitgehende organisatorische, funktionelle und finanzielle Autonomie verfügt. 92 Insoweit kann das Vorbringen der Republik Polen, dass es im vorliegenden Fall nur darum gehe, die Unabhängigkeit der Richter der Disziplinarkammer zu stärken, indem sie vor Risiken geschützt würden, die mit einer strukturellen Unterordnung oder Kollegialität verbunden seien, insbesondere deshalb keinen Erfolg haben, weil die Richter, die der Disziplinarkammer angehören, selbst Parteien von disziplinarrechtlichen, arbeitsrechtlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Streitigkeiten oder Streitigkeiten über die Versetzung in den Ruhestand sein können, und weil es der polnische Gesetzgeber nicht für notwendig gehalten hat, die Zuständigkeit für die Entscheidung über solche Streitigkeiten einer anderen Kammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu übertragen. 93 Drittens ist zu dem Umstand, dass die Richter, die der Disziplinarkammer angehören, Anspruch auf eine etwa 40 % höhere Vergütung haben als die Richter, die den anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) angehören, anzumerken, dass nach den Ausführungen der Republik Polen in ihren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung die erheblich höhere Vergütung ausschließlich durch das Bestehen einer Unvereinbarkeitsklausel gerechtfertigt ist, die speziell für Richter der Disziplinarkammer gelte und diese an der Wahrnehmung akademischer Aufgaben hindere. Den Betroffenen stehe es jedoch ungeachtet dieser Unvereinbarkeitsklausel weiterhin frei, sich für solche akademischen Aufgaben zu entscheiden, sofern diese nicht der Würde des Richteramts zuwiderliefen, und sie in diesem Fall auf die höhere Vergütung verzichteten. Es ist festzustellen, dass diese Ausführungen es insbesondere nicht erlauben, die objektiven Gründe nachzuvollziehen, aus denen den Richtern, die den anderen Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) angehören, nicht dieselbe Wahl zwischen der Ausübung akademischer Tätigkeiten und der erheblich höheren Vergütung gelassen wird. 94 Viertens ist der von der Kommission angeführte und vom Gerichtshof schon in Rn. 150 des Urteils A. K. u. a. angeführte Umstand hervorzuheben, dass nach Art. 131 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht die mit den in Rn. 89 des vorliegenden Urteils genannten Zuständigkeiten betraute Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) bei ihrer erstmaligen Einrichtung nur aus neuen Richtern bestehen durfte, die vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS ernannt wurden. Es bestand also keine Möglichkeit der Versetzung bereits beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) tätiger Richter in diese Kammer, obwohl solche Versetzungen von Richtern von einer Kammer in eine andere Kammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nach diesem Gesetz grundsätzlich zulässig sind. Überdies wurde die KRS, bevor diese Ernennungen vorgenommen wurden, vollständig neu gebildet. 95 Wie sich aus der in Rn. 59 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung ergibt, setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien zur Gewährleistung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit von Richtern insbesondere voraus, dass es Regeln für deren Ernennung gibt (vgl. in diesem Sinne Urteil A. B. u. a., Rn. 117 und 121). Desgleichen lässt sich der in Rn. 56 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs entnehmen, dass die Mitgliedstaaten bei Ausübung ihrer Befugnisse, nicht zuletzt der Befugnis zum Erlass nationaler Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung von Richtern, die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht, namentlich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile A. B. u. a., Rn. 68 und 79, sowie vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 48). 96 Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 97 Was speziell die Bedingungen betrifft, unter denen die Entscheidungen über die Ernennung von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und vor allem der Disziplinarkammer ergehen, hat der Gerichtshof zwar bereits klarstellen können, dass der bloße Umstand, dass die betreffenden Richter vom Präsidenten eines Mitgliedstaats ernannt werden, keine Abhängigkeit dieser Richter von ihm schaffen oder Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen lassen kann, wenn sie nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt sind und bei der Ausübung ihres Amtes keinen Weisungen unterliegen (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). 98 Der Gerichtshof hat jedoch klargestellt, dass weiterhin sicherzustellen ist, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Ernennungsentscheidungen so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, sind die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen, und dass diese Bedingungen und Modalitäten es insbesondere ermöglichen müssen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 55 und 57 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 99 Unter Hinweis darauf, dass die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gemäß Art. 179 der Verfassung vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS ernannt werden, die gemäß Art. 186 der Verfassung die Aufgabe hat, über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu wachen, hat der Gerichtshof in Rn. 137 des Urteils A. K. u. a. sowie in Rn. 124 des Urteils A. B. u. a. festgestellt, dass die Einschaltung einer solchen Einrichtung im Verfahren zur Ernennung von Richtern grundsätzlich zur Objektivierung dieses Verfahrens beitragen kann, indem es den Handlungsspielraum des Präsidenten der Republik bei der Ausübung der ihm übertragenen Befugnisse einschränkt. 100 In Rn. 138 des Urteils A. K. u. a. sowie in Rn. 125 des Urteils A. B. u. a. hat der Gerichtshof jedoch entschieden, dass dies u. a. nur insoweit gilt, als diese Einrichtung selbst von der Legislative und der Exekutive sowie dem Organ, dem es einen solchen Ernennungsvorschlag übermitteln soll, hinreichend unabhängig ist. 101 Insoweit ist festzustellen, dass nach Art. 179 der Verfassung die Handlung, mit der die KRS einen Kandidaten für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorschlägt, eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass dieser Kandidat vom Präsidenten der Republik in ein solches Amt ernannt werden kann. Die Rolle der KRS in diesem Ernennungsverfahren ist daher maßgeblich (vgl. in diesem Sinne Urteil A. B. u. a., Rn. 126). 102 In einem solchen Kontext kann der Grad der Unabhängigkeit von der polnischen Legislative und Exekutive, über den die KRS bei der Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgaben verfügt, von Bedeutung sein, wenn es um die Beurteilung geht, ob die von ihr ausgewählten Richter selbst die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllen können (vgl. in diesem Sinne Urteile A. K. u. a., Rn. 139, sowie A. B. u. a., Rn. 127). 103 Zwar hat der Gerichtshof, wie die Republik Polen geltend gemacht hat, bereits entschieden, dass der Umstand, dass eine Einrichtung wie ein Landesjustizrat, der in das Verfahren zur Ernennung von Richtern eingebunden ist, überwiegend aus Mitgliedern besteht, die von der Legislative ausgewählt werden, für sich genommen nicht zu Zweifeln an der Unabhängigkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2020, Land Hessen, C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 55 und 56). Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere aus den Urteilen A. K. u. a. und A. B. u. a. ergibt sich jedoch auch, dass etwas anderes gelten kann, wenn derselbe Umstand in Verbindung mit anderen relevanten Gesichtspunkten und den Bedingungen, unter denen diese Entscheidungen getroffen wurden, zu solchen Zweifeln führt. 104 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission vorgetragen hat, die 15 Mitglieder der KRS, die aus den Reihen der Richter gewählt werden, früher von ihren Amtskollegen gewählt wurden. Das KRS-Gesetz wurde aber kürzlich geändert, so dass diese 15 Mitglieder, wie sich aus Art. 9a des KRS-Gesetzes ergibt, nunmehr von einem Teil der polnischen Legislative benannt werden, was zur Folge hat, dass 23 der 25 Mitglieder der KRS in dieser neuen Zusammensetzung von der polnischen Exekutive und Legislative benannt wurden oder ihnen angehören. Solche Änderungen bergen die – im Rahmen des bisher geltenden Wahlverfahrens nicht vorhandene – Gefahr eines größeren Einflusses der Legislative und Exekutive auf die KRS und einer Beeinträchtigung der Unabhängigkeit dieser Einrichtung. 105 Zweitens ergibt sich, worauf auch die Kommission hingewiesen hat, aus Art. 6 des Gesetzes vom 8. Dezember 2017, der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils wiedergegeben ist, dass die neu zusammengesetzte KRS unter Verkürzung der laufenden, in Art. 187 Abs. 3 der Verfassung vorgesehenen vierjährigen Amtszeit der bisherigen Mitglieder der KRS eingerichtet wurde. 106 Drittens ist die Gesetzesreform, mit der die KRS in dieser neuen Zusammensetzung geschaffen wurde, gleichzeitig mit dem Erlass des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht erfolgt, mit dem der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erheblich reformiert wurde. Die Reform betraf u. a. die Schaffung von zwei neuen Kammern in diesem Gericht, darunter die Disziplinarkammer, und die Einführung der in Rn. 90 des vorliegenden Urteils bereits erwähnten Regelung, die inzwischen für unvereinbar mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV befunden wurde und die eine Herabsetzung des Ruhestandsalters der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie eine Anwendung dieser Maßnahme auf die amtierenden Richter dieses Gerichts vorsah. 107 Es steht daher fest, dass die vorzeitige Beendigung der Amtszeit einiger zu dem Zeitpunkt noch amtierender Mitglieder der KRS und die Umbildung der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung in einem Kontext erfolgt sind, in dem erwartet wurde, dass in Kürze zahlreiche Stellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), insbesondere in der Disziplinarkammer, zu besetzen sein würden, wie der Gerichtshof in den Rn. 22 bis 27 des Beschlusses vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021, in Rn. 86 des Urteils vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, und in Rn. 134 des Urteils A. B. u. a. im Wesentlichen bereits entschieden hat. 108 Die in den Rn. 104 bis 107 des vorliegenden Urteils angeführten Gesichtspunkte können berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der KRS und ihrer Rolle in einem Ernennungsverfahren wie dem, das zur Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer geführt hat, aufkommen lassen. 109 Ferner geht aus den Rn. 89 bis 94 des vorliegenden Urteils zum einen hervor, dass dieses Ernennungsverfahren auf die Bewerber für eine Stelle als Mitglied einer Gerichtskammer Anwendung findet, die neu geschaffen wurde, um vor allem über Disziplinarverfahren gegen nationale Richter und über Fragen im Zusammenhang mit der Reform der Bestimmungen über den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu entscheiden. Einige Aspekte dieser Reform haben bereits zur Feststellung eines Verstoßes der Republik Polen gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV geführt. Zum anderen sollte die Disziplinarkammer ausschließlich mit neuen Richtern besetzt werden, die nicht bereits am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) tätig waren und im Vergleich zu den Bedingungen in den anderen Gerichtskammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eine deutlich höhere Vergütung sowie ein besonders hohes Maß an organisatorischer, funktioneller und finanzieller Autonomie genießen. 110 Bei einer Gesamtbetrachtung, die auch die wichtige Rolle einschließt, die von der KRS bei der Ernennung der Mitglieder der Disziplinarkammer gespielt wird, d. h., wie sich aus Rn. 108 des vorliegenden Urteils ergibt, einer Einrichtung, deren Unabhängigkeit von der Politik zweifelhaft ist, sind die genannten Gesichtspunkte geeignet, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer aufkommen zu lassen. 111 Zu den in den Rn. 71 und 78 des vorliegenden Urteils angeführten Daten zur Rechtsprechung der Disziplinarkammer genügt der Hinweis, dass, abgesehen davon, dass die Statistiken in Rn. 71 eher davon zeugen, dass die Disziplinarkammer in den meisten Fällen, in denen sie mit einer Beschwerde des Justizministers gegen eine Entscheidung eines erstinstanzlichen Disziplinargerichts befasst war, die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der betreffenden Richter aufrechterhalten oder verschärft hat, sich die zweite Rüge der Kommission, wie die Kommission hervorgehoben hat, jedenfalls nicht auf die konkrete richterliche Tätigkeit der Disziplinarkammer und der ihr angehörenden Richter bezieht, sondern vielmehr darauf, dass die Disziplinarkammer im Sinne der in Rn. 86 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein. Folglich können weder die von der Republik Polen in ihrer Klagebeantwortung und Gegenerwiderung angeführten Statistiken noch ganz allgemein die der Disziplinarkammer zugeschriebenen etwa 2300 Seiten an Entscheidungen, die die Republik Polen zur Stützung ihrer Gegenerwiderung vorgelegt hat, wobei sie sich darauf beschränkt hat, allgemein zu behaupten, dass diese Entscheidungen nicht geeignet seien, Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer zu wecken, die Begründetheit der vorliegenden Rüge in Frage stellen. 112 In Anbetracht aller Erwägungen in den Rn. 89 bis 110 des vorliegenden Urteils ist somit festzustellen, dass eine Gesamtschau des besonderen Kontexts und der objektiven Bedingungen, unter denen die Disziplinarkammer geschaffen wurde, ihrer Merkmale sowie der Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an ihrer Unempfänglichkeit für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen kann, dass sie nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. Eine solche Entwicklung stellt einen Rückschritt beim Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit im Sinne der in Rn. 51 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsprechung des Gerichtshofs dar. 113 Daraus folgt insbesondere, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie nicht die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer gewährleistet, die im ersten und im zweiten Rechtszug über Disziplinarsachen, die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) betreffen, und, je nach Fall, entweder im zweiten Rechtszug oder im ersten und im zweiten Rechtszug über Disziplinarsachen, die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffen, zu entscheiden hat, und dass sie dadurch die Unabhängigkeit dieser Richter beeinträchtigt, noch dazu um den Preis eines Rückschritts beim Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit in der Republik Polen im Sinne der in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs. 114 Die zweite Rüge greift daher durch. Zur ersten Rüge – Vorbringen der Parteien 115 Mit ihrer ersten Rüge, die als Zweites zu prüfen ist, macht die Kommission geltend, Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht verstießen gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, da diese nationalen Bestimmungen es zuließen, unter Verstoß gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit wegen des Inhalts ihrer Gerichtsentscheidungen disziplinarisch zu belangen und so die für sie geltende Disziplinarordnung dafür zu verwenden, eine politische Kontrolle über ihre richterliche Tätigkeit auszuüben. 116 Zum einen definiere nämlich Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit das Disziplinarvergehen so, dass es u. a. die Fälle einer „offensichtlichen und groben Missachtung von Rechtsvorschriften“ erfasse. Dieser Wortlaut lasse eine Auslegung zu, wonach sich die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern auf ihre Rechtsprechungstätigkeit erstrecke. 117 Dies werde im Übrigen durch die Auslegungspraxis bestätigt, die der Disziplinarbeauftragte, der mit den Verfahren gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit befasst sei, und seine Stellvertreter (im Folgenden zusammen: Disziplinarbeauftragter) in jüngster Zeit entwickelt hätten. Der Disziplinarbeauftragte habe nämlich insbesondere gegen drei Richter im Zusammenhang mit den Vorabentscheidungsersuchen, mit denen diese den Gerichtshof in den Rechtssachen angerufen hätten, in denen das Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234), und der Beschluss vom 6. Oktober 2020, Prokuratura Rejonowa w Słubicach (C‑623/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:800), ergangen seien, Ermittlungen aufgenommen und ihnen mit Schreiben vom 29. November 2018 aufgegeben, eine schriftliche Erklärung zu einer möglichen Überschreitung der richterlichen Entscheidungsbefugnisse im Zusammenhang mit diesen Ersuchen abzugeben. In einem Schreiben vom 4. Januar 2019 führte er dazu aus, dass er „es für [seine] Pflicht [hält], zu prüfen, ob die Vorlage von Fragen zur Vorabentscheidung unter Verstoß gegen die in Art. 267 AEUV klar definierten Voraussetzungen … ein Disziplinarvergehen darstellen kann“. 118 Ebenso habe der Disziplinarbeauftragte, nachdem der Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau, Polen) in den verbundenen Rechtssachen C‑748/19 bis C‑754/19 den Gerichtshof um Vorabentscheidung über die Anforderungen an die Unabhängigkeit des Spruchkörpers ersucht habe, dem ein Richter angehöre, der aufgrund einer Entscheidung des Justizministers zu diesem Gericht abgeordnet worden sei, mit Mitteilung vom 3. September 2019 darüber informiert, dass Beweiserhebungsmaßnahmen ergriffen worden seien, um zu klären, ob das Verhalten der Richterin, die diesem Spruchkörper vorsitze und die Vorabentscheidungsersuchen verfasst habe, ein Disziplinarvergehen darstellen könne. 119 Zum anderen ermächtige Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), einschließlich seiner Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, wenn bei ihr ein außerordentlicher Rechtsbehelf anhängig sei, im Fall eines „offensichtlichen Verstoßes gegen Vorschriften“ eine „Fehlerfeststellung“ an das betreffende Gericht zu richten und gemäß Art. 110 § 1 Buchst. b des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bei der Disziplinarkammer disziplinarrechtliche Ermittlungen gegen die betreffenden Richter zu beantragen. Der Begriff „offensichtlicher Verstoß gegen Vorschriften“ lasse ebenfalls eine Auslegung zu, wonach sich die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der Richter auf ihre Rechtsprechungstätigkeit erstrecke. 120 In ihrer Klagebeantwortung macht die Republik Polen geltend, dass die Definition des Disziplinarvergehens in Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit keine politische Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen ermögliche. Die Kommission habe insoweit nicht die gefestigte enge Auslegung dieser Bestimmung durch den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) berücksichtigt. Aus der ständigen Rechtsprechung dieses Gerichts ergebe sich nämlich, dass ein Disziplinarvergehen nicht auf einem gewöhnlichen Fehler bei der Auslegung oder Anwendung des Rechts in einer Gerichtsentscheidung beruhen könne, sondern nur auf einer „offensichtlichen und groben“ Missachtung von Rechtsvorschriften, d. h. grundsätzlich auf Verstößen gegen Verfahrensvorschriften, die nicht unmittelbar mit der Entscheidung selbst in Verbindung stünden, für jedermann von vornherein erkennbar seien und erhebliche nachteilige Folgen für die Interessen der Parteien, für andere Einzelne oder für die Rechtspflege gehabt hätten. 121 Es sei gerechtfertigt, solche Verhaltensweisen, die auf Böswilligkeit oder tiefgreifende Unkenntnis eines Richters zurückzuführen seien, als Disziplinarvergehen einzustufen, um den wirksamen Rechtsschutz der Einzelnen zu gewährleisten und das Bild der Justiz als gerecht zu wahren. Auf solche Fälle beschränkt könne die Aussicht auf etwaige Disziplinarverfahren die Unabhängigkeit der Justiz nicht beeinträchtigen. 122 Somit sei die bloße Befürchtung, dass die in Rede stehende nationale Bestimmung anders ausgelegt werden könne, als es der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in ständiger Rechtsprechung getan habe, realitätsfremd und rein hypothetisch. Der Disziplinarbeauftragte sei nur ein Untersuchungs- und Verfolgungsorgan, dessen Einschätzungen für die Disziplinargerichte nicht bindend seien. 123 Dieselben Erwägungen müssten für Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht gelten. 124 In ihrer Erwiderung macht die Kommission geltend, das Vorbringen der Republik Polen stelle nicht in Frage, dass die in den Rn. 116 und 119 des vorliegenden Urteils genannten Begriffe dahin ausgelegt werden könnten, dass sie den Inhalt von Gerichtsentscheidungen beträfen, was im Übrigen durch nach Erhebung der vorliegenden Klage eingeleitete Disziplinarverfahren weiterhin bestätigt werde. 125 So habe der Disziplinarbeauftragte am 6. Dezember 2019 gegen die Richterin, von der in Rn. 118 des vorliegenden Urteils die Rede sei, ein Disziplinarverfahren eingeleitet und in einer Mitteilung ausgeführt, dass sich diese Richterin „über die Beratung des Spruchkörpers hinweggesetzt und ihre persönlichen Standpunkte zum Vorliegen weiterer Gründe für die Verschiebung der mündlichen Verhandlung dargelegt [hat]; sie hat diesen Spruchkörper öffentlich angegriffen, der nach Maßgabe der geltenden Regelung zur Entscheidung über diese Rechtssache eingerichtet wurde, indem sie die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des betreffenden Richters, der Mitglied dieses Spruchkörpers ist, in Zweifel gezogen und ihm das Recht abgesprochen hat, dem Spruchkörper anzugehören“. Zudem habe sie „ihre Befugnisse überschritten, indem sie während der Vertagung des Berufungsverfahrens rechtswidrig und ohne Rücksprache mit den beiden anderen ordnungsgemäß ernannten Mitgliedern des Spruchkörpers den Vorlagebeschluss erlassen hat“. 126 Die Disziplinarkammer, von der nunmehr die Auslegung der in den Rn. 116 und 119 des vorliegenden Urteils genannten Begriffe gänzlich abhänge, habe einer Entscheidung vom 4. Februar 2020 (II DO 1/20) zufolge, die die Kommission vorgelegt habe, einen Richter des Sąd Rejonowy w Olsztynie (Rayongericht Olsztyn, Polen) vom Dienst suspendiert, gegen den u. a. deshalb ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden sei, weil er, wie sich aus einer Mitteilung des Disziplinarbeauftragten vom 29. November 2019 ergebe, bei der Prüfung eines Rechtsmittels „eine Entscheidung ohne rechtliche Grundlage erlassen [hat]“, mit der der Sejm aufgefordert worden sei, Listen von Bürgern und Richtern vorzulegen, die Bewerbungen für die Mitgliedschaft in der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung unterstützt hätten. 127 In der Begründung dieser Entscheidung habe die Disziplinarkammer u. a. ausgeführt, dass, „… wenn die Autorität des Gerichts oder wesentliche dienstliche Interessen es aufgrund der Art der Handlung des Richters erfordern, dass der Richter unverzüglich von seinen Dienstpflichten befreit wird, … der Präsident des Gerichts oder der Justizminister unverzüglich die Tätigkeit des Richters bis zu einer innerhalb von weniger als einem Monat ergangenen Entscheidung des Disziplinargerichts aussetzen [können]. Im vorliegenden Fall liegen zwei der genannten Voraussetzungen (die Autorität des Gerichts und die wesentlichen dienstlichen Interessen) in Bezug auf das Verhalten des Richters in Form einer offensichtlichen und groben Missachtung von Rechtsvorschriften und einer Verletzung der Würde des Amtes im Sinne von Art. 107 § 1 des [Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit] vor“. In derselben Entscheidung habe die Disziplinarkammer auch ausgeführt, dass „die Rechtswidrigkeit der Gerichtsentscheidung selbst … nicht in Zweifel [stand]. Das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union bietet nämlich keine Grundlage dafür, in die Vorrechte des Staatsoberhaupts einzugreifen und die Richter entscheiden zu lassen, wer Richter ist und wer nicht.“ 128 Schließlich habe der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) unter Bezugnahme auf die in den Rn. 125 und 126 des vorliegenden Urteils genannten Disziplinarverfahren sowie auf andere Disziplinarverfahren, die gegen Richter eingeleitet worden seien, weil sie die Gültigkeit der Ernennung bestimmter Richter, um die es in zwei von der Kommission vorgelegten Mitteilungen des Disziplinarbeauftragten vom 15. Dezember 2019 und 14. Februar 2020 gegangen sei, in Zweifel gezogen hätten, in seiner in Rn. 74 des vorliegenden Urteils angeführten Entschließung vom 23. Januar 2020 darauf verwiesen, dass „ein politisches Organ wie der Justizminister … durch von ihm ernannte Disziplinarbeauftragte repressive Maßnahmen gegen Richter, die richterliche Funktionen ausüben, [ergreift], mit denen Zweifel an der Art und Weise der Durchführung von Auswahlverfahren für die Einstellung von Richtern ausgeräumt werden sollen“. 129 In ihrer Gegenerwiderung macht die Republik Polen geltend, die von der Kommission in ihrer Erwiderung angeführten Entscheidungen des Disziplinarbeauftragten und der Disziplinarkammer seien unerheblich, da die Rüge der Kommission die abstrakte Vereinbarkeit gesetzlicher Definitionen des Disziplinarvergehens mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV betreffe und nicht einen Verstoß gegen das Unionsrecht, der sich aus bestimmten Handlungen staatlicher Stellen ergebe. Außerdem müsse sich das Urteil des Gerichtshofs auf die Situation bei Ablauf der Frist beziehen, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden sei. Schließlich gehe es in der in Rn. 125 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidung darum, dass ein Richter seine Befugnisse überschritten habe, indem er in Rechtssachen, die von drei Richtern zu entscheiden gewesen seien, allein Entscheidungen über Vorabentscheidungsersuchen getroffen habe, während sich die Entscheidung der Disziplinarkammer auch nicht auf ein Verfahren bezogen habe, das mit einer offensichtlichen und groben Missachtung von Rechtsvorschriften begründet sei, sondern mit dem Verdacht des Tatbestands eines Amtsmissbrauchs und einer Beeinträchtigung der Würde des Amtes, und darüber hinaus eine vorläufige Maßnahme sei. 130 Alle Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge der Kommission beigetreten sind, sind der Auffassung, dass die im Rahmen der vorliegenden Rüge beanstandeten nationalen Bestimmungen geeignet seien, eine abschreckende Wirkung auf die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit bei der Ausübung ihrer richterlichen Tätigkeit auszuüben, und dass sie somit gegen die Anforderung der Unabhängigkeit der Gerichte nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstießen. 131 Das Königreich Dänemark ist der Ansicht, Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit verstoße zwar nicht allein aufgrund seines Wortlauts gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit, doch verleihe die vage Formulierung dieser Bestimmung der Disziplinarbehörde bei der Feststellung eines Disziplinarvergehens ein weites Ermessen. In Verbindung mit der problematischen Zusammensetzung der mit ihrer Anwendung betrauten Stellen, insbesondere der Disziplinarkammer, und der Art und Weise, in der sie in der Praxis ausgelegt und angewandt werde, begründe diese nationale Bestimmung jedoch die Gefahr, dass die Disziplinarordnung als Mittel zur Ausübung von Druck auf Richter und zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt werde. Gleiches gelte für die Definition des Verstoßes in Art. 97 § 1 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht, insbesondere im Hinblick auf die aus Sicht des Königreichs Dänemark wenig verständliche Befugnis der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, von Amts wegen ein Disziplinarverfahren wegen inhaltlicher Fehler in den von ihr überprüften Entscheidungen einzuleiten. 132 Die Republik Finnland macht geltend, aus verschiedenen unabhängigen und verlässlichen Quellen, auf die im Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234), verwiesen werde, ergebe sich, dass von der Möglichkeit, Disziplinarverfahren gegen Richter wegen des Inhalts ihrer Gerichtsentscheidungen einzuleiten, tatsächlich Gebrauch gemacht worden sei. 133 In ihrer Antwort auf die Streithilfeschriftsätze macht die Republik Polen geltend, dass die Definitionen der Disziplinarvergehen in den Regelungen verschiedener Mitgliedstaaten nicht weniger weit gefasst seien als die in Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit. Bezugnahmen auf allgemeine Begriffe seien in diesem Bereich häufig und unvermeidlich, und eine negative Bewertung der betreffenden Bestimmungen könne nicht unter Außerachtlassung ihres Inhalts, ihres Zwecks und ihrer praktischen Anwendung durch die nationalen Disziplinargerichte vorgenommen werden. – Würdigung durch den Gerichtshof 134 Die Anforderung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die sich u. a. aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt und dem die nationalen Gerichte genügen müssen, die wie die polnischen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit in die Lage kommen können, das Unionsrecht auslegen und anwenden zu müssen, verlangt, wie aus Rn. 61 des vorliegenden Urteils hervorgeht, dass eine Disziplinarordnung, die für diejenigen gilt, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, auch Vorschriften enthält, die festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen, damit jegliche Gefahr vermieden wird, dass eine solche Disziplinarordnung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt wird. 135 Mit ihrer ersten Rüge macht die Kommission geltend, dass Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht eine solche politische Kontrolle ermöglichten, indem sie die Verhaltensweisen, die ein Disziplinarvergehen von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit darstellten, dahin definierten, dass darunter jede „offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften“ und jeder „Fehler“, der zu einer „offensichtlichen Missachtung von Vorschriften“ führe, fielen. Dies zeigten auch die verschiedenen konkreten Fälle der Anwendung dieser Bestimmungen, auf die sie Bezug genommen habe. 136 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Disziplinarordnung für Richter zwar zur Justizorganisation gehört und damit in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Insbesondere kann die Möglichkeit für die Behörden eines Mitgliedstaats, Richter disziplinarisch zu belangen, je nach der von den Mitgliedstaaten getroffenen Entscheidung, einen Aspekt darstellen, der einen Beitrag zur Verantwortlichkeit und zur Effizienz der Justiz leisten kann. Wie sich jedoch den Rn. 56, 57 und 61 des vorliegenden Urteils entnehmen lässt, müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht beachten, indem sie insbesondere die Unabhängigkeit der Gerichte, die über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben, sicherstellen, um den Rechtsunterworfenen den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. entsprechend Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 229 und 230). 137 In diesem Zusammenhang darf die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit u. a. nicht dazu führen, dass völlig ausgeschlossen ist, dass die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit eines Richters in bestimmten, ganz außergewöhnlichen Fällen durch von ihm erlassene Gerichtsentscheidungen ausgelöst werden kann. Die Anforderung der Unabhängigkeit ist nämlich ganz sicher nicht dazu gedacht, etwaige schwerwiegende und völlig unentschuldbare Verhaltensweisen von Richtern zu billigen wie z. B. die vorsätzliche und böswillige oder besonders grob fahrlässige Missachtung von Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts, deren Einhaltung sie gewährleisten sollen, Willkür oder Rechtsverweigerung, wenn sie als diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, über Streitigkeiten zu entscheiden haben, die ihnen von Rechtssuchenden vorgelegt werden. 138 Dagegen ist es für die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit und um auf diese Weise zu verhindern, dass die Disziplinarordnung entgegen ihrem legitimen Zweck zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen oder zur Ausübung von Druck auf Richter eingesetzt werden kann, von grundlegender Bedeutung, dass ein etwaiger Fehler in einer Gerichtsentscheidung bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts und des Unionsrechts oder bei der Würdigung des Sachverhalts und der Beweise für sich allein nicht zur Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit des betreffenden Richters führen kann (vgl. entsprechend Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 234). 139 Folglich muss die Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit eines Richters wegen einer Gerichtsentscheidung auf ganz außergewöhnliche Fälle wie die in Rn. 137 des vorliegenden Urteils genannten beschränkt bleiben und dabei durch objektive und überprüfbare Kriterien, die sich aus Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege ergeben, sowie durch Garantien beschränkt sein, die darauf abzielen, jegliche Gefahr eines Drucks von außen bezüglich des Inhalts von Gerichtsentscheidungen zu vermeiden und damit bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Richter und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (vgl. entsprechend Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 233). 140 Hierzu ist es wesentlich, dass insbesondere Regeln vorgesehen werden, die die Verhaltensweisen, die die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit von Richtern begründen können, klar und präzise definieren, um die dem Auftrag des Richters inhärente Unabhängigkeit zu gewährleisten und zu verhindern, dass Richter der Gefahr ausgesetzt werden, dass ihre disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit allein aufgrund ihrer Entscheidung ausgelöst wird (vgl. entsprechend Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 234). 141 Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht schon aufgrund ihres Wortlauts nicht den in Rn. 140 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen an Klarheit und Präzision genügen. Anhand der in diesen Bestimmungen verwendeten Wendungen „offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften“ und „Fehlerfeststellung“ über eine „offensichtliche Missachtung von Vorschriften“ lässt sich nämlich nicht ausschließen, dass die Richter allein aufgrund des angeblich „fehlerhaften“ Inhalts ihrer Entscheidungen zur Verantwortung gezogen werden können und nicht sichergestellt ist, dass diese Verantwortlichkeit stets streng auf ganz außergewöhnliche Fälle wie die in Rn. 137 des vorliegenden Urteils genannten beschränkt bleibt. 142 Ferner ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Bedeutung der nationalen Rechtsvorschriften, die Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sind, im Allgemeinen unter Berücksichtigung ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, C‑490/04, EU:C:2007:430, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C‑433/13, EU:C:2015:602, Rn. 81). 143 Insoweit hat die Republik Polen vor dem Gerichtshof zwar detailliert die Rechtsprechung dargestellt, die der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über viele Jahre hinweg zu den verschiedenen Tatbestandsmerkmalen des Begriffs „offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften“ im Sinne von Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit entwickelt hat. Diese nationale Rechtsprechung, deren Bestehen und Inhalt von der Kommission nicht bestritten worden sind, scheint tatsächlich eine besonders enge Auslegung dieses Begriffs vorgenommen zu haben, in der ein offensichtliches Bemühen um Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit zum Ausdruck kommt. 144 Jedoch ist zunächst festzustellen, dass in den beiden Bestimmungen, die Gegenstand der vorliegenden Rüge sind, teilweise unterschiedliche Formulierungen verwendet werden, da in Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht nämlich nur von „offensichtlichen“ Verstößen gegen Rechtsvorschriften die Rede ist. Dass es in dieser neuen Bestimmung an der Klarstellung fehlt, dass die Missachtung von Rechtsvorschriften „grob“ zu sein hat, diese aber in Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit enthalten ist und auch Eingang in die in Rn. 143 des vorliegenden Urteils angeführte ständige Rechtsprechung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gefunden hat, lässt Zweifel an der jeweiligen Tragweite dieser Bestimmungen aufkommen. Außerdem könnte der Umstand, dass die betreffende Kammer, wenn sie einem Richter, dessen Entscheidung sie überprüft, eine „Fehlerfeststellung“ übermittelt und in diesem Zusammenhang der Auffassung ist, dass der „Fehler“ eine „offensichtliche Missachtung von Vorschriften“ darstellt, auf der Grundlage von Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht unmittelbar ein vor der Disziplinarkammer geführtes Disziplinarverfahren gegen diesen Richter beantragen kann, dahin verstanden werden, dass die Verantwortlichkeit von Richtern allein auf der Grundlage des angeblich „fehlerhaften“ Inhalts ihrer Gerichtsentscheidungen und auch nicht nur beschränkt auf die in Rn. 137 des vorliegenden Urteils genannten ganz außergewöhnlichen Fälle ausgelöst werden kann. 145 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die von der Republik Polen angeführten Entscheidungen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit nicht von dessen jetziger Disziplinarkammer, sondern von der vor der Reform zuständigen Kammer erlassen wurden. 146 Wie sich aus Rn. 61 des vorliegenden Urteils ergibt, sind außerdem, um sicherzustellen, dass die Auslösung der disziplinarrechtlichen Verantwortlichkeit von Richtern durch Garantien beschränkt ist, die darauf abzielen, jegliche Gefahr eines Drucks von außen bezüglich des Inhalts von Gerichtsentscheidungen zu vermeiden, die Vorschriften, die das Verhalten festlegen, das ein Vergehen im Rahmen der Disziplinarordnung für Richter begründet, zusammen mit den anderen Vorschriften zu betrachten, die eine Disziplinarordnung kennzeichnen, und insbesondere mit denen, die vorsehen müssen, dass die Entscheidungen in Disziplinarverfahren gegen Richter von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht erlassen oder überprüft werden. 147 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Gründen, aus denen der Gerichtshof der zweiten von der Kommission zur Begründung ihrer Klage erhobenen Rüge stattgegeben hat, dass die kürzlich mit dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht eingerichtete Disziplinarkammer, der die Zuständigkeit für die Entscheidungen über Disziplinarsachen, die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffen, je nach Fall, entweder im zweiten Rechtszug oder im ersten und im zweiten Rechtszug übertragen wurde, dieser Anforderung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht genügt. 148 Ein solcher Umstand erhöht seinerseits die Gefahr, dass Bestimmungen wie Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht, die Disziplinarvergehen in einer Weise definieren, die den in Rn. 140 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen an Klarheit und Präzision nicht genügt und nicht sicherstellt, dass die Auslösung der Verantwortlichkeit der Richter für ihre Entscheidungen strikt auf die in Rn. 137 des vorliegenden Urteils genannten Fälle beschränkt ist, so ausgelegt werden, dass die Disziplinarordnung zur Beeinflussung von Gerichtsentscheidungen eingesetzt werden kann. 149 Dass die Gefahr, dass die Disziplinarordnung tatsächlich zur Beeinflussung von Gerichtsentscheidungen eingesetzt wird, besteht, wird im Übrigen durch die in den Rn. 126 und 127 des vorliegenden Urteils angeführte Entscheidung der Disziplinarkammer vom 4. Februar 2020 bestätigt. 150 Insoweit ist zunächst das Vorbringen der Republik Polen, dass diese Entscheidung der Disziplinarkammer vom Gerichtshof bei der Beurteilung der diesem Mitgliedstaat vorgeworfenen Vertragsverletzung nicht berücksichtigt werden könne, weil die Vertragsverletzung nach ständiger Rechtsprechung zu dem Zeitpunkt zu beurteilen sei, zu dem die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzte Frist abgelaufen sei, zurückzuweisen. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof zu Recht geltend gemacht hat, stellt diese Entscheidung der Disziplinarkammer nämlich nur einen nach der Abgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme vorgelegten Beweis dar, mit dem die sowohl in der mit Gründen versehenen Stellungnahme als auch im Rahmen der vorliegenden Klage vorgebrachte Rüge erläutert werden sollte, die sich auf die Gefahr bezieht, dass im Kontext der kürzlich in Polen durchgeführten Gesetzesreformen die Disziplinarordnung für die Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit herangezogen werden könnte, um den Inhalt von Gerichtsentscheidungen zu beeinflussen. Wie der Gerichtshof aber bereits festgestellt hat, stellt die Berücksichtigung eines nach Abgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme vorgelegten Beweises keine Änderung des sich aus der mit Gründen versehenen Stellungnahme ergebenden Streitgegenstands dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2002, Kommission/Spanien, C‑139/00, EU:C:2002:438, Rn. 21). 151 Nach der genannten Entscheidung der Disziplinarkammer kann einem Richter grundsätzlich auf der Grundlage von Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit ein Disziplinarvergehen vorgeworfen werden, wenn er den Sejm unter mutmaßlich grober und offensichtlicher Missachtung von Rechtsvorschriften angewiesen haben soll, Unterlagen über das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung vorzulegen. 152 Eine solche weite Auslegung von Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit weicht von der besonders restriktiven Auslegung dieser Bestimmung durch den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), wie sie in Rn. 143 des vorliegenden Urteils wiedergegeben worden ist, ab und lässt somit in dem betreffenden Mitgliedstaat einen Rückschritt beim Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit erkennen. 153 Hinzu kommt, dass, wenn unterschiedliche gerichtliche Auslegungen einer nationalen Regelung berücksichtigt werden können, von denen die einen zu einer mit dem Unionsrecht vereinbaren Anwendung dieser Regelung, die anderen zu einer damit unvereinbaren Anwendung führen, diese Regelung zumindest nicht hinreichend klar und präzise ist, um eine mit dem Unionsrecht vereinbare Anwendung zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Dezember 2003, Kommission/Italien, C‑129/00, EU:C:2003:656, Rn. 33). 154 Abschließend ist festzustellen, dass die Kommission auf eine Reihe konkreter Fälle aus jüngster Zeit hingewiesen hat, in denen der Disziplinarbeauftragte im Rahmen der durch das Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit eingeführten neuen Disziplinarordnung Disziplinarermittlungen gegen Richter wegen des Inhalts ihrer Gerichtsentscheidungen eingeleitet habe, ohne dass ersichtlich sei, dass die betreffenden Richter ihre Pflichten wie die in Rn. 137 des vorliegenden Urteils genannten verletzt hätten. Dabei ist insbesondere zu beachten, dass Disziplinarverfahren u. a. wegen Gerichtsentscheidungen eingeleitet wurden, mit denen der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht worden war, um zu klären, ob bestimmte Vorschriften des nationalen Rechts mit den unionsrechtlichen Bestimmungen über die Rechtsstaatlichkeit und die richterliche Unabhängigkeit im Einklang stehen. 155 Auch wenn die Republik Polen vorträgt, dass die vom Disziplinarbeauftragten in diesen Fällen erhobenen Rügen keine offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften im Sinne von Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit beträfen, sondern eine Befugnisüberschreitung oder Beeinträchtigung des Richteramts durch die betreffenden Richter, stehen diese Rügen gleichwohl in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Inhalt der von diesen Richtern erlassenen Gerichtsentscheidungen. 156 Schon die bloße Aussicht auf die Einleitung solcher Disziplinarermittlungen ist geeignet, Druck auf diejenigen auszuüben, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 199). 157 Nach alledem sieht es der Gerichtshof als erwiesen an, dass in dem besonderen Kontext, der sich aus den jüngsten Reformen der polnischen Justiz und der für die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit geltenden Disziplinarordnung ergibt, und insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Gerichtsorgans, das für die Entscheidung über Disziplinarverfahren gegen diese Richter zuständig ist, nicht gewährleistet sind, die Definitionen des Disziplinarvergehens in Art. 107 § 1 des Gesetzes über die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und in Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über den Obersten Gerichtshof nicht verhindern können, dass die Disziplinarordnung dazu eingesetzt wird, um bei diesen Richtern, die zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufen sind, Druck und eine abschreckende Wirkung zu erzeugen, die den Inhalt ihrer Entscheidungen beeinflussen können. Die genannten Bestimmungen beeinträchtigen somit die Unabhängigkeit dieser Richter, noch dazu unter Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV um den Preis eines Rückschritts beim Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit in Polen im Sinne der in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung. 158 Folglich greift die erste Rüge durch. Zur dritten Rüge – Vorbringen der Parteien 159 Mit ihrer dritten Rüge macht die Kommission geltend, Art. 110 § 3 und Art. 114 § 7 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit erfüllten nicht die Anforderung aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wonach es möglich sein müsse, dass Disziplinarsachen, die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit beträfen, von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden würden, da diese nationalen Bestimmungen dem Präsidenten der Disziplinarkammer das Ermessen einräumten, das für die Entscheidung über solche Rechtssachen örtlich zuständige Disziplinargericht zu bestimmen. 160 Die Kommission ist insoweit der Ansicht, dass mangels gesetzlich vorgesehener Kriterien für die Begrenzung der Ermessensausübung dieses Ermessen dazu genutzt werden könne, einen Fall einem bestimmten Disziplinargericht zuzuweisen, und somit zumindest als ein Mittel angesehen werden könne, das es erlaube, die Disziplinarordnung zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen einzusetzen. Im vorliegenden Fall werde eine solche Gefahr zudem dadurch verschärft, dass die Disziplinarkammer keine unabhängige und unparteiische Einrichtung sei. 161 In ihrer Klagebeantwortung macht die Republik Polen geltend, aus Art. 110 § 1 Nr. 1 Buchst. a und Art. 110a §§ 1 und 3 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit ergebe sich, dass Disziplinarsachen in die Zuständigkeit der elf bei den Berufungsgerichten eingerichteten Disziplinargerichte fielen, deren Mitglieder nach Stellungnahme der KRS vom Justizminister aus den Reihen der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit ernannt würden und für eine Dauer von sechs Jahren in ständiger Besetzung tätig seien. Daraus folge, dass diese Gerichte sehr wohl durch Gesetz errichtet seien. 162 Der Präsident der Disziplinarkammer beschränke sich darauf, eines dieser Disziplinargerichte zu bestimmen, wobei er Faktoren wie die Verfahrensökonomie, die Höhe der Arbeitsbelastung dieser Gerichte, die Entfernung sowie etwaige Verbindungen zwischen den Parteien des Verfahrens und den Gerichten berücksichtige. Die Festlegung dieser Kriterien im Gesetz diene keinem erkennbaren Zweck, insbesondere nicht dem Schutz der Rechte des verfolgten Richters oder den Interessen der Rechtspflege, da alle Disziplinargerichte, die benannt werden könnten, die gleiche Gewähr für Kompetenz und Unabhängigkeit böten. 163 Die Regelung, dass ein Berufungsgericht als örtlich zuständiges Gericht bestimmt werde, das nicht in dem Gerichtsbezirk liege, in dem der betreffende Richter tätig sei, sei gerade eingeführt worden, um die Unparteilichkeit der Disziplinargerichte zu gewährleisten. Da zudem die Mitglieder des Disziplinargerichts, die in ihm zu entscheiden hätten, durch Auslosung aus allen Richtern dieses Gerichts benannt würden, entbehre die Behauptung, dass die Befugnis zur Bestimmung des für die Entscheidung der Sache örtlich zuständigen Disziplinargerichts zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt werden könne, jeder Grundlage. – Würdigung durch den Gerichtshof 164 Wie in den Rn. 61 und 80 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verlangt die Anforderung der Unabhängigkeit, die sich u. a. aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt und der die nationalen Gerichte genügen müssen, die – wie die polnischen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit – in die Lage kommen können, das Unionsrecht auslegen und anwenden zu müssen, dass die Disziplinarordnung für Richter dieser Gerichte nicht zuletzt das Tätigwerden von Einrichtungen vorsieht, die ihrerseits die Gewähr für einen wirksamen Rechtsschutz gemäß einem Verfahren bieten, das die in Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte in vollem Umfang gewährleistet. 165 Da zudem die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, soll mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den durch die EMRK gewährleisteten entsprechenden Rechten geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird. Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK, und Art. 48 der Charta stimmt mit Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK überein. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C‑38/18, EU:C:2019:628, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 166 Nach Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem „unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht“ in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. 167 Wie der Gerichtshof entschieden hat, bilden die Garantien für den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, und insbesondere diejenigen, die für den Begriff und die Zusammensetzung des Gerichts bestimmend sind, den Grundpfeiler des Rechts auf ein faires Verfahren. Die Überprüfung, ob eine Einrichtung in Anbetracht ihrer Zusammensetzung ein solches Gericht ist, ist insbesondere im Hinblick auf das Vertrauen erforderlich, das die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtssuchenden wecken müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 57). 168 Ferner geht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervor, dass mit dem Ausdruck „auf Gesetz beruhend“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht nur die Rechtsgrundlage für das Bestehen des Gerichts an sich gemeint ist, sondern auch für die Zusammensetzung des Spruchkörpers in jeder einzelnen Rechtssache. Dieser Ausdruck soll verhindern, dass die Organisation des Justizsystems in das Ermessen der Exekutive gestellt wird, und dafür sorgen, dass dieser Bereich durch ein Gesetz geregelt wird. In Ländern mit kodifiziertem Recht kann die Ausgestaltung des Justizsystems auch nicht in das Ermessen der Justizbehörden gestellt werden, wobei dies jedoch nicht bedeutet, dass den Gerichten nicht ein gewisser Spielraum bei der Auslegung der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften zukäme. Im Übrigen ist die Übertragung von Befugnissen in Fragen der Gerichtsorganisation zulässig, soweit sich diese Möglichkeit in den Rahmen des innerstaatlichen Rechts des betreffenden Staates einschließlich der einschlägigen Bestimmungen seiner Verfassung einfügt (vgl. u. a. EGMR, 28. April 2009, Savino u. a./Italien, CE:ECHR:2009:0428JUD001721405, §§ 94 und 95 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 169 In der vorliegenden Rechtssache geht es in den Art. 110 § 3 und Art. 114 § 7 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, die von der Kommission beanstandet werden, nicht um das Bestehen von Disziplinargerichten, die über Disziplinarverfahren gegen Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit zu entscheiden haben, an sich, sondern vielmehr um die Bedingungen, unter denen die Disziplinarverfahren den Disziplinargerichten zugeteilt werden. 170 Mit ihrer dritten Rüge zielt die Kommission nämlich nicht auf die Bedingungen ab, unter denen polnische Disziplinargerichte eingerichtet oder die Richter, die ihnen angehören, ernannt werden, sondern vielmehr auf die Bedingungen, unter denen das Disziplinargericht bestimmt wird, das unter den Disziplinargerichten, die sich in den verschiedenen Gerichtsbezirken in Polen befinden, über ein bestimmtes Disziplinarverfahren gegen einen Richter zu entscheiden hat. 171 Insoweit ist festzustellen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf Art. 6 Abs. 1 EMRK u. a. entschieden hat, dass die Anforderung, dass die Gerichte auf Gesetz beruhen müssten, es ausschließe, dass die Verweisung einer Rechtssache an ein Gericht in einem anderen Gerichtsbezirk in das Ermessen einer bestimmten Einrichtung fallen könne. Insbesondere könne der Umstand, dass weder die Gründe, aus denen eine solche Verweisung erfolgen könne, noch die Kriterien, die ihr zugrunde liegen müssten, in den anwendbaren Rechtsvorschriften präzisiert worden seien, geeignet sein, den Anschein fehlender Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des nach freiem Ermessen bestimmten Gerichts zu erwecken, und nicht den Grad an Vorhersehbarkeit und Gewissheit biete, der erforderlich sei, damit ein solches Gericht als „auf Gesetz beruhend“ angesehen werden könne (vgl. in diesem Sinne EGMR, 12. Januar 2016, Miracle Europe kft/Ungarn, CE:ECHR:2016:0112JUD005777413, § 58, 63 und 67). 172 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die von der Kommission im Rahmen der vorliegenden Rüge beanstandeten nationalen Vorschriften dem Präsidenten der Disziplinarkammer das Ermessen einräumen, das Disziplinargericht zu bestimmen, das für die Entscheidung über ein Disziplinarverfahren gegen einen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit örtlich zuständig ist, ohne dass die Kriterien für eine solche Bestimmung in der anwendbaren Regelung festgelegt worden wären. 173 Wie die Kommission vorgetragen hat, könnte ein solches Ermessen ohne derartige Kriterien insbesondere dazu genutzt werden, bestimmte Fälle bestimmten Richtern zuzuweisen und ihre Zuweisung an andere Richter zu vermeiden, oder um Druck auf die so ausgewählten Richter auszuüben (vgl. in diesem Sinne auch EGMR, 12. Januar 2016, Miracle Europe kft/Ungarn, ECHR:2016:0112JUD005777413, § 58). 174 Im vorliegenden Fall wird, wie auch die Kommission geltend gemacht hat, eine solche Gefahr dadurch verstärkt, dass die mit der Bestimmung des örtlich zuständigen Disziplinargerichts betraute Person keine andere ist als der Präsident der Disziplinarkammer, d. h. der Einrichtung, die im zweiten Rechtszug über Rechtsmittel gegen die Entscheidungen dieses Disziplinargerichts zu befinden hat, und deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, wie aus den Rn. 80 bis 113 des vorliegenden Urteils hervorgeht. 175 Abschließend ist festzustellen, dass entgegen dem Vorbringen der Republik Polen der bloße Umstand, dass die Richter, die über ein bestimmtes Disziplinarverfahren zu entscheiden haben, durch Auslosung bestimmt werden, nicht geeignet ist, die in Rn. 173 des vorliegenden Urteils genannte Gefahr zu beseitigen, da die Auslosung ausschließlich zwischen den Mitgliedern des vom Präsidenten der Disziplinarkammer bestimmten Disziplinargerichts stattfindet. 176 Nach alledem erfüllen Art. 110 § 3 und Art. 114 § 7 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, soweit sie dem Präsidenten der Disziplinarkammer das Ermessen einräumen, das örtlich zuständige Disziplinargericht für Disziplinarverfahren zu bestimmen, die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffen, d. h. Richter, die in die Lage kommen können, das Unionsrecht auslegen und anwenden zu müssen, nicht die Anforderung aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wonach es möglich sein muss, dass solche Rechtssachen von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden werden. 177 Die dritte Rüge greift daher durch. Zur vierten Rüge – Vorbringen der Parteien 178 Mit ihrer vierten Rüge, die aus zwei Teilen besteht, macht die Kommission geltend, dass die Art. 112b, 113a und 115a § 3 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstießen, da sie weder die Prüfung von Disziplinarverfahren gegen Richter dieser Gerichte innerhalb angemessener Frist noch die Verteidigungsrechte des betreffenden Richters gewährleisteten. 179 Zum ersten Teil dieser Rüge vertritt die Kommission die Auffassung, aus Art. 112b § 3 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit ergebe sich, dass der Justizminister einen Disziplinarbeauftragten des Justizministers als Ersatz für den Disziplinarbeauftragten benennen könne, der bis dahin die betreffende Sache bearbeitet habe, und zwar in jedem Stadium eines Disziplinarverfahrens und auch nach der Zuweisung der Sache an das Disziplinargericht oder während der Prüfung eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung des Disziplinargerichts. Außerdem stehe nach Art. 112b § 5 dieses Gesetzes, wenn eine Entscheidung, mit der die Einleitung eines Disziplinarverfahrens abgelehnt oder ohne Folgen eingestellt werde, oder wenn eine ein solches Verfahren abschließende Gerichtsentscheidung rechtskräftig werde, dies der erneuten Ernennung eines Disziplinarbeauftragten des Justizministers in derselben Sache nicht entgegen, so dass der Minister die Möglichkeit habe, die Anschuldigungen gegen einen Richter auf Dauer aufrechtzuerhalten. Die Einhaltung einer angemessenen Frist sei daher nicht gewährleistet. 180 Mit dem zweiten Teil ihrer vierten Rüge macht die Kommission geltend, zum einen werde der Grundsatz der Achtung der Verteidigungsrechte durch Art. 113a des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit verletzt, da diese Bestimmung vorsehe, dass das Disziplinarverfahren vor dem Disziplinargericht fortgesetzt werden könne, wenn kein Verteidiger bestellt sei, der einen Richter vertrete, der aus gesundheitlichen Gründen an dem Verfahren vor diesem Gericht nicht teilnehmen könne, oder wenn der von diesem Richter bestellte Verteidiger noch nicht mit der Wahrnehmung seiner Interessen begonnen habe. 181 Zum anderen verstoße Art. 115a § 3 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, soweit er vorsehe, dass das Disziplinargericht das Verfahren auch bei entschuldigter Abwesenheit des beschuldigten Richters oder seines Verteidigers fortsetze, gegen den Grundsatz „audiatur et altera pars“, der einen der wesentlichen Bestandteile der Verteidigungsrechte darstelle. Insoweit sei es unerheblich, dass nach der genannten Bestimmung die Fortsetzung des Verfahrens nur dann erfolge, wenn dies der ordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens nicht entgegenstehe, da ein solcher Begriff nicht mit der Berücksichtigung der berechtigten Interessen des betreffenden Richters gleichgesetzt werden könne. Gleiches gelte für den Umstand, dass nach Art. 115 §§ 2 und 4 dieses Gesetzes das Disziplinargericht den beschuldigten Richter gleichzeitig mit der Zustellung der Ladung zur Gerichtsverhandlung auffordere, Erklärungen und alle Beweismittel schriftlich vorzulegen, da die Achtung der Verteidigungsrechte auch gebiete, dass dem Richter die Möglichkeit zur Teilnahme am Verfahren gegeben werde, wenn die Zulässigkeit und der Beweiswert dieser Beweise vom Disziplinargericht geprüft würden. 182 In ihrer Klagebeantwortung trägt die Republik Polen vor, dass die Kommission zwar mit dem ersten Teil der Rüge, wie er in den Anträgen der Klageschrift formuliert sei, die Schaffung der Funktion des Disziplinarbeauftragten des Justizministers selbst und Art. 112b des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit insgesamt in Frage stelle, nicht aber die Gründe angegeben habe, aus denen die Ernennung eines solchen Beauftragten gegen Unionsrecht verstoße, sondern sich in Wirklichkeit darauf beschränkt habe, Art. 112b § 5 Satz 2 zu beanstanden. 183 Was Art. 112b § 5 Satz 2 dieses Gesetzes angehe, so beziehe sich das Vorbringen der Kommission nicht auf den normativen Inhalt dieser Bestimmung, sondern nur auf die Möglichkeit, dass der Justizminister trotz einer rechtskräftigen Entscheidung in einem Disziplinarverfahren versuchen könnte, diese Bestimmung anzuwenden, um dieselben Anschuldigungen gegen einen Richter auf Dauer aufrechtzuerhalten. Die Kommission habe sich insoweit damit begnügt, eine rein hypothetische Auslegung dieser nationalen Vorschrift vorzunehmen, die noch nie in der Praxis überprüft worden sei und nicht dem Stand des anwendbaren nationalen Rechts entspreche. Art. 112b § 5 Satz 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit sehe nämlich vor, dass die Amtszeit des Disziplinarbeauftragten des Justizministers in den drei dort genannten Fällen ende und das Ende der Amtszeit endgültig sei, da der Grundsatz ne bis in idem, der sich aus Art. 17 § 1 Nr. 7 der Strafprozessordnung ergebe, der nach Art. 128 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit entsprechend für Disziplinarverfahren gelte, einem neuen Verfahren in derselben Sache entgegenstehe. 184 Außerdem bestehe kein Zusammenhang zwischen der Dauer des Verfahrens und der Frage, ob es vom Disziplinarbeauftragten oder vom Disziplinarbeauftragten des Justizministers geführt werde, da dessen Tätigwerden weder Auswirkungen auf den Lauf der bereits eingeleiteten Maßnahmen noch auf die zwingenden Verfahrensfristen habe, die unabhängig davon gälten, ob das Verfahren von dem einen oder dem anderen Disziplinarbeauftragten geführt werde. 185 Zum zweiten Teil der vierten Rüge macht die Republik Polen geltend, Art. 113a des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit solle nur einen effizienten Ablauf des Disziplinarverfahrens sicherstellen, indem jede Behinderung im Stadium der Prüfung der Sache durch das Disziplinargericht ausgeräumt werde. 186 Was Art. 115a § 3 dieses Gesetzes angehe, werde die Voraussetzung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Disziplinarverfahrens von einem unabhängigen Gericht geprüft, das beurteile, ob die Ermittlung aller den beschuldigten Richter belastenden und entlastenden Tatsachen es ermögliche, das Verfahren in Abwesenheit dieses Richters oder seines Verteidigers durchzuführen. Im Übrigen werde der Anspruch des betreffenden Richters auf rechtliches Gehör ab dem Stadium des vom Disziplinarbeauftragten oder Disziplinarbeauftragten des Justizministers durchgeführten Verfahrens gewährleistet, wie sich aus Art. 114 dieses Gesetzes ergebe, da diese Beauftragten den Richter zunächst auffordern könnten, eine schriftliche Erklärung über den Gegenstand der Prüfung abzugeben, ihn sodann bei der Zustellung der Disziplinarvorwürfe aufzufordern hätten, Erklärungen sowie alle Beweise vorzulegen, und ihn schließlich anhören könnten, um seine Erklärungen zu hören, oder dies tun müssten, wenn der Betroffene dies beantrage. Im Übrigen sei das Disziplinargericht, wenn es die Parteien zur mündlichen Verhandlung lade, nach Art. 115 dieses Gesetzes verpflichtet, diese zur Vorlage der Beweismittel aufzufordern und den beschuldigten Richter um schriftliche Erklärungen zu ersuchen. – Würdigung durch den Gerichtshof 187 Wie in Rn. 164 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verlangt Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, dass die Disziplinarordnung für Richter, die in die Lage kommen können, das Unionsrecht auslegen und anwenden zu müssen, ein Verfahren vorsieht, das die in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte in vollem Umfang gewährleistet. 188 Bereits aus der Prüfung und dem Durchgreifen der ersten bis dritten Rüge der Kommission geht hervor, dass entgegen den genannten Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sich die Disziplinarordnung für Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit insbesondere dadurch auszeichnet, dass die am Disziplinarverfahren beteiligten Gerichte nicht der Anforderung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit oder der Anforderung, zuvor durch Gesetz errichtet worden zu sein, genügen sowie dadurch, dass die Verhaltensweisen, die ein Disziplinarvergehen darstellen, in den polnischen Rechtsvorschriften nicht hinreichend klar und präzise definiert sind. Die vierte Rüge ist insbesondere unter Berücksichtigung des normativen Kontexts der von der Kommission mit dieser Rüge beanstandeten nationalen Vorschriften zu betrachten. 189 Nach Art. 47 Abs. 2 der Charta hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache innerhalb angemessener Frist verhandelt wird, und sie muss die Möglichkeit haben, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen. Art. 48 Abs. 2 der Charta bestimmt, dass jedem Angeklagten die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird. 190 Wie sich aus Rn. 165 des vorliegenden Urteils ergibt, hat der Gerichtshof außerdem darauf zu achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 und Art. 48 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt. 191 Zum ersten Teil der vierten Rüge ist darauf hinzuweisen, dass das Recht der Personen darauf, dass ihre Sache innerhalb angemessener Frist verhandelt wird, einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der in Art. 6 Abs. 1 EMRK und, wie soeben ausgeführt, in Art. 47 Abs. 2 der Charta – in Bezug auf das gerichtliche Verfahren – niedergelegt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a., C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). 192 Im vorliegenden Fall behauptet die Kommission allerdings nicht, dass das Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist in einem konkreten Einzelfall verletzt worden sei, was u. a. in den Anwendungsbereich von Art. 47 der Charta fiele, sondern wirft der Republik Polen vor, ihre Pflichten aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Wesentlichen dadurch verletzt zu haben, dass die beanstandeten nationalen Bestimmungen so ausgestaltet seien, dass sie zur Folge hätten, dass dieses Recht bei Disziplinarverfahren gegen Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht in vollem Umfang gewährleistet werden könne. 193 Insoweit ergibt sich u. a. aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, dass im Interesse der Wahrung der Unabhängigkeit der Richter, die in die Lage kommen können, das Unionsrecht auslegen und anwenden zu müssen, und um jede Gefahr zu vermeiden, dass die für sie geltende Disziplinarordnung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts ihrer Gerichtsentscheidungen eingesetzt wird, die nationalen Vorschriften über Disziplinarverfahren, die solche Richter betreffen, nicht so ausgestaltet sein dürfen, dass sie verhindern, dass ihre Sache innerhalb angemessener Frist verhandelt wird (vgl. entsprechend Urteil Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., Rn. 221). 194 Zunächst ist festzustellen, dass sich dem Vorbringen der Kommission in ihrer Klageschrift zur Begründung des ersten Teils ihrer vierten Rüge nicht entnehmen lässt, inwiefern der in den Klageanträgen erwähnte Umstand, dass Art. 112b des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit insgesamt betrachtet „dem Justizminister die Zuständigkeit zur Ernennung des Disziplinarbeauftragten des Justizministers“ übertragen habe, für sich allein geeignet sein soll, zu einer systematischen Überschreitung der angemessenen Frist in Disziplinarverfahren gegen Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit zu führen und damit zu verhindern, dass ihre Sache in angemessener Frist verhandelt wird. 195 Dagegen ist diesem Vorbringen zu entnehmen, dass sich die Kritik der Kommission insoweit besonders auf die spezielle Regelung in Art. 112b § 5 Satz 2 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bezieht. 196 Bereits aus dem Wortlaut von Art. 112b § 5 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit ergibt sich, dass in den in Satz 1 dieser Bestimmung genannten Fällen, in denen das Amt des Disziplinarbeauftragten des Justizministers endet, d. h. bei Vorliegen einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung, mit der die Einleitung eines Disziplinarverfahrens abgelehnt oder ein Disziplinarverfahren eingestellt wird, derartige Entscheidungen der erneuten Bestellung eines solchen Disziplinarbeauftragten durch den Justizminister in derselben Sache nicht entgegenstehen. 197 Eine solche Bestimmung, deren klarer Wortlaut darauf hindeutet, dass ein Richter, nachdem er Gegenstand von Ermittlungen und eines Disziplinarverfahrens war, die durch eine rechtskräftige Gerichtsentscheidung abgeschlossen wurden, in derselben Sache erneut Gegenstand von Ermittlungen und eines Disziplinarverfahrens sein kann, so dass er trotz der ergangenen rechtskräftigen Gerichtsentscheidung ständig unter der potenziellen Bedrohung durch Ermittlungen und Disziplinarverfahren verbleibt, ist schon ihrer Natur nach geeignet, zu verhindern, dass die Sache dieses Richters innerhalb angemessener Frist verhandelt werden kann. 198 Das Argument der Republik Polen, dass andere fundamentale Grundsätze wie der Grundsatz ne bis in idem der Einleitung solcher Ermittlungen und Verfahren nach Erlass einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung entgegenstünden, entkräftet diese Feststellung nicht. 199 Zum einen kann nämlich der Umstand, dass sich Art. 112b § 5 Satz 2 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit in Anbetracht seines Wortlauts gegebenenfalls auch als unvereinbar mit anderen tragenden Grundsätzen als dem erweisen kann, auf den sich die Kommission zur Begründung des ersten Teils ihrer vierten Rüge berufen hat, in keiner Weise einer etwaigen Feststellung entgegenstehen, dass die Republik Polen wegen Verstoßes gegen den letztgenannten Grundsatz ihre Verpflichtungen nicht erfüllt hat. 200 Zum anderen kann dieser Umstand nichts daran ändern, dass das bloße Bestehen einer derart formulierten nationalen Bestimmung geeignet ist, gegenüber den betreffenden Richtern die in Rn. 197 des vorliegenden Urteils genannte Bedrohung hervorzurufen und damit die Gefahr zu schaffen, dass die Disziplinarordnung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts der von ihnen zu erlassenden Gerichtsentscheidungen eingesetzt wird. 201 Für die Beurteilung der Begründetheit der vorgeworfenen Vertragsverletzung, die sich auf den Erlass der beanstandeten nationalen Bestimmung selbst und auf die daraus möglicherweise resultierende Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit der Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit bezieht, ist ebenfalls unerheblich, dass die Kommission keinen konkreten Fall angeführt hat, in dem Art. 112b § 5 Satz 2 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bei Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung wie der in Art. 112b § 5 Satz 1 dieses Gesetzes genannten angewandt worden wäre. 202 Nach alledem erfüllt Art. 112b § 5 Satz 2 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit nicht die Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, da er die Unabhängigkeit der Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit dadurch beeinträchtigt, dass er nicht gewährleistet, dass ihre Sache in Disziplinarverfahren innerhalb angemessener Frist verhandelt werden kann. Folglich greift der erste Teil der vierten Rüge durch, soweit diese sich auf die genannte nationale Bestimmung bezieht. 203 Zum zweiten Teil dieser Rüge ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der in Art. 47 der Charta bekräftigte tragende Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes und der Begriff „faires Verfahren“ in Art. 6 EMRK aus verschiedenen Elementen bestehen, zu denen u. a. die Achtung der Verteidigungsrechte und das Recht gehören, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 31, und vom 26. Juli 2017, Sacko, C‑348/16, EU:C:2017:591, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). 204 Ebenso stellt die Achtung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu Sanktionen führen können, einen tragenden Grundsatz des Unionsrechts dar, der in Art. 48 Abs. 2 der Charta verankert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2010, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission u. a., C‑550/07 P, EU:C:2010:512, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). 205 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich auch, dass der Anspruch darauf, in jedem Verfahren gehört zu werden, untrennbar zur Achtung der in den Art. 47 und 48 der Charta verbürgten Verteidigungsrechte gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung sowie Rn. 29) und jeder Person garantiert, dass sie in diesem Verfahren sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vortragen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Sacko, C‑348/16, EU:C:2017:591, Rn. 34). 206 Zum Recht auf Zugang zu einem Rechtsanwalt hat der Gerichtshof klargestellt, dass ein solcher auch tatsächlich in der Lage sein muss, seinen Aufgaben bei der Beratung, der Verteidigung und der Vertretung seines Mandanten in angemessener Weise gerecht zu werden, da dem Mandanten sonst die ihm durch Art. 47 der Charta und Art. 6 EMRK gewährten Rechte genommen wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juni 2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 32). 207 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zwar Grundrechte wie das Recht auf Achtung der Verteidigungsrechte einschließlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht schrankenlos gewährleistet sind, sondern Beschränkungen unterworfen werden können, dies jedoch nur, sofern die Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Urteil vom 26. Juli 2017, Sacko, C‑348/16, EU:C:2017:591, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 208 Im vorliegenden Fall ergibt sich zum einen aus Art. 113a in Verbindung mit Art. 113 §§ 2 und 3 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, dass, wenn der beschuldigte Richter an dem Verfahren vor dem Disziplinargericht aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen kann und das Gericht oder sein Präsident auf Antrag dieses Richters oder von Amts wegen einen Verteidiger zur Wahrnehmung der Interessen des Richters bestellt, die mit einer solchen Bestellung und Interessenswahrnehmung verbundenen Handlungen den Lauf des Disziplinarverfahrens nicht hemmen. 209 Zum anderen sieht Art. 115a § 3 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit vor, dass das Verfahren vom Disziplinargericht auch dann betrieben wird, wenn der beschuldigte Richter oder sein Vertreter entschuldigt nicht anwesend sind, es sei denn, dass dies dem ordnungsgemäßen Ablauf des Disziplinarverfahrens zuwiderläuft. 210 Insoweit ist festzustellen, dass solche Verfahrensvorschriften geeignet sind, die Rechte der Richter, gegen die ein Disziplinarverfahren geführt wird, vom Disziplinargericht tatsächlich angehört zu werden und sich vor diesem wirksam verteidigen zu können, zu beschränken. Diese Vorschriften können nämlich nicht gewährleisten, dass der betreffende Richter bei eigener entschuldigter Abwesenheit oder der seines Verteidigers während des vor dem Disziplinargericht geführten Verfahrens weiterhin in der Lage sein wird, sachdienlich und wirksam seinen Standpunkt vorzutragen, gegebenenfalls mit Hilfe eines Verteidigers, der selbst tatsächlich die Möglichkeit hat, seine Verteidigung sicherzustellen. 211 Entgegen dem Vorbringen der Republik Polen ergibt sich eine solche Gewährleistung auch weder daraus, dass Art. 115a § 3 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit klarstellt, dass das Disziplinargericht das Verfahren nur fortsetzt, wenn dies nicht dem ordnungsgemäßen Ablauf des Disziplinarverfahrens zuwiderläuft, noch daraus, dass nach Art. 115 dieses Gesetzes das Disziplinargericht, wenn es die Ladung zustellt, den beschuldigten Richter auffordert, Erklärungen und alle Beweismittel, deren Vorlage er für sachdienlich hält, schriftlich vorzulegen. 212 Wie die Kommission in ihrer Klageschrift ausführt, sind diese Bestimmungen nämlich nicht geeignet, die Achtung der Verteidigungsrechte des betreffenden Richters im Verfahren vor dem Disziplinargericht zu gewährleisten. 213 Insbesondere dann, wenn sie – wie im vorliegenden Fall – im Zusammenhang mit einer Disziplinarordnung stehen, die die in Rn. 188 des vorliegenden Urteils genannten Mängel aufweist, können sich nationale Verfahrensvorschriften wie die, die Gegenstand des zweiten Teils der vorliegenden Rüge sind, als geeignet erweisen, die Gefahr noch zu erhöhen, dass die Disziplinarordnung, die für diejenigen gilt, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, als System zur politischen Kontrolle des Inhalts von Gerichtsentscheidungen eingesetzt wird. Die betreffenden Richter könnten nämlich befürchten, dass sie, wenn sie in den bei ihnen anhängigen Rechtssachen in einem bestimmten Sinne entscheiden, einem Disziplinarverfahren unterworfen werden, das – wie gezeigt – nicht die Garantien bietet, die den Anforderungen an ein faires Verfahren, insbesondere der Anforderung der Achtung der Verteidigungsrechte, genügen können. Die sich aus diesen Verfahrensvorschriften ergebenden Beschränkungen der Verteidigungsrechte beeinträchtigen auf diese Weise die Unabhängigkeit der Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit und erfüllen somit nicht die Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV. 214 Folglich greift auch der zweite Teil der vierten Rüge und damit die vierte Rüge insgesamt durch. Zur fünften Rüge: Verstoß gegen Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV – Vorbringen der Parteien 215 Die Kommission macht geltend, wie die konkreten Anwendungsfälle zeigten, auf die sie sich in ihrer Argumentation zur Begründung ihrer ersten Rüge bezogen habe, könnten Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht einen Richter im Zusammenhang mit dem Erlass einer Entscheidung, mit der der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht werde, einem Disziplinarverfahren aussetzen, was gegen Art. 267 AEUV verstoße. 216 Die Möglichkeit, dass auf diese Weise gegen Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit Ermittlungen und Disziplinarverfahren durchgeführt würden, weil diese den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht hätten, untergrabe nämlich die diesen durch Art. 267 AEUV eingeräumte Befugnis, den Gerichtshof zu befragen, und sei geeignet, sie davon abzuhalten, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, um sich nicht dem Risiko von Disziplinarmaßnahmen auszusetzen. Dadurch werde die Unabhängigkeit dieser nationalen Gerichte beeinträchtigt, obwohl eine solche Unabhängigkeit für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit im Rahmen des Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens von grundlegender Bedeutung sei. 217 In ihrer Klagebeantwortung macht die Republik Polen geltend, die Kommission habe nicht berücksichtigt, dass Art. 114 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit klar zwischen zwei Verfahrensabschnitten unterscheide. Zum einen gebe es die Ermittlungen, die eingeleitet und durchgeführt würden, um das etwaige Vorliegen eines Disziplinarvergehens festzustellen und dessen Täter zu ermitteln, ohne dass gegen eine bestimmte Person vorgegangen werde, und zum anderen das Disziplinarverfahren, das nur dann eingeleitet werde, wenn die Ergebnisse der Ermittlungen dies rechtfertigten. In den konkreten Fällen, auf die sich die Kommission beziehe, seien jedoch gegen Richter, die dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hätten, keine Disziplinarverfahren, sondern nur Ermittlungen durchgeführt worden. Diese Ermittlungen seien im Übrigen inzwischen abgeschlossen. 218 Die erste Ermittlung habe sich auf den Verdacht von Disziplinarvergehen nach Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit bezogen, die von bestimmten Richtern begangen worden sein sollten, indem sie in rechtswidriger Weise auf die Vorsitzenden der Spruchkörper eingewirkt hätten, die dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hätten. Diese erste Ermittlung sei eingestellt worden, nachdem zwei betroffene Richter ausgesagt hätten, dass auf sie kein Druck ausgeübt worden sei. Die zweite Ermittlung habe den Verdacht betroffen, dass diese Richter infolge des Erlasses von Vorabentscheidungsersuchen, deren Begründung im Wesentlichen identisch gewesen sei, das Ansehen ihres Amtes verletzt hätten, sowie die Möglichkeit, dass zumindest einer der betreffenden Richter eine falsche Aussage gemacht habe, als er versichert habe, dass er seine Vorlageentscheidung selbst verfasst habe. Das Ermittlungsverfahren habe auch die Frage betroffen, ob die Unterbrechung eines komplexen Strafverfahrens, das aufgrund eines eventuell unter Verstoß gegen Art. 267 AEUV vorgelegten Vorabentscheidungsersuchens von erheblicher Bedeutung sei, auf unbestimmte Zeit ein Disziplinarvergehen des betreffenden Richters darstellen könne. Diese zweite Ermittlung sei jedoch ebenfalls eingestellt worden, da die Prüfung der Beweise einschließlich der Aussagen der betreffenden Richter nicht den Schluss auf solche Vergehen dieser Richter zugelassen habe. 219 Nach Ansicht der Republik Polen beeinträchtigen solche Untersuchungen, da sie Ausnahmecharakter hätten und nicht zwangsläufig zu einem Disziplinarverfahren führten, nicht die richterliche Unabhängigkeit, denn sie zielten nicht darauf ab, die Gültigkeit der von ihnen erlassenen Entscheidungen in Frage zu stellen, sondern darauf, etwaige offensichtliche und grobe Verletzungen ihrer Pflichten zu beanstanden, wie sie in ihrer Antwort auf die erste Rüge der Kommission ausgeführt habe. Die im Rahmen der vorliegenden Klage beanstandete Disziplinarordnung habe sich somit weder auf die tatsächliche Ausübung der Befugnis der betreffenden Gerichte, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, noch auf ihre Befugnis ausgewirkt, in Zukunft Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen. 220 Außerdem könne der bloße Umstand, dass ein Disziplinarbeauftragter in dieser Weise Vorwürfe erhebe oder einen bestimmten Fall prüfe, ohne eine Gerichtsentscheidung, die diese Auslegung bestätige, nicht zu der Annahme führen, dass die bloße Tatsache, den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht zu haben, ein Disziplinarvergehen darstellen könne. Weder der Wortlaut von Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit noch die von der Republik Polen im Rahmen ihrer Antwort auf die erste Rüge vorgenommene Auslegung dieser Bestimmung erlaubten es nämlich, einen Richter allein aus diesem Grund disziplinarisch zu belangen. 221 Nach Ansicht der fünf Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge der Kommission beigetreten sind, ergibt sich sowohl aus der Auslegung und Anwendung von Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit als auch aus den Umständen, die dem Gerichtshof von den vorlegenden Gerichten in den Rechtssachen zur Kenntnis gebracht worden seien, in denen das Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234), ergangen sei, sowie aus den Erkenntnissen aus diesem Urteil klar, dass die Republik Polen gegen Art. 267 AEUV verstoßen habe. Dabei sei es unerheblich, dass die betreffenden Ermittlungen abgeschlossen worden seien, ohne dass die betreffenden Richter Gegenstand von Gerichtsverfahren gewesen seien, da die abschreckende Wirkung der Gefahr, Gegenstand eines solchen Verfahrens zu werden, die Entscheidung der Richter, ob die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof in einer bestimmten Rechtssache erforderlich sei, beeinflussen könne. – Würdigung durch den Gerichtshof 222 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Schlüsselelement des von den Verträgen geschaffenen Gerichtssystems in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren besteht, das durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (Gutachten 2/13 vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 176 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Urteil A. B. u. a., Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung). 223 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verleiht Art. 267 AEUV den nationalen Gerichten eine unbeschränkte Befugnis zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit unionsrechtlicher Bestimmungen aufwirft, deren Beantwortung für die Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits erforderlich ist (Urteile vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 26, und A. B. u. a., Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung). 224 Zudem wird bei Gerichten, deren Entscheidungen selbst nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, aus dieser Befugnis, vorbehaltlich der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten Ausnahmen, eine Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege der Vorabentscheidung (vgl. Urteil A. B. u. a., Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). 225 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung kann eine Vorschrift des nationalen Rechts ein nationales Gericht nicht daran hindern, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen oder dieser Pflicht nachzukommen, denn diese sind dem durch Art. 267 AEUV geschaffenen System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof und den durch diese Bestimmung den nationalen Gerichten zugewiesenen Aufgaben des zur Anwendung des Unionsrechts berufenen Richters inhärent (Urteil A. B. u. a., Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung). 226 Außerdem beschneidet eine nationale Vorschrift, die insbesondere die Gefahr birgt, dass ein nationaler Richter lieber darauf verzichtet, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, die den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse und hemmt als Folge die Effizienz dieses Systems der Zusammenarbeit (vgl. in diesem Sinne Urteil A. B. u. a., Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung). 227 Nationale Bestimmungen, nach denen gegen nationale Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden kann, weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet haben, können daher nicht zugelassen werden. Die bloße Aussicht darauf, dass aufgrund eines solchen Ersuchens oder der Entscheidung, dieses nach seiner Vorlage aufrechtzuerhalten, gegebenenfalls ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden könnte, ist nämlich geeignet, die tatsächliche Wahrnehmung der in Rn. 225 des vorliegenden Urteils genannten Befugnisse und Aufgaben durch die betreffenden nationalen Richter zu beeinträchtigen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 58). 228 Der Umstand, dass die Richter keinen Disziplinarverfahren oder ‑strafen für die Ausübung einer solchen in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallenden Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs ausgesetzt sind, stellt zudem eine wesentliche Garantie für ihre Unabhängigkeit dar, die insbesondere für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit von wesentlicher Bedeutung ist, das durch den in Art. 267 AEUV vorgesehenen Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens verkörpert wird (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). 229 Im vorliegenden Fall ergibt sich schon aus der Prüfung, die den Gerichtshof dazu veranlasst hat, der ersten Rüge der Kommission stattzugeben, dass die Definitionen des Disziplinarvergehens in Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und in Art. 97 §§ 1 und 3 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht nicht den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV genügen, da sie die Gefahr begründen, dass die in Rede stehende Disziplinarordnung dafür eingesetzt wird, auf die Richter der polnischen ordentlichen Gerichtsbarkeit Druck und eine abschreckende Wirkung auszuüben, die den Inhalt der von ihnen zu erlassenden Gerichtsentscheidungen beeinflussen können. 230 Eine solche Gefahr betrifft aber auch die Entscheidungen, mit denen sich ein nationales Gericht dazu entschließt, die ihm durch Art. 267 AEUV gewährte Befugnis, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu richten, wahrzunehmen, oder gegebenenfalls seiner Vorlagepflicht aus dieser Bestimmung nachzukommen. 231 Wie nämlich die von der Kommission angeführten Beispiele belegen, von denen u. a. in den Rn. 117, 118 und 125 des vorliegenden Urteils die Rede ist, bestätigt die Praxis des Disziplinarbeauftragten, dass sich eine solche Gefahr schon jetzt durch die Einleitung von Ermittlungen wegen Entscheidungen, mit denen polnische Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht haben, verwirklicht hat. Zu diesen Ermittlungen gehörten insbesondere die Anhörung der betreffenden Richter und die Übersendung von Fragebögen an sie zu der Frage, ob die eingereichten Vorabentscheidungsersuchen Disziplinarvergehen darstellen könnten. 232 Die Republik Polen hat sich in ihrer Klagebeantwortung überdies darauf beschränkt, die Tragweite solcher Praktiken herunterzuspielen, indem sie u. a. vorgetragen hat, dass die Ermittlungen nicht von den Disziplinargerichten selbst, sondern von Disziplinarbeauftragten vorgenommen worden seien, dass die Phase der Ermittlungen von der Phase des eigentlichen Disziplinarverfahrens zu unterscheiden sei, dass diese Ermittlungen in der Zwischenzeit abgeschlossen seien und sich darüber hinaus auf die Umstände des Erlasses der betreffenden Vorlageentscheidungen und auf das Verhalten der betreffenden Richter bei diesem Anlass und nicht auf diese Entscheidungen selbst bezogen hätten. 233 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die strikte Einhaltung der Verpflichtungen, die sich für einen Mitgliedstaat aus Art. 267 AEUV ergeben, allen staatlichen Stellen und damit auch einem Organ obliegt, das wie der Disziplinarbeauftragte damit betraut ist, – gegebenenfalls unter Aufsicht des Justizministers – die Disziplinarverfahren gegen Richter durchzuführen. Wie sowohl die Kommission als auch die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge der Kommission beigetreten sind, geltend gemacht haben, reicht zum anderen der bloße Umstand, dass der Disziplinarbeauftragte Ermittlungen unter den in Rn. 231 des vorliegenden Urteils genannten Bedingungen durchführt, aus, um die in Rn. 229 des vorliegenden Urteils genannte Gefahr von Druck und abschreckender Wirkung zu konkretisieren und die Unabhängigkeit der betreffenden Richter zu beeinträchtigen. 234 Folglich greift die fünfte Rüge, mit der geltend gemacht wird, die Republik Polen habe dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen, dass sie es zulasse, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt werde, durch. 235 Nach alledem ist festzustellen, dass die Republik Polen dadurch, – dass sie die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer, die für die Kontrolle der in Disziplinarverfahren gegen Richter ergangenen Entscheidungen zuständig ist, nicht gewährleistet (Art. 3 Nr. 5, Art. 27 und Art. 73 § 1 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht in Verbindung mit Art. 9a des KRS-Gesetzes), – dass sie zulässt, dass der Inhalt von Gerichtsentscheidungen als von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit begangenes Disziplinarvergehen gewertet werden kann (Art. 107 § 1 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit sowie Art. 97 §§ 1 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht), – dass sie dem Präsidenten der Disziplinarkammer das Recht einräumt, in Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffenden Sachen das zuständige Disziplinargericht erster Instanz nach seinem Ermessen zu bestimmen (Art. 110 § 3 und Art. 114 § 7 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit), und somit nicht gewährleistet, dass Disziplinarsachen von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden werden, und – dass sie nicht gewährleistet, dass Disziplinarverfahren gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit innerhalb angemessener Frist entschieden werden (Art. 112b § 5 Satz 2 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit), sowie vorsieht, dass die Handlungen, die mit der Ernennung eines Verteidigers sowie der Verteidigung durch diesen zusammenhängen, den Lauf des Disziplinarverfahrens nicht hemmen (Art. 113a dieses Gesetzes) und das Disziplinargericht das Verfahren trotz der entschuldigten Abwesenheit des benachrichtigten beschuldigten Richters oder seines Verteidigers durchführt (Art. 115a § 3 des Gesetzes), und somit die Achtung der Verteidigungsrechte der beschuldigten Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht gewährleistet, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat und dadurch, dass sie zulässt, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt wird, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen hat. Kosten 236 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission beantragt hat, der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen, und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes aufzuerlegen. 237 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden ihre eigenen Kosten. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Republik Polen hat dadurch, – dass sie die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), die für die Kontrolle der in Disziplinarverfahren gegen Richter ergangenen Entscheidungen zuständig ist, nicht gewährleistet (Art. 3 Nr. 5, Art. 27 und Art. 73 § 1 der Ustawa o Sądzie Najwyższym [Gesetz über das Oberste Gericht] vom 8. Dezember 2017 in konsolidierter Fassung, die im Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej von 2019 (Pos. 825) veröffentlicht ist, in Verbindung mit Art. 9a der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa [Gesetz über den Landesjustizrat] vom 12. Mai 2011 in der durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw [Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze] vom 8. Dezember 2017 geänderten Fassung), – dass sie zulässt, dass der Inhalt von Gerichtsentscheidungen als von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit begangenes Disziplinarvergehen gewertet werden kann (Art. 107 § 1 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych [Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit] vom 27. Juli 2001 in der Fassung, die sich aus den im Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej von 2019 [Pos. 52, 55, 60, 125, 1469 und 1495] veröffentlichten nachfolgenden Änderungen ergibt, sowie Art. 97 §§ 1 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht in konsolidierter Fassung, die im Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej von 2019 [Pos. 825] veröffentlicht ist), – dass sie dem Präsidenten der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) das Recht einräumt, in Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit betreffenden Sachen das zuständige Disziplinargericht erster Instanz nach seinem Ermessen zu bestimmen (Art. 110 § 3 und Art. 114 § 7 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit in der Fassung, die sich aus den im Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej von 2019 [Pos. 52, 55, 60, 125, 1469 und 1495] veröffentlichten nachfolgenden Änderungen ergibt), und somit nicht gewährleistet, dass Disziplinarsachen von einem „durch Gesetz errichteten“ Gericht entschieden werden, und – dass sie nicht gewährleistet, dass Disziplinarverfahren gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit innerhalb angemessener Frist entschieden werden (Art. 112b § 5 Satz 2 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit), sowie vorsieht, dass die Handlungen, die mit der Ernennung eines Verteidigers sowie der Verteidigung durch diesen zusammenhängen, den Lauf des Disziplinarverfahrens nicht hemmen (Art. 113a dieses Gesetzes) und das Disziplinargericht das Verfahren trotz der entschuldigten Abwesenheit des benachrichtigten beschuldigten Richters oder seines Verteidigers durchführt (Art. 115a § 3 des Gesetzes), und somit die Achtung der Verteidigungsrechte der beschuldigten Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht gewährleistet, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen. 2. Die Republik Polen hat dadurch, dass sie zulässt, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt wird, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen. 3. Die Republik Polen trägt neben ihren eigenen Kosten die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes. 4. Das Königreich Belgien, das Königreich Dänemark, das Königreich der Niederlande, die Republik Finnland und das Königreich Schweden tragen ihre eigenen Kosten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 2. März 2021.#A.B. u. a. gegen Krajowa Rada Sądownictwa.#Vorabentscheidungsersuchen des Naczelny Sąd Administracyjny.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Verfahren zur Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) – Ernennung durch den Präsidenten der Republik Polen auf der Grundlage einer Entschließung des Landesjustizrats – Fehlende Unabhängigkeit dieses Rates – Fehlende Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen eine solche Entschließung – Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen), mit dem die Bestimmung, auf der die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts beruht, aufgehoben wird – Erlass von Rechtsvorschriften, die anhängige Rechtssachen von Rechts wegen für erledigt erklären und in Zukunft jeden gerichtlichen Rechtsbehelf in solchen Rechtssachen ausschließen – Art. 267 AEUV – Befugnis und/oder Pflicht der nationalen Gerichte, ein Vorabentscheidungsersuchen einzureichen und es aufrechtzuerhalten – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Vorrang des Unionsrechts – Befugnis, nicht mit dem Unionsrecht im Einklang stehende nationale Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen.#Rechtssache C-824/18.
62018CJ0824
ECLI:EU:C:2021:153
2021-03-02T00:00:00
Tanchev, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62018CJ0824 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 2. März 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Rechtsstaatlichkeit – Wirksamer Rechtsschutz – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Verfahren zur Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) – Ernennung durch den Präsidenten der Republik Polen auf der Grundlage einer Entschließung des Landesjustizrats – Fehlende Unabhängigkeit dieses Rates – Fehlende Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen eine solche Entschließung – Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen), mit dem die Bestimmung, auf der die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts beruht, aufgehoben wird – Erlass von Rechtsvorschriften, die anhängige Rechtssachen von Rechts wegen für erledigt erklären und in Zukunft jeden gerichtlichen Rechtsbehelf in solchen Rechtssachen ausschließen – Art. 267 AEUV – Befugnis und/oder Pflicht der nationalen Gerichte, ein Vorabentscheidungsersuchen einzureichen und es aufrechtzuerhalten – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit – Vorrang des Unionsrechts – Befugnis, nicht mit dem Unionsrecht im Einklang stehende nationale Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen“ In der Rechtssache C‑824/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 21. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Dezember 2018, ergänzt mit Entscheidung vom 26. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juli 2019, in dem Verfahren A. B., C. D., E. F., G. H., I. J. gegen Krajowa Rada Sądownictwa, Beteiligte: Prokurator Generalny, Rzecznik Praw Obywatelskich, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan, M. Ilešič, L. Bay Larsen, A. Kumin und N. Wahl, der Richter D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und N. Jääskinen, Generalanwalt: E. Tanchev, Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juli 2020, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von A. B., vertreten durch M. Dębska-Koniecek, adwokat, – von C. D., vertreten durch M. Bogdanowicz, radca prawny, – von E. F., vertreten durch M. Gajdus, adwokat, – von I. J., vertreten durch P. Strumiński, radca prawny, – der Krajowa Rada Sądownictwa, vertreten durch L. Mazur, J. Dudzicz und D. Pawełczyk-Woicka, – des Prokurator Generalny, vertreten durch B. Górecka, R. Hernand, A. Reczka, S. Bańko und B. Marczak, – des Rzecznik Praw Obywatelskich, vertreten durch A. Bodnar, M. Taborowski und P. Filipek, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, A. Grajewski, A. Dalkowska und S. Żyrek als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer, P. J. O. Van Nuffel, A. Stobiecka-Kuik und C. Valero als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Dezember 2020 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2, Art. 4 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, von Art. 267 AEUV, Art. 15 Abs. 1, Art. 20, Art. 21 Abs. 1, Art. 47 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. a, Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16). 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen A. B., C. D., E. F., G. H. und I. J. auf der einen Seite und der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) (im Folgenden: KRS) auf der anderen Seite über Entschließungen, mit denen die KRS entschieden hat, dem Präsidenten der Republik Polen (im Folgenden: Präsident der Republik) nicht vorzuschlagen, die betreffenden Personen auf Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) zu ernennen, und die Besetzung dieser Stellen mit anderen Kandidaten vorzuschlagen. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht EU-Vertrag und AEU-Vertrag 3 Art. 2 EUV lautet: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ 4 Art. 4 Abs. 3 EUV sieht vor: „Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. Die Mitgliedstaaten ergreifen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben. Die Mitgliedstaaten unterstützen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.“ 5 Art. 19 Abs. 1 EUV bestimmt: „Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“ 6 Art. 267 AEUV lautet: „Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung a) über die Auslegung der Verträge, b) über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union. Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen. Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet. …“ Charta 7 Titel VI („Justizielle Rechte“) der Charta umfasst u. a. Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“), der bestimmt: „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. … …“ Richtlinie 2000/78 8 Art. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt: „Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“ 9 Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.“ 10 Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie lautet: „Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf a) die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit …“ 11 Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten für verletzt halten, ihre Ansprüche aus dieser Richtlinie auf dem Gerichts- und/oder Verwaltungsweg … geltend machen können, selbst wenn das Verhältnis, während dessen die Diskriminierung vorgekommen sein soll, bereits beendet ist.“ Polnisches Recht Verfassung 12 Art. 45 Abs. 1 der Verfassung sieht vor: „Jedermann hat das Recht auf gerechte und öffentliche Verhandlung der Sache ohne unbegründete Verzögerung vor dem zuständigen, unabhängigen, unparteiischen Gericht.“ 13 Art. 60 der Verfassung bestimmt: „Polnische Staatsangehörige, die die vollen bürgerlichen Rechte genießen, haben das Recht auf gleichen Zugang zum öffentlichen Dienst.“ 14 Nach Art. 179 der Verfassung werden die Richter vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS auf unbestimmte Zeit berufen. 15 Art. 184 der Verfassung sieht vor, dass der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) und die Verwaltungsgerichte für die Kontrolle der Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung zuständig sind. 16 In Art. 186 Abs. 1 der Verfassung heißt es: „Die [KRS] schützt die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter.“ 17 Art. 187 der Verfassung bestimmt: „1.   „Die [KRS] besteht aus: 1) dem Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], dem Justizminister, dem Präsidenten des [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] und einer vom Präsidenten der Republik berufenen Person, 2) fünfzehn Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und Militärgerichte gewählt worden sind, 3) vier Mitgliedern, die vom Sejm [(Erste Kammer des Parlaments, Polen)] aus der Mitte der Abgeordneten und zwei Mitgliedern, die vom Senat aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind. … 3.   Die Amtszeit der gewählten Mitglieder [der KRS] beträgt vier Jahre. 4.   Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise [der KRS] sowie die Wahl ihrer Mitglieder regelt ein Gesetz.“ KRS-Gesetz 18 Die KRS unterliegt der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz über den Landesjustizrat) vom 12. Mai 2011 (Dz. U. 2011, Nr. 126, Pos. 714) in der durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und bestimmter anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 3) und der Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichte und einiger anderer Gesetze) vom 20. Juli 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 1443) geänderten Fassung (im Folgenden: KRS-Gesetz). 19 Nach Art. 3 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 des KRS-Gesetzes fallen in die Zuständigkeit der KRS: „1.   die Prüfung und Bewertung von Kandidaten für Richterstellen am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] und um Richterstellen an den ordentlichen Gerichten, Verwaltungsgerichten und Militärgerichten sowie um Stellen als beisitzende Richter an Verwaltungsgerichten; 2.   die Vorlage von Vorschlägen an den [Präsidenten der Republik] für die Ernennung von Richtern am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], an den ordentlichen Gerichten, Verwaltungsgerichten und Militärgerichten sowie für die Ernennung von beisitzenden Richtern an den Verwaltungsgerichten“. 20 Art. 9a dieses Gesetzes bestimmt: „1.   Der Sejm wählt aus den Reihen der Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], an den ordentlichen Gerichten, an den Verwaltungsgerichten und an den Militärgerichten 15 Mitglieder [der KRS] für eine gemeinsame Amtszeit von vier Jahren. 2.   Bei der Wahl nach Abs. 1 trägt der Sejm so weit wie möglich dem Erfordernis Rechnung, dass Richter verschiedener Arten und Ebenen von Gerichten [in der KRS] vertreten sein sollten. 3.   Die gemeinsame Amtszeit der aus den Reihen der Richter gewählten neuen Mitglieder [der KRS] beginnt an dem auf ihre Wahl folgenden Tag. Die scheidenden Mitglieder [der KRS] üben ihre Tätigkeit bis zu dem Tag aus, an dem die gemeinsame Amtszeit der neuen Mitglieder [der KRS] beginnt.“ 21 Nach Art. 11a Abs. 2 des KRS-Gesetzes haben das Vorschlagsrecht für die Kandidaten für eine Stelle in der KRS, die aus der Mitte der Richter gewählt werden, eine Gruppe aus mindestens 2000 polnischen Bürgern oder eine Gruppe aus mindestens 25 Richtern im aktiven Dienst. Das Verfahren für die Wahl der Mitglieder der KRS durch den Sejm ist in Art. 11d des KRS-Gesetzes festgelegt. 22 Art. 37 Abs. 1 des KRS-Gesetzes bestimmt: „Hat sich mehr als ein Kandidat um eine Stelle als Richter beworben, prüft und bewertet [die KRS] alle eingereichten Bewerbungen gemeinsam. In diesem Fall verabschiedet [die KRS] eine Entschließung, die ihre Entscheidungen über die Einreichung eines Vorschlags zur Ernennung auf eine Richterstelle für alle Kandidaten enthält.“ 23 Art. 43 dieses Gesetzes lautet: „1.   Eine Entschließung [der KRS] wird bestandskräftig, wenn sie nicht angefochten werden kann. 2.   Wird die in Art. 37 Abs. 1 genannte Entschließung nicht von allen Verfahrensteilnehmern angefochten, so wird sie vorbehaltlich von Art. 44 Abs. 1b für den Teil bestandskräftig, der die Entscheidung enthält, die Teilnehmer, die keinen Rechtsbehelf eingelegt haben, nicht zur Ernennung zum Richter vorzuschlagen.“ 24 Zum Zeitpunkt der Vorlage des ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens sah Art. 44 des KRS-Gesetzes vor: „1.   Ein Teilnehmer an dem Verfahren kann gegen die Entschließung [der KRS] einen Rechtsbehelf beim [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] mit der Begründung einlegen, dass diese rechtswidrig sei, soweit nicht besondere Bestimmungen etwas anderes vorsehen. … 1a.   In Individualverfahren, die eine Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, kann ein Rechtsbehelf beim [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] eingelegt werden. In diesen Fällen kann kein Rechtsbehelf beim [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] eingelegt werden. Der Rechtsbehelf zum [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] kann nicht damit begründet werden, dass nicht zutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die Kriterien erfüllen, die bei der Entscheidung über die Einreichung des Vorschlags für die Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] berücksichtigt werden. 1b.   Haben in Individualverfahren, die eine Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, nicht alle Teilnehmer an dem Verfahren die in Art. 37 Abs. 1 genannte Entschließung angefochten, wird diese Entschließung für die Teilnehmer, die keinen Rechtsbehelf eingelegt haben, in dem Teil bestandskräftig, in dem die Entscheidung über die Einreichung eines Vorschlags für die Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] bzw. die Entscheidung, keinen Vorschlag für die Ernennung zum Richter an diesem Gericht einzureichen, enthalten ist. … 4.   In Individualverfahren, die die Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, kommt die Aufhebung der Entschließung [der KRS], den Vorschlag für eine Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] nicht einzureichen, durch den [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] der Zulassung der Bewerbung des Verfahrensteilnehmers, der den Rechtsbehelf eingelegt hat, um eine freie Richterstelle am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] gleich, und zwar für die Stelle, für die das Verfahren vor [der KRS] zum Zeitpunkt der Verkündung des Urteils des [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] noch nicht abgeschlossen ist, oder mangels eines solchen Verfahrens, für die nächste freie Richterstelle am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], die ausgeschrieben wird.“ 25 Abs. 1a von Art. 44 des KRS-Gesetzes wurde durch das Gesetz vom 8. Dezember 2017 zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und einiger anderer Gesetze, das am 17. Januar 2018 in Kraft trat, und die Abs. 1b und 4 wurden durch das Gesetz vom 20. Juli 2018 zur Änderung des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichte und einiger anderer Gesetze, das am 27. Juli 2018 in Kraft trat, in diesen Artikel aufgenommen. Vor der Einführung dieser Änderungen wurden die in Abs. 1a genannten Rechtsbehelfe beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gemäß Art. 44 Abs. 1 des KRS-Gesetzes eingelegt. 26 Mit Urteil vom 25. März 2019 erklärte das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof, Polen) Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes für unvereinbar mit Art. 184 der Verfassung. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die dem Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) durch Abs. 1a übertragene Zuständigkeit in Anbetracht der Art der betroffenen Fälle, der organisatorischen Merkmale dieses Gerichts und des von ihm angewandten Verfahrens nicht gerechtfertigt sei. In diesem Urteil stellte das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) außerdem fest, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit „zwangsläufig die Einstellung aller auf der Grundlage der aufgehobenen Bestimmung geführten Gerichtsverfahren zur Folge hat“. 27 In der Folge wurde Art. 44 des KRS-Gesetzes durch die Ustawa o zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz ustawy – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und des Gesetzes über die Organisation der Verwaltungsgerichte) vom 26. April 2019 (Dz. U. 2019, Pos. 914) (im Folgenden: Gesetz vom 26. April 2019) geändert, das am 23. Mai 2019 in Kraft trat. Art. 44 Abs. 1 lautet seitdem: „Ein Teilnehmer an dem Verfahren kann gegen die Entschließung [der KRS] einen Rechtsbehelf beim [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] mit der Begründung einlegen, dass diese rechtswidrig sei, soweit nicht besondere Bestimmungen etwas anderes vorsehen. In Individualverfahren, die die Ernennung zum Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, kann kein Rechtsbehelf eingelegt werden.“ 28 Darüber hinaus sieht Art. 3 des Gesetzes vom 26. April 2019 vor, dass „Verfahren über Rechtsbehelfe gegen die Entschließungen [der KRS] in Individualverfahren, die die Ernennung zum Richter [am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingeleitet und nicht entschieden wurden, … von Rechts wegen eingestellt [werden]“. Neues Gesetz über das Oberste Gericht 29 In Art. 30 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 23. November 2002 (Dz. U. 2002, Pos. 240) war das Ruhestandsalter für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf 70 Jahre festgesetzt. 30 Die Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5, im Folgenden: neues Gesetz über das Oberste Gericht) trat am 3. April 2018 in Kraft. 31 Nach den Art. 37 und 111 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht wurde das Ruhestandsalter für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf 65 Jahre gesenkt, vorbehaltlich der Möglichkeit für den Präsidenten der Republik, ihnen zu genehmigen, über dieses Alter hinaus im Amt zu verbleiben. 32 Nach dem Beschluss des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen (C‑619/18 R, EU:C:2018:1021), wurde dieser Genehmigungsmechanismus durch die Ustawa o zmianie ustawy o Sądzie Nawyższym (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Oberste Gericht) vom 21. November 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 2507) abgeschafft, die Anwendung des neuen Ruhestandsalters von 65 Jahren auf Richter beschränkt, die ihr Amt am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nach dem 1. Januar 2019 angetreten hatten, und die Wiedereinstellung von Richtern bei diesem Gericht erlaubt, die ihr Amt vor diesem Datum angetreten hatten und gemäß den in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen in den Ruhestand versetzt worden waren. Ausgangsverfahren und ursprüngliches Vorabentscheidungsersuchen 33 Mit Entschließungen vom 24. und 28. August 2018 entschied die KRS, dem Präsidenten der Republik keine Vorschläge zur Ernennung von A. B. und C. D. zur Besetzung einer Richterstelle in der Strafkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und von E. F., G. H. und I. J. zur Besetzung von sieben Richterstellen in der Zivilkammer dieses Gerichts vorzulegen. Diese Entschließungen enthielten darüber hinaus Vorschläge für die Besetzung der betreffenden Stellen mit anderen Kandidaten. 34 A. B., C. D., E. F., G. H. und I. J. legten gegen diese Entschließungen beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) Rechtsbehelfe ein und beantragten vorsorglich die Aussetzung dieser Entschließungen. Mit Beschlüssen vom 25. und 27. September 2018 sowie vom 8. Oktober 2018 ordnete das angerufene Gericht die Aussetzung der Vollziehung dieser Entschließungen an. 35 In seiner Vorlageentscheidung führt der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) zunächst aus, dass Art. 44 Abs. 1b des KRS-Gesetzes im Unterschied zu den zuvor geltenden Bestimmungen vorsehe, dass in Individualverfahren, die eine Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beträfen, die in Art. 37 Abs. 1 dieses Gesetzes genannte Entschließung, wenn sie nicht von allen Teilnehmern des Auswahlverfahrens angefochten worden sei, hinsichtlich des Teils bestandskräftig werde, der die Entscheidung zur Vorlage eines Ernennungsvorschlags in Bezug auf die Teilnehmer, die keinen Rechtsbehelf eingelegt hätten, enthalte. Zu diesen Teilnehmern gehörten auch diejenigen, deren Ernennung vorgeschlagen werde und die daher kein Interesse daran hätten, gegen eine solche Entschließung vorzugehen, so dass der Teil der Entschließung, in dem Kandidaten zur Ernennung vorgeschlagen würden, de facto immer bestandskräftig werde. 36 Sodann vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, dass Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes die gerichtliche Funktion, die es in Bezug auf solche Entschließungen auszuüben habe, sehr allgemein und ohne Festlegung klarer Beurteilungskriterien definiere. 37 Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach Art. 44 Abs. 4 des KRS-Gesetzes im Fall der Aufhebung des Teils einer Entschließung der KRS, der sich auf die Nichtvorlage eines Vorschlags für die Ernennung eines Kandidaten zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beziehe, die eventuelle Zulassung der Bewerbung des Kandidaten um eine solche Richterstelle nur dann möglich sei, wenn zum Zeitpunkt der Aufhebung noch ein Verfahren vor der KRS laufe, andernfalls gelte diese Zulassung nur für die nächsten freien Richterstellen bei diesem Gericht. Alle Möglichkeiten einer erneuten Prüfung der Bewerbung auf die freie Stelle, auf die sich der Betroffene beworben habe, und einer etwaigen Vergabe dieser Stelle an ihn im Anschluss an seinen Rechtsbehelf seien somit in der Praxis ausgeschlossen. 38 Unter diesen Umständen entfalte der Rechtsbehelf, der den Kandidaten zur Verfügung stehe, deren Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) von der KRS nicht vorgeschlagen worden sei, keinerlei Wirkung. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts wäre es für die Wirksamkeit eines solchen Rechtsbehelfs nämlich erstens erforderlich, dass der von einem solchen Kandidaten eingelegte Rechtsbehelf die Aussetzung der Entschließung der KRS zur Folge habe, so dass diese nicht bestandskräftig werden und nicht dem Präsidenten der Republik im Hinblick auf die Ernennung der vorgeschlagenen Kandidaten vorgelegt werden könne, solange der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) nicht über den Rechtsbehelf entschieden habe. Zweitens müsste die KRS, wenn dem Rechtsbehelf stattgegeben würde, verpflichtet sein, die Bewerbung des Rechtsbehelfsführers im Hinblick auf die etwaige Vergabe der betreffenden Stelle erneut zu prüfen. 39 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen hat das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit der in den Rn. 35 bis 37 des vorliegenden Urteils genannten nationalen Vorschriften mit dem Unionsrecht. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich insoweit, dass nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, für die Anwendung und Wahrung des Unionsrechts zu sorgen und dafür, wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, um den Einzelnen ihren Anspruch auf einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten. Ein solcher Schutz sei ein wesentliches Merkmal der in Art. 2 EUV festgelegten Rechtsstaatlichkeit und müsse unter Beachtung der sich aus Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 ergebenden Bedingungen gewährleistet werden. 40 Der Zweck von Art. 44 Abs. 1b und 4 des KRS-Gesetzes sei in Bezug auf die Bestandskraft der Entschließungen der KRS, mit denen eine Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorgeschlagen werde, auch unter Berücksichtigung des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht zu beurteilen, dessen Art. 37 und 111 das Ruhestandsalter für Richter im aktiven Dienst am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf 65 Jahre herabgesetzt und die Möglichkeit, über dieses Alter hinaus im Amt zu bleiben, von der Genehmigung durch den Präsidenten der Republik abhängig gemacht hätten. 41 Überdies seien die nationalen Vorschriften über die gerichtlichen Rechtsbehelfe gegen die Entschließungen der KRS, mit denen Ernennungen auf andere Richterstellen als die am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorgeschlagen würden, unverändert geblieben und sähen die in den Rn. 35 bis 37 des vorliegenden Urteils genannten Beschränkungen nicht vor. Somit bestehe zwischen den Kandidaten für die Ernennung zum Richter an diesem Gericht und den Kandidaten für die Ernennung zum Richter an einem anderen Gericht als diesem ein Unterschied beim Zugang zur gerichtlichen Kontrolle der Entschließungen der KRS, mit denen die Kandidaten von dieser Einrichtung nicht zur Ernennung vorgeschlagen würden. Ein solcher Unterschied könnte, wenn er nicht durch ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel gerechtfertigt sei, gegen das Recht auf gleichen Zugang zum öffentlichen Dienst und das Recht auf einen Rechtsbehelf zur Gewährleistung dieses Rechts verstoßen, die in den Art. 45 und 60 der Verfassung verankert seien. 42 Diese unterschiedliche Behandlung könne zudem umso weniger gerechtfertigt sein, als der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eine entscheidende Stellung einnehme, da er eine richterliche Oberaufsicht über alle Untergerichte ausübe, so dass der Ablauf des Verfahrens zur Auswahl der an diesem Gericht tätigen Richter ganz besonders eine echte und strenge Kontrolle durch das zuständige Gericht erfordere. 43 Insoweit sei die festgestellte Unwirksamkeit der gerichtlichen Kontrolle für Verfahren zur Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in Anbetracht der neuen Zusammensetzung der KRS Anlass für zusätzliche Bedenken. Wie sich nämlich aus Art. 9a des KRS-Gesetzes ergebe, seien die 15 in der KRS tätigen Vertreter der Judikative nicht mehr wie zuvor von ihren Kollegen, sondern vom Sejm aus den Kandidaten ausgewählt worden, die von einer Gruppe aus mindestens 2000 polnischen Bürgern oder aus 25 Richtern vorgeschlagen worden seien, was die Gefahr mit sich bringe, dass sich die Mitglieder der KRS den im Sejm vertretenen politischen Kräften unterordnen würden. Außerdem bestünden hinsichtlich der neuen Zusammensetzung der KRS mangels jeglicher diesbezüglicher Transparenz Zweifel daran, ob die oben genannten Voraussetzungen für die Einreichung von Bewerbungen um eine Stelle als Mitglied der KRS tatsächlich erfüllt worden seien. 44 Schließlich sei auch problematisch, dass unter den 15 Mitgliedern der KRS, die die Judikative verträten, 14 Richter der ordentlichen Gerichte und ein Richter der Verwaltungsgerichte seien, aber entgegen Art. 187 Nr. 2 der Verfassung kein einziger Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht). Gleiches gelte für den Umstand, dass unter diesen 14 Richtern der ordentlichen Gerichte auch die von der Exekutive ernannten Präsidenten und Vizepräsidenten der ordentlichen Gerichte seien, die an die Stelle von Personen träten, die von der Exekutive abberufen worden seien, was bedeuten könne, dass der Einfluss der Exekutive innerhalb der KRS auf diese Weise an Bedeutung gewonnen habe. 45 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 2 EUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3, Art. 6 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 sowie Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen, dass ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip sowie das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz vorliegt, wenn der nationale Gesetzgeber in Individualverfahren betreffend die Ausübung des Richteramts am letztinstanzlichen Gericht eines Mitgliedstaats (dem Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht]) zwar ein Beschwerderecht vorsieht, die Entscheidung über die gemeinsame Prüfung und Bewertung aller Kandidaten für den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in dem Auswahlverfahren, das der Weiterleitung des Antrags auf Ernennung zum Richter an diesem Gericht vorangeht, aber bestandskräftig und wirksam wird, wenn sie nicht von allen Teilnehmern des Auswahlverfahrens angefochten wird, unter denen sich auch ein Kandidat befindet, der an der Anfechtung dieser Entscheidung nicht interessiert ist, weil der ihn betreffende Antrag auf Ernennung zum Richter weitergeleitet wurde, wobei dies zur Folge hat, – dass der Rechtsbehelf seine Wirksamkeit verliert und keine Möglichkeit der Durchführung einer wirklichen Kontrolle des Verlaufs des vorbezeichneten Auswahlverfahrens durch das zuständige Gericht gegeben ist und – in der Situation, dass dieses Verfahren auch diejenigen Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) umfasst, die bisher mit Richtern besetzt waren, die dem neuen niedrigeren Rentenalter unterworfen wurden, ohne dass allein der betreffende Richter darüber entscheiden konnte, ob er die Regelung zum niedrigeren Rentenalter in Anspruch nehmen möchte, im Hinblick auf den Grundsatz der Unabsetzbarkeit von Richtern – wenn man annimmt, dass er dadurch verletzt wird – auch nicht ohne Einfluss auf den Umfang und das Ergebnis der gerichtlichen Kontrolle des angeführten Auswahlverfahrens bleibt? 2. Sind Art. 2 EUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 und Art. 6 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 und Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a und Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 sowie Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen, – dass ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip, den Gleichbehandlungsgrundsatz und den Grundsatz des gleichen Zugangs zum öffentlichen Dienst – Ausübung des Richteramts am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) – vorliegt, wenn in Individualverfahren betreffend die Ausübung des Richteramts an diesem Gericht zwar das Recht auf Einlegung einer Beschwerde beim zuständigen Gericht vorgesehen ist, aber infolge der in der ersten Frage beschriebenen Regelungen zur Bestandskraft die Berufung ins Richteramt am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die eine unbesetzte Richterstelle betrifft, ohne Durchführung einer Kontrolle des vorbezeichneten Auswahlverfahrens durch das zuständige Gericht – sofern eine solche Kontrolle beantragt wurde – erfolgen kann und diese fehlende Kontrollmöglichkeit das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und damit auch das Recht auf gleichen Zugang zum öffentlichen Dienst verletzt, was dem öffentlichen Interesse widerspricht, und – dass es gegen den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts verstößt, wenn die Einrichtung des Mitgliedstaats, die über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter wachen soll (die KRS), vor der das Verfahren betreffend die Ausübung des Richteramts am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) durchgeführt wird, so zusammengesetzt ist, dass die Vertreter der Judikative in dieser Einrichtung durch die Legislative gewählt werden? Verfahren vor dem Gerichtshof und ergänzendes Vorabentscheidungsersuchen Antrag auf beschleunigtes Verfahren und vorrangige Behandlung 46 In seiner Vorlageentscheidung hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Zur Stützung seines Antrags hat das vorlegende Gericht geltend gemacht, dass ein solches Verfahren in Anbetracht der Bedeutung und der Art der Ausgangsrechtsstreitigkeiten und der Entscheidungen, die es in diesen Streitigkeiten zu treffen habe, gerechtfertigt sei. 47 Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert. 48 Insoweit ist daran zu erinnern, dass ein solches beschleunigtes Verfahren ein Verfahrensinstrument ist, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Beschlüsse des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. Dezember 2017, M. A. u. a., C‑661/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:1024, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 1. Oktober 2018, Miasto Łowicz und Prokuratura Okręgowa w Płocku, C‑558/18 und C‑563/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:923, Rn. 18). 49 Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch hervor, dass das beschleunigte Verfahren keine Anwendung finden kann, wenn die Sensibilität und die Komplexität der durch einen Fall aufgeworfenen rechtlichen Fragen kaum mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind, insbesondere, wenn es nicht angebracht erscheint, das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof zu verkürzen (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 31. Januar 2019 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, dem Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren nicht stattzugeben, da die Vorlageentscheidung keine hinreichenden Angaben enthält, um außergewöhnliche Umstände darzutun, die eine rasche Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen rechtfertigen könnten. Aus den Ausführungen in der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass es in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten um Rechtsbehelfe geht, die von Kandidaten für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gegen Entschließungen der KRS eingelegt wurden, mit denen diese nicht für eine solche Ernennung vorgeschlagen wurden, und dass das vorlegende Gericht außerdem die Aussetzung der Vollziehung dieser Entschließungen angeordnet hat. 51 Unter diesen Umständen ist auf der Grundlage dieser Angaben und Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, das, wie sich aus Rn. 46 des vorliegenden Urteils ergibt, ohne weitere Hinweise lediglich auf die Bedeutung und die Art der Ausgangsrechtsstreitigkeiten Bezug genommen hat, nicht ersichtlich, dass die vorliegende Rechtssache, die im Übrigen Fragen mit einem hohen Grad an Sensibilität und Komplexität aufwirft, so dringlich wäre, dass es gerechtfertigt wäre, ausnahmsweise von den allgemeinen Vorschriften für Vorlagen zur Vorabentscheidung abzuweichen. 52 In Beantwortung eines vom Gerichtshof an das vorlegende Gericht gerichteten Ersuchens um zusätzliche Informationen hat dieses mit Schreiben vom 14. Februar 2019 ausgeführt, dass der Präsident der Republik am 10. Oktober 2018 acht neue Richter zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ernannt habe, die von der KRS in den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entschließungen vorgeschlagen worden seien, obwohl die Vollziehung dieser Entschließungen ausgesetzt worden sei. Diese acht neuen Richter seien jedoch nicht tatsächlich den Spruchkörpern der betreffenden Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zugewiesen worden, da die Präsidenten dieser Kammern angesichts der Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ernennung der betreffenden Personen und aus Gründen der Rechtssicherheit deren Einstellung bis zum Erlass der Urteile des vorlegenden Gerichts in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten ausgesetzt hätten. 53 In Anbetracht dieser Klarstellungen hat der Präsident des Gerichtshofs am 26. Februar 2019 beschlossen, die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung mit Vorrang zu entscheiden. Ergänzendes Vorabentscheidungsersuchen und Wiedereröffnung des schriftlichen Verfahrens 54 Nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens hat das vorlegende Gericht am 26. Juni 2019 eine Entscheidung erlassen, mit der es das Verfahren über einen Antrag des Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt, Polen) auf Feststellung der Erledigung der Ausgangsverfahren ausgesetzt hat, der zum einen auf das in Rn. 26 des vorliegenden Urteils erwähnte Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 25. März 2019 und auf den in Rn. 28 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Art. 3 des Gesetzes vom 26. April 2019 gestützt ist. 55 Zu der im Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 25. März 2019 enthaltenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes führt das vorlegende Gericht zum einen aus, dass diese Feststellung nur für die Zukunft Wirkungen entfalte und das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf, das Einzelne – wie in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten – vor dieser Feststellung und in Bezug auf vor dieser Feststellung liegende Sachverhalte ausgeübt hätten, nicht beeinträchtigen könne. Zum anderen ergebe sich aus diesem Urteil ausdrücklich, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) nicht die Erforderlichkeit eines solchen Rechtsbehelfs an sich in Frage stelle, die sich ganz im Gegenteil aus der Verfassung und der eigenen Rechtsprechung ergebe, sondern nur die Bestimmung des für die Entscheidung über diesen Rechtsbehelf zuständigen Gerichts. Sei dies der Fall, müsse nach diesem Urteil somit im vorliegenden Fall zumindest ein anderes Gericht als das vorlegende Gericht zuständig bleiben. 56 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die neue Schwierigkeit, mit der es nunmehr konfrontiert sei, sich eher aus dem Gesetz vom 26. April 2019 ergebe, das zum einen Rechtsstreitigkeiten wie die der Ausgangsverfahren von Rechts wegen für erledigt erklärt habe und zum anderen für die Zukunft jede Möglichkeit ausgeschlossen habe, in Individualverfahren im Zusammenhang mit der Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Rechtsbehelfe einzulegen anstatt die Prüfung einem anderen Gericht zu übertragen. 57 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnten die Bestimmungen des Unionsrechts, auf die sich die beiden dem Gerichtshof in seinem ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen vorgelegten Fragen bezögen, und die sich aus diesen Bestimmungen ergebende Notwendigkeit, zum einen das Bestehen des Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf unter Wahrung der Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten und zum anderen die mit diesem Ersuchen eingeleitete Zusammenarbeit nicht zu neutralisieren, solchen nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die auf diese Weise die fehlende Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit diesen unionsrechtlichen Bestimmungen verschärften. 58 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) mit Entscheidung vom 26. Juni 2019 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof eine zusätzliche Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen (im Folgenden: dritte Frage), die lautet: Sind Art. 2 EUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3, Art. 6 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta, Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 sowie Art. 267 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen, dass ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip sowie das Recht auf Zugang zu einem Gericht und einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz vorliegt, wenn der nationale Gesetzgeber die entsprechenden Vorschriften über die Zuständigkeit des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) und über das Recht auf Einlegung einer Beschwerde gegen Entschließungen der KRS bei diesem Gericht aus der Rechtsordnung entfernt und zudem eine Regelung einführt, nach der die Verfahren betreffend die angeführten Beschwerden, die vor der Einführung der Änderungen (Derogation) eingeleitet und nicht beendet wurden, von Rechts wegen einzustellen sind, was zur Folge hat, dass – das Recht auf Zugang zu einem Gericht vereitelt wird, soweit dieses die Prüfung der angeführten Entschließungen der KRS und die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Verlaufs der Auswahlverfahren umfasst, in deren Rahmen sie gefasst wurden, – und in der Situation, dass das nationale Gericht, das ursprünglich für die angeführten Streitigkeiten zuständig war, nach der wirksamen Einleitung eines Verfahrens zur Überprüfung der betreffenden Entschließungen der KRS den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht hat, das Recht auf Zugang zu einem Gericht auch insoweit vereitelt wird, als in dem vor dem (ursprünglich) zuständigen Gericht anhängigen Individualverfahren diesem Gericht die Möglichkeit genommen wird, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen und dessen Entscheidung abzuwarten, was den unionsrechtlichen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aushöhlt? 59 Dieses ergänzende Vorabentscheidungsersuchen ist den Beteiligten zugestellt und das schriftliche Verfahren wiedereröffnet worden, um es ihnen zu ermöglichen, zur dritten Frage Stellung zu nehmen. Anträge auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens 60 Nach der Mitteilung des Datums der Verkündung des vorliegenden Urteils an das vorlegende Gericht und die Verfahrensbeteiligten haben der Generalstaatsanwalt und die polnische Regierung mit Schriftsätzen, die am 4. bzw. 15. Februar 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen sind, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt. 61 Zur Begründung seines Antrags führt der Generalstaatsanwalt im Wesentlichen aus, dass er mit einigen Behauptungen in den Schlussanträgen des Generalanwalts in Bezug auf die Notwendigkeit einer gerichtlichen Kontrolle der Verfahren zur Ernennung von Richtern nicht einverstanden sei. Diese Behauptungen seien fragwürdig, ungenau und voll von Widersprüchen und beruhten zudem auf Erwägungen, die zwischen den Beteiligten nicht hinreichend erörtert worden seien. Die in diesen Schlussanträgen enthaltene Analyse weiche ferner in bestimmten Punkten von der Analyse in den Schlussanträgen des Generalanwalts Hogan in der Rechtssache Repubblika (C‑896/19, EU:C:2020:1055) ab. Schließlich habe der Generalanwalt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418), erwähnt. Dabei handele es sich aber um eine neue Tatsache, die zwischen den Beteiligten nicht habe erörtert werden können. 62 Die polnische Regierung macht in ihrem Antrag geltend, dass auch sie mit den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht einverstanden sei, die eine zu weite Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zugrunde legten und zudem von der Auslegung in den Schlussanträgen des Generalanwalts Hogan in der Rechtssache Repubblika (C‑896/19, EU:C:2020:1055) und im Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 10. September 2020, Rat/Sharpston (C‑424/20 P[R], nicht veröffentlicht, EU:C:2020:705), abwichen. Eine Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens ermöglichte es den Beteiligten auch, sich zu etwaigen Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island (CE:ECHR:2020:1201JUD002637418), zu äußern. 63 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 64 Zum anderen stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass ein Beteiligter nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 65 Der Gerichtshof kann jedoch gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist. 66 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof jedoch nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er am Ende des schriftlichen Verfahrens und der vor ihm abgehaltenen mündlichen Verhandlung über alle für die Urteilsfindung erforderlichen Informationen verfügt. Auch ist die vorliegende Rechtssache nicht auf der Grundlage eines zwischen den Beteiligten nicht erörterten Vorbringens zu entscheiden. Die Anträge auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens lassen überdies keine neuen Tatsachen erkennen, die geeignet wären, die Entscheidung des Gerichtshofs in dieser Rechtssache zu beeinflussen. Aus diesen Gründen ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen. Zu den Vorlagefragen Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 67 Nach Ansicht des Generalstaatsanwalts ist das Problem der gerichtlichen Überprüfung von Verfahren zur Ernennung von Richtern ein Bereich, der in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts falle. Daher gehöre dieser Bereich nicht zur Zuständigkeit des Gerichtshofs. 68 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn es sich um nationale Vorschriften über die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten handelt, die für den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern maßgebend sind, und gegebenenfalls bei Vorschriften über die im Zusammenhang mit solchen Ernennungsverfahren anwendbare gerichtliche Kontrolle (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, im Folgenden: Urteil A. K. u. a., EU:C:2019:982, Rn. 134 bis 139 und 145). 69 Zum anderen betreffen diese Einwände des Generalstaatsanwalts im Wesentlichen die Tragweite der in Rn. 1 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen des Unionsrechts und damit ihre Auslegung. Eine solche Auslegung fällt jedoch offensichtlich in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV (vgl. entsprechend Urteil A. K. u. a., Rn. 74). 70 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Gerichtshof für die Entscheidung über die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zuständig ist. Zur dritten Frage 71 Mit seiner dritten Frage, die als Erstes zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob zum einen Art. 2 EUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 sowie zum anderen Art. 267 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie Änderungen der nationalen Rechtsordnung entgegenstehen, die erstens einem nationalen Gericht seine Zuständigkeit nehmen, in erster und letzter Instanz über Rechtsbehelfe zu entscheiden, die von Kandidaten für Richterämter an einem Gericht wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gegen Entscheidungen einer Einrichtung wie der KRS, ihre Bewerbung nicht dem Präsidenten der Republik im Hinblick auf eine Ernennung in diese Ämter vorzulegen, sondern die anderer Kandidaten, die zweitens solche Rechtsbehelfe von Rechts wegen für erledigt erklären, wenn diese noch anhängig sind, und so ausschließen, dass diese weiter geprüft oder erneut eingelegt werden können, und die damit drittens einem solchen nationalen Gericht die Möglichkeit nehmen, eine Antwort auf Fragen zu erhalten, die es dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt hat. Ist dies der Fall, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er es verpflichtet, die Änderungen unangewendet zu lassen und seine frühere Zuständigkeit für die Entscheidung über die Rechtsstreitigkeiten, mit denen es vor diesen Änderungen befasst wurde, weiterhin wahrzunehmen. Zur Zulässigkeit der dritten Frage 72 Der Generalstaatsanwalt und die polnische Regierung halten erstens die dritte Frage für unzulässig, weil ihre Beantwortung nicht „zum Erlass [eines] Urteils“ im Sinne von Art. 267 AEUV „erforderlich“ sei, da keine Ausgangsrechtsstreitigkeiten fortbestünden, in denen das vorlegende Gericht zum Erlass eines solchen Urteils berufen wäre. 73 Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes, auf dem die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts für die Ausgangsrechtsstreitigkeiten bisher beruht habe, sei durch das Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 25. März 2019 endgültig und allgemeinverbindlich aufgehoben worden. In diesem Urteil sei weiter entschieden worden, dass die auf der Grundlage dieser Bestimmung eingeleiteten Verfahren folglich einzustellen seien. In der Folge habe Art. 3 des Gesetzes vom 26. April 2019 diese Verfahren von Rechts wegen für erledigt erklärt. Außerdem sei nach Art. 44 Abs. 1 des KRS-Gesetzes in der durch das Gesetz vom 26. April 2019 geänderten Fassung auch jede weitere Prüfung dieser Rechtsbehelfe durch ein anderes Gericht oder ihre erneute Einlegung ausgeschlossen. 74 Insoweit ist zum einen in Bezug auf diese in Art. 3 des Gesetzes vom 26. April 2019 enthaltene Regelung darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits zu ähnlichen nationalen Bestimmungen entschieden hat, dass sie ihn ohne eine Entscheidung des Gerichts, das ihn im Wege der Vorabentscheidung angerufen hat, das Ausgangsverfahren einzustellen oder in der Hauptsache für erledigt zu erklären, grundsätzlich nicht zu dem Schluss veranlassen können, dass er nicht mehr über die ihm zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen entscheiden kann (Urteil A. K. u. a., Rn. 102). 75 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass sich der Gerichtshof so lange mit einem gemäß Art. 267 AEUV eingereichten Vorabentscheidungsersuchen für befasst hält, wie dieses nicht vom vorlegenden Gericht zurückgenommen worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 10). 76 Zum anderen ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht, das überdies beschlossen hat, das Verfahren über den Antrag auf Feststellung der Erledigung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten auszusetzen, mit der dritten Frage gerade wissen möchte, ob die sich aus dem Gesetz vom 26. April 2019 ergebenden normativen Änderungen mit dem Unionsrecht im Einklang stehen, und, falls nicht, ob das Unionsrecht es ihm erlaubt, diese Änderungen außer Acht zu lassen und folglich den Antrag auf Feststellung der Erledigung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten zurückzuweisen und deren Prüfung fortzusetzen. 77 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine Antwort auf die dritte Frage erforderlich ist, damit das vorlegende Gericht nach Maßgabe der sich aus dieser Antwort ergebenden Erkenntnisse Entscheidungen treffen kann, von denen der Ausgang der Ausgangsrechtsstreitigkeiten abhängt. Die Einwände des Generalstaatsanwalts und der polnischen Regierung sind daher zurückzuweisen. 78 Die polnische Regierung macht zweitens geltend, dass die dritte Frage unzulässig sei, weil die fehlende Zuständigkeit der Union für Verfahren zur Ernennung von Richtern in den Mitgliedstaaten es verbiete, das Unionsrecht dahin auszulegen, dass es die Mitgliedstaaten verpflichte, den Kandidaten für ein Richteramt ein Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung, sie nicht zu ernennen, einzuräumen, zumal das Bestehen oder Nichtbestehen eines solchen Rechts die Unabhängigkeit der am Ende des betreffenden Ernennungsverfahrens tatsächlich ernannten Richter nicht berühre. Ein Urteil wie das, um das der Gerichtshof im vorliegenden Fall ersucht werde, hätte normative und keine auslegende Wirkung, da es dem vorlegenden Gericht ermöglichte, über die Ausgangsrechtsstreitigkeiten zu entscheiden, obwohl es keine allgemein anwendbaren Rechtsvorschriften gebe, die ihm dafür eine Zuständigkeit verliehen. Eine solche Folge verstieße gegen Art. 4 Abs. 2 EUV, wonach die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in ihren verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck komme, zu achten habe, und untergrübe die Unabhängigkeit des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof), das die Bestimmung, auf die sich die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts gestützt habe, für verfassungswidrig erklärt habe. 79 Insoweit ist zum einen in Rn. 68 des vorliegenden Urteils bereits darauf hingewiesen worden, dass die Mitgliedstaaten bei Ausübung ihrer Befugnisse, insbesondere der Befugnis zum Erlass nationaler Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung von Richtern, die Verpflichtungen zu beachten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. 80 Zum anderen ist festzustellen, dass dieses Vorbringen der polnischen Regierung im Wesentlichen die Tragweite und damit die Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts, auf die sich die dritte Frage bezieht, sowie die Wirkungen betrifft, die sich aus diesen Bestimmungen insbesondere im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts ergeben können. Solche Argumente, die die inhaltliche Prüfung der vorgelegten Frage betreffen, können daher ihrem Wesen nach nicht zu einer Unzulässigkeit dieser Frage führen. 81 Außerdem wäre ein Urteil, mit dem der Gerichtshof eine unionsrechtliche Verpflichtung des vorlegenden Gerichts, die in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen und seine bisherige Zuständigkeit weiterhin wahrzunehmen, bejahen würde, für dieses Gericht verbindlich, ohne dass innerstaatliche Bestimmungen, auch wenn sie Verfassungsrang haben, dem entgegenstehen könnten (vgl. entsprechend Urteil A. K. u. a., Rn. 112). 82 Drittens ist der Generalstaatsanwalt der Ansicht, das vorlegende Gericht habe entgegen den Anforderungen aus Art. 94 der Verfahrensordnung nicht angegeben, welchen Zusammenhang es herstelle zwischen dem auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren nationalen Recht und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersuche. Insbesondere prüfe dieses Gericht nicht, ob und wie die Verpflichtung eines Mitgliedstaats, eine gerichtliche Überprüfung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ernennungsvorschläge sicherzustellen, eingeführt werden könne. Die einzige Möglichkeit, Art. 3 des Gesetzes vom 26. April 2019 aufzuheben, gehe insoweit ins Leere, da auch in diesem Fall jede Möglichkeit für das vorlegende Gericht, die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten in der Sache zu entscheiden, durch die Wirkung des Urteils des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 25. März 2019 ausgeschlossen bleibe. 83 Insoweit ist jedoch unter Hinweis auf die Ausführungen in Rn. 81 des vorliegenden Urteils festzustellen, dass sich aus den in den Rn. 26 bis 28 und 54 bis 57 des vorliegenden Urteils genannten Gesichtspunkten ergibt, dass das ergänzende Vorabentscheidungsersuchen alle Angaben enthält, die erforderlich sind, um dem Gerichtshof eine Entscheidung über die dritte Frage zu ermöglichen, insbesondere diejenigen, die sich auf das Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 25. März 2019 beziehen. 84 Nach alledem ist die dritte Frage zulässig. Zur Beantwortung der Frage – Zur Richtlinie 2000/78 und zu Art. 47 der Charta 85 Zunächst ist festzustellen, dass die Richtlinie 2000/78, insbesondere ihr Art. 9 Abs. 1, wie die KRS, der Generalstaatsanwalt, die polnische Regierung und die Europäische Kommission geltend gemacht haben, nicht auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbar ist. 86 Wie nämlich aus Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie hervorgeht, betrifft sie nur Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf. Den Ausführungen in der Vorlageentscheidung ist jedoch nicht zu entnehmen, dass die Ausgangsrechtsstreitigkeiten eine auf einen dieser Gründe gestützte Ungleichbehandlung betreffen. Die einzige vom vorlegenden Gericht angeführte unterschiedliche Behandlung, deren sich die Rechtsbehelfsführer des Ausgangsverfahrens ausgesetzt sehen könnten, betrifft den Umstand, dass die Vorschriften für die gerichtliche Anfechtung von Entschließungen der KRS, mit denen dem Präsidenten der Republik ein Kandidat für die Ernennung zum Richter vorgeschlagen wird, unterschiedlich sind, je nachdem, ob diese Entschließungen eine Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder eine Ernennung zum Richter an einem anderen Gericht betreffen. 87 Außerdem ist in Bezug auf Art. 47 der Charta darauf hinzuweisen, dass nach dieser Bestimmung, die eine Bekräftigung des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes darstellt, jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 88 Somit setzt die Anerkennung dieses Rechts in einem bestimmten Einzelfall nach Art. 47 Abs. 1 der Charta voraus, dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten beruft (Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburgischer Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 55). 89 Aus den Angaben in der Vorlageentscheidung geht jedoch nicht hervor, dass Gegenstand der Ausgangsrechtsstreitigkeiten die Anerkennung eines Rechts ist, das den Rechtsbehelfsführern des Ausgangsverfahrens gemäß einer Bestimmung des Unionsrechts zusteht. Insbesondere sind, wie in den Rn. 85 und 86 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Bestimmungen der Richtlinie 2000/78 auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten nicht anwendbar und können somit auch nicht die Anwendbarkeit der Charta, insbesondere ihres Art. 47, im Rahmen dieser Rechtsstreitigkeiten rechtfertigen. – Zu Art. 267 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV 90 Zu Art. 267 AEUV ist darauf hinzuweisen, dass das Schlüsselelement des von den Verträgen geschaffenen Gerichtssystems in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren besteht, das durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts gewährleisten soll und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts ermöglicht (Gutachten 2/13 vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 176 und die dort angeführte Rechtsprechung, und Urteil vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 41). 91 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verleiht Art. 267 AEUV den nationalen Gerichten insoweit eine unbeschränkte Befugnis zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen nach der Auslegung oder der Gültigkeit unionsrechtlicher Bestimmungen aufwirft, deren Beantwortung für die Entscheidung des ihnen unterbreiteten Rechtsstreits erforderlich ist (Urteile vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 26, und vom 24. Oktober 2018, XC u. a., C‑234/17, EU:C:2018:853, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 92 Zudem wird bei einem Gericht wie dem vorlegenden Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, aus dieser Befugnis, vorbehaltlich der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten Ausnahmen, eine Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege der Vorabentscheidung (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Urteil A. K. u. a., Rn. 103). 93 Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Vorschrift des nationalen Rechts ein nationales Gericht nicht daran hindern, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen oder dieser Pflicht nachzukommen, denn diese sind dem durch Art. 267 AEUV geschaffenen System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof und den durch diese Bestimmung den nationalen Gerichten zugewiesenen Aufgaben des zur Anwendung des Unionsrechts berufenen Richters inhärent (vgl. in diesem Sinne Urteil A. K. u. a., Rn. 103 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Ebenso muss es einem nationalen Gericht, um die Wirksamkeit dieser Befugnis und dieser Pflicht zu gewährleisten, möglich sein, ein Vorabentscheidungsersuchen nach seiner Vorlage aufrechtzuerhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 58). 94 Außerdem beschneidet eine nationale Vorschrift, die insbesondere die Gefahr birgt, dass ein nationaler Richter lieber darauf verzichtet, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, um zu vermeiden, dass ihm die Zuständigkeit entzogen wird, die den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse und hemmt als Folge die Effizienz der durch das Vorabentscheidungsverfahren eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 25). 95 Folglich steht es einem Mitgliedstaat zwar grundsätzlich frei, z. B. seine innerstaatlichen Vorschriften über die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten mit der möglichen Folge zu ändern, dass die gesetzliche Grundlage entfällt, auf der die Zuständigkeit eines nationalen Gerichts beruhte, das den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht hat, oder materiell-rechtliche Vorschriften zu erlassen, die als Nebeneffekt zum Verlust des Streitgegenstands der Rechtssache führen, in der ein solches Ersuchen ergangen ist. Ein Mitgliedstaat kann jedoch nicht ohne Verstoß gegen Art. 267 AEUV in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV Änderungen an seinen nationalen Rechtsvorschriften vornehmen, deren spezifische Wirkung es ist, zu verhindern, dass an den Gerichtshof gerichtete Vorabentscheidungsersuchen nach ihrer Einreichung aufrechterhalten werden können, und den Gerichtshof auf diese Weise daran zu hindern, über sie zu entscheiden, sowie jede Möglichkeit auszuschließen, dass ein nationales Gericht in Zukunft ähnliche Ersuchen erneut einreicht. 96 Letztlich ist es Sache des vorlegenden Gerichts, darüber zu entscheiden, ob dies vorliegend der Fall ist. Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Vorschriften des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Handlungen der Unionsorgane zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof aber das Unionsrecht im Rahmen der durch diesen Artikel begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem nationalen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (Urteile vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung, und A. K. u. a., Rn. 132). 97 Insoweit ergibt sich erstens aus der Vorlageentscheidung, dass Art. 3 des Gesetzes vom 26. April 2019, der Rechtsbehelfe wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden für erledigt erklärt, und Art. 44 Abs. 1 des KRS-Gesetzes in der Fassung des Gesetzes vom 26. April 2019, wonach solche Rechtsbehelfe in Zukunft nicht mehr eingelegt werden können, geeignet erscheinen, das vorlegende Gericht daran zu hindern, ein dem Gerichtshof vorgelegtes Vorabentscheidungsersuchen nach dessen Einreichung aufrechtzuerhalten und den Gerichtshof auf diese Weise daran zu hindern, über dieses Ersuchen zu entscheiden, sowie einem nationalen Gericht jede Möglichkeit zu nehmen, in Zukunft ähnliche Fragen wie die in diesem Ersuchen aufgeworfenen erneut vorzulegen. 98 Was zweitens den Kontext betrifft, in dem diese nationalen Bestimmungen erlassen wurden, ist auf verschiedene Umstände hinzuweisen, die sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergeben. 99 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass der polnische Gesetzgeber in letzter Zeit bereits eine gesetzgeberische Maßnahme erlassen hatte, mit der andere bei einem nationalen Gericht anhängige Rechtsstreitigkeiten für erledigt erklärt wurden, die ebenfalls die Vereinbarkeit von Gesetzesreformen mit Auswirkungen auf das polnische Justizsystem mit den Bestimmungen des Unionsrechts über die richterliche Unabhängigkeit betrafen, obwohl der Gerichtshof auch in diesen Rechtsstreitigkeiten mit Vorlagefragen zu einer solchen Vereinbarkeit befasst war (vgl. insoweit Urteil A. K. u. a., Rn. 90 und 102 bis 104). 100 Als Zweites ist zu beachten, dass aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen hervorgeht, dass die polnischen Behörden in letzter Zeit vermehrt Initiativen ergriffen haben, die darauf abzielen, Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zur Frage der Unabhängigkeit der Gerichte in Polen zu unterbinden oder die Entscheidungen der polnischen Gerichte, die solche Ersuchen eingereicht haben, in Frage zu stellen. 101 Die polnischen Gerichte, die dem Gerichtshof Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen vorgelegt haben, in denen das Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234), ergangen ist, haben vor dem Gerichtshof darauf hingewiesen, dass gegen die beiden Richter, die diese Vorabentscheidungsersuchen eingereicht hätten, Vorermittlungen vor der etwaigen Einleitung eines Disziplinarverfahrens u. a. wegen einer möglichen Überschreitung der richterlichen Entscheidungsbefugnisse durch die Vorlage dieser Vorabentscheidungsersuchen durchgeführt worden seien (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 20 und 21). 102 Außerdem hat der Rzecznik Praw Obywatelskich (Bürgerbeauftragter, Polen) im Rahmen der vorliegenden Rechtssache darauf verwiesen, dass der Generalstaatsanwalt, der auch die Funktion des Justizministers ausübe, am 5. Oktober 2018 beim Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) eine Klage auf Feststellung der Unvereinbarkeit von Art. 267 AEUV mit der Verfassung erhoben habe, soweit diese Bestimmung es den polnischen Gerichten erlaube, dem Gerichtshof Fragen zum Aufbau und zur Organisation der Justiz sowie zum Ablauf der Verfahren vor den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorzulegen. 103 Was als Drittes das Vorbringen der polnischen Regierung betrifft, der Erlass des Gesetzes vom 26. April 2019 sei lediglich die Folge des Urteils des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 25. März 2019 gewesen, mit dem dieses Gericht Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes für verfassungswidrig erklärt habe, auf dem die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts zur Entscheidung über Rechtsbehelfe wie die des Ausgangsverfahrens beruhe, ergibt sich jedoch aus den Ausführungen des vorlegenden Gerichts, dessen Sache es ist, das nationale Recht im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens auszulegen, dass das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in dem genannten Urteil festgestellt habe, dass die sich aus den Art. 45 und 60 der Verfassung und seiner einschlägigen Rechtsprechung ergebende Notwendigkeit, eine gerichtliche Überprüfung von Verfahren zur Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorzusehen, unberührt bleibe. 104 Aus der Vorlageentscheidung geht auch hervor, dass der polnische Gesetzgeber, indem er es entgegen diesen Erkenntnissen aus dem Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) vom 25. März 2019 ausgeschlossen hat, dass Einzelne, die Rechtsbehelfe wie die im Ausgangsverfahren anhängigen einlegen, diese Rechtsbehelfe von einem Gericht entscheiden lassen können, dem diese Rechtsbehelfe hätten zugewiesen werden können oder bei dem sie sie erneut hätten einlegen können, insbesondere jede gegenwärtige oder künftige Möglichkeit für den Gerichtshof, Fragen wie die ihm in der vorliegenden Rechtssache vorgelegten zu prüfen, endgültig beseitigt hat. 105 Als Viertes ist festzustellen, dass, wie auch das vorlegende Gericht hervorhebt, die mit dem Gesetz vom 26. April 2019 erfolgte Abschaffung jeder Möglichkeit der gerichtlichen Anfechtung von Entschließungen der KRS, mit denen dem Präsidenten der Republik Kandidaten für die Ernennung auf Richterstellen unterbreitet werden, nur die Entschließungen der KRS zu Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) betrifft, d. h. genau solche Entschließungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) veranlasst haben, den Gerichtshof mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zu befassen. Die Entschließungen der KRS, mit denen Ernennungen auf alle anderen Richterstellen in Polen vorgeschlagen werden, unterliegen nämlich weiterhin einer gerichtlichen Kontrolle. 106 Die in den Rn. 99 bis 105 des vorliegenden Urteils genannten Gesichtspunkte und Erwägungen können sich als Indizien erweisen, die durch ihre Übereinstimmung und damit ihren systematischen Charakter geeignet erscheinen, den Kontext zu erhellen, in dem der polnische Gesetzgeber das Gesetz vom 26. April 2019 erlassen hat. Da, wie in Rn. 96 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die endgültige Beurteilung des Sachverhalts im Rahmen des Dialogs in Vorabentscheidungsverfahren allein dem vorlegenden Gericht obliegt, ist es Sache dieses Gerichts, abschließend zu beurteilen, ob diese Gesichtspunkte und alle anderen maßgeblichen Umstände, von denen es in diesem Zusammenhang gegebenenfalls Kenntnis erlangt, die Annahme zulassen, dass der Erlass dieses Gesetzes die spezifische Wirkung hatte, das vorlegende Gericht daran zu hindern, Vorabentscheidungsersuchen wie dasjenige, das dem Gerichtshof im vorliegenden Fall ursprünglich vorgelegt wurde, nach ihrer Vorlage aufrechtzuerhalten, und den Gerichtshof auf diese Weise daran zu hindern, über solche Ersuchen zu entscheiden, sowie jede Möglichkeit auszuschließen, dass ein nationales Gericht in Zukunft erneut Fragen zur Vorabentscheidung vorlegt, die denen des ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens in der vorliegenden Rechtssache ähneln. 107 Sollte das vorlegende Gericht zu einem solchen Ergebnis kommen, wäre sodann festzustellen, dass solche Rechtsvorschriften nicht nur die den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse beschneiden und die Effizienz der durch das Vorabentscheidungsverfahren eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten hemmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 25), sondern allgemeiner auch die dem Gerichtshof nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV übertragene Aufgabe beeinträchtigen, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern, und gegen Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV verstoßen. – Zu Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV 108 Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteil vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung). 109 Insoweit ist es, wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen, Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung). 110 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung). 111 Zum sachlichen Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung). 112 Somit hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV u. a. dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind und die somit möglicherweise in dieser Eigenschaft über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung). 113 In Bezug auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit Rechtsbehelfen befasst ist, mit denen Kandidaten für Richterstellen in den Kammern für Zivil- und Strafsachen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Entschließungen anfechten, mit denen die KRS ihre Bewerbung nicht berücksichtigt und dem Präsidenten der Republik andere Kandidaten zur Besetzung dieser Stellen vorgeschlagen hat. 114 Insoweit ist erstens unstreitig, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und insbesondere dessen Zivil- und Strafkammern zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können und dass sie als „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind, so dass sie den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden müssen (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). 115 Zweitens ist es, um zu gewährleisten, dass solche Einrichtungen in der Lage sind, den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen, von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 116 Wie der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, gehört dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 5. November 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte], C‑192/18, EU:C:2019:924, Rn. 106 und die dort angeführte Rechtsprechung). 117 Nach ständiger Rechtsprechung setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil A. K. u. a., Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung). 118 Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil A. K. u. a., Rn. 124 und die dort angeführte Rechtsprechung). 119 Dafür sind die betreffenden Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die in Rn. 117 des vorliegenden Urteils angeführten Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten (Urteil A. K. u. a., Rn. 125 und die dort angeführte Rechtsprechung). 120 Drittens wird mit den in der vorliegenden Rechtssache vorgelegten Fragen zur Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im Wesentlichen um Klärung ersucht, ob sich aus dieser Bestimmung das Erfordernis ergeben kann, im besonderen Kontext des Verfahrens zur Ernennung der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eine gerichtliche Kontrolle von Entschließungen der KRS wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden aufrechtzuerhalten, und unter welchen Voraussetzungen eine solche Kontrolle in diesem Fall auszuüben wäre. 121 Wie in Rn. 117 des vorliegenden Urteils ausgeführt, setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit insbesondere voraus, dass es Regeln für die Ernennung von Richtern gibt. 122 Zu den Bedingungen, unter denen die Entscheidungen über die Ernennung der Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ergehen, hat der Gerichtshof bereits klarstellen können, dass der bloße Umstand, dass die betreffenden Richter vom Präsidenten der Republik ernannt werden, keine Abhängigkeit dieser Richter von ihm schaffen oder Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen lassen kann, wenn sie nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt sind und bei der Ausübung ihres Amtes keinen Weisungen unterliegen (Urteil A. K. u. a., Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung). 123 Der Gerichtshof hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass sicherzustellen ist, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Ernennungsentscheidungen so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, sind die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen, und dass dafür die genannten Voraussetzungen und Modalitäten u. a. so ausgestaltet sein müssen, dass sie den in Rn. 119 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen genügen (Urteil A. K. u. a., Rn. 134 und 135 und die dort angeführte Rechtsprechung). 124 Unter Hinweis darauf, dass die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gemäß Art. 179 der Verfassung vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS ernannt werden, die gemäß Art. 186 der Verfassung die Aufgabe hat, über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu wachen, hat der Gerichtshof in Rn. 137 des Urteils A. K. u. a. festgestellt, dass die Einschaltung einer solchen Einrichtung im Verfahren zur Ernennung von Richtern zwar grundsätzlich zur Objektivierung dieses Verfahrens beitragen kann, indem es den Handlungsspielraum des Präsidenten der Republik bei der Ausübung der ihm auf diese Weise übertragenen Befugnisse einschränkt. 125 In Rn. 138 des angeführten Urteils hat der Gerichtshof jedoch entschieden, dass dies u. a. nur insoweit gilt, als diese Einrichtung selbst von der Legislative und der Exekutive sowie dem Organ, dem es einen solchen Ernennungsvorschlag übermitteln soll, hinreichend unabhängig ist. 126 Insoweit ist festzustellen, dass, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, nach Art. 179 der Verfassung die Handlung, mit der die KRS einen Kandidaten für die Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorschlägt, eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass dieser Kandidat vom Präsidenten der Republik in ein solches Amt ernannt werden kann. Die Rolle der KRS in diesem Ernennungsverfahren ist daher maßgeblich. 127 In einem solchen Kontext kann der Grad der Unabhängigkeit von der polnischen Legislative und Exekutive, über den die KRS bei der Wahrnehmung der ihr übertragenen Aufgaben verfügt, von Bedeutung sein, wenn es um die Beurteilung geht, ob die von ihr ausgewählten Richter die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllen können (vgl. in diesem Sinne Urteil A. K. u. a., Rn. 139). 128 Der Gerichtshof hat in Rn. 145 des Urteils A. K. u. a. außerdem festgestellt, dass es für die Zwecke dieser Beurteilung und in Anbetracht der Tatsache, dass die Entscheidungen des Präsidenten der Republik über die Ernennung von Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nicht justiziabel sind, auch von Bedeutung sein könnte, wie die Tragweite des Rechtsbehelfs gegen eine Entschließung der KRS definiert ist, in der deren Entscheidungen über die Vorlage eines Vorschlags für die Ernennung zum Richter an diesem Gericht enthalten sind, und insbesondere die Frage, ob ein solcher Rechtsbehelf eine effektive gerichtliche Kontrolle solcher Entschließungen sicherstellen kann, die sich zumindest auf die Prüfung erstreckt, ob sie frei von Befugnisüberschreitung, Ermessensmissbrauch, Rechtsfehlern oder offensichtlichen Beurteilungsfehlern sind. 129 Auch wenn sich somit das etwaige Fehlen der Möglichkeit, im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Ernennung von Richtern eines nationalen obersten Gerichts einen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen, in bestimmten Fällen als unproblematisch im Hinblick auf die sich aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergebenden Anforderungen erweisen kann, verhält es sich dann anders, wenn alle maßgeblichen Umstände, die ein solches Verfahren in einem gegebenen nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontext kennzeichnen, und insbesondere die Bedingungen, unter denen die bis dahin bestehenden Möglichkeiten der gerichtlichen Anfechtung plötzlich beseitigt werden, bei den Rechtsunterworfenen systemische Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter wecken können. 130 Wie sich aus dem Urteil A. K. u. a. ergibt, kann dies insbesondere dann der Fall sein, wenn sich auf der Grundlage von Beurteilungskriterien wie denen, auf die sich das vorlegende Gericht bezieht und die in Rn. 43 des vorliegenden Urteils angeführt sind, herausstellt, dass die Unabhängigkeit einer Einrichtung wie der KRS von der Legislative und der Exekutive zweifelhaft ist. 131 In den Rn. 143 und 144 des Urteils A. K. u. a. hat der Gerichtshof als relevante Faktoren, die für die Beurteilung der Unabhängigkeit, über die eine Einrichtung wie die KRS verfügen muss, zu berücksichtigen sind, benannt: erstens den Umstand, dass gleichzeitig mit der Einrichtung der neu zusammengesetzten KRS eine Verkürzung der laufenden vierjährigen Amtszeit der früheren Mitglieder der KRS erfolgte, zweitens den Umstand, dass die 15 Mitglieder der KRS, die aus der Mitte der Richter gewählt werden, zuvor von der Richterschaft gewählt wurden, nun aber von einem Teil der polnischen Legislative, drittens den Umstand, dass es eventuell Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung einiger Mitglieder der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung gegeben haben könnte, und viertens die Art und Weise, in der die KRS ihren verfassungsmäßigen Auftrag, über die Unabhängigkeit der Gerichte und Richter zu wachen, erfüllt und ihre verschiedenen Befugnisse wahrnimmt. In einem solchen Zusammenhang kann für diese Beurteilung auch das etwaige Bestehen privilegierter Beziehungen zwischen den Mitgliedern der auf die genannte Weise gebildeten KRS und der polnischen Exekutive berücksichtigt werden, wie sie vom vorlegenden Gericht angedeutet und in Rn. 44 des vorliegenden Urteils erwähnt worden sind. 132 Im vorliegenden Fall sind darüber hinaus noch weitere relevante Begleitumstände zu berücksichtigen, die ebenfalls dazu beitragen können, Zweifel an der Unabhängigkeit der KRS und ihrer Rolle in Ernennungsverfahren wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden und folglich an der Unabhängigkeit der am Ende eines solchen Verfahrens ernannten Richter zu wecken. 133 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Gesetzesreform, die zur Einrichtung der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung geführt hat, zeitgleich mit der höchst umstrittenen Verabschiedung der Art. 37 und 111 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht erfolgt ist, auf die das vorlegende Gericht Bezug genommen hat und mit denen das Ruhestandsalter für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) für die sich im Amt befindlichen Richter dieses Gerichts herabgesetzt wurde und außerdem dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen wurde, den aktiven Dienst dieser Richter über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern. 134 Somit ist es unstreitig, dass die Einrichtung der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung in einem Kontext stattfand, in dem erwartet wurde, dass in Kürze zahlreiche Stellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu besetzen sein würden, insbesondere infolge der Pensionierung der Richter dieses Gerichts, die die neu festgelegte Altersgrenze von 65 Jahren erreicht hatten. 135 In seinem Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531), hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Republik Polen durch den Erlass der in Rn. 133 des vorliegenden Urteils genannten Maßnahmen die Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beeinträchtigt und gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat. 136 Sollte das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen, dass die KRS keine hinreichenden Garantien für ihre Unabhängigkeit bietet, erwiese sich ein den erfolglosen Kandidaten offenstehender gerichtlicher Rechtsbehelf, auch wenn er sich auf die in Rn. 128 des vorliegenden Urteils angeführten Aspekte beschränken würde, als erforderlich, um dazu beizutragen, das Verfahren zur Ernennung der betreffenden Richter vor unmittelbarer oder mittelbarer Einflussnahme zu schützen, und um letztlich zu verhindern, dass bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter entstehen können. 137 Mit den Bestimmungen des Gesetzes vom 26. April 2019 wurden zum einen anhängige Rechtsstreitigkeiten wie die des Ausgangsverfahrens für erledigt erklärt, in denen Kandidaten für Richterämter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf der Grundlage des damals geltenden Rechts gegen Entschließungen vorgingen, mit denen die KRS entschieden hatte, sie nicht zur Ernennung in diese Ämter vorzuschlagen, sondern andere Kandidaten zu präsentieren, und zum anderen jede Möglichkeit beseitigt, Rechtsbehelfe solcher Art in Zukunft einzulegen. 138 Solche Gesetzesänderungen können, insbesondere, wenn sie zusammen mit allen in den Rn. 99 bis 105 und 130 bis 135 des vorliegenden Urteils genannten Begleitumständen betrachtet werden, nahelegen, dass die polnische Legislative im vorliegenden Fall im spezifischen Bestreben gehandelt hat, jede Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle der Ernennungen, die auf der Grundlage der Entschließungen der KRS vorgenommen wurden, zu verhindern, wie im Übrigen auch aller anderen Ernennungen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) seit der Einrichtung der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung. 139 In Anbetracht der Ausführungen in Rn. 96 des vorliegenden Urteils ist es Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage der sich aus diesem Urteil ergebenden Erkenntnisse und aller anderen ihm zur Kenntnis gelangenden relevanten Umstände, gegebenenfalls unter Berücksichtigung der vor ihm zur Rechtfertigung der betreffenden Maßnahmen geltend gemachten besonderen Gründe oder Ziele, abschließend zu beurteilen, ob der Umstand, dass durch das Gesetz vom 26. April 2019 Rechtsbehelfe wie die des Ausgangsverfahrens für erledigt erklärt wurden und zugleich jede Möglichkeit beseitigt wurde, solche Rechtsbehelfe in Zukunft einzulegen, geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der auf der Grundlage der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entschließungen der KRS ernannten Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die polnische Legislative und Exekutive, aufkommen zu lassen und dazu zu führen, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. – Zum Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts 140 Kommt das vorlegende Gericht am Ende der Prüfung, die es im Licht der in den Rn. 90 bis 107 des vorliegenden Urteils angestellten Erwägungen vorzunehmen hat, zu dem Ergebnis, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen des Gesetzes vom 26. April 2019 unter Verstoß gegen Art. 267 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV erlassen wurden, wird es diese nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen haben. 141 Nach ständiger Rechtsprechung muss eine Bestimmung des nationalen Rechts, die der Durchführung des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens entgegensteht, unangewendet bleiben, ohne dass das betreffende Gericht die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck, C‑312/93, EU:C:1995:437, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Gleiche muss für eine Änderung des nationalen Rechts gelten, deren spezifische Wirkung es ist, den Gerichtshof daran zu hindern, über ihm vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden, und jede Möglichkeit auszuschließen, dass ein nationales Gericht in Zukunft ähnliche Ersuchen erneut einreicht. Wie in Rn. 95 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verstößt eine solche Vorschrift nämlich in ähnlicher Weise gegen Art. 267 AEUV. 142 Stellt das vorlegende Gericht am Ende der Prüfung, die es im Licht der in den Rn. 108 bis 139 des vorliegenden Urteils angestellten Erwägungen vorzunehmen hat, fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen des Gesetzes vom 26. April 2019 gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen, wird es auch diese nationalen Bestimmungen aus diesem Grund unangewendet zu lassen haben. 143 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verpflichtet nämlich alle Mitgliedstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist (Urteil A. K. u. a., Rn. 168 und die dort angeführte Rechtsprechung), so dass Art. 47 der Charta bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen ist (Beschluss vom 6. Oktober 2020, Prokuratura Rejonowa w Słubicach, C‑623/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:800, Rn. 28). 144 Wie bereits in Rn. 115 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bestimmt Art. 47 Abs. 2 der Charta ausdrücklich, dass zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört. 145 Indem der Gerichtshof in diesem Zusammenhang entschieden hat, dass Art. 47 der Charta aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann (Urteile vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 78, und vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 56), insbesondere insofern, als Art. 47 der Charta verlangt, dass die zur Entscheidung über einen auf das Unionsrecht gestützten Rechtsbehelf berufene Stelle die in dieser Bestimmung aufgestellte Anforderung an die Unabhängigkeit erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil A. K. u. a., Rn. 166), hat er insbesondere anerkannt, dass diese Anforderung die für ihre unmittelbare Wirkung erforderliche Klarheit, Genauigkeit und Unbedingtheit aufweist. 146 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV den Mitgliedstaaten eine klare und präzise Ergebnispflicht auferlegt, die in Bezug auf die Unabhängigkeit, die die zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen Gerichte aufweisen müssen, unbedingt ist. 147 Was schließlich im Kontext der Ausgangsrechtsstreitigkeiten die Folgen betrifft, die sich aus der vom Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) in seinem Urteil vom 25. März 2019 ausgesprochenen Erklärung der Verfassungswidrigkeit von Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes ergeben, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass, wie in den Rn. 103 und 104 des vorliegenden Urteils ausgeführt, dieses Urteil des Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgerichtshof) die von diesem Gericht in seiner früheren Rechtsprechung bekräftigte Notwendigkeit einer gerichtlichen Kontrolle des Verfahrens zur Ernennung zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und insbesondere der im Rahmen eines solchen Verfahrens gefassten Entschließungen der KRS nicht in Frage gestellt hat. 148 Zum anderen ist jedenfalls festzustellen, dass die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich sind, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen über die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten. Nach ständiger Rechtsprechung kann nämlich nicht zugelassen werden, dass Vorschriften des nationalen Rechts, auch wenn sie Verfassungsrang haben, die einheitliche Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen (Urteile vom 15. Januar 2013, Križan u. a., C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). 149 Unter diesen Umständen und insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass der nationale Gesetzgeber kein anderes Gericht als das vorlegende Gericht bestimmt hat, das den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit genügt und nach Eingang einer Antwort des Gerichtshofs auf die ihm vom vorlegenden Gericht in seinem ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen vorgelegten Fragen zur Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten berufen wäre, kann dieses Gericht die sich möglicherweise aus dem Erlass des Gesetzes vom 26. April 2019 ergebenden Verstöße gegen Art. 267 AEUV und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV im vorliegenden Fall nur damit wirksam beheben, dass es die gerichtliche Zuständigkeit, mit der es dieses Ersuchen nach den bis dahin geltenden nationalen Vorschriften dem Gerichtshof vorgelegt hat, weiterhin wahrnimmt (vgl. entsprechend Urteil A. K. u. a., Rn. 166 und die dort angeführte Rechtsprechung). 150 Nach alledem ist auf die dritte Frage wie folgt zu antworten: – Bei Änderungen der nationalen Rechtsordnung, die erstens einem nationalen Gericht seine Zuständigkeit für die Entscheidung in erster und letzter Instanz über Rechtsbehelfe nehmen, die von Kandidaten für Richterstellen an einem Gericht wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gegen Entscheidungen einer Einrichtung wie der KRS, nicht ihre Bewerbung dem Präsidenten der Republik im Hinblick auf eine Ernennung auf diese Stellen vorzulegen, sondern die anderer Kandidaten, die zweitens solche Rechtsbehelfe von Rechts wegen für erledigt erklären, wenn diese noch anhängig sind, und ausschließen, dass sie weiter geprüft oder erneut eingelegt werden können, und die damit drittens dem nationalen Gericht die Möglichkeit nehmen, eine Antwort auf die Fragen zu erhalten, die es dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, – sind Art. 267 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass sie solchen Änderungen entgegenstehen, wenn sich herausstellt, dass diese Änderungen die spezifische Wirkung hatten, den Gerichtshof daran zu hindern, zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen wie die ihm von diesem Gericht unterbreiteten zu beantworten, und jede Möglichkeit auszuschließen, dass ein nationales Gericht in Zukunft ähnliche Fragen erneut vorlegt; dies auf der Grundlage aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen, ist Sache des vorlegenden Gerichts; – ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass er solchen Änderungen entgegensteht, wenn sich herausstellt, dass diese Änderungen geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der auf der Grundlage der betreffenden Entschließungen der KRS vom Präsidenten der Republik ernannten Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und dass die Änderungen daher dazu führen können, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss; dies auf der Grundlage aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. – Im Fall eines erwiesenen Verstoßes gegen diese Artikel ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er das vorlegende Gericht verpflichtet, die in Rede stehenden Änderungen unabhängig davon unangewendet zu lassen, ob diese gesetzlicher oder verfassungsrechtlicher Natur sind, und folglich seine frühere Zuständigkeit für die Entscheidung über die vor diesen Änderungen bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten weiterhin wahrzunehmen. Zur ersten Frage 151 Insbesondere in Anbetracht der in den Rn. 85 bis 89 des vorliegenden Urteils enthaltenen Ausführungen ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen möchte, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Verfahrensvorschriften entgegensteht, nach denen – zum einen die Entscheidung einer Einrichtung wie der KRS, die Bewerbung eines Kandidaten für eine Richterstelle an einem Gericht wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nicht zu berücksichtigen, sondern dem Präsidenten der Republik die Bewerbung anderer Kandidaten vorzulegen, auch dann bestandskräftig ist, soweit sie die anderen Kandidaten vorschlägt, wenn der abgelehnte Kandidat einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung einlegt, so dass dieser Rechtsbehelf der Ernennung der anderen Kandidaten durch den Präsidenten der Republik nicht entgegensteht und die etwaige Aufhebung dieser Entscheidung, soweit sie den Rechtsbehelfsführer nicht zur Ernennung vorgeschlagen hat, nicht zu einer neuen Beurteilung der Lage des Rechtsbehelfsführers im Hinblick auf eine etwaige Besetzung der betreffenden Stelle führen kann, und – zum anderen ein solcher Rechtsbehelf nicht damit begründet werden kann, dass nicht zutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die Kriterien erfüllen, die bei der Entscheidung über die Einreichung des Ernennungsvorschlags berücksichtigt werden. Zur etwaigen Erledigung der Hauptsache 152 Im ersten schriftlichen Verfahren haben die KRS, der Generalstaatsanwalt und die polnische Regierung aus Gründen, die im Wesentlichen mit den in den Rn. 72 und 73 des vorliegenden Urteils dargelegten übereinstimmen, vorgetragen, dass in Anbetracht des Erlasses des Gesetzes vom 26. April 2019, des Wegfalls der nationalen Bestimmungen, auf die das vorlegende Gericht bisher seine Zuständigkeit für die Entscheidung über die Ausgangsrechtsstreitigkeiten gestützt hatte, und der durch dieses Gesetz angeordneten Erledigung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten, die erste Frage gegenstandslos geworden sei und ihre Beantwortung für die Entscheidung dieser Rechtsstreitigkeiten nicht mehr erforderlich sei, so dass der Gerichtshof über diese Frage nicht mehr zu entscheiden habe. 153 Da sich das vorlegende Gericht jedoch durch die Antwort des Gerichtshofs auf die dritte Frage veranlasst sehen könnte, die einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes vom 26. April 2019 wegen ihrer etwaigen Unionsrechtswidrigkeit unangewendet zu lassen, sind die Einwände dieser Beteiligten zurückzuweisen. Zur Zulässigkeit 154 Nach Ansicht des Generalstaatsanwalts und der polnischen Regierung ist die erste Frage unzulässig, weil die Union für die Organisation der Justiz nicht zuständig sei, so dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Vorschriften nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen. 155 Diese Einwände greifen jedoch aus ähnlichen Gründen wie den bereits in den Rn. 68 und 69 des vorliegenden Urteils dargelegten nicht durch. Zur Beantwortung der Frage 156 Um zu beurteilen, ob nationale Bestimmungen, wie sie in Art. 44 Abs. 1a bis 4 des KRS-Gesetzes enthalten sind, gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen können, ist als Erstes unter Verweis auf sämtliche Erwägungen in den Rn. 108 bis 136 des vorliegenden Urteils festzustellen, dass sich, wie bereits in Rn. 129 des vorliegenden Urteils ausgeführt, das etwaige Fehlen der Möglichkeit, im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Ernennung von Richtern eines nationalen obersten Gerichts einen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen, in bestimmten Fällen als unproblematisch im Hinblick auf die sich aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergebenden Anforderungen erweisen kann. Anders kann es sich dagegen bei Bestimmungen verhalten, mit denen die Wirksamkeit bis dahin bestehender gerichtlicher Rechtsbehelfe dieser Art beseitigt wird, und zwar insbesondere dann, wenn der Erlass solcher Bestimmungen in Verbindung mit weiteren maßgeblichen Umständen, die ein solches Ernennungsverfahren in einem gegebenen nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontext kennzeichnen, geeignet erscheint, bei den Rechtsunterworfenen systemische Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der am Ende dieses Verfahrens ernannten Richter zu wecken. 157 Insoweit ist unter Berücksichtigung der in Rn. 96 des vorliegenden Urteils dargelegten Grundsätze erstens festzustellen, dass, wie das vorlegende Gericht ausführt, ein Rechtsbehelf wie der bei ihm auf der Grundlage von Art. 44 Abs. 1a bis 4 des KRS-Gesetzes erhobene keinerlei echte Wirksamkeit hat und somit nur den Anschein eines gerichtlichen Rechtsbehelfs bietet. 158 Aus den vom vorlegenden Gericht dargelegten Gründen, die in den Rn. 35 und 37 des vorliegenden Urteils wiedergegeben worden sind, ist dies insbesondere auf die Bestimmungen von Art. 44 Abs. 1b und 4 des KRS-Gesetzes zurückzuführen. Aus ihnen ergibt sich im Wesentlichen, dass trotz Einlegung eines Rechtsbehelfs durch einen von der KRS nicht zur Ernennung vorgeschlagenen Kandidaten die Entschließungen der KRS hinsichtlich der darin enthaltenen Entscheidung, Kandidaten zur Ernennung vorzuschlagen, immer bestandskräftig werden, so dass die vorgeschlagenen Kandidaten, wie dies vorliegend der Fall war, sodann vom Präsidenten der Republik auf die betreffenden Stellen ernannt werden können, ohne dass der Ausgang des Rechtsbehelfsverfahrens abgewartet würde. Unter diesen Umständen ist nämlich offensichtlich, dass eine etwaige Aufhebung der in einer solchen Entschließung enthaltenen Entscheidung, die Bewerbung eines Rechtsbehelfsführers, die nach Abschluss des von ihm angestrengten Verfahrens erfolgen würde, nicht im Hinblick auf die Ernennung vorzulegen, keine wirklichen Auswirkungen auf die Lage des Rechtsbehelfsführers in Bezug auf die Stelle haben wird, auf die er sich beworben hat und die auf der Grundlage der Entschließung bereits anderweitig vergeben sein wird. 159 Als Zweites ist auch zu berücksichtigen, dass im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmungen die zuvor geltende nationale Rechtslage erheblich verändert haben. 160 Erstens fielen nämlich, wie das vorlegende Gericht ausführt, vor der Einfügung der Abs. 1b und 4 in Art. 44 des KRS-Gesetzes die Rechtsbehelfe gegen Entschließungen der KRS, mit denen Kandidaten für Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorgeschlagen wurden, unter die allgemeinen Bestimmungen von Art. 43 des KRS-Gesetzes, die nicht die jetzt in Art. 44 Abs. 1b und 4 enthaltenen Einschränkungen vorsahen, so dass diese Absätze die Wirksamkeit der sich bis dahin aus den nationalen Rechtsvorschriften ergebenden gerichtlichen Kontrolle solcher Entschließungen beseitigt haben. 161 Zweitens hat, wie auch das vorlegende Gericht ausführt, die in Art. 44 Abs. 1a des KRS-Gesetzes vorgenommene Änderung der Art der Kontrolle, die der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) ausüben kann, wenn er auf der Grundlage dieser Bestimmung angerufen wird, ihrerseits die Intensität der zuvor bestehenden gerichtlichen Kontrolle verringert. 162 Drittens ist in Übereinstimmung mit dem vorlegenden Gericht darauf hinzuweisen, dass die in Art. 44 Abs. 1a bis 4 des KRS-Gesetzes eingeführten Beschränkungen nur Rechtsbehelfe betreffen, die sich gegen Entschließungen der KRS über Vorschläge von Bewerbungen um Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) richten, während Entschließungen der KRS über Vorschläge zu Bewerbungen um Richterstellen an den anderen nationalen Gerichten weiterhin der in Rn. 160 des vorliegenden Urteils genannten allgemeinen Regelung für die gerichtliche Kontrolle unterliegen. 163 Als Drittes sind im vorliegenden Fall auch die Begleitumstände aller anderen Reformen zu berücksichtigen, die in letzter Zeit den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und die KRS betroffen haben und bereits in den Rn. 130 bis 135 des vorliegenden Urteils erwähnt worden sind. 164 Insoweit ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen von Art. 44 Abs. 1b und 4 des KRS-Gesetzes, die, wie bereits ausgeführt, Rechtsbehelfen wie denen des Ausgangsverfahrens jede Wirksamkeit genommen haben, durch das Gesetz vom 20. Juli 2018 zur Änderung des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichte und einiger anderer Gesetze eingeführt wurden und am 27. Juli 2018 in Kraft getreten sind, also sehr kurz bevor die KRS in ihrer neuen Zusammensetzung über die Bewerbungen zu entscheiden hatte, die eingereicht wurden, um zahlreiche Richterstellen am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu besetzen, die infolge des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht für unbesetzt erklärt oder neu geschaffen wurden, u. a. über die Bewerbungen der Rechtsbehelfsführer des Ausgangsverfahrens. 165 In Anbetracht der Ausführungen in Rn. 96 des vorliegenden Urteils ist es Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage der sich aus diesem Urteil ergebenden Erkenntnisse und aller anderen ihm zur Kenntnis gelangenden maßgeblichen Umstände, gegebenenfalls unter Berücksichtigung der vor ihm zur Rechtfertigung der betreffenden Maßnahmen geltend gemachten besonderen Gründe oder Ziele, zu beurteilen, ob nationale Bestimmungen wie die in Art. 44 Abs. 1a bis 4 des KRW-Gesetzes, insbesondere wenn sie mit den in den Rn. 130 bis 135 und 157 bis 164 angeführten Umständen zusammentreffen, geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der auf der Grundlage der Entschließungen der KRS ernannten Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die polnische Legislative und Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die sich vor ihnen widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und dass sie daher dazu führen können, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. 166 Kommt das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis, dass die durch diese nationalen Bestimmungen bewirkten Rückschritte bei der Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen die Entschließungen der KRS, mit denen die Ernennung von Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vorgeschlagen wird, gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen, wird es aus denselben Gründen, wie sie in den Rn. 142 bis 149 des vorliegenden Urteils dargelegt wurden, diese Bestimmungen zugunsten der Anwendung der zuvor geltenden nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen und die in diesen letztgenannten Bestimmungen vorgesehene Kontrolle selbst auszuüben haben. 167 Nach alledem ist auf die erste Frage wie folgt zu antworten: – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er Bestimmungen entgegensteht, mit denen die geltende nationale Rechtslage geändert wird und nach denen – zum einen die Entscheidung einer Einrichtung wie der KRS, die Bewerbung eines Kandidaten für eine Richterstelle an einem Gericht wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) nicht zu berücksichtigen, sondern dem Präsidenten der Republik die Bewerbung anderer Kandidaten vorzulegen, auch dann in dem Teil bestandskräftig wird, mit dem die anderen Kandidaten vorgeschlagen werden, wenn der abgelehnte Kandidat einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einlegt, so dass dieser Rechtsbehelf der Ernennung der anderen Kandidaten durch den Präsidenten der Republik nicht entgegensteht und die etwaige Aufhebung der Entscheidung in dem Teil, mit dem der Rechtsbehelfsführer nicht zur Ernennung vorgeschlagen wird, nicht zu einer neuen Beurteilung der Lage des Rechtsbehelfsführers im Hinblick auf eine etwaige Besetzung der betreffenden Stelle führen kann, und – zum anderen ein solcher Rechtsbehelf nicht damit begründet werden kann, dass nicht zutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die Kriterien erfüllen, die bei der Entscheidung über die Einreichung des Ernennungsvorschlags berücksichtigt werden, wenn sich herausstellt, dass diese Bestimmungen geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der auf der Grundlage der Entschließungen der KRS vom Präsidenten der Republik ernannten Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und dass die Bestimmungen daher dazu führen können, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss; dies auf der Grundlage aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. – Im Fall eines erwiesenen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er das vorlegende Gericht verpflichtet, diese Bestimmungen zugunsten der Anwendung der zuvor geltenden nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen und die in diesen letztgenannten Bestimmungen vorgesehene Kontrolle selbst auszuüben. Zur zweiten Frage 168 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist die zweite Frage nicht mehr zu beantworten. Kosten 169 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Bei Änderungen der nationalen Rechtsordnung, die erstens einem nationalen Gericht seine Zuständigkeit für die Entscheidung in erster und letzter Instanz über Rechtsbehelfe nehmen, die von Kandidaten für Richterstellen an einem Gericht wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) gegen Entscheidungen einer Einrichtung wie der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen), nicht ihre Bewerbung dem Präsidenten der Republik Polen im Hinblick auf eine Ernennung auf diese Stellen vorzulegen, sondern die anderer Kandidaten, die zweitens solche Rechtsbehelfe von Rechts wegen für erledigt erklären, wenn diese noch anhängig sind, und ausschließen, dass sie weiter geprüft oder erneut eingelegt werden können, und die damit drittens dem nationalen Gericht die Möglichkeit nehmen, eine Antwort auf die Fragen zu erhalten, die es dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, – sind Art. 267 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen, dass sie solchen Änderungen entgegenstehen, wenn sich herausstellt, dass diese Änderungen die spezifische Wirkung hatten, den Gerichtshof daran zu hindern, zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen wie die ihm von diesem Gericht unterbreiteten zu beantworten, und jede Möglichkeit auszuschließen, dass ein nationales Gericht in Zukunft ähnliche Fragen erneut vorlegt; dies auf der Grundlage aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen, ist Sache des vorlegenden Gerichts; – ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass er solchen Änderungen entgegensteht, wenn sich herausstellt, dass diese Änderungen geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der auf der Grundlage der betreffenden Entschließungen der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat) vom Präsidenten der Republik Polen ernannten Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und dass die Änderungen daher dazu führen können, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss; dies auf der Grundlage aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. Im Fall eines erwiesenen Verstoßes gegen diese Artikel ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er das vorlegende Gericht verpflichtet, die in Rede stehenden Änderungen unabhängig davon unangewendet zu lassen, ob diese gesetzlicher oder verfassungsrechtlicher Natur sind, und folglich seine frühere Zuständigkeit für die Entscheidung über die vor diesen Änderungen bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten weiterhin wahrzunehmen. 2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist dahin auszulegen, dass er Bestimmungen entgegensteht, mit denen die geltende nationale Rechtslage geändert wird und nach denen – zum einen die Entscheidung einer Einrichtung wie der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen), die Bewerbung eines Kandidaten für eine Richterstelle an einem Gericht wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) nicht zu berücksichtigen, sondern dem Präsidenten der Republik Polen die Bewerbung anderer Kandidaten vorzulegen, auch dann in dem Teil bestandskräftig wird, mit dem die anderen Kandidaten vorgeschlagen werden, wenn der abgelehnte Kandidat einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung einlegt, so dass dieser Rechtsbehelf der Ernennung der anderen Kandidaten durch den Präsidenten der Republik Polen nicht entgegensteht und die etwaige Aufhebung der Entscheidung in dem Teil, mit dem der Rechtsbehelfsführer nicht zur Ernennung vorgeschlagen wird, nicht zu einer neuen Beurteilung der Lage des Rechtsbehelfsführers im Hinblick auf eine etwaige Besetzung der betreffenden Stelle führen kann, und – zum anderen ein solcher Rechtsbehelf nicht damit begründet werden kann, dass nicht zutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die Kriterien erfüllen, die bei der Entscheidung über die Einreichung des Ernennungsvorschlags berücksichtigt werden, wenn sich herausstellt, dass diese Bestimmungen geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der auf der Grundlage der Entschließungen der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat) vom Präsidenten der Republik Polen ernannten Richter für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und dass die Bestimmungen daher dazu führen können, dass diese Richter nicht den Eindruck vermitteln, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss; dies auf der Grundlage aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen, ist Sache des vorlegenden Gerichts. Im Fall eines erwiesenen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er das vorlegende Gericht verpflichtet, diese Bestimmungen zugunsten der Anwendung der zuvor geltenden nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen und die in diesen letztgenannten Bestimmungen vorgesehene Kontrolle selbst auszuüben. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 16. Juli 2020.#Cabinet de avocat UR gegen Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice prin Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti u. a.#Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Bucureşti.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2006/112/EG – Mehrwertsteuer – Art. 9 Abs. 1 – Begriff ‚Steuerpflichtiger‘ – Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt – Rechtskräftige gerichtliche Entscheidung – Grundsatz der Rechtskraft – Tragweite dieses Grundsatzes im Fall, dass diese Entscheidung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist.#Rechtssache C-424/19.
62019CJ0424
ECLI:EU:C:2020:581
2020-07-16T00:00:00
Gerichtshof, Kokott
62019CJ0424 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer) 16. Juli 2020 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2006/112/EG – Mehrwertsteuer – Art. 9 Abs. 1 – Begriff ‚Steuerpflichtiger‘ – Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt – Rechtskräftige gerichtliche Entscheidung – Grundsatz der Rechtskraft – Tragweite dieses Grundsatzes im Fall, dass diese Entscheidung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist“ In der Rechtssache C‑424/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 15. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Mai 2019, in dem Verfahren Cabinet de avocat UR gegen Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice prin Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti, Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice, MJ, NK erlässt DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – des Cabinet de avocat UR, vertreten durch D. Rădescu, avocat, – der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch C. R. Canţăr, R. I. Haţieganu und A. Rotăreanu, dann durch E. Gane, R. I. Haţieganu und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und A. Armenia als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) und des Grundsatzes der Rechtskraft. 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Cabinet de avocat UR (Rechtsanwaltskanzlei UR, im Folgenden: UR) auf der einen Seite und der Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice prin Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti (Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3, vertreten durch die regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest, Rumänien), der Administraţia Sector 3 a Finanţelor Publice (Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3, Rumänien), MJ und NK auf der anderen Seite darüber, ob UR mehrwertsteuerpflichtig ist. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 lautet: „Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze: … c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt; …“ 4 Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt: „Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt. Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“ Nationales Recht 5 Art. 431 („Wirkungen der Rechtskraft“) des Codul de procedură civilă (Zivilprozessordnung) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung bestimmt: „(1)   Niemand kann zweimal in derselben Eigenschaft, aus demselben Rechtsgrund und mit demselben Gegenstand verklagt werden. (2)   Jede Partei kann die Rechtskraft einer früheren Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit einwenden, wenn ein Zusammenhang mit dieser Entscheidung besteht.“ 6 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die „negative oder auslöschende“ Wirkung der Rechtskraft einer erneuten Entscheidung entgegenstehe, wenn Parteiidentität gegeben sei und es um dieselbe Rechtssache und um denselben Klagegegenstand gehe, während die „positive Wirkung“ der Rechtskraft darin bestehe, dass jede Partei die Rechtskraft einer früheren Entscheidung in einem anderen Rechtsstreit einwenden könne, wenn ein Zusammenhang mit der Entscheidung des Letzteren gegeben sei, wie die Identität der streitigen Fragen. 7 Art. 432 („Einrede der Rechtskraft“) der Zivilprozessordnung sieht vor: „Die Einrede der Rechtskraft kann vom Gericht oder von den Parteien in jedem Stadium des Verfahrens, auch vor dem Rechtsmittelgericht, geltend gemacht werden. Wird der Einrede stattgegeben, kann dies die Lage der betroffenen Partei im Anschluss an ihre eigene Klage gegenüber der sich aus der angefochtenen Entscheidung ergebenden Lage verschlechtern.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 8 UR, eine Rechtsanwaltskanzlei mit Sitz in Rumänien, beantragte am 28. Mai 2015 beim Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3 ihre Löschung aus dem Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen mit Wirkung ab dem Jahr 2002 und die Erstattung der im Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2014 von diesem Amt vereinnahmten Mehrwertsteuer mit der Begründung, dass sie fälschlicherweise in diesem Register eingetragen worden sei. 9 Da das Amt auf diesen Antrag nicht reagiert hatte, verklagte UR die Beklagten des Ausgangsverfahrens vor dem Tribunalul Bucureşti (Landgericht Bukarest, Rumänien) und beantragte, das Amt für öffentliche Finanzen Sektor 3 zu verpflichten, sie aus dem Register der mehrwertsteuerpflichtigen Personen zu streichen, und die Beklagten des Ausgangsverfahrens gesamtschuldnerisch zu verurteilen, ihr die erhobene Mehrwertsteuer zu erstatten. 10 Mit Urteil vom 17. Februar 2017 wies das Tribunalul București (Landgericht Bukarest) die Klage von UR ab. 11 Zur Stützung der gegen dieses Urteil bei der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) eingelegten Berufung macht UR die Rechtskraft eines Urteils vom 30. April 2018 geltend, mit dem eben dieses Gericht ein Urteil des Tribunalul Bucureşti (Landgericht Bukarest) vom 21. September 2016 bestätigt und festgestellt hatte, dass ein Steuerpflichtiger wie UR, der den freien Beruf des Rechtsanwalts ausübe, keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe und daher nicht als Person angesehen werden könne, die Gegenstände liefere oder Dienstleistungen erbringe, da die Verträge, die er mit seinen Mandanten geschlossen habe, keine Dienstleistungsverträge, sondern Verträge über juristischen Beistand seien (im Folgenden: Urteil vom 30. April 2018). 12 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Umfasst der Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 betreffend den Begriff „Steuerpflichtiger“ auch eine Person, die den Beruf des Rechtsanwalts ausübt? 2. Ist es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zulässig, dass in einem späteren Verfahren von der Rechtskraft einer endgültigen gerichtlichen Entscheidung abgewichen wird, mit der im Wesentlichen festgestellt worden ist, dass in Anwendung und Auslegung des innerstaatlichen Mehrwertsteuerrechts ein Rechtsanwalt keine Gegenstände liefert, keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und keine Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen abschließt, sondern Verträge über juristischen Beistand? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 13 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt, als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist. 14 Nach Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als „Steuerpflichtiger“, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt. 15 Die in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe, insbesondere der Begriff „wer“, verleihen dem Begriff „Steuerpflichtiger“ eine weite Definition mit dem Schwerpunkt auf der Selbständigkeit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in dem Sinne, dass alle natürlichen und juristischen Personen, sowohl öffentliche als auch private, sogar Einrichtungen ohne Rechtspersönlichkeit, die objektiv die Kriterien dieser Bestimmung erfüllen, als Mehrwertsteuerpflichtige gelten (Urteile vom 29. September 2015, Gmina Wrocław, C‑276/14, EU:C:2015:635, Rn. 28, sowie vom 12. Oktober 2016, Nigl u. a., C‑340/15, EU:C:2016:764, Rn. 27). 16 Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 definiert den Begriff „wirtschaftliche Tätigkeit“ als alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich u. a. der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. 17 Da der Rechtsanwaltsberuf ein freier Beruf ist, geht folglich aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 hervor, dass eine Person, die diesen Beruf ausübt, eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist. 18 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2006/112 der Mehrwertsteuer einen sehr weiten Anwendungsbereich zuerkennt, indem sie in Art. 2, der die steuerbaren Umsätze betrifft, außer der Einfuhr von Gegenständen innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen, Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen erfasst, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt (Urteile vom 19. Juli 2012, Rēdlihs, C‑263/11, EU:C:2012:497, Rn. 24, und vom 3. September 2015, Asparuhovo Lake Investment Company, C‑463/14, EU:C:2015:542, Rn. 33). 19 Zudem hat der Gerichtshof in Rn. 49 des Urteils vom 17. Juni 2010, Kommission/Frankreich (C‑492/08, EU:C:2010:348), entschieden, dass ein Mitgliedstaat keinen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Leistungen anwenden darf, die von Rechtsanwälten erbracht werden, und für die diese im Rahmen der Prozesskostenhilfe vollständig oder teilweise durch den Staat entschädigt werden. Diese Beurteilung setzt aber notwendigerweise voraus, dass diese Leistungen als der Mehrwertsteuer unterliegend und diese Rechtsanwälte, die in diesem Urteil als „private Einheiten mit Gewinnerzielungsabsicht“ eingestuft werden, als Steuerpflichtige handelnd angesehen werden. 20 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass eine Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt, als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist. Zur zweiten Frage 21 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einem nationalen Gericht verwehrt, den Grundsatz der Rechtskraft in einem Rechtsstreit über die Mehrwertsteuer anzuwenden, wenn die Anwendung dieses Grundsatzes dieses Gericht daran hindern würde, die Vorschriften der Union über die Mehrwertsteuer zu berücksichtigen. 22 In diesem Zusammenhang ist zunächst auf die Bedeutung hinzuweisen, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl im Unionsrecht als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt. Zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege sollen nämlich nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteile vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 22, vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 26, und vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 64). 23 Daher gebietet es das Unionsrecht einem nationalen Gericht nicht, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften, aufgrund deren eine Gerichtsentscheidung Rechtskraft erlangt, abzusehen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Situation abgeholfen werden könnte (Urteil vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 24 Insbesondere verlangt das Unionsrecht nicht, dass ein nationales Rechtsprechungsorgan seine rechtskräftig gewordene Entscheidung grundsätzlich rückgängig machen muss, um der Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof Rechnung zu tragen (Urteile vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 28, und vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 66). 25 Aufgrund fehlender unionsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen dieser Staaten, die Modalitäten der Wirkung der Rechtskraft festzulegen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als die, die bei ähnlichen internen Sachverhalten gelten (Grundsatz der Äquivalenz), und nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (Urteile vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 24, vom 10. Juli 2014, Impresa Pizzarotti, C‑213/13, EU:C:2014:2067, Rn. 54, und vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 58). 26 Besteht demnach für das nationale Gericht nach den anwendbaren innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, eine rechtskräftig gewordene Entscheidung rückgängig zu machen, um die Situation mit dem nationalen Recht in Einklang zu bringen, muss davon, sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, nach den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität Gebrauch gemacht werden, damit die Vereinbarkeit der betreffenden Situation mit dem Unionsrecht wiederhergestellt wird (Urteil vom 11. September 2019, Călin, C‑676/17, EU:C:2019:700, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 27 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens die „positive Wirkung“ der Rechtskraft seines Urteils vom 30. April 2018 geltend macht. 28 Sollte es dieses Urteil als rechtskräftig ansehen, könnten die Erwägungen dieses Urteils einen für den Kläger günstigen steuerlichen Präzedenzfall schaffen und die Grundlage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits bilden. 29 Aus der Vorlageentscheidung geht ferner hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2014 betrifft, während das Urteil vom 30. April 2018 den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis zum 30. November 2014 betraf. Außerdem unterscheidet sich der Gegenstand dieses Rechtsstreits, nämlich ein Antrag auf Streichung aus dem Register der Mehrwertsteuerpflichtigen mit Wirkung ab dem Jahr 2002 und auf Erstattung der von der rumänischen Finanzverwaltung im fraglichen Zeitraum erhobenen Mehrwertsteuer, von demjenigen der Rechtssache, in der das genannte Urteil ergangen ist. 30 Für den Fall, dass das vorlegende Gericht nach den anzuwendenden Verfahrensvorschriften des rumänischen Rechts die Möglichkeit hat, die Klage des Ausgangsverfahrens abzuweisen, obliegt es ihm, diese zu nutzen und für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts, im vorliegenden Fall der Richtlinie 2006/112, Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls die Auslegung, die es im Urteil vom 30. April 2018 vorgenommen hat, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, wenn sie nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist (vgl. entsprechend Urteil vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 61, und vom 5. März 2020, OPR‑Finance, C‑679/18, EU:C:2020:167, Rn. 44). 31 Sollte das vorlegende Gericht im gegenteiligen Fall der Auffassung sein, dass die Anwendung des Grundsatzes der Rechtskraft der Infragestellung einer gerichtlichen Entscheidung wie dem Urteil vom 30. April 2018 entgegensteht, obwohl diese Entscheidung einen Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt, kann die Anwendung dieses Grundsatzes das vorlegende Gericht auch nicht daran hindern, bei der gerichtlichen Überprüfung einer anderen Entscheidung der zuständigen Steuerbehörde, die denselben Steuerschuldner oder Steuerpflichtigen, aber ein anderes Steuerjahr betrifft, in einer solchen Entscheidung enthaltene Feststellungen zu einem gemeinsamen Punkt in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 29). 32 Eine solche Auslegung des Grundsatzes der Rechtskraft hätte nämlich zur Folge, dass in dem Fall, dass eine in Rechtskraft erwachsene gerichtliche Entscheidung auf einer falschen Auslegung der Unionsregeln auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer beruht, sich die unrichtige Anwendung dieser Regeln für jeden neuen Veranlagungszeitraum wiederholte, ohne dass diese fehlerhafte Auslegung korrigiert werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 30). 33 Eine Behinderung der effektiven Anwendung der Unionsregeln auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer von solcher Reichweite kann nicht durch den Grundsatz der Rechtssicherheit gerechtfertigt werden und muss daher als dem Effektivitätsgrundsatz widersprechend angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub, C‑2/08, EU:C:2009:506, Rn. 31). 34 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einem nationalen Gericht verwehrt, im Rahmen eines die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreits den Grundsatz der Rechtskraft anzuwenden, wenn sich dieser Rechtsstreit weder auf einen Besteuerungszeitraum bezieht, der mit dem identisch ist, um den es in dem Rechtsstreit ging, der der rechtskräftigen Entscheidung zugrunde lag, noch den gleichen Gegenstand wie dieser hat, und wenn die Anwendung dieses Grundsatzes die Berücksichtigung der unionsrechtlichen Mehrwertsteuerregelung durch dieses Gericht behindern würde. Kosten 35 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass eine Person, die den Rechtsanwaltsberuf ausübt, als „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist. 2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einem nationalen Gericht verwehrt, im Rahmen eines die Mehrwertsteuer betreffenden Rechtsstreits den Grundsatz der Rechtskraft anzuwenden, wenn sich dieser Rechtsstreit weder auf einen Besteuerungszeitraum bezieht, der mit dem identisch ist, um den es in dem Rechtsstreit ging, der der rechtskräftigen Entscheidung zugrunde lag, noch den gleichen Gegenstand wie dieser hat, und wenn die Anwendung dieses Grundsatzes die Berücksichtigung der unionsrechtlichen Mehrwertsteuerregelung durch dieses Gericht behindern würde. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 30. April 2020.#„Оvergas Mrezhi“ AD und „Balgarska gazova asotsiatsia“ gegen Komisia za energiyno i vodno regulirane.#Vorabentscheidungsersuchen des Varhoven administrativen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt – Richtlinie 2009/73/EG – Art. 3 Abs. 1 bis 3 und Art. 41 Abs. 16 – Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen – Verpflichtung zur Speicherung von Erdgas, um die Versorgungssicherheit und die Regelmäßigkeit der Versorgung zu gewährleisten – Nationale Regelung, wonach die finanzielle Belastung hinsichtlich der den Erdgasunternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen auf deren Kunden abgewälzt wird – Voraussetzungen – Erlass eines Rechtsakts, mit dem eine gemeinwirtschaftliche Verpflichtung auferlegt wird, durch eine nationale Regulierungsbehörde – Verfahren – Art. 36 und 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Rechtssache C-5/19.
62019CJ0005
ECLI:EU:C:2020:343
2020-04-30T00:00:00
Pitruzzella, Gerichtshof
62019CJ0005 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer) 30. April 2020 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt – Richtlinie 2009/73/EG – Art. 3 Abs. 1 bis 3 und Art. 41 Abs. 16 – Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen – Verpflichtung zur Speicherung von Erdgas, um die Versorgungssicherheit und die Regelmäßigkeit der Versorgung zu gewährleisten – Nationale Regelung, wonach die finanzielle Belastung hinsichtlich der den Erdgasunternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen auf deren Kunden abgewälzt wird – Voraussetzungen – Erlass eines Rechtsakts, mit dem eine gemeinwirtschaftliche Verpflichtung auferlegt wird, durch eine nationale Regulierungsbehörde – Verfahren – Art. 36 und 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ In der Rechtssache C‑5/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Bulgarien) mit Entscheidung vom 19. Dezember 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2019, in dem Verfahren „Оvergas Mrezhi“ AD, „Balgarska gazova asotsiatsia“ gegen Komisia za energiyno i vodno regulirane, Beteiligte: Prokuratura na Republika Bulgaria, erlässt DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis (Berichterstatter) sowie der Richter E. Juhász und M. Ilešič, Generalanwalt: G. Pitruzzella, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der „Оvergas Mrezhi“ AD, vertreten durch S. Dimitrov, – der „Balgarska gazova asotsiatsia“, vertreten durch P. Pavlov, – der Komisia za energiyno i vodno regulirane, vertreten durch I. Ivanov, – der bulgarischen Regierung, vertreten durch E. Petranova und T. Mitova als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch O. Beynet und Y. Marinova als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 36 und 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 3 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. 2009, L 211, S. 94). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „Overgas Mrezhi“ AD, einer Aktiengesellschaft bulgarischen Rechts, sowie der „Balgarska gazova asotsiatsia“, einem gemeinnützigen Verein, auf der einen und der Komisia za energiyno i vodno regulirane (Regulierungskommission für Energie und Wasser, Bulgarien) (im Folgenden: Regulierungskommission) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit von Letzterer erlassener Bestimmungen, nach denen die finanzielle Belastung aufgrund der den Energieunternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen von ihren Kunden auszugleichen ist, bei denen es sich um Privatpersonen handeln kann. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Charta 3 Art. 36 der Charta („Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“) sieht vor: „Die Union anerkennt und achtet den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, wie er durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten im Einklang mit den Verträgen geregelt ist, um den sozialen und territorialen Zusammenhalt der Union zu fördern.“ 4 Art. 38 der Charta („Verbraucherschutz“) lautet: „Die Politik der Union stellt ein hohes Verbraucherschutzniveau sicher.“ Richtlinie 2009/73 5 In den Erwägungsgründen 22, 44 und 47 bis 49 der Richtlinie 2009/73 heißt es: „(22) Die Sicherheit der Energieversorgung ist ein Kernelement der öffentlichen Sicherheit und daher bereits von Natur aus direkt verbunden mit dem effizienten Funktionieren des Erdgasbinnenmarktes und der Integration der isolierten Gasmärkte der Mitgliedstaaten … … (44) Die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen ist eine grundlegende Anforderung dieser Richtlinie, und es ist wichtig, dass in dieser Richtlinie von allen Mitgliedstaaten einzuhaltende gemeinsame Mindestnormen festgelegt werden, die den Zielen des Verbraucherschutzes, der Versorgungssicherheit, des Umweltschutzes und einer gleichwertigen Wettbewerbsintensität in allen Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen müssen unter Berücksichtigung der einzelstaatlichen Gegebenheiten aus nationaler Sicht ausgelegt werden können, wobei das [Unionsrecht] einzuhalten ist. … (47) Die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen und die sich daraus ergebenden gemeinsamen Mindeststandards müssen weiter gestärkt werden, damit sichergestellt werden kann, dass die Vorteile des Wettbewerbs und gerechter Preise allen Verbrauchern, und insbesondere schutzbedürftigen Verbrauchern, zugutekommen. Die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen sollten auf nationaler Ebene, unter Berücksichtigung der nationalen Bedingungen, festgelegt werden; das [Unionsrecht] sollte jedoch von den Mitgliedstaaten beachtet werden. Die Bürger der Union und, soweit die Mitgliedstaaten dies für angezeigt halten, die Kleinunternehmen sollten sich gerade hinsichtlich der Versorgungssicherheit und der Angemessenheit der Tarifsätze darauf verlassen können, dass die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen erfüllt werden. … [Die] Verbraucher [sollten] Zugang zu ihren Verbrauchsdaten und den damit verbundenen Preisen und Dienstleistungskosten haben … (48) Im Mittelpunkt dieser Richtlinie sollten die Belange der Verbraucher stehen, und die Gewährleistung der Dienstleistungsqualität sollte zentraler Bestandteil der Aufgaben von Erdgasunternehmen sein. Die bestehenden Verbraucherrechte müssen gestärkt und abgesichert werden und sollten auch auf mehr Transparenz ausgerichtet sein. … Die Rechte der Verbraucher sollten von den Mitgliedstaaten oder, sofern dies von einem Mitgliedstaat so vorgesehen ist, von den Regulierungsbehörden durchgesetzt werden. (49) Die Verbraucher sollten klar und verständlich über ihre Rechte gegenüber dem Energiesektor informiert werden. …“ 6 Art. 2 der Richtlinie enthält die folgenden Definitionen: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck: 1. ‚Erdgasunternehmen‘ eine natürliche oder juristische Person, die mindestens eine der Funktionen Gewinnung, Fernleitung, Verteilung, Lieferung, Kauf oder Speicherung von Erdgas, einschließlich verflüssigtem Erdgas, wahrnimmt und die kommerzielle, technische und/oder wartungsbezogene Aufgaben im Zusammenhang mit diesen Funktionen erfüllt, mit Ausnahme der Endkunden; … 5. ‚Verteilung‘ den Transport von Erdgas über örtliche oder regionale Leitungsnetze zum Zweck der Belieferung von Kunden, jedoch mit Ausnahme der Versorgung; … 7. ‚Versorgung‘ (bzw. ‚Lieferung‘) den Verkauf einschließlich des Weiterverkaufs von Erdgas, einschließlich verflüssigtem Erdgas, an Kunden; … 24. ‚Kunde‘ einen Erdgasgroßhändler, ‑endkunde oder ‑unternehmen, der Erdgas kauft; …“ 7 Art. 3 („Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen und Schutz der Kunden“) Abs. 1 bis 3 dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten entsprechend ihrem institutionellen Aufbau und unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, dass Erdgasunternehmen unbeschadet des Absatzes 2 nach den in dieser Richtlinie festgelegten Grundsätzen und im Hinblick auf die Errichtung eines wettbewerbsbestimmten, sicheren und unter ökologischen Aspekten nachhaltigen Erdgasmarkts betrieben werden und dass diese Unternehmen hinsichtlich der Rechte und Pflichten nicht diskriminiert werden. (2)   Die Mitgliedstaaten können unter uneingeschränkter Beachtung der einschlägigen Bestimmungen des [AEU‑]Vertrags, insbesondere des Art. [106], den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Verpflichtungen auferlegen, die sich auf Sicherheit, einschließlich Versorgungssicherheit, Regelmäßigkeit, Qualität und Preis der Versorgung sowie Umweltschutz, einschließlich Energieeffizienz, Energie aus erneuerbaren Quellen und Klimaschutz, beziehen können. Solche Verpflichtungen müssen klar festgelegt, transparent, nichtdiskriminierend und überprüfbar sein und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen der [Union] zu den nationalen Verbrauchern sicherstellen. In Bezug auf die Versorgungssicherheit [und] die Energieeffizienz/Nachfragesteuerung … können die Mitgliedstaaten eine langfristige Planung vorsehen, wobei die Möglichkeit zu berücksichtigen ist, dass Dritte Zugang zum Netz erhalten wollen. (3)   Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden und tragen insbesondere dafür Sorge, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht. In diesem Zusammenhang definiert jeder Mitgliedstaat ein Konzept des ‚schutzbedürftigen Kunden‘, das sich auf Energiearmut sowie unter anderem auf das Verbot beziehen kann, solche Kunden in schwierigen Zeiten von der Versorgung auszuschließen. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Rechte und Verpflichtungen im Zusammenhang mit schutzbedürftigen Kunden eingehalten werden. … Sie gewährleisten einen hohen Verbraucherschutz, insbesondere in Bezug auf die Transparenz der Vertragsbedingungen, allgemeine Informationen und Streitbeilegungsverfahren. …“ 8 Die Art. 39 und 41 dieser Richtlinie gehören zu deren Kapitel VIII über die nationalen Regulierungsbehörden. Art. 39 Abs. 1 sieht vor: „Jeder Mitgliedstaat benennt auf nationaler Ebene eine einzige nationale Regulierungsbehörde.“ Art. 41 („Aufgaben und Befugnisse der Regulierungsbehörde“) Abs. 1 und 16 bestimmt: „(1)   Die Regulierungsbehörde hat folgende Aufgaben: a) Sie ist dafür verantwortlich, anhand transparenter Kriterien die Fernleitungs- oder Verteilungstarife bzw. die entsprechenden Methoden festzulegen oder zu genehmigen. … (16)   Die von den Regulierungsbehörden getroffenen Entscheidungen sind im Hinblick auf die gerichtliche Überprüfung in vollem Umfang zu begründen. Die Entscheidungen sind der Öffentlichkeit unter Wahrung der Vertraulichkeit wirtschaftlich sensibler Informationen zugänglich zu machen.“ Verordnung (EU) Nr. 994/2010 9 Die Verordnung (EU) Nr. 994/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/67/EG des Rates (ABl. 2010, L 295, S. 1) wurde durch die Verordnung (EU) 2017/1938 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2017 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 994/2010 (ABl. 2017, L 280, S. 1) zum wesentlichen Teil mit Wirkung vom 1. November 2017 aufgehoben. 10 Art. 4 der Verordnung Nr. 994/2010 trug die Überschrift „Aufstellung eines Präventions- und eines Notfallplans“. Er sah in Abs. 1 Buchst. b vor, dass die zuständige Behörde eines jeden Mitgliedstaats, nachdem sie die Erdgasunternehmen, die jeweiligen die Interessen von Privathaushalten und gewerblichen Verbrauchern vertretenden Organisationen und die nationale Regulierungsbehörde, sofern diese nicht mit der zuständigen Behörde identisch ist, konsultiert hat, auf nationaler Ebene einen Notfallplan mit Maßnahmen zur Beseitigung oder Eindämmung der Folgen einer Störung der Erdgasversorgung gemäß Art. 10 erstellt. In diesem Art. 10 waren im Wesentlichen die Kriterien, nach denen die nationalen Notfallpläne zu erstellen sind, sowie deren Ziele, deren Inhalt und das Verfahren für deren Erlass aufgeführt. Bulgarisches Recht Gesetz über normative Rechtsakte 11 Der Zakon za normativnite aktove (Gesetz über normative Rechtsakte) vom 3. April 1973 (DV Nr. 27 vom 3. April 1973) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz über normative Rechtsakte) sieht in Art. 26 vor: „(1)   Der Entwurf eines normativen Rechtsakts wird unter Beachtung der Grundsätze der Erforderlichkeit, Begründetheit, Voraussehbarkeit, Transparenz, Kohärenz, Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und Beständigkeit ausgearbeitet. (2)   Bei der Ausarbeitung des Entwurfs eines normativen Rechtsakts ist eine öffentliche Anhörung mit Bürgern und juristischen Personen durchzuführen. (3)   Bevor der Entwurf eines normativen Rechtsaktes eingereicht wird, um von der zuständigen Stelle erlassen oder verabschiedet zu werden, veröffentlicht der Verfasser des Entwurfs diesen auf der Internetseite der betreffenden Einrichtung samt Begründung … …“ 12 Art. 28 dieses Gesetzes lautet: „(1)   Der Entwurf eines normativen Rechtsakts samt Begründung wird der zuständigen Stelle zur Beurteilung und zum Erlass eingereicht. (2)   Die Begründung … umfasst: … 5. eine Analyse der Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union.“ 13 § 5 der Übergangs- und Schlussbestimmungen dieses Gesetzes bestimmt: „Dieses Gesetz gilt, sofern nichts anderes bestimmt ist, für alle normativen Rechtsakte, die von den in der Verfassung vorgesehenen Stellen erlassen werden. Für die übrigen normativen Rechtsakte gelten die Art. 2, 9 bis 16, 34 bis 46 und 51 des Gesetzes entsprechend.“ Energiegesetz 14 Der Zakon za energetikata (Energiegesetz) vom 9. Dezember 2003 (DV Nr. 107 vom 9. Dezember 2003) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Energiegesetz) sieht in Art. 10 Abs. 1 vor, dass die Regulierung der Tätigkeiten im Bereich Energie, Wasserversorgung und Kanalisation durch die Regulierungskommission erfolgt, sowie in seinem Art. 21 Abs. 1 Nr. 8, dass diese Kommission die Preise in den in diesem Gesetz vorgesehenen Fällen reguliert. 15 Art. 30 des Energiegesetzes bestimmt: „(1)   Der Regulierung durch die [Regulierungskommission] unterliegen die Preise: … 14. für den Zugang zu und die Speicherung von Erdgas in einer Speicherstätte; … (2)   Die Preise für Energie, Erdgas und Dienstleistungen der Energieunternehmen werden nicht von der [Regulierungskommission] reguliert, wenn diese feststellt, dass es einen Wettbewerb gibt, der die Voraussetzungen für eine freie Aushandlung der Preise zu Marktbedingungen für die jeweilige Tätigkeit auf dem Energiesektor schafft. …“ 16 In Art. 31 des Energiegesetzes heißt es: „Bei der Ausübung ihrer Befugnisse zur Preisregulierung lässt sich die [Regulierungskommission] neben den in den Art. 23 und 24 genannten Grundsätzen von folgenden Grundsätzen leiten: 1.   die Preise müssen diskriminierungsfrei sein, auf objektiven Kriterien beruhen und transparent festgelegt werden; 2.   die Tarife der Energieunternehmen müssen die wirtschaftlich vertretbaren Kosten ihrer Tätigkeit decken, einschließlich der Kosten für: … b) die Bereithaltung von Reserve- und Regulierungskapazitäten für eine zuverlässige Versorgung der Kunden; … 3.   Neben den Kosten im Sinne von Nr. 2 können in die Preise auch uneinbringliche Kosten einfließen, die mit dem Übergang zu einem wettbewerbsorientierten Energiemarkt einhergehen, sowie Kosten für die Erfüllung von gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Versorgungssicherheit, einschließlich für den Schutz der Objekte, die strategische Infrastrukturen des Energiesektors darstellen. 4.   Die Preise müssen eine wirtschaftlich angemessene Kapitalrendite gewährleisten; 5.   die für verschiedene Kundengruppen geltenden Preise müssen den Kosten für die Energie- und Erdgasversorgung dieser Kunden entsprechen; 6.   Unzulässigkeit einer Quersubventionierung über die Preise: … …“ 17 Art. 35 des Energiegesetzes legt fest: „(1)   Die Energieunternehmen sind berechtigt, den Ausgleich der Kosten zu beantragen, die durch die ihnen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen, einschließlich jener im Zusammenhang mit der Versorgungssicherheit …, entstehen. … (3)   Die Unternehmen im Sinne von Abs. 1 beantragen regelmäßig bei der [Regulierungskommission] den Ausgleich der entsprechenden Kosten. Dem Antrag sind Nachweise über deren Vertretbarkeit und Höhe beizufügen. (4)   Die [Regulierungskommission] setzt die Höhe des Ausgleichs für jedes einzelne Unternehmen sowie die Gesamthöhe des Ausgleichs für den entsprechenden Zeitraum fest. (5)   Die Art des Ausgleichs der durch gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen entstandenen Kosten richtet sich nach einer von der [Regulierungskommission] festgelegten Methode zur transparenten Aufteilung dieser Kosten unter allen Endkunden, einschließlich der an das Stromnetz angeschlossenen Stromimporteure, des Fernleitungsnetzbetreibers sowie der Verteilungsnetzbetreiber, und/oder richtet sich andernfalls nach dem Gesetz.“ 18 Art. 36 Abs. 1 und 3 dieses Gesetzes sieht vor: „(1)   Die der Regulierung unterliegenden Preise werden von den Energieunternehmen gemäß den Anforderungen dieses Gesetzes und gemäß den Verordnungen im Sinne von Abs. 3 gebildet. Die Anweisungen [der Regulierungskommission] hinsichtlich der Preisbildung sind für die Energieunternehmen verpflichtend. … (3)   Die Preisregulierungsmethoden, die Regeln für die Preisbildung oder ‑festlegung und ‑änderung, die Vorgehensweise für die Gewährung von Auskünften, die Einbringung von Preisvorschlägen und die Genehmigung der Preise… richten sich nach den von der [Regulierungskommission] erlassenen Strom‑, Wärmeenergie- und Erdgasverordnungen.“ 19 In Art. 69 des Energiegesetzes heißt es: „Die Energieunternehmen sind verpflichtet, ihre Tätigkeit im Interesse der Allgemeinheit und der einzelnen Kunden sowie gemäß den Anforderungen dieses Gesetzes und anderer normativer Rechtsakte unter Gewährleistung der Versorgungssicherheit, einschließlich des Schutzes der Objekte, die strategische Infrastrukturen des Energiesektors darstellen, der kontinuierlichen Versorgung und Qualität von Strom, Wärmeenergie und Erdgas …, auszuüben.“ 20 In Art. 70 des Gesetzes heißt es: „(1)   Der Energieminister kann den Energieunternehmen zusätzliche gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegen. (2)   Die zusätzlichen Verpflichtungen im Sinne von Abs. 1 werden auferlegt, wenn sie Folgendes betreffen: 1. die Kontinuität der Strom‑, Wärmeenergie- und Erdgasversorgung; … (3)   Die zusätzlichen Verpflichtungen im Sinne von Abs. 1 werden durch Anordnung auferlegt, unter Angabe: 1. der Person, der die Verpflichtung auferlegt wird; 2. des Inhalts der Verpflichtung; 3. der Frist und der Bedingungen für die Erfüllung der Verpflichtung; 4. sonstiger Bedingungen. (4)   Die den Energieunternehmen entstandenen zusätzlichen Kosten im Sinne von Abs. 3 werden als Kosten im Sinne von Art. 35 anerkannt.“ Verordnung Nr. 2/2013 21 Auf der Grundlage von Art. 36 Abs. 3 des Energiegesetzes wurde die Naredba no 2 za regulirane na tsenite na prirodniya gaz (Verordnung Nr. 2 zur Regulierung der Erdgaspreise) vom 19. März 2013 (DV Nr. 33 vom 5. April 2013) erlassen, die in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung zuletzt durch eine im DV Nr. 105 vom 30. Dezember 2016 veröffentlichte Verordnung geändert und ergänzt wurde (im Folgenden: Verordnung Nr. 2/2013). 22 Nach ihrem Art. 1 Nr. 2 regelt diese Verordnung „die Methode des Ausgleichs der den Energieunternehmen aus den ihnen durch das Energiegesetz auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen entstehenden Kosten“. 23 Art. 11 dieser Verordnung sieht vor: (1)   Die den Energieunternehmen aufgrund der ihnen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen entstandenen und von der [Regulierungskommission] anerkannten Kosten werden über die von allen Kunden gezahlten Preise auf diskriminierungsfreie und transparente Weise ausgeglichen. (2)   Die Gesamthöhe der von der [Regulierungskommission] anerkannten Kosten, die mit gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen zusammenhängen, wird in die erforderlichen jährlichen Einkünfte des Erdgasleitungsunternehmens einbezogen. (3)   Die Kosten im Sinne von Abs. 2 werden von allen Erdgasabnehmern in Form eines Bruchteils des Lieferpreises auf der Grundlage ihres gemessenen Verbrauchs erstattet und als gesonderte Komponente des genehmigten oder nach der Methode gemäß Art. 2 Nr. 3 festgelegten Preises für die Fernleitung im Gasversorgungsnetz ausgewiesen. (4)   Die Art des Ausgleichs der den jeweiligen Energieunternehmen aufgrund der ihnen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen entstandenen Kosten sowie der Mechanismus, nach dem diese Kosten den Energieunternehmen, die sie getragen haben, ersetzt werden, richten sich nach einer von der [Regulierungskommission] erlassenen Methode.“ 24 Art. 11a der Verordnung lautet: „(1)   Wird eine gemeinwirtschaftliche Verpflichtung mehr als einem Energieunternehmen auferlegt, werden die durch diese Verpflichtung entstehenden Kosten den betreffenden Energieunternehmen im Verhältnis zum Anteil der ihnen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung über die von ihren Kunden gezahlten Preise ausgeglichen. (2)   In den Fällen gemäß Abs. 1 werden die von der [Regulierungskommission] anerkannten Kosten als gesonderte Komponente des vom betreffenden Energieunternehmen festgelegten Preises ausgewiesen und von seinen Kunden und/oder den Erdgasendversorgern, mit denen sie einen Liefervertrag geschlossen haben, auf der Grundlage ihres gemessenen Verbrauchs erstattet. (3)   Die gesonderte Preiskomponente im Sinne von Abs. 2 wird auf Basis der fundiert prognostizierten Höhe der aus der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung für das jeweilige Jahr entstehenden Kosten und auf Basis der voraussichtlich für das jeweilige Jahr bestellten Erdgasmengen festgelegt. (4)   Hat das Energieunternehmen mehr als einen Rechnungszeitraum im Laufe des Jahres im Sinne von Abs. 3, wird die gesonderte Preiskomponente im Sinne von Abs. 2 für jeden nachfolgenden Rechnungszeitraum auf Basis der Differenz zwischen den prognostizierten und den tatsächlich im Laufe des vorangegangenen Rechnungszeitraums aufgrund der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung entstandenen Kosten berichtigt.“ Die Preisfestsetzungsmethode von Bulgartransgaz 25 Die Methode zur Festsetzung der Preise für den Zugang zu und den Transport von Erdgas über die Fernleitungsnetze im Eigentum der „Bulgartransgaz“ EAD, in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (DV Nr. 76 vom 30. September 2016) (im Folgenden: Preisfestsetzungsmethode von Bulgartransgaz) sieht in Art. 17 vor: „(1)   Die unmittelbar abwälzbaren Kosten für das jeweilige Jahr des Regulierungszeitraums werden jedes Jahr festgelegt und umfassen folgende Punkte: 1. die Kosten aufgrund der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen, einschließlich jener, die mit der Versorgungssicherheit zusammenhängen, und aufgrund der Erfüllung der Pflichten, die dem Betreiber durch einen mit Anordnung des Energieministers bewilligten Notfallplan gemäß der Verordnung [Nr. 994/2010] auferlegt werden; …“ 26 Art. 25 Abs. 3 der Preisfestsetzungsmethode von Bulgartransgaz sieht vor: „In den Transportpreis können Kosten aufgrund auferlegter gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen einfließen. Diese Kosten werden als gesonderte Preiskomponente ausgewiesen.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 27 Bulgartransgaz ist ein Kombinationsnetzbetreiber für Gas und verwaltet in dieser Eigenschaft das nationale Erdgasfernleitungsnetz im bulgarischen Hoheitsgebiet, mit dem das Erdgas zu den Verteilernetzen und zu bestimmten Nichthaushaltskunden transportiert wird. Sie betreibt auch den unterirdischen Gasspeicher in Chiren (Bulgarien), dessen Hauptzweck darin besteht, die Erdgasversorgungssicherheit zu gewährleisten und die saisonalen Schwankungen des Verbrauchs auszugleichen. 28 Die „Bulgargaz“ EAD ist der öffentliche Gasversorger im bulgarischen Hoheitsgebiet und liefert das Gas zu von der Regulierungskommission regulierten Preisen. Im Jahr 2016 hatte sie am Verkauf von Erdgas in Bulgarien einen Marktanteil von 98 %. 29 Die Verteilerunternehmen sind in der Verteilung und Lieferung von Erdgas an die Endversorger tätig. Im Jahr 2016 hatten in Bulgarien 24 Unternehmen eine Konzession, und die Gesamtzahl ihrer Kunden belief sich auf 87274, davon 80705 Privatkunden, d. h. 92 %, und 6569 Geschäftskunden, d. h. 8 %. 30 Overgas, die sich von Bulgargaz beliefern lässt, versorgt 66 % aller Erdgasverbraucher in Bulgarien. Sie zieht vor dem Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, die Rechtmäßigkeit von Art. 1 Nr. 2 und der Art. 11 und 11a der Verordnung Nr. 2/2013 in Zweifel, aufgrund deren Bulgargaz im zweiten Quartal des Jahres 2017 den Erdgaspreis um 2,40 bulgarische Leva (BGN) (ca. 1,22 Euro) je 1000 m3 erhöhte, was für die Monate April und Mai 2017 zu einer zusätzlichen Inrechnungstellung von 85980 BGN (ca. 43960 Euro) führte, wobei diese Preiskomponente am 1. Juli 2017 auf 2,42 BGN (ca. 1,23 Euro) je 1000 m3 angehoben worden war. 31 Die Balgarska gazova asotsiatsia zieht vor dem vorlegenden Gericht die Rechtmäßigkeit derselben Bestimmungen mit der Begründung in Zweifel, sie verstießen gegen verwaltungsverfahrensrechtliche Vorschriften sowie gegen geltendes materielles Recht und beeinträchtigten das Allgemeininteresse, da sie zu einer deutlichen Erhöhung der Erdgaspreise geführt hätten. 32 Die Regulierungskommission, die die beanstandeten Bestimmungen erlassen hat, bringt erstens vor, sie sei bei der Ausarbeitung ihrer Rechtsakte von der Einhaltung bestimmter Verfahrensregeln für den Erlass von normativen Rechtsakten befreit. Zweitens sehe Art. 69 des Energiegesetzes vor, dass Energieunternehmen des Erdgassektors gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegt werden dürften und dass sie befugt sei, festzulegen, welche Arten von Preisgestaltungselementen und Kostenarten des öffentlichen Versorgungsunternehmens diesem zu erstatten seien. 33 Um der in Bulgarien bestehenden Bedrohung für die Sicherheit der Erdgasversorgung abzuhelfen, sehe der vom Energieminister gemäß der Verordnung Nr. 994/2010 genehmigte Notfallplan zum einen vor, dass Bulgartransgaz eine bestimmte Menge Erdgas am Standort Chiren speichere, wobei diese Reserve die Kontinuität der Versorgung sicherstellen solle und von Bulgartransgaz nur im Fall einer Störung der Versorgung angezapft werde. Zum anderen sehe dieser Plan vor, dass die Unternehmen des Erdgassektors, zu denen Bulgargaz zähle, auch verpflichtet seien, in dieser Anlage zu Beginn der Wintersaison bestimmte Erdgasmengen zu speichern, um die saisonalen Engpässe auszugleichen, wobei diese Reserven in der Wintersaison verwendet würden, um die Diskontinuität des Verbrauchs auszugleichen. 34 Die Regulierungskommission weist darauf hin, dass dieser Plan außerdem vorsehe, dass die sich aus der erstgenannten Verpflichtung ergebenden Kosten gemäß Art. 35 des Energiegesetzes über die Preise für den Zugang zu den Netzen und für die Fernleitung von Erdgas in den Netzen gedeckt würden, wobei die Bedingungen und Modalitäten für die Festsetzung dieser Preise in der Preisfestsetzungsmethode von Bulgartransgaz geregelt seien. Für die zweitgenannte Verpflichtung würden die Kosten ebenfalls nach Art. 35 des Energiegesetzes, auf dessen Grundlage die Verordnung Nr. 2/2013 erlassen worden sei, über die Preise für konzessionierte Dienstleistungen gedeckt. 35 Die Prokuratura na Republika Bulgaria (Staatsanwaltschaft der Republik Bulgarien) ist der Ansicht, dass das bulgarische Recht die Verbraucher nicht wirksam schütze. Die beanstandeten Bestimmungen der Verordnung Nr. 2/2013 verstießen gegen die Grundsätze des Verwaltungsverfahrens, insbesondere gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, und erlaubten den Energieunternehmen, Preise festzusetzen, die den erbrachten Dienstleistungen nicht entsprächen. 36 Das vorlegende Gericht nimmt auf die Urteile vom 20. April 2010, Federutility u. a. (C‑265/08, EU:C:2010:205), vom 10. September 2015, Kommission/Polen (C‑36/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:570), und vom 7. September 2016, ANODE (C‑121/15, EU:C:2016:637), Bezug und stellt sich die Frage, welche Grenzen das Unionsrecht den Mitgliedstaaten für die Möglichkeit von Interventionen bei der Bildung der Lieferpreise für Erdgas setzt. Aus diesen Urteilen ergebe sich zwar, dass in Bezug auf die Versorgung der Endverbraucher im Rahmen der Richtlinie 2009/73 eine solche Intervention zulässig sein könne, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien, doch könne diese Rechtsprechung die Zweifel des vorlegenden Gerichts nicht ausräumen. Insbesondere werde in diesen Urteilen nicht auf die Frage der Preiskomponente eingegangen, die aus den Kosten der den Energieunternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen bestehe, und in der Richtlinie 2009/73 werde nicht angegeben, wer diese Belastung zu tragen habe. 37 Im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2009/73 ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass der Mechanismus zur Identifizierung der Unternehmen, denen Verpflichtungen zu Dienstleistungen von allgemeinem Interesse oder Verpflichtungen zur Tragung der Kosten einer solchen Dienstleistung auferlegt würden, kein Unternehmen des Erdgassektors, nicht einmal den öffentlichen Anbieter oder den Kombinationsnetzbetreiber, ausnehmen dürfe. 38 Außerdem sei fraglich, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sei, wenn die mit solchen Verpflichtungen verbundene wirtschaftliche Belastung von den Endkunden getragen werde, zwischen denen nicht unterschieden werde und die überwiegend keine Energieunternehmen seien. Das bulgarische Recht begrenze in zeitlicher Hinsicht weder die Verpflichtung des öffentlichen Anbieters, Erdgas zu regulierten Tarifen zu liefern, noch die Verpflichtung der Endkunden, die wirtschaftliche Belastung zu tragen, die sich aus den den Energieunternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen ergäben. Es stelle sich auch die Frage, welche Kosten im Zusammenhang mit diesen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen bei der Festlegung der regulierten Tarife berücksichtigt werden könnten. 39 Die Beschlüsse der Regulierungskommission, mit denen für jeden Zeitraum die am Standort Chiren zu speichernden Gasmengen festgelegt würden, könnten mangels eines unmittelbaren und gegenwärtigen berechtigten Interesses von den Endkunden nicht angefochten werden, und diese Kunden könnten auch die Kosten für die Erfüllung der in Rede stehenden Speicherungspflicht, wie sie von dieser Kommission festgelegt würden, nicht anfechten. Es fragt sich daher, ob die Rechte der Verbraucher in dem von der Richtlinie 2009/73 geforderten Umfang geschützt seien. 40 Im Übrigen stellt sich das vorlegende Gericht Fragen zu der in § 5 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes über die normativen Rechtsakte vorgesehenen Befreiung der Regulierungskommission. In Anbetracht der Anforderung der Richtlinie 2009/73, dass die mit einer Dienstleistung von allgemeinem Interesse verbundenen Verpflichtungen klar festgelegt, transparent, nicht diskriminierend und überprüfbar sowie geeignet sein müssten, den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen der Union zu den nationalen Verbrauchern sicherzustellen, erscheint es ihm notwendig, dass die nationalen Vorschriften, mit denen solche Verpflichtungen eingeführt würden, eine ausführliche Begründung enthielten. 41 Vor diesem Hintergrund hat der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist nach den Art. 36 und 38 der Charta und nach Art. 3 der Richtlinie 2009/73 eine nationale Maßnahme wie die in Rede stehende, in Art. 35 des Energiegesetzes vorgesehene und in Art. 11 der Verordnung Nr. 2/2013 näher ausgestaltete zulässig, wonach die gesamte finanzielle Belastung, die mit den den Energieunternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen verbunden ist, von den Kunden zu tragen ist, unter Berücksichtigung, dass: a) die wirtschaftliche Belastung aus den gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen nicht alle Energieunternehmen trifft; b) die Kosten der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen hauptsächlich von den Endkunden getragen werden, die sie nicht anfechten können, obwohl sie Erdgas zu frei gebildeten Preisen von den Endversorgern beziehen; c) eine Differenzierung der wirtschaftlichen Belastung aus der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen, die von unterschiedlichen Arten von Kunden übernommen wird, fehlt; d) eine Befristung für die Anwendung dieser Maßnahme fehlt; e) die Berechnung des Wertes der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen auf der Grundlage der Kostenabrechnungsmethode nach einem Prognosemodell erfolgt? 2. Ist nach Art. 3 der Richtlinie 2009/73 unter Berücksichtigung der Erwägungsgründe 44 und 47 bis 49 eine nationale Rechtsvorschrift wie die des § 5 der Übergangs- und Schlussvorschriften des Gesetzes über normative Rechtsakte zulässig, die die Regulierungskommission von den Pflichten der Art. 26 bis 28 dieses Gesetzes und insbesondere von den bei der Ausarbeitung des Entwurfs eines untergesetzlichen normativen Rechtsakts bestehenden Pflichten befreit, die Grundsätze der Erforderlichkeit, Begründetheit, Voraussehbarkeit, Transparenz, Kohärenz, Subsidiarität, Verhältnismäßigkeit und Beständigkeit zu beachten, eine öffentliche Anhörung mit Bürgern und juristischen Personen durchzuführen, den Entwurf im Vorfeld mitsamt der Begründung zu veröffentlichen sowie Begründungen, auch zur Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht, darzulegen? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage Zulässigkeit 42 Da die Regulierungskommission die Zulässigkeit der ersten Frage mit der Begründung in Abrede stellt, dass sich, wenn eine der Realität entsprechende Sach- und Rechtslage berücksichtigt würde, die ihr nicht zu entnehmen sei, die Antwort auf diese Frage klar aus der Rechtsprechung ergäbe, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (Urteil vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Insbesondere ist es nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Systems der justiziellen Zusammenarbeit die Richtigkeit der Auslegung des nationalen Rechts durch das nationale Gericht zu überprüfen oder in Frage zu stellen, da diese Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit dieses Gerichts fällt. Der Gerichtshof hat demnach, wenn ihm ein nationales Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, von der Auslegung des nationalen Rechts auszugehen, die ihm dieses Gericht vorgetragen hat (Urteile vom 11. September 2014, Essent Belgium, C‑204/12 bis C‑208/12, EU:C:2014:2192, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 11. September 2014, Essent Belgium, C‑204/12 bis C‑208/12, EU:C:2014:2192, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung). 45 Zum anderen und im Übrigen ist es einem nationalen Gericht keineswegs untersagt, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, deren Beantwortung nach Auffassung einer der Parteien des Ausgangsverfahrens keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt. Daher ist diese Vorlagefrage, selbst wenn dem so sein sollte, nicht schon deshalb unzulässig (Urteil vom 1. Dezember 2011, Painer, C‑145/10, EU:C:2011:798, Rn. 64 und 65 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Im vorliegenden Fall steht die erste Frage in ersichtlichem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits, da das vorlegende Gericht mit ihr herausfinden möchte, ob die nationalen Bestimmungen, deren Rechtmäßigkeit vor ihm in Zweifel gezogen werden, mit den Verpflichtungen vereinbar sind, die Art. 3 der Richtlinie 2009/73 im Licht der Art. 36 und 38 der Charta den Mitgliedstaaten im Erdgassektor auferlegt; auch zeigt sich nicht, dass das von ihm aufgeworfene Problem hypothetischer Natur wäre. Zudem hat das vorlegende Gericht hierzu genügend tatsächliche und rechtliche Angaben gemacht, um dem Gerichtshof eine zweckdienliche Beantwortung dieser Frage zu ermöglichen. Im Übrigen ließe es, selbst wenn die Darstellung des anwendbaren nationalen Rechts durch das vorlegende Gericht fehlerhaft wäre, nicht den Schluss zu, dass diese Frage unzulässig ist. 47 Demnach ist die erste Frage zulässig. Zur Beantwortung der Frage 48 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage hinsichtlich der Richtlinie 2009/73 um die Auslegung ihres gesamten Art. 3 ersucht. Im Ausgangsrechtsstreit geht es jedoch im Grunde um die Richtlinienkonformität nationaler Rechtsvorschriften, nach denen Erdgasunternehmen die Kosten, die ihnen aufgrund der ihnen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen entstehen, von ihren Kunden erstattet werden. Daher ist für die Entscheidung dieses Rechtsstreits nur die Auslegung der Abs. 1 bis 3 dieses Artikels erforderlich. 49 Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Begründung des Vorabentscheidungsersuchens erkennen lässt, dass im Ausgangsverfahren sowohl das Erfordernis streitig ist, die Kosten im Zusammenhang mit der Verpflichtung zur Speicherung von Erdgas, die Bulgartransgaz auferlegt wurde, um die Sicherheit der Erdgasversorgung in Bulgarien zu gewährleisten, abzuwälzen, als auch das Erfordernis, die Kosten im Zusammenhang mit den Erdgasspeicherungspflichten, die den Erdgasunternehmen auferlegt wurden, um die Regelmäßigkeit der Erdgasversorgung während der Wintersaison zu gewährleisten, abzuwälzen. Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit nicht nur die Rechtmäßigkeit von Art. 11 der Verordnung Nr. 2/2013, sondern auch die von deren Art. 11a betrifft, der die „mehr als einem Energiebetreiber“ auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen erfasst. 50 Da jedoch jedenfalls dieser Entscheidung auch zu entnehmen ist, dass die für die Festlegung dieser Kosten und die Modalitäten ihrer Abwälzung geltenden Grundsätze einander entsprechen, lassen sich diese beiden Arten von Verpflichtungen für die Zwecke des Ausgangsrechtsstreits ein und derselben Prüfung unterziehen. 51 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage wissen möchte, ob Art. 3 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2009/73 im Licht der Art. 36 und 38 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der die Kosten aufgrund der Erdgasspeicherungspflichten, die den Erdgasunternehmen auferlegt werden, um die Sicherheit der Erdgasversorgung und die Regelmäßigkeit der Versorgung mit Erdgas in diesem Mitgliedstaat zu gewährleisten, zur Gänze von den Kunden dieser Unternehmen, bei denen es sich um Privatpersonen handeln kann, getragen werden. 52 Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 gewährleisten die Mitgliedstaaten entsprechend ihrem institutionellen Aufbau und unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, dass Erdgasunternehmen unbeschadet des Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie nach den in ihr festgelegten Grundsätzen und im Hinblick auf die Errichtung eines wettbewerbsbestimmten, sicheren und unter ökologischen Aspekten nachhaltigen Erdgasmarkts betrieben werden und dass diese Unternehmen hinsichtlich der Rechte und Pflichten nicht diskriminiert werden. 53 Nach Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten unter uneingeschränkter Beachtung der einschlägigen Bestimmungen des AEU-Vertrags, insbesondere von Art. 106, den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Verpflichtungen auferlegen, die sich u. a. auf Sicherheit, einschließlich Versorgungssicherheit und Regelmäßigkeit der Versorgung beziehen können. Ferner müssen nach dieser Bestimmung solche Verpflichtungen klar festgelegt, transparent, nicht diskriminierend und überprüfbar sein und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen der Union zu den nationalen Verbrauchern sicherstellen. In Bezug auf die Versorgungssicherheit und die Nachfragesteuerung können die Mitgliedstaaten außerdem eine langfristige Planung vorsehen, wobei die Möglichkeit zu berücksichtigen ist, dass Dritte Zugang zum Netz erhalten wollen. 54 Dieser Art. 3 Abs. 3 sieht zudem vor, dass die Mitgliedstaaten u. a. geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden ergreifen, insbesondere dafür Sorge tragen, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht, und einen hohen Verbraucherschutz gewährleisten. 55 Hier geht es im Ausgangsverfahren weder um die Einstufung der den Erdgasunternehmen auferlegten Speicherungspflichten als „gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie, noch darum, ob diese Speicherungspflichten den durch diese Vorschrift aufgestellten Voraussetzungen genügen. Im Ausgangsrechtsstreit geht es nämlich um eine nationale Regelung, nach der die den Erdgasunternehmen aufgrund dieser Verpflichtungen entstandenen Kosten in die Preise einfließen müssen, die diese Unternehmen ihren Kunden in Rechnung stellen. Er betrifft somit die Richtlinienkonformität einer nationalen Regelung, die im Grunde in einer staatlichen Intervention beim Erdgaspreis unabhängig davon besteht, ob es sich um den Transportpreis oder den Lieferpreis handelt. 56 Somit ist der Hinweis angezeigt, dass eine staatliche Intervention bei der Festlegung des Erdgaspreises, obwohl sie ein Hindernis für die Verwirklichung eines wettbewerbsbestimmten Erdgasbinnenmarkts darstellt, im Rahmen der Richtlinie 2009/73 gleichwohl zulässig sein kann, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss diese Intervention ein Ziel von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse verfolgen, zweitens muss sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten, und drittens muss sie gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen vorsehen, die klar festgelegt, transparent, nicht diskriminierend und überprüfbar sind und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen der Union zu den Verbrauchern sicherstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 57 Was als Erstes die Voraussetzung der Verfolgung eines allgemeinen wirtschaftlichen Interesses angeht, ist festzustellen, dass diese Voraussetzung in der Richtlinie 2009/73 nicht definiert wird. Doch bedeutet die Bezugnahme in Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie sowohl auf diese Voraussetzung als auch auf Art. 106 AEUV, der mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraute Unternehmen betrifft, dass diese Voraussetzung am Maßstab dieser Vertragsbestimmung auszulegen ist (Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Die Auslegung der Voraussetzung der Verfolgung eines allgemeinen wirtschaftlichen Interesses muss zudem Art. 14 AEUV, das dem EU-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon und dem AEU-Vertrag angefügte Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse, das den Behörden der Mitgliedstaaten bei der Lieferung, der Ausführung und der Organisation der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse explizit eine wichtige Rolle und einen weiten Ermessensspielraum zuerkennt, sowie die Charta, insbesondere deren Art. 36, der den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betrifft, berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 40 und 41). 59 Was speziell den Erdgassektor anbelangt, folgt aus dem zweiten Satz des 47. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2009/73, dass die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen auf nationaler Ebene, unter Berücksichtigung der nationalen Bedingungen, festgelegt werden sollten, das Unionsrecht dabei jedoch von den Mitgliedstaaten beachtet werden sollte. 60 Unter diesem Blickwinkel soll Art. 106 Abs. 2 AEUV das Interesse der Mitgliedstaaten am Einsatz bestimmter Unternehmen als Instrument der Wirtschafts- oder Sozialpolitik mit dem Interesse der Union an der Einhaltung der Wettbewerbsregeln und der Wahrung der Einheit des Binnenmarkts in Einklang bringen (Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 61 Die Mitgliedstaaten sind somit berechtigt, unter Beachtung des Rechts der Union den Umfang und die Organisation ihrer Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu bestimmen und können insbesondere Ziele berücksichtigen, die ihrer nationalen Politik eigen sind (Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Hierzu hat der Gerichtshof ausgeführt, dass es Aufgabe der Mitgliedstaaten ist, im Rahmen der von ihnen gemäß der Richtlinie 2009/73 vorzunehmenden Beurteilung, ob den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen aufzuerlegen sind, einen Ausgleich zwischen dem Ziel der Liberalisierung und den anderen von dieser Richtlinie verfolgten Zielen herzustellen (Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 63 Demnach erlaubt das Unionsrecht, insbesondere Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73, ausgelegt im Licht der Art. 14 und 106 AEUV, den Mitgliedstaaten, zu beurteilen, ob den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen hinsichtlich des Erdgaspreises aufzuerlegen sind, um u. a. die Versorgungssicherheit und die Regelmäßigkeit der Versorgung zu gewährleisten, sofern alle weiteren von der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 52). 64 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erfordernis der Kostenabwälzung jene Kosten betrifft, die durch die den Erdgasunternehmen auferlegten Speicherungspflichten zur Gewährleistung der Sicherheit der Erdgasversorgung und der Regelmäßigkeit der Versorgung mit Erdgas im bulgarischen Hoheitsgebiet entstehen, zwei Ziele, die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 ausdrücklich als im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegende Ziele genannt werden, die die Auferlegung von gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen im Sinne dieser Vorschrift durch die Mitgliedstaaten rechtfertigen. 65 Eine nationale Regelung, die vorsieht, dass die Erdgasunternehmen die ihnen durch solche gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen entstehenden Kosten in die ihren Kunden in Rechnung gestellten Preise einfließen lassen müssen, verfolgt aber auch diese im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegenden Ziele, da sie durch ihren Zweck, diesen Unternehmen zu gewährleisten, dass diese Verpflichtungen für sie kostenneutral sind, zur tatsächlichen Erfüllung dieser Verpflichtungen durch diese Unternehmen beiträgt. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, dies unter Berücksichtigung der Tatsache zu prüfen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass nicht ausgeschlossen ist, dass eine nationale Regelung, die die Verpflichtung umfasst, Erdgas zu einem bestimmten Preis zu liefern, für geeignet befunden werden kann, die Erreichung solcher Ziele zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 58). 66 Was als Zweites die Voraussetzung der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit betrifft, geht aus dem Wortlaut von Art. 106 AEUV unmittelbar hervor, dass gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, die nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 Unternehmen auferlegt werden können, diesen Grundsatz beachten müssen und dass diese Verpflichtungen daher die freie Festlegung des Lieferpreises für Erdgas nach dem 1. Juli 2007 nur insoweit, als es zur Erreichung des mit ihnen verfolgten, im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegenden Ziels erforderlich ist, beeinträchtigen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). 67 Zwar wird das vorlegende Gericht im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits zu beurteilen haben, ob dieses Erfordernis der Verhältnismäßigkeit erfüllt ist, der Gerichtshof hat ihm jedoch auf Basis der verfügbaren Informationen die hierfür erforderlichen Hinweise hinsichtlich des Unionsrechts zu geben (vgl. entsprechend Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 68 Daher impliziert die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erstens, dass die fragliche Maßnahme geeignet ist, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegenden Ziels zu gewährleisten (Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 69 Insoweit deutet nichts in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten darauf hin, dass diese Voraussetzung im vorliegenden Fall nicht erfüllt ist. Wie bereits in Rn. 65 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, soll der Umstand, dass den Erdgasunternehmen die Kosten, die ihnen aufgrund der ihnen zur Gewährleistung der Sicherheit der Erdgasversorgung und der Regelmäßigkeit der Versorgung mit Erdgas auferlegten Speicherungspflichten entstanden sind, erstattet werden, die wirtschaftliche Neutralität dieser Verpflichtungen ihnen gegenüber gewährleisten. Ein solches Erfordernis der Kostenabwälzung scheint somit geeignet zu sein, die Verwirklichung der verfolgten Ziele zu gewährleisten, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist. 70 Zweitens muss zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die staatliche Preisintervention auf das zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels strikt Notwendige begrenzt werden, was die periodische Überprüfung der Notwendigkeit der Maßnahme impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung). 71 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der ihm vorliegenden konkreten Informationen zu beurteilen, ob die nationale Regelung diese Voraussetzung erfüllt. In diesem Rahmen hat es zu prüfen, ob und inwieweit die Verwaltung nach dem anwendbaren nationalen Recht verpflichtet ist, die Notwendigkeit und die Modalitäten ihrer Intervention nach Maßgabe der Entwicklung des Gassektors periodisch in regelmäßigen, hinreichend engen Zeitabständen zu überprüfen, wobei es im Rahmen dieser Beurteilung die Bestimmungen der Verordnung Nr. 994/2010, die zum Zeitpunkt des im Ausgangsverfahren maßgeblichen Sachverhalts anwendbar war und nunmehr durch die Verordnung 2017/1938 ersetzt wurde, zu berücksichtigen hat, die u. a. die Aufstellung eines Präventions- und eines Notfallplans durch jeden Mitgliedstaat zur Gewährleistung der Sicherheit der Erdgasversorgung auf nationaler Ebene regeln. 72 Drittens darf die angewandte Interventionsmethode nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegenden Ziels erforderlich ist (Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 73 Insoweit liefert das vorlegende Gericht keinen Anhaltspunkt für die Beurteilung der Frage, ob die Berechnung der auf die Kunden abgewälzten Kosten diese Voraussetzung erfüllt, abgesehen vom Hinweis in der Formulierung seiner ersten Frage, dass „die Berechnung des Wertes der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen auf der Grundlage der Kostenabrechnungsmethode nach einem Prognosemodell erfolgt“. 74 In diesem Zusammenhang wird das vorlegende Gericht zu beurteilen haben, ob die Methode zur Berechnung der Kosten, wie sie in der nationalen Regelung vorgesehen ist, nicht zu einer Überkompensation der Kosten führt, die den betreffenden Unternehmen durch die ihnen auferlegten Speicherungspflichten entstehen, und ob die von der Regulierungskommission verwendete Methode zur Berechnung der aus diesen Verpflichtungen resultierenden Kosten, deren Festlegung in die Zuständigkeit der nationalen Behörden fällt, objektiven und nicht diskriminierenden Kriterien folgt. 75 Viertens muss die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich der fraglichen Maßnahme und insbesondere im Hinblick auf die durch sie Begünstigten beurteilt werden. Hierzu hat der Gerichtshof bereits ausgeführt, dass zu prüfen ist, in welchem Umfang die in Rede stehende staatliche Intervention Privaten bzw. Unternehmen als Endverbrauchern von Gas zugutekommt (Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 67 und 68 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 76 Die Beachtung dieses Grundsatzes schließt jedoch nicht aus, dass die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen, die von den Mitgliedstaaten im Rahmen von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 beschlossen werden können, alle Endverbraucher von Gas betreffen. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der fraglichen nationalen Maßnahme wären in diesem Fall allerdings zum einen der Umstand, dass die Situation von Unternehmen grundsätzlich von der von Haushalten abweicht und die verfolgten Ziele und die einschlägigen Interessen nicht unbedingt dieselben sind, und zum anderen die objektiven Unterschiede zwischen den Unternehmen untereinander entsprechend ihrer Größe zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 40 bis 42). 77 Im vorliegenden Fall kann das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erfordernis der Kostenabwälzung auf den ersten Blick und als solches nicht als Maßnahme angesehen werden, die den Kunden oder den Verbrauchern, die die Kosten letztlich tragen müssen, „zugutekommt“. Dieses Erfordernis der Abwälzung ergibt sich jedoch unmittelbar aus den den Erdgasunternehmen auferlegten Verpflichtungen zur Speicherung von Erdgas. Diese Verpflichtungen kommen jedoch allen Erdgasverbrauchern zugute, da sie die Versorgungssicherheit und die Regelmäßigkeit der Versorgung gewährleisten sollen. 78 Außerdem spricht offenbar grundsätzlich nichts dagegen, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erfordernis der Kostenabwälzung für alle Erdgasunternehmen gilt, denen Speicherungspflichten auferlegt werden, und sämtliche Kunden dieser Unternehmen, einschließlich Privatpersonen, erfasst. 79 Zwar hat das vorlegende Gericht in seiner ersten Frage ausgeführt, dass bei der finanziellen Belastung, die die verschiedenen Kundenarten insoweit trügen, nicht unterschieden werde, doch ist darauf hinzuweisen, dass nach den Art. 11 und 11a der Verordnung Nr. 2/2013, wie sie das vorlegende Gericht dargelegt hat, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kosten über die von den Kunden gezahlten Preise „auf der Grundlage ihres gemessenen Verbrauchs“ erstattet werden. Dies würde bedeuten, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erfordernis der Kostenabwälzung trotz seines offenbar einheitlichen persönlichen Anwendungsbereichs insoweit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen könnte. Es wird allerdings Sache des vorlegenden Gerichts sein, dies zu überprüfen, wobei klarzustellen ist, dass diesem Grundsatz weder der Umstand, dass die von den verschiedenen Arten von Endkunden getragene wirtschaftliche Belastung der Speicherungspflichten alle Kunden in gleicher Weise trifft, noch der Umstand zuwiderlaufen würde, dass, wenn sie nicht alle Kunden in gleicher Weise trifft, die vorgenommene Differenzierung zwischen den Kundenarten objektiv gerechtfertigt ist, z. B. wegen der Auswirkung ihres Verbrauchs auf die Speicherungskosten. 80 Was als Drittes die Voraussetzung betrifft, dass die in Rede stehenden gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen klar festgelegt, transparent, nicht diskriminierend und überprüfbar sein und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen der Union zu den nationalen Verbrauchern sicherstellen müssen, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 in Bezug auf den nicht diskriminierenden Charakter dieser Verpflichtungen die Auferlegung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen allgemein „den im Gassektor tätigen Unternehmen“ und nicht bestimmten Unternehmen im Besonderen gestattet. Außerdem sieht Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die Erdgasunternehmen hinsichtlich der Rechte und Pflichten nicht diskriminiert werden. In diesem Rahmen darf das System der Benennung von Unternehmen, denen gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegt werden, keines der im Gasverteilungssektor tätigen Unternehmen von vornherein ausschließen (Urteil vom 7. September 2016, ANODE, C‑121/15, EU:C:2016:637, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daher muss jede etwaige Ungleichbehandlung objektiv gerechtfertigt sein. 81 Im vorliegenden Fall hat sich das vorlegende Gericht insoweit auf den Hinweis beschränkt, dass zum einen die wirtschaftliche Belastung, die sich aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Speicherungspflichten ergebe, nicht „alle Unternehmen des Energiesektors“ betreffe und zum anderen die Endkunden die Kosten der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen, die ihnen letztlich zugerechnet würden, nicht anfechten könnten. 82 Da aber die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Speicherungspflichten ihrem Wesen nach nur im Gassektor tätige Unternehmen treffen können, kann der Umstand, dass die Kosten dieser Verpflichtungen nicht von allen Unternehmen des Energiesektors getragen werden, nicht belegen, dass das Erfordernis der Abwälzung dieser Kosten in diskriminierender Weise angewandt wird. Das vorlegende Gericht hat jedoch zu prüfen, ob die aus diesen Verpflichtungen resultierende wirtschaftliche Belastung alle Erdgasunternehmen trifft und wenn nicht, ob die vorgenommene Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist und ob die Einzelheiten des Ausgleichs dieser Belastung für die betroffenen Unternehmen diskriminierend sind (vgl. entsprechend Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 45 und 46). 83 Der Umstand, dass die Endkunden nicht in der Lage sind, die ihnen letztlich zugerechneten Speicherungskosten anzufechten, kann als solcher nicht belegen, dass diese Kosten nicht überprüfbar sind, da sich aus der Vorlageentscheidung nicht ergibt, dass die Unternehmen, denen diese Verpflichtungen auferlegt werden, nicht selbst in der Lage wären, den Beschluss der Regulierungskommission, mit dem die abzuwälzenden Kosten festgelegt werden, anzufechten. 84 In Ermangelung weiterer Angaben hierzu in der Vorlageentscheidung ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand aller ihm zur Verfügung stehenden Informationen zu beurteilen, ob das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erfordernis die in Rn. 80 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung erfüllt. 85 Wenn sich das vorlegende Gericht außerdem fragt, ob das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erfordernis der Kostenabwälzung im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2009/73 zulässig ist, da die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung bewirkt, dass die Kosten der Speicherungspflichten den Endverbrauchern von Erdgas, bei denen es sich teilweise um Privatpersonen handelt, auferlegt werden, und zwar unabhängig davon, ob es sich um schutzbedürftige Kunden handelt, ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung u. a. vorsieht, dass die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden ergreifen, dafür Sorge tragen, dass für schutzbedürftige Kunden ein angemessener Schutz besteht, und einen hohen Verbraucherschutz gewährleisten, auf den auch in Art. 38 der Charta Bezug genommen wird. 86 Im vorliegenden Fall deutet jedoch nichts darauf hin, dass ein Erfordernis der Abwälzung der Kosten, die sich aus den den Erdgasunternehmen auferlegten gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen ergeben, wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, das die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 aufgestellten Voraussetzungen erfüllt und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet, nicht geeignet wäre, das von dieser Richtlinie geforderte Schutzniveau für Verbraucher, einschließlich schutzbedürftiger Verbraucher bzw. Kunden, zu gewährleisten. 87 Insoweit ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass sich ein solches Erfordernis der Kostenabwälzung nur auf einen Bruchteil des Erdgaslieferpreises auswirkt, dass es offensichtlich vom tatsächlichen Erdgasverbrauch abhängt, und dass eine gesonderte Ausweisung der betreffenden Preiskomponente auf der Rechnung vorgesehen ist. Außerdem schließt eine solche Regelung offenbar nicht aus, dass der betreffende Mitgliedstaat gegebenenfalls zugunsten schutzbedürftiger Verbraucher bzw. Kunden beim Erdgaslieferpreis intervenieren kann. 88 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2009/73 im Licht der Art. 36 und 38 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach die Kosten aufgrund der Erdgasspeicherungspflichten, die den Erdgasunternehmen auferlegt werden, um die Sicherheit der Erdgasversorgung und die Regelmäßigkeit der Versorgung mit Erdgas in diesem Mitgliedstaat zu gewährleisten, zur Gänze von den Kunden dieser Unternehmen, bei denen es sich um Privatpersonen handeln kann, getragen werden, sofern diese Regelung ein im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegendes Ziel verfolgt, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet und sofern die von ihr vorgesehenen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen klar festgelegt, transparent, nicht diskriminierend und überprüfbar sind und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen der Union zu den nationalen Verbrauchern sicherstellen. Zur zweiten Frage 89 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2009/73 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die die Regulierungsbehörde dieses Mitgliedstaats im Sinne dieser Richtlinie von der Einhaltung bestimmter Vorschriften des nationalen Rechts über das Verfahren zum Erlass normativer Rechtsakte befreit, wenn sie einen Rechtsakt erlässt, der eine gemeinwirtschaftliche Verpflichtung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie auferlegt. 90 Vorab ist zum einen festzustellen, dass die bulgarische Regierung die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über diese Frage mit der Begründung in Abrede stellt, dass sie sich nicht auf das Unionsrecht, sondern auf das nationale Recht beziehe, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung keine Maßnahme zur Umsetzung des Unionsrechts darstelle. 91 Es ist jedoch festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit dieser Frage wissen möchte, ob es nach der Richtlinie 2009/73 zulässig ist, dass eine Regulierungsbehörde im Sinne dieser Richtlinie, wenn sie Regulierungsbefugnisse nach dieser Richtlinie ausübt, einem Verfahren zum Erlass ihrer Rechtsakte unterliegt, das sich von der im Übrigen in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Regelung über den Erlass normativer Rechtsakte unterscheidet. Da die zweite Frage somit eindeutig das Unionsrecht betrifft, ist der Gerichtshof zu ihrer Beantwortung zuständig. 92 Zum anderen stellt die Regulierungskommission die Zulässigkeit dieser Frage in Abrede, da die Richtlinie 2009/73 ihrer Ansicht nach keine Anforderungen an die Verfahren enthält, nach denen die nationalen untergesetzlichen normativen Rechtsakte zu erlassen seien. 93 Die Frage, ob die zweite Frage einen Gegenstand betrifft, der nicht unter das Unionsrecht fällt, weil diese Richtlinie den Mitgliedstaaten nicht vorschreibe, in ihrem Recht Regeln vorzusehen wie jene, von denen die Regulierungskommission durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung befreit ist, stellt jedoch eine Frage nach der Beantwortung und keine solche der Zulässigkeit der vorgelegten Frage dar (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Oktober 2010, Padawan, C‑467/08, EU:C:2010:620, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Frage ist daher zulässig. 94 In der Sache ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen auferlegen können, die klar definiert, transparent, nicht diskriminierend und überprüfbar sind und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen der Union zu den nationalen Verbrauchern sicherstellen. 95 Indem diese Bestimmung aber verlangt, dass solche Verpflichtungen „klar definiert“, „transparent“ und „überprüfbar“ sein müssen, fordert sie, dass die Rechtsakte, mit denen solche Verpflichtungen auferlegt werden, begründet, veröffentlicht und gerichtlich nachprüfbar sein müssen. 96 Im Übrigen sieht Art. 41 der Richtlinie 2009/73, der die Aufgaben und Befugnisse der Regulierungsbehörden betrifft, in Abs. 16 vor, dass die von den Regulierungsbehörden getroffenen Entscheidungen im Hinblick auf die gerichtliche Überprüfung in vollem Umfang zu begründen und der Öffentlichkeit unter Wahrung der Vertraulichkeit wirtschaftlich sensibler Informationen zugänglich zu machen sind. 97 Über diese Angaben hinaus sieht die Richtlinie 2009/73 jedoch keine detaillierten Verfahrensmodalitäten vor, die diese Behörden beim Erlass von Rechtsakten, mit denen gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie auferlegt werden, zu beachten hätten. 98 Unter diesen Umständen steht es den Mitgliedstaaten frei, ihre Regulierungsbehörde beim Erlass eines solchen Rechtsakts von der Einhaltung bestimmter Vorschriften ihres nationalen Rechts über das Verfahren zum Erlass normativer Rechtsakte zu befreien, sofern ihre Rechtsvorschriften im Übrigen gewährleisten, dass die Regulierungsbehörde verpflichtet ist, beim Erlass eines solchen Rechtsakts die in der Richtlinie 2009/73 aufgestellten Voraussetzungen zu beachten. 99 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Regulierungskommission trotz der in § 5 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes über normative Rechtsakte vorgesehenen Befreiung dennoch, wie sie geltend macht, verpflichtet ist, diese Voraussetzungen zu beachten. 100 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2009/73 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die die Regulierungsbehörde dieses Mitgliedstaats im Sinne dieser Richtlinie von der Einhaltung bestimmter Vorschriften des nationalen Rechts über das Verfahren zum Erlass normativer Rechtsakte befreit, wenn sie einen Rechtsakt erlässt, der eine gemeinwirtschaftliche Verpflichtung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie auferlegt, sofern das geltende nationale Recht im Übrigen gewährleistet, dass dieser Rechtsakt den materiellen Anforderungen dieser Vorschrift entspricht, in vollem Umfang begründet ist, gegebenenfalls unter Wahrung der Vertraulichkeit wirtschaftlich sensibler Informationen veröffentlicht wird und gerichtlich überprüfbar ist. Kosten 101 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 3 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG ist im Licht der Art. 36 und 38 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach die Kosten aufgrund der Erdgasspeicherungspflichten, die den Erdgasunternehmen auferlegt werden, um die Sicherheit der Erdgasversorgung und die Regelmäßigkeit der Versorgung mit Erdgas in diesem Mitgliedstaat zu gewährleisten, zur Gänze von den Kunden dieser Unternehmen, bei denen es sich um Privatpersonen handeln kann, getragen werden, sofern diese Regelung ein im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegendes Ziel verfolgt, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet und sofern die von ihr vorgesehenen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen klar festgelegt, transparent, nicht diskriminierend und überprüfbar sind und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen der Europäischen Union zu den nationalen Verbrauchern sicherstellen. 2. Die Richtlinie 2009/73 ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die die Regulierungsbehörde dieses Mitgliedstaats im Sinne dieser Richtlinie von der Einhaltung bestimmter Vorschriften des nationalen Rechts über das Verfahren zum Erlass normativer Rechtsakte befreit, wenn sie einen Rechtsakt erlässt, der eine gemeinwirtschaftliche Verpflichtung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie auferlegt, sofern das geltende nationale Recht im Übrigen gewährleistet, dass dieser Rechtsakt den materiellen Anforderungen dieser Vorschrift entspricht, in vollem Umfang begründet ist, gegebenenfalls unter Wahrung der Vertraulichkeit wirtschaftlich sensibler Informationen veröffentlicht wird und gerichtlich überprüfbar ist. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 23. April 2020.#NH gegen Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI - Rete Lenford.#Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78/EG – Art. 3 Abs. 1 Buchst. a, Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 – Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung – Bedingungen für den Zugang zu Beschäftigung und Beruf – Begriff – Öffentliche Äußerungen, mit denen die Einstellung homosexueller Personen ausgeschlossen wird – Art. 11 Abs. 1, Art. 15 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Rechtsschutz – Sanktionen – Juristische Person, die ein Kollektivinteresse vertritt – Klagebefugnis, ohne dass im Namen einer beschwerten Person gehandelt wird oder ein Geschädigter vorhanden ist – Anspruch auf Schadensersatz.#Rechtssache C-507/18.
62018CJ0507
ECLI:EU:C:2020:289
2020-04-23T00:00:00
Gerichtshof, Sharpston
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62018CJ0507 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 23. April 2020 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Richtlinie 2000/78/EG – Art. 3 Abs. 1 Buchst. a, Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 2 – Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung – Bedingungen für den Zugang zu Beschäftigung und Beruf – Begriff – Öffentliche Äußerungen, mit denen die Einstellung homosexueller Personen ausgeschlossen wird – Art. 11 Abs. 1, Art. 15 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Rechtsschutz – Sanktionen – Juristische Person, die ein Kollektivinteresse vertritt – Klagebefugnis, ohne dass im Namen einer bestimmten beschwerten Person gehandelt wird oder ein Geschädigter vorhanden ist – Anspruch auf Schadensersatz“ In der Rechtssache C‑507/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 30. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 2. August 2018, in dem Verfahren NH gegen Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI – Rete Lenford erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, M. Vilaras, E. Regan, P. G. Xuereb und I. Jarukaitis (Berichterstatter), der Richter J. Malenovský, L. Bay Larsen, T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, des Richters F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und N. Piçarra, Generalanwältin: E. Sharpston, Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juli 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von NH, vertreten durch C. Taormina und G. Taormina, avvocati, – der Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI – Rete Lenford, vertreten durch A. Guariso, avvocato, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. De Socio, avvocato dello Stato, – der griechischen Regierung, vertreten durch E.‑M. Mamouna als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 31. Oktober 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2, 3 und 9 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NH und der Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI – Rete Lenford (im Folgenden: Associazione) wegen der Äußerungen, die NH in einer Radiosendung machte und denen zufolge er in seiner Anwaltskanzlei nicht mit homosexuellen Personen zusammenarbeiten wolle. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Charta 3 Art. 11 („Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt in seinem Abs. 1: „Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.“ 4 Art. 15 („Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten“) der Charta sieht in seinem Abs. 1 vor: „Jede Person hat das Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben.“ 5 Art. 21 („Nichtdiskriminierung“) der Charta bestimmt in seinem Abs. 1: „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“ Richtlinie 2000/78 6 In den Erwägungsgründen 9, 11, 12 und 28 der Richtlinie 2000/78 heißt es: „(9) Beschäftigung und Beruf sind Bereiche, die für die Gewährleistung gleicher Chancen für alle und für eine volle Teilhabe der Bürger am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben sowie für die individuelle Entfaltung von entscheidender Bedeutung sind. … (11) Diskriminierungen wegen … der sexuellen Ausrichtung können die Verwirklichung der im [AEU]-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit. (12) Daher sollte jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen … der sexuellen Ausrichtung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen [in der Union] untersagt werden. … … (28) In dieser Richtlinie werden Mindestanforderungen festgelegt; es steht den Mitgliedstaaten somit frei, günstigere Vorschriften einzuführen oder beizubehalten. …“ 7 Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt: „Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“ 8 Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) dieser Richtlinie sieht vor: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf. (2)   Im Sinne des Absatzes 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn: i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich … …“ 9 Art. 3 der Richtlinie regelt deren Geltungsbereich. In Abs. 1 Buchst. a dieses Artikels heißt es: „Im Rahmen der auf die [Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf: a) die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs“. 10 Art. 8 („Mindestanforderungen“) der Richtlinie 2000/78 bestimmt in seinem Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten können Vorschriften einführen oder beibehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.“ 11 Art. 9 dieser Richtlinie gehört zu ihrem Kapitel II betreffend Rechtsbehelfe und Rechtsdurchsetzung. Unter der Überschrift „Rechtsschutz“ sieht dieser Artikel in seinem Abs. 2 vor: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verbände, Organisationen oder andere juristische Personen, die gemäß den in ihrem einzelstaatlichen Recht festgelegten Kriterien ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu sorgen, sich entweder im Namen der beschwerten Person oder zu deren Unterstützung und mit deren Einwilligung an den in dieser Richtlinie zur Durchsetzung der Ansprüche vorgesehenen Gerichts- und/oder Verwaltungsverfahren beteiligen können.“ 12 Art. 17 („Sanktionen“) der Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten legen die Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Anwendung dieser Richtlinie zu verhängen sind, und treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um deren Durchführung zu gewährleisten. Die Sanktionen, die auch Schadenersatzleistungen an die Opfer umfassen können, müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. …“ Italienisches Recht 13 Das Decreto legislativo n. 216 – Attuazione della direttiva 2000/78 per la parità di trattamento in materia di occupazione e di condizioni di lavoro (Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 216 – Umsetzung der Richtlinie 2000/78 zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf) vom 9. Juli 2003 (GURI Nr. 187 vom 13. August 2003, S. 4) in seiner auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 216) sieht in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a vor: „Gemäß dem vorliegenden Decreto legislativo … umfasst der Grundsatz der Gleichbehandlung, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung geben darf. Dieser Grundsatz setzt voraus, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung erfolgt, wie diese nachstehend definiert sind: a) eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person wegen der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren würde“. 14 Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dieses Decreto legislativo lautet: „Der Grundsatz der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters und der sexuellen Ausrichtung gilt für alle Personen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich und unterliegt gemäß den in Art. 4 vorgesehenen Formen gerichtlichem Rechtsschutz, unter besonderer Berücksichtigung der folgenden Bereiche: a) Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen“. 15 Art. 5 des Decreto legislativo sieht vor: „(1)   Gewerkschaften, Verbände und Organisationen, die Vertreter des verletzten Rechts oder Interesses sind, sind kraft einer Vollmacht, die durch eine öffentliche Urkunde oder einen privatschriftlichen beurkundeten Vertrag erteilt wird, andernfalls die Vollmacht nichtig ist, im Namen und für Rechnung oder zur Unterstützung der durch die Diskriminierung beschwerten Person im Sinne von Art. 4 gegen die natürliche oder juristische Person, der das diskriminierende Verhalten oder die diskriminierende Handlung zuzurechnen ist, klagebefugt. (2)   Die in Abs. 1 genannten Personen sind außerdem in Fällen einer kollektiven Diskriminierung klagebefugt, wenn sich die durch die Diskriminierung verletzten Personen nicht unmittelbar und unverzüglich feststellen lassen.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 16 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass NH Rechtsanwalt ist und dass die Associazione eine Vereinigung von Rechtsanwälten ist, die Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen (LGBTI) vor Gericht Beistand leistet. 17 Da sie der Auffassung war, NH habe Äußerungen getätigt, die den Tatbestand eines diskriminierenden Verhaltens aufgrund der sexuellen Ausrichtung von Arbeitnehmern im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo Nr. 216 erfüllten, verklagte die Associazione NH vor dem Tribunale di Bergamo (Landesgericht Bergamo, Italien). 18 Mit Beschluss vom 6. August 2014 erklärte dieses Gericht in seiner Funktion als Arbeitsgericht das Verhalten von NH, da es unmittelbar diskriminierend sei, für rechtswidrig; dieser hatte in einem Interview während einer Radiosendung erklärt, dass er homosexuelle Personen in seiner Anwaltskanzlei weder einstellen noch beschäftigen wolle. Das Tribunale di Bergamo (Landesgericht Bergamo) verurteilte NH auf dieser Grundlage zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 10000 Euro an die Associazione und ordnete die auszugsweise Veröffentlichung dieses Beschlusses in einer landesweit erscheinenden Tageszeitung an. 19 Mit Urteil vom 23. Januar 2015 wies die Corte d’appello di Brescia (Appellationsgericht Brescia, Italien) das von NH gegen diesen Beschluss eingelegte Rechtsmittel zurück. 20 Gegen dieses Urteil hat NH Kassationsbeschwerde vor der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), dem vorlegenden Gericht, eingelegt. Zur deren Begründung macht NH u. a. eine unzutreffende Anwendung von Art. 5 des Decreto legislativo Nr. 216 geltend, soweit das Berufungsgericht die Klagebefugnis der Associazione bejaht habe, sowie einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und Art. 3 dieses Decreto legislativo oder deren unzutreffende Anwendung, da er eine Meinung zum Anwaltsberuf geäußert, dabei aber nicht als Arbeitgeber, sondern schlichtweg als Bürger in Erscheinung getreten sei und da und die streitigen Äußerungen außerhalb jedes tatsächlichen beruflichen Kontexts stünden. 21 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Berufungsgericht in seinem Urteil zum einen festgestellt habe, „NH [habe] in einem Gespräch im Laufe einer Radiosendung eine Reihe von nach und nach von seinem Gesprächspartner provozierten Sätzen … zur Begründung seiner allgemeinen Abneigung gegen eine bestimmte Kategorie von Personen geäußert, die er in seiner Kanzlei weder um sich noch, abstrakt gesprochen, als seine Mitarbeiter ausgewählt haben wolle“; zum anderen sei festgestellt worden, dass es zur fraglichen Zeit kein laufendes oder geplantes Einstellungsverfahren gegeben habe. 22 In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht erstens, ob eine Vereinigung von Rechtsanwälten wie die Associazione eine Vertreterorganisation im Sinne von Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 darstellt. Insoweit weist es darauf hin, dass die Empfehlung 2013/396/EU der Kommission vom 11. Juni 2013 über „Gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadensersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten“ (ABl. 2013, L 201, S. 60) und die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen mit der Überschrift „Auf dem Weg zu einem allgemeinen europäischen Rahmen für den kollektiven Rechtsschutz“ (COM[2013] 401 final) unter den Kriterien, die für die Ermittlung der Klagebefugnis einer Organisation bei in Vertretung erhobenen Klagen relevant seien, nicht nur die Verbindung des satzungsmäßig festgelegten Ziels der fraglichen Organisation zu den Rechten aufführten, deren Verletzung geltend gemacht werde, sondern auch die fehlende Gewinnerzielungsabsicht dieser Organisation. 23 Im vorliegenden Fall wurde die Klagebefugnis der Associazione vom Berufungsgericht aufgrund von deren Satzung bejaht, wonach diese Vereinigung „einen Beitrag zur Entwicklung und Verbreitung der Kultur und der Achtung der Rechte von [LGBTI‑]Personen zu leisten beabsichtigt, indem die Justiz sensibilisiert wird, [und] die Bildung eines Netzes von Anwälten leitet … sowie den Rechtsschutz und das Gebrauchmachen von kollektiven Verteidigungsmitteln vor nationalen und internationalen Gerichten begünstigt und fördert“. 24 Das vorlegende Gericht stellt klar, dass im italienischen Recht Art. 5 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 216, wenn sich die Diskriminierung im Bereich der Beschäftigung nicht gegen ein namhaft gemachtes Opfer, sondern gegen eine Kategorie von Personen richte, den in dieser Bestimmung genannten Organisationen zwar die Klagebefugnis zuerkenne und sie als Interessenvertreter der Gesamtheit der Geschädigten angesehen würden. Gleichwohl hat das vorlegende Gericht Zweifel daran, ob einer Vereinigung von Rechtsanwälten, deren Hauptziel im Angebot von Rechtsbeistand für LGBTI‑Personen besteht, allein aufgrund der Tatsache, dass sie nach ihrer Satzung auch die Förderung der Achtung der Rechte dieser Personen zum Ziel hat, die Befugnis zuerkannt werden kann, gegen beschäftigungsbezogene Diskriminierungen auf der Grundlage eines unmittelbaren eigenen Interesses zu klagen und dabei auch Schadensersatz geltend zu machen. 25 Zweitens fragt sich das vorlegende Gericht nach den Grenzen, die die Regelung zur Bekämpfung der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf der Ausübung der Meinungsfreiheit setzt. Der von der Richtlinie 2000/78 und dem Decreto legislativo Nr. 216 gebotene Schutz gelte für Situationen der Entstehung, der Durchführung und der Auflösung eines Arbeitsverhältnisses und betreffe daher die freie wirtschaftliche Betätigung. Seiner Ansicht nach scheinen diese Rechtsakte jedoch nichts mit der Meinungsfreiheit zu tun zu haben und sollen sie nicht einschränken. Zudem hänge die Anwendung dieser Rechtsakte davon ab, ob die Gefahr einer Diskriminierung tatsächlich bestehe. 26 Daher fragt sich das vorlegende Gericht, ob es für die Feststellbarkeit einer unter die Richtlinie 2000/78 und die nationale Regelung zu ihrer Umsetzung fallenden Situation des Zugangs zur Beschäftigung erforderlich ist, dass es wenigstens individuelle Einstellungsverhandlungen oder ein öffentliches Stellenangebot gibt und ob, wenn dies nicht der Fall ist, einfache Äußerungen, die nicht mindestens die Merkmale eines öffentlichen Stellenangebots aufweisen, durch die Meinungsfreiheit geschützt sind. 27 Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 9 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass eine Vereinigung, die aus Rechtsanwälten besteht, die auf den gerichtlichen Rechtsschutz von Personen mit unterschiedlicher sexueller Ausrichtung spezialisiert sind, und die in ihrer Satzung das Ziel angibt, die Kultur und die Achtung der Rechte dieser Personenkategorie zu fördern, automatisch Trägerin eines kollektiven Interesses und eine Vereinigung ohne Gewinnerzielungsabsicht ist, die bei für diese Personenkategorie als diskriminierend einzustufenden Sachverhalten klagebefugt ist, und zwar auch in Bezug auf Schadensersatzansprüche? 2. Fällt in den Geltungsbereich des in der Richtlinie 2000/78 gewährten Diskriminierungsschutzes nach genauer Auslegung von deren Art. 2 und 3 eine im Rahmen eines Interviews in einer Unterhaltungssendung im Radio getätigte, sich gegen die Kategorie homosexueller Personen richtende Meinungsäußerung, mit der der Befragte erklärt haben soll, er würde diese Personen niemals in der eigenen Kanzlei einstellen, noch eine Zusammenarbeit mit ihnen eingehen, auch wenn er weder zu diesem Zeitpunkt noch in Zukunft ein Einstellungsverfahren beabsichtigte? Zu den Vorlagefragen Zur zweiten Frage 28 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage, die als Erstes zu prüfen ist, sowohl auf Art. 2 der Richtlinie 2000/78, der den Begriff der Diskriminierung betrifft, als auch auf Art. 3 dieser Richtlinie, der deren Geltungsbereich betrifft, Bezug nimmt. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht jedoch hervor, dass im Ausgangsverfahren nicht in Frage steht, ob die Äußerungen von NH unter den Begriff der „Diskriminierung“ fallen, wie dieser in der erstgenannten dieser Bestimmungen definiert ist, sondern es geht um die Frage, ob diese Äußerungen unter Berücksichtigung der Umstände, unter denen sie gemacht wurden, in den materiellen Geltungsbereich der Richtlinie fallen, soweit diese in ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a „die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ erfasst. 29 Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Frage im Wesentlichen wissen will, ob der Begriff „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass unter diesen Begriff Äußerungen einer Person fallen, wonach sie niemals Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung einstellen oder in ihrem Unternehmen beschäftigen würde, die diese Person in einer Radio- oder Fernsehsendung zu einem Zeitpunkt machte, zu dem ein Einstellungsverfahren weder im Gange noch geplant war. 30 Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a gilt die Richtlinie 2000/78 im Rahmen der auf die Union übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger oder selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, einschließlich des beruflichen Aufstiegs. 31 Diese Richtlinie enthält keinen Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten für die Definition des Begriffs „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“. Aus dem Gebot einer einheitlichen Anwendung des Rechts der Union wie auch des Gleichheitssatzes folgt jedoch, dass die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Oktober 2016, Nikiforidis, C‑135/15, EU:C:2016:774, Rn. 28, und vom 26. März 2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 50). 32 Da die Richtlinie die Wendung „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ nicht definiert, ist diese Wendung entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen, wobei der Zusammenhang, in dem sie verwendet wird, und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. September 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds, C‑201/13, EU:C:2014:2132, Rn. 19, und vom 29. Juli 2019, Spiegel Online, C‑516/17, EU:C:2019:625, Rn. 65). 33 Was die Wendung in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 angeht, ist darauf hinzuweisen, dass die Formulierung „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ im gewöhnlichen Sprachgebrauch Umstände oder Tatsachen erfasst, deren Existenz zwingend nachgewiesen werden muss, damit einer Person eine bestimmte Beschäftigung oder ein bestimmter Beruf zugänglich ist. 34 Jedoch lässt sich nicht allein aus den Begriffen dieser Bestimmung ermitteln, ob Äußerungen einer Person, die außerhalb eines laufenden oder geplanten Einstellungsverfahrens für eine bestimmte Beschäftigung oder einen bestimmten Beruf gemacht wurden, in den materiellen Geltungsbereich der Richtlinie fallen. Es ist daher erforderlich, sich mit dem Zusammenhang, in den sich dieser Art. 3 Abs. 1 Buchst. a einfügt, und den Zielen der Richtlinie zu befassen. 35 Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Richtlinie 2000/78 auf der Grundlage von Art. 13 EG, nach Änderung jetzt Art. 19 Abs. 1 AEUV, erlassen wurde, der der Union eine Zuständigkeit zum Erlass der Maßnahmen verleiht, die zur Bekämpfung von Diskriminierungen, u. a. aus Gründen der sexuellen Ausrichtung, notwendig sind. 36 Nach Art. 1 der Richtlinie 2000/78 und ausweislich sowohl ihres Titels und ihrer Erwägungsgründe als auch ihres Inhalts und ihrer Zielsetzung soll diese Richtlinie einen allgemeinen Rahmen zur Bekämpfung der Diskriminierung u. a. wegen der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten schaffen, indem sie jeder Person einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen u. a. aus diesem Grund bietet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Januar 2019, E.B., C‑258/17, EU:C:2019:17, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 37 Insbesondere der neunte Erwägungsgrund dieser Richtlinie unterstreicht, dass Beschäftigung und Beruf Bereiche sind, die für die Gewährleistung gleicher Chancen für alle und für eine volle Teilhabe der Bürger am wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben sowie für die individuelle Entfaltung von entscheidender Bedeutung sind. In diesem Sinne heißt es auch im elften Erwägungsgrund der Richtlinie, dass Diskriminierungen u. a. wegen der sexuellen Ausrichtung die Verwirklichung der im AEU-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren können, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit. 38 Damit konkretisiert die Richtlinie 2000/78 in dem von ihr erfassten Bereich das nunmehr in Art. 21 der Charta niedergelegte allgemeine Diskriminierungsverbot (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 47). 39 Unter Berücksichtigung dieses Ziels und der Natur der Rechte, die die Richtlinie 2000/78 schützen will, sowie der Grundwerte, die ihr zugrunde liegen, darf der Begriff „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie, der deren Geltungsbereich festlegt, nicht eng ausgelegt werden (vgl. entsprechend Urteile vom 12. Mai 2011, Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 43, und vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 42). 40 So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Richtlinie 2000/78 in Sachverhalten Anwendung finden kann, die Äußerungen in Beschäftigung und Beruf betreffen, die sich auf die „Bedingungen – einschließlich … Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 beziehen. Insbesondere hat er ausgeführt, dass unter diesen Begriff öffentliche Äußerungen über eine bestimmte Einstellungspolitik fallen, auch wenn das fragliche Einstellungssystem nicht auf einem öffentlichen Angebot oder direkten Verhandlungen nach einem Auswahlverfahren beruht, das die Einreichung von Bewerbungen und eine entsprechende Vorauswahl im Hinblick auf das Interesse, das sie für den Arbeitgeber haben, voraussetzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 44 und 45). 41 Er hat auch entschieden, dass allein die Tatsache, dass Äußerungen, die auf eine homophobe Einstellungspolitik hindeuten, nicht von einer Person stammen, die rechtlich befugt ist, die Einstellungspolitik des betreffenden Arbeitgebers unmittelbar festzulegen oder diesen Arbeitgeber bei Einstellungen zu vertreten oder zu binden, nicht notwendigerweise dem entgegensteht, dass solche Äußerungen unter die Bedingungen für den Zugang zur Erwerbstätigkeit bei diesem Arbeitgeber fallen können. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Umstand, dass sich der Arbeitgeber nicht eindeutig von den betreffenden Äußerungen distanziert hat, ebenso wie die Wahrnehmung der Öffentlichkeit oder der betroffenen Kreise ein stichhaltiges Indiz darstellen, das die angerufene Stelle im Rahmen einer Gesamtwürdigung des Sachverhalts berücksichtigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 47 bis 51). 42 Darüber hinaus schließt auch der Umstand, dass keine Verhandlungen im Hinblick auf eine Einstellung im Gange waren, als die fraglichen Äußerungen gemacht wurden, nicht aus, dass solche Äußerungen in den materiellen Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 fallen können. 43 Aus dem Vorstehenden folgt, dass bestimmte Umstände wie das Fehlen eines laufenden oder geplanten Einstellungsverfahrens zwar nicht ausschlaggebend dafür sind, ob sich Äußerungen auf eine bestimmte Einstellungspolitik beziehen und somit unter den Begriff „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 fallen; damit solche Äußerungen in den materiellen Geltungsbereich der Richtlinie fallen, wie er in dieser Vorschrift bestimmt wird, ist es jedoch erforderlich, dass sie mit der Einstellungspolitik eines bestimmten Arbeitgebers tatsächlich in Zusammenhang gebracht werden können, was voraussetzt, dass die Verbindung, die sie zu den Bedingungen für den Zugang zur Erwerbstätigkeit bei diesem Arbeitgeber aufweisen, nicht hypothetisch ist. Ob eine solche Verbindung besteht, ist von der nationalen Stelle zu prüfen, die mit einer Gesamtwürdigung der die fraglichen Äußerungen kennzeichnenden Umstände befasst ist. 44 Hinsichtlich der hierbei zu berücksichtigenden Kriterien ist klarzustellen, dass, wie dies auch die Generalanwältin in den Nrn. 53 bis 56 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, erstens die Stellung des Urhebers der betreffenden Äußerungen und die Funktion, in der er sich geäußert hat, von Bedeutung sind; hieraus muss sich ergeben, ob er entweder selbst ein potenzieller Arbeitgeber ist oder ob er rechtlich oder tatsächlich einen entscheidenden Einfluss auf die Einstellungspolitik oder die Einstellungsentscheidung eines potenziellen Arbeitgebers hat oder zumindest durch die Öffentlichkeit oder die betroffenen Kreise so wahrgenommen wird, als sei er zur Ausübung eines derartigen Einflusses in der Lage, und zwar selbst dann, wenn er nicht die rechtliche Befugnis hat, die Einstellungspolitik des betreffenden Arbeitgebers festzulegen oder diesen Arbeitgeber bei Einstellungen zu binden oder zu vertreten. 45 Von Bedeutung sind zweitens die Art und der Inhalt der fraglichen Äußerungen. Sie müssen sich auf die Bedingungen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit bei dem betreffenden Arbeitgeber beziehen und dessen Absicht erkennen lassen, eine Diskriminierung auf der Grundlage der in der Richtlinie 2000/78 vorgesehenen Kriterien vorzunehmen. 46 Drittens muss der Kontext, in dem die in Rede stehenden Äußerungen getätigt wurden, berücksichtigt werden, insbesondere, ob es sich um private oder öffentliche Äußerungen gehandelt hat oder ob sie – über traditionelle Medien oder in den sozialen Netzwerken – in der Öffentlichkeit verbreitet worden sind. 47 Diese Auslegung der Richtlinie 2000/78 lässt sich nicht durch eine etwaige Einschränkung der Meinungsfreiheit, zu der sie führen könnte und die das vorlegende Gericht ins Feld führt, in Frage stellen. 48 Zwar stellt die Meinungsfreiheit als wesentliche Grundlage einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft, in der sich die Werte widerspiegeln, auf denen die Union gemäß Art. 2 EUV beruht, ein durch Art. 11 der Charta garantiertes Grundrecht dar (Urteil vom 6. September 2011, Patriciello, C‑163/10, EU:C:2011:543, Rn. 31). 49 Wie aus Art. 52 Abs. 1 der Charta hervorgeht, ist die Meinungsfreiheit jedoch kein absolutes Recht, und ihre Ausübung darf eingeschränkt werden, sofern diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieses Rechts achten und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren, d. h., sofern sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprechen. Wie die Generalanwältin in den Nrn. 65 bis 69 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ist dies vorliegend der Fall. 50 Tatsächlich sind die Einschränkungen der Ausübung der Meinungsfreiheit, die sich aus der Richtlinie 2000/78 ableiten können, durchaus gesetzlich vorgesehen, da sie sich unmittelbar aus dieser Richtlinie ergeben. 51 Diese Einschränkungen achten zudem den Wesensgehalt der Meinungsfreiheit, weil sie ausschließlich zur Erreichung der Ziele der Richtlinie 2000/78 Anwendung finden, nämlich um die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf und die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz zu gewährleisten. Sie sind daher durch diese Ziele gerechtfertigt. 52 Solche Einschränkungen wahren auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da die verbotenen Diskriminierungsgründe in Art. 1 der Richtlinie 2000/78 aufgezählt sind, ihr materieller und persönlicher Geltungsbereich in Art. 3 dieser Richtlinie definiert ist und der Eingriff in die Ausübung der Meinungsfreiheit nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die Ziele der Richtlinie zu verwirklichen, indem nur die Äußerungen verboten werden, die eine Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf darstellen. 53 Außerdem sind die sich aus der Richtlinie 2000/78 ergebenden Einschränkungen der Ausübung der Meinungsfreiheit erforderlich, um die Rechte in Beschäftigung und Beruf zu gewährleisten, über die die Personen verfügen, die zu den durch einen der in Art. 1 dieser Richtlinie aufgezählten Gründe gekennzeichneten Personengruppen gehören. 54 Insbesondere wenn entgegen der in Rn. 43 des vorliegenden Urteils dargelegten Auslegung des Begriffs „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 Äußerungen allein deshalb nicht in den materiellen Geltungsbereich dieser Richtlinie fielen, weil sie außerhalb eines Einstellungsverfahrens, namentlich im Rahmen einer Unterhaltungssendung im Radio oder im Fernsehen, getätigt wurden oder weil sie Ausdruck einer persönlichen Meinung ihres Urhebers sind, könnte der von der Richtlinie gebotene Schutzes in Beschäftigung und Beruf seinem Wesen selbst nach illusorisch werden. 55 Wie die Generalanwältin nämlich im Wesentlichen in den Nrn. 44 und 57 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, erfolgt in jedem Einstellungsverfahren die grundlegende Selektion zwischen den Personen, die sich bewerben, und denjenigen, die dies nicht tun. Die Äußerung diskriminierender Meinungen auf dem Gebiet von Beschäftigung und Beruf durch einen Arbeitgeber oder eine Person, die so wahrgenommen wird, als sei sie befugt, einen entscheidenden Einfluss auf die Einstellungspolitik eines Unternehmens auszuüben, kann die betreffenden Personen aber schon davon abschrecken, sich für eine Stelle zu bewerben. 56 Folglich dürfen Äußerungen, die in den materiellen Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 fallen, wie dieser in deren Art. 3 definiert ist, nicht der in dieser Richtlinie festgelegten Regelung zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf mit der Begründung entzogen werden, diese Äußerungen seien während einer Unterhaltungssendung im Radio oder im Fernsehen getätigt worden oder seien auch Ausdruck der persönlichen Meinung ihres Urhebers in Bezug auf die Personengruppe, die von ihnen erfasst werde. 57 Im vorliegenden Fall ist es, da es sich um eine Tatsachenwürdigung handelt, Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die Umstände, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Äußerungen kennzeichnen, belegen, dass die Verbindung dieser Äußerungen zu den Bedingungen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit in der betreffenden Anwaltskanzlei nicht hypothetisch ist, und im Rahmen dieser Beurteilung die in den Rn. 44 bis 46 des vorliegenden Urteils identifizierten Kriterien anzuwenden. 58 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der Begriff „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass unter diesen Begriff Äußerungen einer Person fallen, wonach sie niemals Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung einstellen noch in ihrem Unternehmen beschäftigen würde, die diese Person in einer Radio- oder Fernsehsendung zu einem Zeitpunkt machte, zu dem ein Einstellungsverfahren weder im Gange noch geplant war, sofern die Verbindung dieser Äußerungen zu den Bedingungen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit in diesem Unternehmen nicht hypothetisch ist. Zur ersten Frage 59 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach eine Vereinigung von Rechtsanwälten, deren satzungsmäßiger Zweck darin besteht, namentlich Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung vor Gericht Beistand zu leisten sowie die Kultur und die Achtung der Rechte dieser Personengruppe zu fördern, aufgrund dieses Zwecks und unabhängig von ihrer etwaigen Gewinnerzielungsabsicht automatisch befugt ist, ein gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus der Richtlinie einzuleiten und gegebenenfalls Schadensersatz geltend zu machen, wenn Tatsachen eintreten, die den Tatbestand einer Diskriminierung im Sinne dieser Richtlinie gegenüber dieser Personengruppe erfüllen können und sich kein Geschädigter feststellen lässt. 60 Nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verbände, Organisationen oder andere juristische Personen, die gemäß den in ihrem einzelstaatlichen Recht festgelegten Kriterien ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu sorgen, sich entweder im Namen der beschwerten Person oder zu deren Unterstützung und mit deren Einwilligung an den in dieser Richtlinie zur Durchsetzung der Ansprüche vorgesehenen Gerichts- und/oder Verwaltungsverfahren beteiligen können. 61 Somit ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass sie nicht verlangt, dass einer Vereinigung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden in den Mitgliedstaaten die Befugnis zuerkannt werden müsse, ein gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus der Richtlinie 2000/78 einzuleiten, wenn sich kein Geschädigter feststellen lässt. 62 Jedoch sieht Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, liest man ihn im Licht des 28. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie, vor, dass die Mitgliedstaaten Vorschriften einführen oder beibehalten können, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind. 63 Gestützt auf diese Bestimmung hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78 es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, in seinem nationalen Recht Verbänden, die ein rechtmäßiges Interesse daran haben, für die Einhaltung dieser Richtlinie zu sorgen, das Recht einzuräumen, Gerichts- oder Verwaltungsverfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus dieser Richtlinie einzuleiten, auch wenn sie nicht im Namen einer bestimmten beschwerten Person handeln oder sich keine beschwerte Person feststellen lässt (Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 37). 64 Wenn sich ein Mitgliedstaat hierfür entscheidet, hat er festzulegen, unter welchen Voraussetzungen eine Vereinigung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende ein Gerichtsverfahren einleiten kann, um das Vorliegen einer durch die Richtlinie 2000/78 verbotenen Diskriminierung feststellen und diese ahnden zu lassen. Er hat insbesondere festzulegen, ob die Gewinnerzielungsabsicht der Vereinigung einen Einfluss auf die Beurteilung ihrer Klagebefugnis in diesem Sinne haben muss, und den Umfang einer solchen Klage klarzustellen, insbesondere die Sanktionen, die auf die Klage hin verhängt werden können; dabei müssen diese Sanktionen nach Art. 17 der Richtlinie 2000/78 wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein, und zwar auch dann, wenn sich kein Geschädigter feststellen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. April 2013, Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 62 und 63). 65 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach eine Vereinigung von Rechtsanwälten, deren satzungsmäßiger Zweck darin besteht, namentlich Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung vor Gericht Beistand zu leisten sowie die Kultur und die Achtung der Rechte dieser Personengruppe zu fördern, aufgrund dieses Zwecks und unabhängig von ihrer etwaigen Gewinnerzielungsabsicht automatisch befugt ist, ein gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus dieser Richtlinie einzuleiten und gegebenenfalls Schadensersatz geltend zu machen, wenn Tatsachen eintreten, die den Tatbestand einer Diskriminierung im Sinne dieser Richtlinie gegenüber dieser Personengruppe erfüllen können und sich kein Geschädigter feststellen lässt. Kosten 66 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Der Begriff „Bedingungen … für den Zugang zu [einer] Erwerbstätigkeit“ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass unter diesen Begriff Äußerungen einer Person fallen, wonach sie niemals Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung einstellen noch in ihrem Unternehmen beschäftigen würde, die diese Person in einer Radio- oder Fernsehsendung zu einem Zeitpunkt machte, zu dem ein Einstellungsverfahren weder im Gange noch geplant war, sofern die Verbindung dieser Äußerungen zu den Bedingungen für den Zugang zu einer Erwerbstätigkeit in diesem Unternehmen nicht hypothetisch ist. 2. Die Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach eine Vereinigung von Rechtsanwälten, deren satzungsmäßiger Zweck darin besteht, namentlich Personen mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung vor Gericht Beistand zu leisten sowie die Kultur und die Achtung der Rechte dieser Personengruppe zu fördern, aufgrund dieses Zwecks und unabhängig von ihrer etwaigen Gewinnerzielungsabsicht automatisch befugt ist, ein gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung der Ansprüche aus dieser Richtlinie einzuleiten und gegebenenfalls Schadensersatz geltend zu machen, wenn Tatsachen eintreten, die den Tatbestand einer Diskriminierung im Sinne dieser Richtlinie gegenüber dieser Personengruppe erfüllen könnten und sich kein Geschädigter feststellen lässt. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 19. Dezember 2019.#Deutsche Umwelthilfe e. V. gegen Freistaat Bayern.#Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Art. 6, Art. 47 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2008/50/EG – Luftverschmutzung – Luftqualität – Luftqualitätsplan – Grenzwerte für Stickstoffdioxid – Pflicht zum Erlass geeigneter Maßnahmen, um einen möglichst geringen Zeitraum der Überschreitung zu gewährleisten – Pflicht der nationalen Gerichte, jede erforderliche Maßnahme zu erlassen – Weigerung einer Regionalregierung, eine gerichtliche Anordnung zu befolgen – Beabsichtigte Verhängung von Zwangshaft gegen hohe politische Vertreter oder hohe Beamte der betreffenden Region – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz – Recht auf Freiheit der Person – Rechtsgrundlage – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-752/18.
62018CJ0752
ECLI:EU:C:2019:1114
2019-12-19T00:00:00
Saugmandsgaard Øe, Gerichtshof
62018CJ0752 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 19. Dezember 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Art. 6, Art. 47 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2008/50/EG – Luftverschmutzung – Luftqualität – Luftqualitätsplan – Grenzwerte für Stickstoffdioxid – Pflicht zum Erlass geeigneter Maßnahmen, um einen möglichst geringen Zeitraum der Überschreitung zu gewährleisten – Pflicht der nationalen Gerichte, jede erforderliche Maßnahme zu erlassen – Weigerung einer Regionalregierung, eine gerichtliche Anordnung zu befolgen – Beabsichtigte Verhängung von Zwangshaft gegen hohe politische Vertreter oder hohe Beamte der betreffenden Region – Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz – Recht auf Freiheit der Person – Rechtsgrundlage – Verhältnismäßigkeit“ In der Rechtssache C‑752/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 9. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Dezember 2018, in dem Verfahren Deutsche Umwelthilfe e. V. gegen Freistaat Bayern erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan, M. Safjan (Berichterstatter) und S. Rodin, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis sowie der Richter E. Juhász, D. Šváby, C. Vajda und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe und des Richters A. Kumin, Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe, Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. September 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Deutschen Umwelthilfe e. V., vertreten durch Rechtsanwalt R. Klinger, – des Freistaats Bayern, vertreten durch J. Vogel, W. Brechmann und P. Frei als Bevollmächtigte, – der deutschen Regierung, vertreten durch S. Eisenberg als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Erlbacher, G. Gattinara und E. Manhaeve als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. November 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 4 Satz 1 des am 25. Juni 1998 in Aarhus unterzeichneten und durch den Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17. Februar 2005 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigten Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (ABl. 2005, L 124, S. 1, im Folgenden: Aarhus-Übereinkommen), von Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 EUV, von Art. 197 Abs. 1 AEUV und von Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Deutschen Umwelthilfe e. V., einer Nichtregierungsorganisation im Bereich des Umweltschutzes, und dem Freistaat Bayern (Deutschland) wegen der Zwangsvollstreckung einer gerichtlichen Anordnung, Verkehrsverbote zu erlassen, um den Verpflichtungen aus der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa (ABl. 2008, L 152, S. 1) nachzukommen. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 Art. 9 („Zugang zu Gerichten“) des Aarhus-Übereinkommens sieht vor: „… (2)   Jede Vertragspartei stellt im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, dass Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit, a) die ein ausreichendes Interesse haben oder alternativ b) eine Rechtsverletzung geltend machen, sofern das Verwaltungsprozessrecht einer Vertragspartei dies als Voraussetzung erfordert, Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht und/oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle haben, um die materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten, für die Artikel 6 und – sofern dies nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht vorgesehen ist und unbeschadet des Absatzes 3 – sonstige einschlägige Bestimmungen dieses Übereinkommens gelten. Was als ausreichendes Interesse und als Rechtsverletzung gilt, bestimmt sich nach den Erfordernissen innerstaatlichen Rechts und im Einklang mit dem Ziel, der betroffenen Öffentlichkeit im Rahmen dieses Übereinkommens einen weiten Zugang zu Gerichten zu gewähren. Zu diesem Zweck gilt das Interesse jeder nichtstaatlichen Organisation, welche die in Artikel 2 Nummer 5 genannten Voraussetzungen erfüllt, als ausreichend im Sinne des Buchstaben a. Derartige Organisationen gelten auch als Träger von Rechten, die im Sinne des Buchstaben b verletzt werden können. … (3)   Zusätzlich und unbeschadet der in den Absätzen 1 und 2 genannten Überprüfungsverfahren stellt jede Vertragspartei sicher, dass Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen, Zugang zu verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren haben, um die von Privatpersonen und Behörden vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen anzufechten, die gegen umweltbezogene Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts verstoßen. (4)   Zusätzlich und unbeschadet des Absatzes 1 stellen die in den Absätzen 1, 2 und 3 genannten Verfahren angemessenen und effektiven Rechtsschutz und, soweit angemessen, auch vorläufigen Rechtsschutz sicher; diese Verfahren sind fair, gerecht, zügig und nicht übermäßig teuer. Entscheidungen nach diesem Artikel werden in Schriftform getroffen oder festgehalten. Gerichtsentscheidungen und möglichst auch Entscheidungen anderer Stellen sind öffentlich zugänglich. …“ Unionsrecht 4 Der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/50 lautet: „Zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt insgesamt ist es von besonderer Bedeutung, den Ausstoß von Schadstoffen an der Quelle zu bekämpfen und die effizientesten Maßnahmen zur Emissionsminderung zu ermitteln und auf lokaler, nationaler und gemeinschaftlicher Ebene anzuwenden. Deshalb sind Emissionen von Luftschadstoffen zu vermeiden, zu verhindern oder zu verringern und angemessene Luftqualitätsziele festzulegen, wobei die einschlägigen Normen, Leitlinien und Programme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu berücksichtigen sind.“ 5 Art. 4 der Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten legen in ihrem gesamten Hoheitsgebiet Gebiete und Ballungsräume fest. In allen Gebieten und Ballungsräumen wird die Luftqualität beurteilt und unter Kontrolle gehalten.“ 6 Art. 13 („Grenzwerte und Alarmschwellen für den Schutz der menschlichen Gesundheit“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass überall in ihren Gebieten und Ballungsräumen die Werte für Schwefeldioxid, PM10, Blei und Kohlenmonoxid in der Luft die in Anhang XI festgelegten Grenzwerte nicht überschreiten. Die in Anhang XI festgelegten Grenzwerte für Stickstoffdioxid und Benzol dürfen von dem dort festgelegten Zeitpunkt an nicht mehr überschritten werden. Die Einhaltung dieser Anforderung wird nach Anhang III beurteilt. …“ 7 In Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie heißt es: „Überschreiten in bestimmten Gebieten oder Ballungsräumen die Schadstoffwerte in der Luft einen Grenzwert oder Zielwert zuzüglich einer jeweils dafür geltenden Toleranzmarge, sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass für diese Gebiete oder Ballungsräume Luftqualitätspläne erstellt werden, um die entsprechenden in den Anhängen XI und XIV festgelegten Grenzwerte oder Zielwerte einzuhalten. Im Falle der Überschreitung dieser Grenzwerte, für die die Frist für die Erreichung bereits verstrichen ist, enthalten die Luftqualitätspläne geeignete Maßnahmen, damit der Zeitraum der Nichteinhaltung so kurz wie möglich gehalten werden kann. Die genannten Pläne können zusätzlich gezielte Maßnahmen zum Schutz empfindlicher Bevölkerungsgruppen, einschließlich Maßnahmen zum Schutz von Kindern, vorsehen. Diese Luftqualitätspläne müssen mindestens die in Anhang XV Abschnitt A aufgeführten Angaben umfassen und können Maßnahmen gemäß Artikel 24 umfassen. Diese Pläne sind der Kommission unverzüglich, spätestens jedoch zwei Jahre nach Ende des Jahres, in dem die erste Überschreitung festgestellt wurde, zu übermitteln. …“ 8 Anhang XI der Richtlinie 2008/50 trägt die Überschrift „Grenzwerte zum Schutz der menschlichen Gesundheit“. Sein Abschnitt B enthält die Grenzwerte je Schadstoff in Abhängigkeit von seiner in unterschiedlichen Zeiträumen gemessenen Konzentration in der Umgebungsluft. In Bezug auf Stickstoffdioxid sieht dieser Anhang Folgendes vor: Mittelungszeitraum Grenzwert Toleranzmarge Frist für die Einhaltung des Grenzwerts Stunde 200 μg/m3 dürfen nicht öfter als 18-mal im Kalenderjahr überschritten werden … 0 % am 1. Januar 2010 1. Januar 2010 Kalenderjahr 40 μg/m3 … 0 % am 1. Januar 2010 1. Januar 2010 Deutsches Recht 9 Art. 104 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden.“ 10 § 167 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (im Folgenden: VwGO) bestimmt: „Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozessordnung entsprechend.“ 11 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts stellt § 172 VwGO eine Spezialvorschrift dar, die gemäß den einleitenden Worten von § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO einen Rückgriff auf die im Achten Buch der Zivilprozessordnung (im Folgenden: ZPO) enthaltenen vollstreckungsrechtlichen Bestimmungen grundsätzlich ausschließt. Er lautet: „Kommt die Behörde in den Fällen des § 113 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 5 und des § 123 der ihr im Urteil oder in der einstweiligen Anordnung auferlegten Verpflichtung nicht nach, so kann das Gericht des ersten Rechtszugs auf Antrag unter Fristsetzung gegen sie ein Zwangsgeld bis zehntausend Euro durch Beschluss androhen, nach fruchtlosem Fristablauf festsetzen und von Amts wegen vollstrecken. Das Zwangsgeld kann wiederholt angedroht, festgesetzt und vollstreckt werden.“ 12 § 888 Abs. 1 und 2 ZPO bestimmt: „(1)   Kann eine Handlung durch einen Dritten nicht vorgenommen werden, so ist, wenn sie ausschließlich von dem Willen des Schuldners abhängt, auf Antrag von dem Prozessgericht des ersten Rechtszugs zu erkennen, dass der Schuldner zur Vornahme der Handlung durch Zwangsgeld und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, durch Zwangshaft oder durch Zwangshaft anzuhalten sei. Das einzelne Zwangsgeld darf den Betrag von 25000 Euro nicht übersteigen. Für die Zwangshaft gelten die Vorschriften des Zweiten Abschnitts über die Haft entsprechend. (2)   Eine Androhung der Zwangsmittel findet nicht statt.“ 13 § 890 Abs. 1 und 2 ZPO lautet: „(1)   Handelt der Schuldner der Verpflichtung zuwider, eine Handlung zu unterlassen oder die Vornahme einer Handlung zu dulden, so ist er wegen einer jeden Zuwiderhandlung auf Antrag des Gläubigers von dem Prozessgericht des ersten Rechtszuges zu einem Ordnungsgeld und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, zur Ordnungshaft oder zur Ordnungshaft bis zu sechs Monaten zu verurteilen. Das einzelne Ordnungsgeld darf den Betrag von 250000 Euro, die Ordnungshaft insgesamt zwei Jahre nicht übersteigen. (2)   Der Verurteilung muss eine entsprechende Androhung vorausgehen, die, wenn sie in dem die Verpflichtung aussprechenden Urteil nicht enthalten ist, auf Antrag von dem Prozessgericht des ersten Rechtszuges erlassen wird.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 14 Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung wurde auf mehreren Straßenkilometern in der Stadt München (Deutschland) der gemäß Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 in Verbindung mit Anhang XI Abschnitt B der Richtlinie 2008/50 festgelegte, auf das Kalenderjahr als Mittelungszeitraum bezogene Grenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) von 40 μg/m3 an zahlreichen Stellen – zum Teil ganz erheblich – überschritten. 15 Im Anschluss an eine Klage der Deutschen Umwelthilfe verpflichtete das Verwaltungsgericht München (Deutschland) den Freistaat Bayern mit Urteil vom 9. Oktober 2012, den für die Stadt München geltenden Luftreinhalteplan, bei dem es sich um einen „Luftqualitätsplan“ im Sinne von Art. 23 der Richtlinie 2008/50 handelt, so zu ändern, dass er die erforderlichen Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung des Grenzwerts für Stickstoffdioxid in dieser Stadt enthält. Das Urteil wurde rechtskräftig. 16 Mit Beschluss vom 21. Juni 2016 drohte das Verwaltungsgericht München dem Freistaat Bayern für den Fall, dass er seiner Verpflichtung aus dem genannten Urteil nicht innerhalb einer Frist von einem Jahr nach Zustellung des Beschlusses nachkommt, ein Zwangsgeld in Höhe von 10000 Euro an. Im Rahmen des Verfahrens über die dagegen eingelegte Beschwerde drohte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) dem Freistaat Bayern mit Beschluss vom 27. Februar 2017 Zwangsgelder in Höhe von 2000 Euro bis 4000 Euro für den Fall an, dass er nicht die zur Einhaltung der in der Richtlinie 2008/50 festgelegten Grenzwerte erforderlichen Maßnahmen ergreift, einschließlich Verkehrsverbote für bestimmte Fahrzeuge mit Dieselmotor in Teilen des Stadtgebiets. Auch dieser Beschluss wurde rechtskräftig. 17 Da der Freistaat Bayern seinen Verpflichtungen aus dem Beschluss vom 27. Februar 2017 nicht in vollem Umfang nachkam, setzte das Verwaltungsgericht München auf Antrag der Deutschen Umwelthilfe durch Beschluss vom 26. Oktober 2017 ein Zwangsgeld in Höhe von 4000 Euro gegen ihn fest. Der Freistaat Bayern legte dagegen kein Rechtsmittel ein und beglich das Zwangsgeld. 18 Auch in der Folge kam der Freistaat Bayern nicht allen Verpflichtungen nach, die ihm im Beschluss vom 27. Februar 2017 auferlegt worden waren. Vielmehr erklärten Vertreter des Freistaats, darunter dessen Ministerpräsident, öffentlich, dass sie der Pflicht zur Einführung von Verkehrsverboten nicht nachkommen wollten. 19 Mit Beschlüssen vom 28. Januar 2018 setzte das Verwaltungsgericht München auf Antrag der Deutschen Umwelthilfe ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von 4000 Euro gegen den Freistaat Bayern fest, weil er einer Nummer des Tenors des Beschlusses vom 27. Februar 2017 nicht nachgekommen war, und drohte ihm für den Fall der nicht fristgerechten Befolgung einer anderen Nummer des Tenors dieses Beschlusses ein erneutes Zwangsgeld in gleicher Höhe an. Hingegen wies es u. a. den Antrag zurück, gegen die Staatsministerin für Umwelt und Verbraucherschutz des Freistaats Bayern oder, hilfsweise, dessen Ministerpräsidenten Zwangshaft zu verhängen. Der Freistaat Bayern legte gegen die Beschlüsse vom 28. Januar 2018 Beschwerde ein, die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof durch Beschluss vom 14. August 2018 zurückgewiesen wurde. 20 Anhängig ist vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof aber noch die Beschwerde der Deutschen Umwelthilfe gegen den Beschluss vom 28. Januar 2018, mit dem ihr Antrag auf Verhängung von Zwangshaft abgelehnt wurde. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist nicht zu erwarten, dass der Freistaat Bayern dem Beschluss vom 27. Februar 2017 nachkommen und die fraglichen Verkehrsverbote erlassen werde. 21 Wenn die vollziehende Gewalt ihre Entschlossenheit, bestimmte gerichtliche Entscheidungen nicht zu befolgen, mit einer solchen Deutlichkeit bekunde, müsse davon ausgegangen werden, dass die Festsetzung und Vollstreckung weiterer und höherer Zwangsgelder nicht geeignet seien, an diesem Verhalten etwas zu ändern. Die Entrichtung von Zwangsgeldern gehe für den Freistaat Bayern nämlich nicht mit einer Vermögenseinbuße einher. Vielmehr würden sie dergestalt beglichen, dass eine bestimmte Einzelposition des Staatshaushalts mit dem vom Gericht festgesetzten Betrag belastet und der gleiche Betrag bei der Staatsoberkasse des Freistaats als Einnahme verbucht werde. 22 Es sei zwar grundsätzlich denkbar, die Befolgung der fraglichen Verpflichtungen und Gerichtsentscheidungen durch die Verhängung von Zwangshaft gegen bestimmte Mitglieder der Regierung von Oberbayern (Deutschland), den Staatsminister für Umwelt und Verbraucherschutz des Freistaats Bayern oder dessen Ministerpräsidenten zu gewährleisten, doch sei dieses in der ZPO vorgesehene Instrument hier aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht anwendbar. 23 Nach § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO könnten zwar – soweit sich aus der VwGO nichts anderes ergebe – die im Achten Buch der ZPO vorgesehenen Maßnahmen, zu denen die Zwangshaft gehöre, angewandt werden, doch stelle § 172 VwGO eine Spezialvorschrift dar, die den Rückgriff auf die im Achten Buch der ZPO enthaltenen Vollstreckungsmaßnahmen ausschließe. 24 Das Bundesverfassungsgericht (Deutschland) habe zwar bereits entschieden, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich verpflichtet seien, sich erforderlichenfalls von den Beschränkungen, die sich aus § 172 VwGO ergäben, zu lösen. 25 Würde auf der Grundlage des § 888 ZPO Zwangshaft gegen Amtsträger angeordnet, würde jedoch das vom Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 13. Oktober 1970 aufgestellte Erfordernis missachtet, dass der Gesetzgeber beim Erlass einer Bestimmung, die als Rechtsgrundlage für einen Freiheitsentzug herangezogen werde, das nunmehr verfolgte Ziel im Auge gehabt haben müsse. Dies sei nach der Entstehungsgeschichte von § 888 ZPO in Bezug auf Amtsträger nicht der Fall. 26 Fraglich sei aber, ob das Unionsrecht eine abweichende Beurteilung der Rechtslage im Ausgangsverfahren gebiete. 27 Wäre die Verhängung von Zwangshaft in einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens unionsrechtlich geboten, dürften die deutschen Gerichte nämlich das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestehende Hemmnis nicht berücksichtigen. 28 Unter diesen Umständen hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Sind – das in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV verankerte Gebot, dem zufolge die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen haben, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben, – der u. a. in Art. 197 Abs. 1 AEUV statuierte Grundsatz der effektiven Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten, – das durch Art. 47 Abs. 1 der Charta gewährleistete Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, – die sich aus Art. 9 Abs. 4 Satz 1 des Aarhus-Übereinkommens ergebende Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes in Umweltangelegenheiten, – die in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV normierte Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Sicherstellung eines wirksamen Rechtsschutzes in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen, so auszulegen, dass ein deutsches Gericht berechtigt – und gegebenenfalls sogar verpflichtet – ist, gegenüber Amtsträgern eines deutschen Bundeslandes Zwangshaft anzuordnen, um auf diese Weise die Verpflichtung dieses Bundeslandes zur Fortschreibung eines Luftqualitätsplans im Sinne von Art. 23 der Richtlinie 2008/50 mit einem bestimmten Mindestinhalt durchzusetzen, wenn dieses Bundesland rechtskräftig verurteilt wurde, eine Fortschreibung mit diesem Mindestinhalt vorzunehmen, und – mehrere gegenüber dem Bundesland vorgenommene Zwangsgeldandrohungen und Zwangsgeldfestsetzungen fruchtlos geblieben sind, – von Zwangsgeldandrohungen und Zwangsgeldfestsetzungen auch dann, wenn höhere Beträge als bisher angedroht und festgesetzt würden, deshalb keine nennenswerte Beugewirkung ausgeht, weil die Begleichung der Zwangsgelder für das rechtskräftig verurteilte Bundesland nicht mit Vermögenseinbußen einhergeht, sondern insoweit lediglich ein Transfer des jeweils festgesetzten Betrags von einer Buchungsstelle innerhalb des Staatshaushalts zu einer anderen Buchungsstelle innerhalb des Staatshaushalts stattfindet, – sich das rechtskräftig verurteilte Bundesland sowohl gegenüber den Gerichten als auch öffentlich – und dies u. a. durch seinen ranghöchsten politischen Amtsträger gegenüber dem Parlament – dahin gehend festgelegt hat, dass es die gerichtlich auferlegten Pflichten im Zusammenhang mit der Luftreinhalteplanung nicht erfüllen wird, – das nationale Recht das Institut der Zwangshaft zum Zwecke der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen grundsätzlich vorsieht, eine nationale verfassungsgerichtliche Rechtsprechung jedoch der Anwendung der einschlägigen Bestimmung auf eine Fallgestaltung der hier inmitten stehenden Art entgegensteht, und – das nationale Recht Zwangsmittel, die zielführender als Zwangsgeldandrohungen und Zwangsgeldfestsetzungen, jedoch weniger eingriffsintensiv als eine Zwangshaft sind, für eine Fallgestaltung der inmitten stehenden Art nicht zur Verfügung stellt und ein Rückgriff auf derartige Zwangsmittel auch von der Sache her nicht in Betracht kommt? Zur Vorlagefrage 29 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 47 Abs. 1 der Charta, dahin auszulegen ist, dass es unter Umständen, die durch die beharrliche Weigerung einer nationalen Behörde gekennzeichnet sind, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, mit der ihr aufgegeben wird, eine klare, genaue und unbedingte Verpflichtung zu erfüllen, die sich aus dem Unionsrecht, etwa aus der Richtlinie 2008/50, ergibt, das zuständige nationale Gericht ermächtigt oder sogar verpflichtet, gegen Amtsträger Zwangshaft zu verhängen. 30 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts stellt sich diese Frage im Kontext der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach es, wenn ein Mitgliedstaat die Anforderungen aus Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2008/50 nicht eingehalten und auch nicht um eine Fristverlängerung gemäß den in Art. 22 dieser Richtlinie vorgesehenen Bedingungen ersucht hat, dem gegebenenfalls angerufenen zuständigen nationalen Gericht obliegt, gegenüber der nationalen Behörde jede erforderliche Maßnahme, wie eine Anordnung, zu erlassen, damit diese Behörde den nach der Richtlinie erforderlichen Plan gemäß den darin vorgesehenen Bedingungen erstellt (Urteil vom 19. November 2014, ClientEarth, C‑404/13, EU:C:2014:2382, Rn. 58). 31 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht den Freistaat Bayern bereits in Anwendung dieser Rechtsprechung verpflichtet, für bestimmte Fahrzeuge mit Dieselmotor in Teilen des Gebiets der Stadt München Verkehrsverbote zu erlassen, damit der in Anhang XI Abschnitt B der Richtlinie 2008/50 festgelegte Grenzwert für Stickstoffdioxid schnellstmöglich eingehalten wird. 32 Angesichts der Weigerung des Freistaats Bayern, dieser rechtskräftigen Anordnung nachzukommen, betrifft das Ausgangsverfahren konkret einen Antrag der Deutschen Umwelthilfe auf Zwangsvollstreckung dieser Anordnung durch Verhängung von Zwangshaft gegen die Staatsministerin für Umwelt und Verbraucherschutz des Freistaats Bayern oder, hilfsweise, gegen dessen Ministerpräsidenten. 33 Hierzu ist erstens festzustellen, dass mangels einer Vereinheitlichung der nationalen Zwangsvollstreckungsverfahren die Modalitäten ihrer Durchführung nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ihrer jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung unterfallen. Diese Modalitäten müssen allerdings die doppelte Voraussetzung erfüllen, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige, dem innerstaatlichen Recht unterliegende Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 26. Juni 2019, Kuhar, C‑407/18, EU:C:2019:537, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). 34 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten haben, dass das in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt ist (Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 69), der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt. Im Fall von Klagen auf Einhaltung des Umweltrechts, insbesondere wenn sie wie im Ausgangsrechtsstreit von einem Umweltschutzverband erhoben werden, ist dieses Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf auch in Art. 9 Abs. 4 des Aarhus-Übereinkommens verankert. 35 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verletzen nationale Rechtsvorschriften, die zu einer Situation führen, in der das Urteil eines Gerichts wirkungslos bleibt, ohne dass es über Mittel verfügt, um ihm Geltung zu verschaffen, den Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 72). 36 Dieses Recht wäre nämlich illusorisch, wenn die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats es zuließe, dass eine endgültige und bindende gerichtliche Entscheidung zulasten einer Partei wirkungslos bleibt (Urteile vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499‚ Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 57). 37 Insbesondere geht aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in deren Licht Art. 47 der Charta auszulegen ist (Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499‚ Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung), hervor, dass dieser Bestimmung jede praktische Wirksamkeit genommen wird, wenn Behörden einer endgültigen und vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung nicht nachkommen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 19. März 1997, Hornsby/Griechenland, CE:ECHR:1997:0319JUD001835791, §§ 41 und 45). 38 Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf ist umso bedeutsamer, als in dem von der Richtlinie 2008/50 erfassten Bereich das Unterbleiben der von ihr vorgegebenen Maßnahmen die Gesundheit von Personen gefährden würde (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Juli 2008, Janecek, C‑237/07, EU:C:2008:447, Rn. 38). 39 Überdies hat das nationale Gericht, um in den vom Umweltrecht der Union erfassten Bereichen einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, sein nationales Recht so auszulegen, dass es so weit wie möglich im Einklang sowohl mit den in Art. 9 Abs. 3 und 4 des Aarhus-Übereinkommens festgelegten Zielen als auch mit dem Ziel eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes für die durch das Unionsrecht verliehenen Rechte steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2011, Lesoochranárske zoskupenie, C‑240/09, EU:C:2011:125, Rn. 50 und 51). 40 Dabei hat das nationale Gericht unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und in Anwendung der darin anerkannten Auslegungsmethoden zu prüfen, ob es zu einer Auslegung dieses Rechts zu gelangen vermag, die es ihm erlauben würde, wirksame Zwangsmaßnahmen anzuwenden, um zu gewährleisten, dass die Behörden ein rechtskräftiges Urteil umsetzen; dazu können u. a. mehrere hohe Geldbußen in kurzen Zeitabständen gehören, die nicht letzten Endes dem Haushalt zufließen, aus dem sie stammen. 41 Im vorliegenden Fall sieht sich das vorlegende Gericht allerdings außerstande, für die Einhaltung des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes und des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu sorgen, es sei denn, das Unionsrecht würde ihm gestatten oder es sogar dazu verpflichten, die verfassungsrechtlichen Gründe außer Acht zu lassen, die es nach seinen Angaben daran hindern, gegen Amtsträger Zwangshaft zu verhängen. 42 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufenes nationales Gericht, wenn es eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet ist, jede nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht (Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, EU:C:1978:49, Rn. 21, und vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und 61). 43 Diese Rechtsprechung des Gerichtshofs kann jedoch nicht dahin verstanden werden, dass der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz und die Einhaltung des durch Art. 47 Abs. 1 der Charta gewährleisteten Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz das nationale Gericht dazu verpflichten, eine Bestimmung des nationalen Rechts oder deren einzige ihm verfassungsgemäß erscheinende Auslegung unangewendet zu lassen, wenn es dadurch ein anderes unionsrechtlich garantiertes Grundrecht verletzen würde. 44 Wie aus Art. 52 Abs. 1 der Charta hervorgeht, ist das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nämlich kein absolutes Recht und kann, u. a. zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, Einschränkungen unterliegen. Eine Zwangsmaßnahme wie die Zwangshaft schränkt aber das durch Art. 6 der Charta garantierte Recht auf Freiheit ein. 45 Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist daher drittens eine Abwägung der in Rede stehenden Grundrechte anhand der in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta vorgesehenen Anforderungen vorzunehmen. 46 Zu den Anforderungen, denen die Rechtsgrundlage einer Einschränkung des Rechts auf Freiheit genügen muss, hat der Gerichtshof bereits im Licht des Urteils des EGMR vom 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien (CE:ECHR:2013:1021JUD004275009), ausgeführt, dass eine Rechtsvorschrift, die es dem Gericht gestattet, einer Person ihre Freiheit zu entziehen, nur dann den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta genügt, wenn sie hinreichend zugänglich, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbar ist, um jede Gefahr von Willkür zu vermeiden (Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 38 und 40). 47 Diese Voraussetzungen gelten für jede Art des Freiheitsentzugs, auch wenn er sich aus dem Erfordernis ergibt, die Vollstreckung einer durch eine gerichtliche Entscheidung auferlegten Sanktion zu gewährleisten, und unabhängig davon, ob die betreffende Person die Möglichkeit hat, dem Freiheitsentzug zu entgehen, indem sie eine in dieser Entscheidung oder in einer früheren Entscheidung enthaltene Anordnung befolgt. 48 Wie die Erörterungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ergeben haben, bestehen Zweifel daran, ob die Voraussetzungen vorliegen, um die im deutschen Recht vorgesehene Zwangshaft gegen Amtsträger zu verhängen; es ist jedoch allein Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die einschlägigen nationalen Bestimmungen angesichts ihres Wortlauts und ihres Inhalts hinreichend zugänglich, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbar sind und es damit ermöglichen, jede Gefahr von Willkür zu vermeiden. 49 Ist dies nicht der Fall, kann das nationale Gericht nicht allein auf der Grundlage des Effektivitätsgrundsatzes und des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz Zwangshaft verhängen. Jede Einschränkung des Rechts auf Freiheit muss nämlich in einer Rechtsvorschrift vorgesehen sein, die den in Rn. 46 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Anforderungen entspricht. 50 Zu den Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, ist darauf hinzuweisen, dass bei der Beurteilung seiner Einhaltung, wenn mehrere Grundrechte auf dem Spiel stehen, darauf zu achten ist, dass die mit dem Schutz der verschiedenen Rechte verbundenen Erfordernisse miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Wie der Generalanwalt in Nr. 86 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darf auf die Verhängung von Zwangshaft, da mit ihr ein Freiheitsentzug verbunden ist, nur zurückgegriffen werden, wenn es keine weniger einschneidende Maßnahme gibt, mit der das verfolgte Ziel erreicht werden kann. Daher hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob das nationale Zwangsvollstreckungsrecht insofern im Einklang mit dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz ausgelegt werden kann, als es diesem Gericht gestattet, nicht in das Recht auf Freiheit eingreifende Maßnahmen wie die in Rn. 40 des vorliegenden Urteils erwähnten zu erlassen. 52 Nur für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen sollte, dass im Kontext der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angesprochenen Abwägung die mit der Verhängung von Zwangshaft verbundene Einschränkung des Rechts auf Freiheit den insoweit in Art. 52 Abs. 1 der Charta aufgestellten Voraussetzungen genügt, würde das Unionsrecht den Rückgriff auf eine solche Maßnahme nicht nur gestatten, sondern gebieten. 53 Ferner ist hervorzuheben, dass die vorstehenden Ausführungen insbesondere die Möglichkeit für den Gerichtshof unberührt lassen, im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage festzustellen, dass in der nach den Angaben des vorlegenden Gerichts dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegenden Weise gegen die Richtlinie 2008/50 verstoßen wurde. 54 Überdies ist darauf hinzuweisen, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts und der wirksame Schutz der dem Einzelnen nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte gegebenenfalls durch den dem System der Verträge, auf denen die Union beruht, innewohnenden Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, gewährleistet werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 20, 39 und 52, und vom 28. Juli 2016, Tomášová, C‑168/15, EU:C:2016:602, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Dieser Grundsatz gilt für jeden Fall des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen das Unionsrecht, unabhängig davon, welche staatliche Stelle ihn begangen hat (Urteil vom 28. Juli 2016, Tomášová, C‑168/15, EU:C:2016:602, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). 56 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 47 Abs. 1 der Charta, dahin auszulegen ist, dass unter Umständen, die durch die beharrliche Weigerung einer nationalen Behörde gekennzeichnet sind, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, mit der ihr aufgegeben wird, eine klare, genaue und unbedingte Verpflichtung zu erfüllen, die sich aus dem Unionsrecht, etwa aus der Richtlinie 2008/50, ergibt, das zuständige nationale Gericht Zwangshaft gegen Amtsträger der Behörde zu verhängen hat, wenn es in den Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts eine hinreichend zugängliche, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbare Rechtsgrundlage für den Erlass einer solchen Zwangsmaßnahme gibt und wenn die damit verbundene Einschränkung des durch Art. 6 der Charta garantierten Rechts auf Freiheit den übrigen insoweit in Art. 52 Abs. 1 der Charta aufgestellten Voraussetzungen genügt. Fehlt im innerstaatlichen Recht hingegen eine solche Rechtsgrundlage, ermächtigt das Unionsrecht das nationale Gericht nicht, auf eine derartige Maßnahme zurückzugreifen. Kosten 57 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Das Unionsrecht, insbesondere Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ist dahin auszulegen, dass unter Umständen, die durch die beharrliche Weigerung einer nationalen Behörde gekennzeichnet sind, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, mit der ihr aufgegeben wird, eine klare, genaue und unbedingte Verpflichtung zu erfüllen, die sich aus dem Unionsrecht, etwa aus der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, ergibt, das zuständige nationale Gericht Zwangshaft gegen Amtsträger der Behörde zu verhängen hat, wenn es in den Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts eine hinreichend zugängliche, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbare Rechtsgrundlage für den Erlass einer solchen Zwangsmaßnahme gibt und wenn die damit verbundene Einschränkung des durch Art. 6 der Charta der Grundrechte garantierten Rechts auf Freiheit den übrigen insoweit in ihrem Art. 52 Abs. 1 aufgestellten Voraussetzungen genügt. Fehlt im innerstaatlichen Recht hingegen eine solche Rechtsgrundlage, ermächtigt das Unionsrecht das nationale Gericht nicht, auf eine derartige Maßnahme zurückzugreifen. Lenaerts Silva de Lapuerta Prechal Vilaras Regan Safjan Rodin Rossi Jarukaitis Juhász Šváby Vajda Biltgen Jürimäe Kumin Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. Dezember 2019. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 28. November 2019.#Strafverfahren gegen DK.#Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 6 – Beweislast – Fortdauer der Untersuchungshaft einer beschuldigten Person.#Rechtssache C-653/19 PPU.
62019CJ0653
ECLI:EU:C:2019:1024
2019-11-28T00:00:00
Pitruzzella, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0653 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 28. November 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Eilvorabentscheidungsverfahren – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 6 – Beweislast – Fortdauer der Untersuchungshaft einer beschuldigten Person“ In der Rechtssache C‑653/19 PPU betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 4. September 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 4. September 2019, in dem Strafverfahren gegen DK, Beteiligte: Spetsializirana prokuratura, erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin C. Toader und des Richters N. Jääskinen, Generalanwalt: G. Pitruzzella, Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. November 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von DK, vertreten durch D. Gochev, I. Angelov und I. Yotov, advokati, – der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und Y. Marinova als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. November 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen (ABl. 2016, L 65, S. 1) sowie der Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen DK und betrifft die Aufrechterhaltung seiner Untersuchungshaft. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 In den Erwägungsgründen 16 und 22 der Richtlinie 2016/343 heißt es: „(16) Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung läge vor, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person in einer öffentlichen Erklärung einer Behörde oder in einer gerichtlichen Entscheidung, bei der es sich nicht um eine Entscheidung über die Schuld handelt, als schuldig dargestellt wird, solange die Schuld dieser Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde. … [U]nberührt bleiben sollten vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen, wie etwa Entscheidungen über Untersuchungshaft, soweit der Verdächtige oder die beschuldigte Person darin nicht als schuldig bezeichnet wird. … … (22) Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet einer möglichen Befugnis des Gerichts zur Tatsachenfeststellung von Amts wegen, der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person und der Anwendung von Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person läge ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. …“ 4 Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie bestimmt: „Diese Richtlinie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.“ 5 Art. 3 („Unschuldsvermutung“) der Richtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.“ 6 Art. 4 („Öffentliche Bezugnahme auf die Schuld“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor: „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass, solange die Schuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde, in öffentlichen Erklärungen von Behörden und in nicht die Frage der Schuld betreffenden gerichtlichen Entscheidungen nicht so auf die betreffende Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig. Dies gilt unbeschadet der Strafverfolgungsmaßnahmen, die dazu dienen, den Verdächtigen oder die beschuldigte Person zu überführen, sowie unbeschadet der vorläufigen Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen.“ 7 Art. 6 („Beweislast“) der Richtlinie 2016/343 lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Personen zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte.“ Bulgarisches Recht 8 Art. 270 des Nakazatelen protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) bestimmt: „(1)   Die Frage der Umwandlung der Zwangsmaßnahme kann jederzeit im gerichtlichen Verfahren aufgeworfen werden. Tritt eine Änderung der Umstände ein, kann beim zuständigen Gericht ein neuer Antrag in Bezug auf die Zwangsmaßnahme gestellt werden. (2)   Das Gericht entscheidet durch Beschluss in öffentlicher Sitzung.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage 9 DK wird der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und des Totschlags beschuldigt. 10 Im Rahmen des wegen dieser Vorwürfe gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens wurde er am 11. Juni 2016 in Untersuchungshaft genommen. 11 Am 9. November 2017 wurde er dem Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) zur Aburteilung überstellt. 12 Ab dem 5. Februar 2018 stellte DK sieben Anträge auf Freilassung, die alle im ersten Rechtszug oder in der Berufung mit der Begründung zurückgewiesen wurden, die von ihm vorgebrachten Argumente hätten keine hinreichende, den Anforderungen des nationalen Rechts genügende Überzeugungskraft. 13 In der Sitzung des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) vom 4. September 2019 beantragte DK erneut seine Freilassung. 14 Das vorlegende Gericht führt aus, nach den bulgarischen Rechtsvorschriften müsse ein Gericht, dem eine in Untersuchungshaft befindliche Person zur Aburteilung überstellt worden sei, vorab prüfen, ob sie zu Recht inhaftiert sei. Komme das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Inhaftierung rechtmäßig sei, werde sie zeitlich unbefristet fortgesetzt und in der Folge nicht von Amts wegen überprüft. Der Inhaftierte könne nur dann freigelassen werden, wenn er dies beantrage und nachweise, dass neue Umstände vorlägen, die seine Freilassung rechtfertigten. 15 In Anbetracht der Anforderungen der bulgarischen Rechtsvorschriften in ihrer Auslegung durch die nationale Rechtsprechung sei es unwahrscheinlich, dass DK in der Lage sein werde, einen solchen Nachweis zu führen, dass geänderte Umstände vorlägen, die seine Freilassung rechtfertigten. 16 Es sei jedoch fraglich, ob die bulgarischen Rechtsvorschriften mit Art. 6 und dem 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 vereinbar seien, die dahin ausgelegt werden könnten, dass die Beweislast für die Begründetheit der Fortdauer der Inhaftierung des Betreffenden bei der Anklagebehörde liegen müsse, sowie dahin, dass Vermutungen für die Begründetheit nur zulässig seien, wenn sie in angemessenem Verhältnis zum verfolgten Ziel stünden und den Verteidigungsrechten Rechnung trügen. 17 Überdies seien die in den Art. 6 und 47 der Charta garantierten Rechte zu berücksichtigen. Speziell in Bezug auf Art. 6, der Art. 5 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entspreche, ergebe sich insbesondere aus dem Urteil des EGMR vom 27. August 2019, Magnitskiy u. a. gegen Russland (CE:ECHR:2019:0827JUD003263109), dass die Aufstellung einer Vermutung für die Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft gegen Art. 5 Abs. 3 der Konvention verstoße. 18 Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist mit Art. 6 und dem 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 sowie mit den Art. 6 und 47 der Charta eine nationale Rechtsvorschrift vereinbar, die vorsieht, dass dem Antrag der Verteidigung auf Aufhebung der gegen die beschuldigte Person angeordneten Untersuchungshaft in der gerichtlichen Phase des Strafverfahrens nur dann stattgegeben werden kann, wenn eine Änderung der Umstände eingetreten ist? Zum Eilverfahren 19 Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen. 20 Zur Stützung dieses Antrags führt es aus, DK befinde sich seit dem 11. Juni 2016 in Untersuchungshaft, und die Beurteilung des Antrags auf Freilassung hänge von der Antwort auf die Frage ab, ob das Unionsrecht der in den einschlägigen bulgarischen Rechtsvorschriften vorgesehenen Verteilung der Beweislast entgegenstehe. 21 Insoweit ist erstens hervorzuheben, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung der Richtlinie 2016/343 betrifft, die unter Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags fällt. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht. 22 Zweitens ist hinsichtlich des Kriteriums der Dringlichkeit nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen, dass dem im Ausgangsverfahren Betroffenen derzeit seine Freiheit entzogen ist und dass seine weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt (Urteile vom 28. Juli 2016, JZ, C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 29, und vom 19. September 2018, Milev, C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 35). 23 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen und der Antwort des vorlegenden Gerichts vom 13. September 2019 auf ein Auskunftsersuchen des Gerichtshofs sowie seinen ergänzenden Angaben, die dem Gerichtshof am 25. und 27. September 2019 übermittelt worden sind, hervor, dass sich DK derzeit in Haft befindet, dass das vorlegende Gericht auf der Grundlage der Antwort des Gerichtshofs über seine weitere Inhaftierung zu befinden haben wird und dass die Antwort des Gerichtshofs auf die Frage des vorlegenden Gerichts unmittelbare Auswirkungen auf die Beurteilung des Antrags von DK auf Freilassung haben könnte. 24 Unter diesen Umständen hat die Erste Kammer des Gerichtshofs am 1. Oktober 2019 auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben. Zur Vorlagefrage 25 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 der Richtlinie 2016/343 im Licht ihres 22. Erwägungsgrundes sowie die Art. 6 und 47 der Charta nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die die Freilassung einer in Untersuchungshaft befindlichen Person davon abhängig machen, dass sie den Eintritt neuer Umstände nachweist, die ihre Entlassung aus der Haft rechtfertigen. 26 Nach ihrem Art. 2 gilt die Richtlinie 2016/343 für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, und für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat. 27 Die Richtlinie findet somit in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens Anwendung, in der ein nationales Gericht über die Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft einer Person zu entscheiden hat, die beschuldigt wird, eine Straftat begangen zu haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2018, Milev, C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 40). 28 Da mit der Richtlinie nur ein Mindestmaß an Harmonisierung angestrebt wird, kann sie jedoch nicht so verstanden werden, dass sie ein vollständiges und abschließendes Instrument darstellt, das darauf abzielt, sämtliche Voraussetzungen für die Anordnung von Untersuchungshaft zu regeln (Urteil vom 19. September 2018, Milev, C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 47, und Beschluss vom 12. Februar 2019, RH, C‑8/19 PPU, EU:C:2019:110, Rn. 59). 29 Die Art. 3 und 4 der Richtlinie verlangen zwar, dass in einer Entscheidung einer Justizbehörde über die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht so auf die betreffende Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2018, Milev, C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 43 und 44, sowie Beschluss vom 12. Februar 2019, RH, C‑8/19 PPU, EU:C:2019:110, Rn. 51). 30 Dagegen geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass das den Täter betreffende Maß an Überzeugung des mit dem Erlass einer solchen Entscheidung betrauten Gerichts, die Modalitäten seiner Prüfung verschiedener Beweise und die Ausführlichkeit, mit der es auf das vor ihm geltend gemachte Vorbringen eingehen muss, nicht in der Richtlinie 2016/343 geregelt sind, sondern sich allein nach dem nationalen Recht richten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2018, Milev, C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 48). 31 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie regelt die Verteilung der „Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen“. Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie schreibt vor, dass „jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommt“. 32 Insoweit ergibt sich aus Art. 4 der Richtlinie 2016/343, dass sie zwischen den die Frage der Schuld betreffenden gerichtlichen Entscheidungen, die zwangsläufig am Ende des Strafverfahrens ergehen, und anderen Verfahrenshandlungen wie Strafverfolgungsmaßnahmen und vorläufigen Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art unterscheidet. 33 Die Bezugnahme auf die Feststellung der „Schuld“ in Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 ist daher so zu verstehen, dass diese Bestimmung nur beim Erlass gerichtlicher Entscheidungen, die die Frage der Schuld betreffen, die Verteilung der Beweislast regeln soll. 34 Diese Auslegung wird, wie der Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, durch einen Vergleich der Erwägungsgründe 16 und 22 der Richtlinie 2016/343 bestätigt. Zum einen betrifft der 16. Erwägungsgrund die Wahrung der Unschuldsvermutung durch die von Art. 4 der Richtlinie erfassten Maßnahmen, d. h. öffentliche Erklärungen von Behörden und Verfahrenshandlungen, die vorgenommen werden, bevor die Schuld des Verdächtigen rechtsförmlich nachgewiesen wurde. Dieser Erwägungsgrund bezieht sich speziell auf die für vorläufige verfahrensrechtliche Entscheidungen geltende Regelung. Zum anderen wird im 22. Erwägungsgrund, der die in Art. 6 der Richtlinie geregelte Verteilung der Beweislast betrifft, nicht auf solche Entscheidungen Bezug genommen, sondern ausschließlich auf das Verfahren zur Feststellung der Schuld von Verdächtigen. 35 Eine gerichtliche Entscheidung, die allein den etwaigen Fortbestand der Untersuchungshaft einer beschuldigten Person zum Gegenstand hat, befasst sich aber nur mit der Frage, ob diese Person in Anbetracht aller relevanten Umstände aus der Haft zu entlassen ist, ohne zu klären, ob ihr die ihr vorgeworfene Tat anzulasten ist. 36 Überdies geht aus der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung hervor, dass die Art. 3 und 4 der Richtlinie 2016/343 es verbieten, in einer solchen Entscheidung so auf die beschuldigte Person Bezug zu nehmen, als sei sie schuldig. 37 Diese Entscheidung kann daher nicht als eine die Frage der Schuld der beschuldigten Person betreffende gerichtliche Entscheidung im Sinne der Richtlinie eingestuft werden. 38 Somit ist davon auszugehen, dass Art. 6 der Richtlinie nicht für das zum Erlass einer solchen Entscheidung führende Verfahren gilt, so dass die Verteilung der Beweislast im Rahmen dieses Verfahrens allein Sache des nationalen Rechts ist. 39 Dieses Ergebnis kann durch Rn. 56 des Beschlusses vom 12. Februar 2019, RH (C‑8/19 PPU, EU:C:2019:110), nicht in Frage gestellt werden. In dieser Randnummer hat der Gerichtshof zwar Art. 6 der Richtlinie 2016/343 erwähnt, doch geht aus Rn. 57 des Beschlusses hervor, dass er dabei lediglich den Kontext von Art. 4 der Richtlinie darstellen wollte, um zu belegen, dass die in der Rechtssache, in der dieser Beschluss ergangen ist, nach den nationalen Rechtsvorschriften vorgeschriebene Art der Begründung nicht damit gleichgesetzt werden kann, dass so auf den Verdächtigen oder die beschuldigte Person Bezug genommen wird, als sei er bzw. sie schuldig; er wollte hingegen nicht feststellen, dass Art. 6 der Richtlinie in einem Verfahren anwendbar ist, das zum Erlass einer Entscheidung über die Verhängung von Untersuchungshaft führt. 40 Ferner ist in Bezug auf die Art. 6 und 47 der Charta darauf hinzuweisen, dass die Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. 41 Da die Verteilung der Beweislast im Rahmen eines Verfahrens wie des hier in Rede stehenden nicht im Unionsrecht geregelt ist, sind die Bestimmungen der Charta, darunter ihre Art. 6 und 47, nicht auf die nationalen Vorschriften über die Beweislastverteilung anwendbar (vgl. entsprechend Urteil vom 7. März 2017, X und X, C‑638/16 PPU, EU:C:2017:173, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 6 der Richtlinie 2016/343 sowie die Art. 6 und 47 der Charta nicht auf nationale Rechtsvorschriften anwendbar sind, die die Freilassung einer in Untersuchungshaft befindlichen Person davon abhängig machen, dass sie den Eintritt neuer Umstände nachweist, die ihre Entlassung aus der Haft rechtfertigen. Kosten 43 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: Art. 6 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen sowie die Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind nicht auf nationale Rechtsvorschriften anwendbar, die die Freilassung einer in Untersuchungshaft befindlichen Person davon abhängig machen, dass sie den Eintritt neuer Umstände nachweist, die ihre Entlassung aus der Haft rechtfertigen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 19. September 2019.#Strafverfahren gegen EP.#Vorabentscheidungsersuchen des Rayonen sad Lukovit.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Art. 6 und 47 sowie Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 8 Abs. 2 – Richtlinie 2013/48/EU – Art. 12 – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 3 – Nationale Regelung, die aus therapeutischen Gründen und Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht – Recht auf Rechtsbelehrung – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Unschuldsvermutung – Schutzbedürftige Person.#Rechtssache C-467/18.
62018CJ0467
ECLI:EU:C:2019:765
2019-09-19T00:00:00
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
62018CJ0467 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer) 19. September 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Art. 6 und 47 sowie Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 8 Abs. 2 – Richtlinie 2013/48/EU – Art. 12 – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 3 – Nationale Regelung, die aus therapeutischen Gründen und Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht – Recht auf Rechtsbelehrung – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Unschuldsvermutung – Schutzbedürftige Person“ In der Rechtssache C‑467/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Rayonen sad Lukovit (Kreisgericht Lukovit, Bulgarien) mit Entscheidung vom 17. Juli 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juli 2018, in dem Strafverfahren gegen EP, Beteiligte: Rayonna prokuratura Lom, KM, HO, erlässt DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, J. Malenovský und C. G. Fernlund (Berichterstatter) sowie der Richterin L. S. Rossi, Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von EP, vertreten durch M. Ekimdzhiev, K. Boncheva und T. Ekimdzhieva, advokati, – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Kasalická als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und Y. G. Marinova als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Juli 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1), von Art. 12 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1), von Art. 3 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) sowie von Art. 6, Art. 21 Abs. 1 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht in einem gerichtlichen Verfahren, in dem die psychiatrische Unterbringung von EP angeordnet werden soll. Rechtlicher Rahmen EMRK 3 Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht in Art. 5 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) vor: „(1)   Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden: … e) rechtmäßige Freiheitsentziehung mit dem Ziel, eine Verbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern, sowie bei psychisch Kranken, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtigen und Landstreichern; … (4)   Jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn die Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist. …“ Unionsrecht Richtlinie 2012/13 4 In den Erwägungsgründen 19, 22 und 26 der Richtlinie 2012/13 heißt es: „(19) Die zuständigen Behörden sollten Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mündlich oder schriftlich gemäß dieser Richtlinie über die nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahrensrechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, belehren. Damit die betreffenden Rechte zweckmäßig und wirksam ausgeübt werden können, sollte diese Belehrung umgehend im Laufe des Verfahrens und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen. … (22) Verdächtige oder beschuldigte Personen sollten bei ihrer Festnahme oder Inhaftierung über die anwendbaren Verfahrensrechte im Wege einer schriftlichen Erklärung der Rechte belehrt werden, die so gut verständlich abgefasst ist, dass sie diesen Personen dabei hilft, ihre Rechte zu verstehen. Eine solche Erklärung der Rechte sollte jeder festgenommenen Person umgehend ausgehändigt werden, wenn ihr durch das Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden im Rahmen eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen wird. … … (26) Bei der Belehrung und Unterrichtung von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen gemäß dieser Richtlinie sollten die zuständigen Behörden Personen, die zum Beispiel aufgrund ihres jugendlichen Alters oder aufgrund ihres geistigen oder körperlichen Zustands nicht in der Lage sind, den Inhalt oder die Bedeutung der Belehrung oder Unterrichtung zu verstehen, besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen.“ 5 Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13 wird in ihrem Art. 2 Abs. 1 wie folgt eingegrenzt: „Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“ 6 Art. 3 der Richtlinie 2012/13 („Recht auf Rechtsbelehrung“) lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen: a) das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts; b) den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung; c) das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6; d) das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen; e) das Recht auf Aussageverweigerung. (2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden.“ 7 Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie 2012/13 bestimmt in den Abs. 1 und 3: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden. … (3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.“ 8 Art. 8 („Überprüfung und Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2012/13 sieht in Abs. 2 vor: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.“ Richtlinie 2013/48 9 Der 51. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 lautet: „Die Fürsorgepflicht für Verdächtige oder beschuldigte Personen, die sich in einer potenziell schwachen Position befinden, ist Grundlage einer fairen Justiz. Anklage‑, Strafverfolgungs- und Justizbehörden sollten es solchen Personen daher erleichtern, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte wirksam auszuüben, zum Beispiel indem sie etwaige Benachteiligungen, die die Fähigkeit der Personen beeinträchtigen, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug wahrzunehmen, berücksichtigen und indem sie geeignete Schritte unternehmen, um sicherzustellen, dass diese Rechte gewährleistet sind.“ 10 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 sieht vor: „Diese Richtlinie gilt für Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden, und unabhängig davon, ob ihnen die Freiheit entzogen wurde. Die Richtlinie gilt bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.“ 11 Art. 12 („Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2013/48 sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren sowie gesuchten Personen in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht. (2)   Unbeschadet der nationalen Vorschriften und Regelungen über die Zulässigkeit von Beweismitteln sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass in Strafverfahren bei der Beurteilung von Aussagen von Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder von Beweisen, die unter Missachtung ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand erhoben wurden, oder in Fällen, in denen gemäß Artikel 3 Absatz 6 eine Abweichung von diesem Recht genehmigt wurde, die Verteidigungsrechte und die Einhaltung eines fairen Verfahrens beachtet werden.“ 12 Art. 13 der Richtlinie 2013/48 („Schutzbedürftige Personen“) lautet: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass bei der Anwendung dieser Richtlinie die besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Verdächtigen und schutzbedürftigen beschuldigten Personen berücksichtigt werden.“ Richtlinie 2016/343 13 Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt: „Diese Richtlinie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.“ 14 Art. 3 („Unschuldsvermutung“) der Richtlinie 2016/343 lautet: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde.“ 15 Art. 6 der Richtlinie 2016/343 bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Personen zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte.“ 16 Nach ihrem Art. 14 Abs. 1 musste die Richtlinie 2016/343 bis zum 1. April 2018 umgesetzt werden, und nach ihrem Art. 15 trat sie am 31. März 2016 in Kraft. Bulgarisches Recht 17 Der Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) in seiner für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgebenden Fassung sieht in den Art. 427 ff. ein besonderes Verfahren vor, das es dem Gericht ermöglicht, auf Vorschlag des Staatsanwalts medizinische Zwangsmaßnahmen gegenüber einer Person anzuordnen, die im Zustand geistiger Verwirrung eine für die Allgemeinheit gefährliche Tat begangen hat. 18 Art. 427 der Strafprozessordnung bestimmt: „(1)   Der Bezirksstaatsanwalt unterbreitet einen Vorschlag für die Anwendung medizinischer Zwangsmaßnahmen … (2)   Vor der Unterbreitung des Vorschlags holt der Staatsanwalt ein Gutachten ein und betraut die Ermittlungsbehörde mit der Aufklärung des Verhaltens der Person vor und nach Begehung der Tat und mit der Beurteilung der Frage, ob die Person eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.“ 19 Aus dem in den Art. 428 bis 491 der Strafprozessordnung beschriebenen Verfahren ergibt sich, dass der Vorschlag des Staatsanwalts vom Kreisgericht am Aufenthaltsort der betreffenden Person geprüft wird und dass dieses Gericht nach mündlicher Verhandlung als Einzelrichter durch Beschluss entscheidet, der angefochten werden kann. 20 Überdies sieht das Zakon za zdraveto (Gesundheitsgesetz) in den Art. 155 ff. ein besonderes Verfahren vor, das es ermöglicht, eine Person mit einer psychischen Erkrankung, die eine Gefahr für ihre Gesundheit oder die Gesundheit Dritter darstellt, gerichtlich zwangsweise in eine medizinische Einrichtung einzuweisen. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 21 Am 26. August 2015 fanden Polizeibeamte auf einer Straße in Medkovets (Bulgarien) eine Leiche. Sie begaben sich daraufhin zum Haus von EP, dem Sohn des Opfers. Dieser gab zu, seine Mutter getötet zu haben. Nachdem die Beamten von Zeugen erfahren hatten, dass EP unter psychischen Störungen leide, brachten sie ihn in die Notaufnahme eines psychiatrischen Krankenhauses. 22 Mit Entscheidung vom 12. September 2015 ordnete der Rayonen sad Lom (Kreisgericht Lom, Bulgarien) an, EP für die Dauer von sechs Monaten in ein psychiatrisches Krankenhaus aufzunehmen. Diese auf der Grundlage des Gesundheitsgesetzes getroffene Entscheidung wurde bis zum Erlass der Vorlageentscheidung ununterbrochen verlängert. 23 Das von zwei Krankenhauspsychiatern erstellte gerichtspsychiatrische Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass EP an paranoider Schizophrenie leide. 24 Mit Verfügung vom 7. Juli 2016 stellte der Staatsanwalt von Montana (Bulgarien) das Strafverfahren mit der Begründung ein, dass EP an einer psychischen Erkrankung leide. Da er der Ansicht war, dass EP nicht am Verfahren teilnehmen könne, stellte er EP diese Verfügung nicht zu. 25 Am 29. Dezember 2017 ordnete die Apelativna prokuratura Sofia (Staatsanwaltschaft Sofia, Bulgarien) die Wiederaufnahme des Verfahrens im Hinblick auf die weitere Unterbringung von EP auf der Grundlage des Gesundheitsgesetzes an. 26 Mit Verfügung vom 1. März 2018 wurde das Strafverfahren gegen EP eingestellt. Die Staatsanwaltschaft kam zu dem Ergebnis, dass medizinische Zwangsmaßnahmen anzuordnen seien, da EP aufgrund psychischer Störungen eine vorsätzliche Tat begangen habe, so dass er schuldunfähig sei. Diese Verfügung wurde der Tochter des Opfers zugestellt. Sie wurde am 10. März 2018 rechtskräftig, da innerhalb der vorgesehenen Frist kein Rechtsbehelf eingelegt wurde. 27 Die Rayonna prokuratura Lom (Staatsanwaltschaft Lom, Bulgarien) beantragte beim vorlegenden Gericht, dem Rayonen sad Lukovit (Kreisgericht Lukovit, Bulgarien), auf der Grundlage der Art. 427 ff. der Strafprozessordnung die psychiatrische Unterbringung von EP. 28 Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Bestimmungen über die zwangsweise medizinische Unterbringung psychisch Kranker mit den durch die Richtlinien 2012/13, 2013/48 und 2016/343 sowie durch die Charta garantierten Rechten. Diese Zweifel betreffen in erster Linie die Art. 427 ff. der Strafprozessordnung und das durch sie geschaffene besondere Strafverfahren, das zur psychiatrischen Unterbringung einer Person führen kann, die eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Sie beziehen sich auch auf die Bestimmungen des Gesundheitsgesetzes, soweit das darin vorgesehene Verfahren es ebenfalls gestattet, eine Person vorsorglich zwangsweise unterzubringen, wenn es Gründe für die Annahme gibt, dass sie angesichts ihres Gesundheitszustands eine Straftat begehen könnte. 29 Das vorlegende Gericht führt aus, EP sei während der Ermittlungen nie befragt worden, und die Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihn sei ihm nicht mitgeteilt worden. Da er nicht strafrechtlich verfolgt worden sei, habe er nicht den Beistand eines Anwalts erhalten. Gegen die rechtlichen und tatsächlichen Schlussfolgerungen der Staatsanwaltschaft habe er keinen Rechtsbehelf einlegen können. 30 Überdies gestatte das nationale Recht es dem Gericht nicht, bei Verfahren zur Anwendung medizinischer Zwangsmaßnahmen gemäß den Art. 427 ff. der Strafprozessordnung zu prüfen, ob die als Täter angesehene Person während der ursprünglichen Ermittlungen über die Mindestverfahrensgarantien für die Ausübung der Verteidigungsrechte verfügt habe. Im vorliegenden Fall habe EP geltend gemacht, seine Rechte, über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe informiert zu werden, zu schweigen und einen Anwalt gestellt zu bekommen, seien verletzt worden. Fraglich sei insbesondere, ob eine solche Regelung mit Art. 47 und Art. 48 Abs. 2 der Charta vereinbar sei. 31 Ferner bedürfe der Klärung, ob das Verfahren gegenüber EP in den Anwendungsbereich der Richtlinien 2012/13, 2013/48 und 2016/343 falle. Wenn ja, könnte das allgemeine Strafverfahrensrecht entsprechend angewandt werden, falls der Gerichtshof zu dem Ergebnis komme, dass das in den Art. 427 ff. der Strafprozessordnung vorgesehene besondere Strafverfahren kein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewährleiste. 32 Unter diesen Umständen hat der Rayonen sad Lukovit (Kreisgericht Lukovit) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Fällt das vorliegende Verfahren zur Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen, bei denen es sich um eine Form staatlichen Zwangs gegenüber Personen handelt, die nach den Feststellungen der Staatsanwaltschaft eine für die Allgemeinheit gefährliche Tat begangen haben, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13 und der Richtlinie 2013/48? 2. Stellen die bulgarischen Verfahrensvorschriften für das besondere Verfahren zur Anordnung medizinischer Zwangsmaßnahmen (Art. 427 ff. der Strafprozessordnung), wonach das Gericht nicht befugt ist, das Verfahren an die Staatsanwaltschaft zurückzuverweisen und ihr aufzugeben, die im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens begangenen wesentlichen Verfahrensfehler zu beheben, sondern nur dem Antrag auf Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen stattgeben oder ihn zurückweisen kann, einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 12 der Richtlinie 2013/48 und Art. 8 der Richtlinie 2012/13 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dar, der gewährleistet, dass der Betroffene etwaige im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens begangene Verstöße gegen seine Rechte vor Gericht anfechten kann? 3. Sind die Richtlinie 2012/13 und die Richtlinie 2013/48 auf strafrechtliche (vorgerichtliche) Verfahren anwendbar, wenn das nationale Recht, konkret die Strafprozessordnung, die Rechtsfigur des „Verdächtigen“ nicht kennt und die Staatsanwaltschaft die Person im Rahmen des vorgerichtlichen Verfahrens nicht förmlich als Beschuldigten ansieht, da sie davon ausgeht, dass der Totschlag, der Gegenstand der Ermittlungen ist, von der Person im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen wurde, und daher das Strafverfahren einstellt, ohne die Person davon in Kenntnis zu setzen, und beim Gericht die Anordnung von medizinischen Zwangsmaßnahmen gegenüber der Person beantragt? 4. Gilt die Person, in Bezug auf die eine medizinische Zwangsbehandlung beantragt wurde, als „verdächtig“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 und Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2013/48, wenn bei der erstmaligen Besichtigung des Tatorts und den anfänglichen Ermittlungsmaßnahmen in der Wohnung des Opfers und ihres Sohnes ein Polizeibeamter, nachdem er Blutspuren am Körper des Sohnes feststellte, diesen fragte, warum er seine Mutter getötet und ihre Leiche auf die Straße gelegt habe, und ihm nach der Beantwortung dieser Fragen Handschellen anlegte? Falls dies bejaht wird, ist die Person bereits zu diesem Zeitpunkt nach Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 zu belehren, und wie sind die besonderen Bedürfnisse der Person im Sinne von Abs. 2 bei der Belehrung in einem solchen Fall zu berücksichtigen, wenn dem Polizeibeamten bekannt war, dass die Person an einer psychischen Störung leidet? 5. Sind nationale Regelungen wie die vorliegenden, die faktisch eine Freiheitsentziehung durch Zwangsunterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in einem Verfahren nach dem Gesundheitsgesetz zulassen (vorbeugende Zwangsmaßnahme, die angeordnet wird, wenn bewiesen ist, dass die Person an einer psychischen Erkrankung leidet und die Gefahr der Begehung einer Straftat durch sie besteht, nicht jedoch wegen einer bereits begangenen Tat), mit Art. 3 der Richtlinie 2016/343 vereinbar, sofern der tatsächliche Grund für die Einleitung des Verfahrens die Tat ist, derentwegen ein Strafverfahren gegen die zur Behandlung untergebrachte Person eingeleitet wurde, und wird auf diese Weise das Recht auf ein faires Verfahren bei einer Festnahme umgangen, das den Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 4 der EMRK entsprechen muss, d. h. ein Verfahren sein soll, in dessen Rahmen das Gericht befugt ist, sowohl die Einhaltung der Verfahrensregeln als auch den die Festnahme begründenden Verdacht sowie die Rechtmäßigkeit des mit dieser Maßnahme verfolgten Ziels zu überprüfen, wozu das Gericht verpflichtet ist, wenn die Person nach dem in der Strafprozessordnung vorgesehenen Verfahren festgenommen wurde? 6. Umfasst der Begriff der Unschuldsvermutung im Sinne von Art. 3 der Richtlinie 2016/343 auch die Vermutung, dass schuldunfähige Personen die Tat, die eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und die ihnen von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird, nicht begangen haben, solange nicht das Gegenteil im Einklang mit den Verfahrensregeln (im Strafverfahren unter Wahrung der Verteidigungsrechte) nachgewiesen wurde? 7. Gewährleisten nationale Regelungen, die verschiedene Befugnisse des erkennenden Gerichts in Bezug auf die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der Rechtmäßigkeit des vorgerichtlichen Verfahrens vorsehen, je nachdem, ob a) das Gericht eine Anklageschrift der Staatsanwaltschaft prüft, in der behauptet wird, dass eine bestimmte, psychisch gesunde Person einen Totschlag begangen habe (Art. 249 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 der Strafprozessordnung), oder b) das Gericht einen Antrag der Staatsanwaltschaft prüft, in dem behauptet wird, dass die Person einen Totschlag begangen habe, die Tat jedoch wegen der psychischen Störung des Täters keine Straftat darstelle, und die gerichtliche Anordnung staatlichen Zwangs zu Behandlungszwecken begehrt wird, den schutzbedürftigen Personen einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 13 in Verbindung mit Art. 12 der Richtlinie 2013/48 und von Art. 8 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13, und sind die verschiedenen Befugnisse des Gerichts, die von der Art des Verfahrens abhängen, die sich wiederum danach richtet, ob die als Täter festgestellte Person angesichts ihres psychischen Gesundheitszustands strafrechtlich verantwortlich ist, mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Art. 21 Abs. 1 der Charta vereinbar? Verfahren vor dem Gerichtshof 33 Das vorlegende Gericht hat beantragt, die Rechtssache dem in Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen. 34 Am 10. August 2018 hat der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, diesem Antrag nicht stattzugeben. Zu den Vorlagefragen Zur ersten, zur dritten und zur vierten Frage 35 Mit seiner ersten, seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 dahin auszulegen sind, dass sie auf ein gerichtliches Verfahren Anwendung finden, das wie das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, und, wenn ja, zu welchem Zeitpunkt die betreffende Person über die ihr nach der Richtlinie 2012/13 zustehenden Rechte informiert werden muss. 36 Der gemeinsame Gegenstand der Richtlinien 2012/13 und 2013/48 besteht darin, Mindestvorschriften in Bezug auf bestimmte Rechte Verdächtiger und beschuldigter Personen im Rahmen von Strafverfahren festzulegen. Die Richtlinie 2012/13 betrifft speziell das Recht auf Rechtsbelehrung, während die Richtlinie 2013/48 dem Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, dem Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und dem Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs gewidmet ist. 37 Ferner geht aus den Erwägungsgründen dieser Richtlinien hervor, dass sie sich dabei insbesondere auf die in den Art. 6, 47 und 48 der Charta genannten Rechte stützen und dazu beitragen sollen, dass diese Rechte bei Verdächtigen oder beschuldigten Personen im Rahmen von Strafverfahren gewahrt werden. 38 Der jeweilige Anwendungsbereich der Richtlinien wird in ihrem Art. 2 nahezu gleichlautend definiert. Aus diesen Bestimmungen geht im Wesentlichen hervor, dass die Richtlinien ab dem Zeitpunkt gelten, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter „die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren“. 39 Es trifft zu, dass weder die Richtlinie 2012/13 noch die Richtlinie 2013/48 ausdrücklich vorsieht, dass zu den von ihnen geregelten Strafverfahren auch Verfahren gehören, die zu einer psychiatrischen Unterbringung führen können, wie sie die Art. 427 ff. der Strafprozessordnung vorsehen. 40 Das Fehlen ausdrücklicher Bestimmungen bedeutet jedoch nicht, dass ein solches Verfahren der psychiatrischen Unterbringung vom Anwendungsbereich der Richtlinien ausgenommen ist, weil es nicht zur „Verurteilung“ zu einer Strafe führt. 41 Insoweit lässt, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn. 61 und 62 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 und von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 im Gegenteil den Schluss zu, dass sich der Begriff des Strafverfahrens im Sinne dieser Richtlinien auch auf Verfahren der psychiatrischen Unterbringung erstreckt, die zwar nicht zur „Verurteilung“ zu einer Strafe im engeren Sinne führen, wohl aber zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme, vorausgesetzt, diese Maßnahme wird nicht nur mit therapeutischen Gründen gerechtfertigt, sondern auch mit Sicherheitsgründen, und sie wird gegen Personen verhängt, die eine Straftat begangen haben, deren Geisteszustand bei Begehung dieser Tat es aber rechtfertigt, ihre psychiatrische Unterbringung anzuordnen, statt ihnen eine strafrechtliche Sanktion wie eine Freiheitsstrafe aufzuerlegen. 42 Da der das Recht auf Freiheit und Sicherheit betreffende Art. 6 der Charta Rechte garantiert, die den durch Art. 5 der EMRK, der ebenfalls das Recht auf Freiheit und Sicherheit betrifft, garantierten Rechten entsprechen, ist ihm nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite beizumessen wie Art. 5 der EMRK nach dessen Auslegung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Bei der Auslegung von Art. 6 der Charta ist somit Art. 5 Abs. 1 der EMRK zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2019, TC, C‑492/18 PPU, EU:C:2019:108, Rn. 57). 43 Art. 5 Abs. 1 Buchst. e der EMRK lautet: „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden: … rechtmäßige Freiheitsentziehung … bei psychisch Kranken …“ 44 Diese Bestimmung ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dahin ausgelegt worden, dass sie dem Staat die positive Verpflichtung auferlegt, die Freiheit der seiner Gerichtsbarkeit unterstehenden Personen zu schützen. Wäre dies nicht der Fall, bestünde eine beträchtliche Lücke im Schutz vor willkürlicher Inhaftierung, was nicht mit der Bedeutung der persönlichen Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft vereinbar wäre. Der Staat ist daher verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, die schutzbedürftigen Personen einen wirksamen Schutz verschaffen (EGMR, 17. Januar 2012, Stanev/Bulgarien, Nr. 36760/06, CE:ECHR:2012:0117JUD003676006, § 120). 45 Daraus ergibt sich, dass freiheitsentziehende Maßnahmen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen zur psychiatrischen oder medizinischen Behandlung unter Art. 5 der EMRK und damit unter Art. 6 der Charta fallen. 46 Folglich können die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 im Licht des durch Art. 6 der Charta garantierten Rechts auf Freiheit und Sicherheit nicht dahin ausgelegt werden, dass von ihrem Anwendungsbereich ein gerichtliches Verfahren ausgenommen ist, das es gestattet, die psychiatrische Unterbringung einer Person anzuordnen, die nach einem vorangegangenen Strafverfahren als Täter einer Straftat eingestuft wurde. 47 Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 die Verpflichtung auferlegt hat, zu gewährleisten, dass die Rechtsbelehrung „entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden“. Im 26. Erwägungsgrund dieser Richtlinie wird ausdrücklich der Fall von Personen erwähnt, die aufgrund ihres geistigen Zustands nicht in der Lage sind, den Inhalt oder die Bedeutung der Belehrung oder Unterrichtung durch die zuständigen Behörden zu verstehen. Psychisch Kranke sind daher als schutzbedürftige Personen im Sinne dieser Bestimmung anzusehen, denn aufgrund schwerer psychischer Störungen besteht bei ihnen die Gefahr, dass sie die ihnen erteilte Rechtsbelehrung nicht verstehen. 48 Desgleichen müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 13 der Richtlinie 2013/48 bei deren Anwendung „die besonderen Bedürfnisse von schutzbedürftigen Verdächtigen und schutzbedürftigen beschuldigten Personen“ berücksichtigen. Auch wenn im 51. Erwägungsgrund dieser Richtlinie von Personen die Rede ist, „die sich in einer potenziell schwachen Position befinden“, und von „etwaige[n] Benachteiligungen, die die Fähigkeit der Personen beeinträchtigen, das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand und auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug wahrzunehmen“, ohne ausdrücklich klarzustellen, dass sich die Benachteiligungen aus ihrem geistigen Zustand ergeben können, ist angesichts der Zielsetzung der Richtlinie gleichwohl davon auszugehen, dass auch psychisch Kranke zu den von Art. 13 erfassten schutzbedürftigen Personen gehören. 49 Da die Richtlinie 2012/13 somit auf ein Verfahren wie das in den Art. 427 ff. der Strafprozessordnung vorgesehene Anwendung findet, ist auf die weitere Frage des vorlegenden Gerichts einzugehen, wann ein Verdächtiger gemäß Art. 3 der Richtlinie über seine Rechte belehrt werden muss. 50 Um Wirkung entfalten zu können, muss die Rechtsbelehrung in einem frühen Verfahrensstadium stattfinden. Nach ihrem Art. 2 gilt die Richtlinie „ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind“. Nach Art. 3 der Richtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, „dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend … über [die] Verfahrensrechte … belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen“. 51 Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 wird darauf hingewiesen, dass das Recht auf Rechtsbelehrung ab den ersten Verfahrensschritten für die Fairness des Strafverfahrens sorgen und die Wirksamkeit der Verteidigungsrechte gewährleisten soll. Wie aus Rn. 24 des der Richtlinie 2012/13 zugrunde liegenden Richtlinienvorschlags der Kommission vom 20. Juli 2010 (KOM[2010] 392 endgültig) hervorgeht, besteht im Zeitraum unmittelbar nach Beginn des Freiheitsentzugs das größte Risiko dafür, dass missbräuchlich Geständnisse erlangt werden, so dass es „unerlässlich [ist], dass Verdächtige oder Beschuldigte unmittelbar, d. h. ohne Verzögerung nach ihrer Festnahme, und möglichst wirksam … über [ihre Rechte] belehrt werden“. 52 Im Übrigen wird im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13 hervorgehoben, dass das Recht auf Rechtsbelehrung „spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei“ umgesetzt werden muss. Ferner heißt es im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2012/13: „Verdächtige oder beschuldigte Personen sollten bei ihrer Festnahme oder Inhaftierung über die anwendbaren Verfahrensrechte im Wege einer schriftlichen Erklärung der Rechte belehrt werden, die so gut verständlich abgefasst ist, dass sie diesen Personen dabei hilft, ihre Rechte zu verstehen. Eine solche Erklärung der Rechte sollte jeder festgenommenen Person umgehend ausgehändigt werden, wenn ihr durch das Eingreifen der Strafverfolgungsbehörden im Rahmen eines Strafverfahrens die Freiheit entzogen wird.“ 53 Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich, dass Personen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, ab dem Zeitpunkt, zu dem der gegen sie gerichtete Verdacht es in einem anderen Kontext als dem der Dringlichkeit rechtfertigt, dass die zuständigen Behörden ihre Freiheit durch Zwangsmaßnahmen einschränken, so schnell wie möglich und spätestens vor ihrer ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei über ihre Rechte belehrt werden müssen. 54 In Anbetracht dessen ist auf die erste, die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass die Richtlinien 2012/13 und 2013/48 dahin auszulegen sind, dass sie auf ein gerichtliches Verfahren Anwendung finden, das wie das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht. Die Richtlinie 2012/13 ist dahin auszulegen, dass Personen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, ab dem Zeitpunkt, zu dem der gegen sie gerichtete Verdacht es in einem anderen Kontext als dem der Dringlichkeit rechtfertigt, dass die zuständigen Behörden ihre Freiheit durch Zwangsmaßnahmen einschränken, so schnell wie möglich und spätestens vor ihrer ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei über ihre Rechte belehrt werden müssen. Zur zweiten und zur siebten Frage 55 Mit seiner zweiten und seiner siebten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das durch Art. 47 der Charta sowie durch Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 und durch Art. 12 der Richtlinie 2013/48 garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die ein Verfahren vorsieht, das aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, entgegensteht, weil diese Regelung dem zuständigen Gericht nicht die Prüfung ermöglicht, ob die in diesen Richtlinien genannten Verfahrensrechte in Verfahren beachtet wurden, die dem Verfahren, mit dem das Gericht befasst ist, vorausgingen und die keiner solchen gerichtlichen Kontrolle unterliegen. 56 Erstens ist zur Auslegung der Richtlinie 2012/13 festzustellen, dass ihr Art. 8 Abs. 2 verlangt, dass „Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten“. 57 Angesichts der Bedeutung des durch Art. 47 der Charta geschützten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf sowie des klaren, an keine Bedingungen geknüpften und präzisen Wortlauts von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 steht die letztgenannte Bestimmung jeder nationalen Maßnahme entgegen, die ein Hindernis für die Ausübung wirksamer Rechtsbehelfe im Fall der Verletzung der durch die Richtlinie geschützten Rechte darstellt. 58 Die gleiche Auslegung ist zweitens bei Art. 12 der Richtlinie 2013/48 geboten, wonach „Verdächtigen oder beschuldigten Personen in Strafverfahren … bei Verletzung ihrer Rechte nach dieser Richtlinie ein wirksamer Rechtsbehelf nach nationalem Recht zusteht“. 59 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs obliegen die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das darin vorgesehene Ziel zu erreichen, und ihre Pflicht gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 288 AEUV, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten einschließlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten, der Gerichte (Urteil vom 7. August 2018, Smith, C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Zur Erfüllung dieser Verpflichtung verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung von den nationalen Behörden, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 117, und vom 8. Mai 2019, Praxair MRC, C‑486/18, EU:C:2019:379, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). 61 Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts unterliegt jedoch bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteil vom 7. August 2018, Smith, C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu klären, ob es zu einer unionsrechtskonformen Auslegung der nationalen Regelung in der Lage ist. Insoweit genügt die Feststellung, dass das vorlegende Gericht nach den Angaben in der Vorlageentscheidung davon ausgeht, dass es trotz des Fehlens eines Rechtsbehelfs, der bei einem Antrag auf psychiatrische Unterbringung auf der Grundlage der Art. 427 ff. der Strafprozessordnung die Prüfung ermöglicht, ob das diesem Antrag vorangegangene Strafverfahren ordnungsgemäß abgelaufen ist, das allgemeine Strafverfahrensrecht entsprechend anwenden könnte, um eine solche Prüfung vorzunehmen und die Rechte des Betroffenen zu schützen. 63 Folglich sind Art. 47 der Charta sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 und Art. 12 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die ein gerichtliches Verfahren vorsieht, das aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, entgegenstehen, soweit diese Regelung dem zuständigen Gericht nicht die Prüfung ermöglicht, ob die in diesen Richtlinien genannten Verfahrensrechte in Verfahren beachtet wurden, die dem Verfahren, mit dem das Gericht befasst ist, vorausgingen und die keiner solchen gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Zur fünften Frage 64 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Schutz des Rechts auf Freiheit und Sicherheit im Sinne von Art. 6 der Charta und die in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 genannte Unschuldsvermutung dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art. 155 ff. des Gesundheitsgesetzes, wonach die psychiatrische Unterbringung einer Person zulässig ist, wenn sie angesichts ihres Gesundheitszustands eine Gefahr für ihre eigene Gesundheit oder die Gesundheit Dritter darstellt, entgegensteht, soweit diese Regelung dem mit einem solchen Antrag auf Unterbringung befassten Gericht nicht die Prüfung ermöglicht, ob diese Person in einem parallel gegen sie durchgeführten Strafverfahren in den Genuss der Verfahrensgarantien gekommen ist. 65 Wie aus den Art. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 hervorgeht, beschränken sich ihr Gegenstand und ihr Anwendungsbereich ausschließlich auf Strafverfahren. 66 Ein Verfahren zur psychiatrischen Unterbringung einer Person, wie es im vorliegenden Fall die Art. 155 ff. des Gesundheitsgesetzes vorsehen, gehört aber, wenn es unabhängig von einem Strafverfahren durchgeführt wird, aufgrund seiner therapeutischen Zielsetzung nicht zu den in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/343 fallenden Strafverfahren, selbst wenn mit ihm eine Gefahr für die Gesundheit des Betroffenen oder Dritter abgewendet werden soll. 67 Außerdem gibt es in den dem Gerichtshof unterbreiteten Unterlagen keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass ein Verfahren der zwangsweisen psychiatrischen Unterbringung zu therapeutischen Zwecken, wie es durch das Gesundheitsgesetz geschaffen wurde, eine Durchführung des Unionsrechts darstellt, so dass der fragliche Mitgliedstaat bei der Anwendung eines solchen Verfahrens nach Art. 51 Abs. 1 der Charta die durch sie gewährleisteten Grundrechte einhalten müsste. 68 Auf die fünfte Frage ist daher zu antworten, dass die Richtlinie 2016/343 und Art. 51 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass weder die Richtlinie noch diese Bestimmung der Charta auf ein gerichtliches Verfahren der psychiatrischen Unterbringung zu therapeutischen Zwecken, wie es die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art. 155 ff. des Gesundheitsgesetzes vorsehen, Anwendung findet, wenn sich das Verfahren darauf gründet, dass der Betroffene angesichts seines Gesundheitszustands eine Gefahr für seine eigene Gesundheit oder die Gesundheit Dritter darstellen könnte. Zur sechsten Frage 69 Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 aufgestellte Grundsatz der Unschuldsvermutung dahin auszulegen ist, dass er im Rahmen eines Verfahrens, das wie im Ausgangsverfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen zur psychiatrischen Unterbringung von Personen durchgeführt wird, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, verlangt, dass die Staatsanwaltschaft nachweist, dass die Person, deren Unterbringung begehrt wird, die Taten, von denen eine solche Gefahr ausgehen soll, begangen hat. 70 Die Richtlinie 2016/343 trat nach ihrem Art. 15 am 31. März 2016 in Kraft, und nach ihrem Art. 14 Abs. 1 lief die Frist für ihre Umsetzung am 1. April 2018 ab. Sie ist daher in zeitlicher Hinsicht auf das beim vorlegenden Gericht anhängige Verfahren anwendbar. 71 Überdies trifft es zwar zu, dass ein Verfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht dazu dient, die Schuld des Betroffenen zu ermitteln, sondern dazu, über seine zwangsweise psychiatrische Unterbringung zu entscheiden. Da diese freiheitsentziehende Maßnahme jedoch nicht ausschließlich auf therapeutischen Gründen beruht, sondern auch auf Sicherheitsgründen, ist ein solches Verfahren im Einklang mit den obigen Ausführungen zu den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 wegen seiner strafrechtlichen Zielsetzung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/343 einzubeziehen. Die Richtlinie 2016/343 ist somit auf ein Verfahren wie das in den Art. 427 ff. der Strafprozessordnung vorgesehene anwendbar. 72 Nach Art. 3 der Richtlinie 2016/343 stellen die Mitgliedstaaten sicher, „dass Verdächtige und beschuldigte Personen als unschuldig gelten, bis ihre Schuld rechtsförmlich nachgewiesen wurde“. Diese Verpflichtung ist von den zuständigen Behörden im Rahmen eines Verfahrens der psychiatrischen Unterbringung wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu beachten. Nach Art. 6 der Richtlinie trägt die Staatsanwaltschaft die Beweislast dafür, dass die gesetzlichen Kriterien für die psychiatrische Unterbringung einer Person erfüllt sind. 73 Ist in einem vorangegangenen Strafverfahren rechtskräftig nachgewiesen worden, dass die betreffende Person im Zustand geistiger Verwirrung eine Straftat begangen hat, verstößt es für sich genommen nicht gegen die in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 aufgestellte Unschuldsvermutung, wenn die Staatsanwaltschaft diese Gesichtspunkte zur Stützung ihres Antrags auf psychiatrische Unterbringung anführt. 74 In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens lassen diese Erwägungen jedoch die vom angerufenen Gericht vorzunehmende Prüfung, ob die in den Richtlinien 2012/13 und 2013/48 aufgeführten Verfahrensrechte während vorangegangener, keiner solchen gerichtlichen Kontrolle unterliegender Verfahren beachtet wurden, unberührt (siehe oben, Rn. 63). 75 Daher ist auf die sechste Frage zu antworten, dass der in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 aufgestellte Grundsatz der Unschuldsvermutung dahin auszulegen ist, dass er im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens, das wie im Ausgangsverfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen zur psychiatrischen Unterbringung von Personen durchgeführt wird, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, verlangt, dass die Staatsanwaltschaft nachweist, dass die Person, deren Unterbringung begehrt wird, die Taten, von denen eine solche Gefahr ausgehen soll, begangen hat. Kosten 76 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren und die Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs sind dahin auszulegen, dass sie auf ein gerichtliches Verfahren Anwendung finden, das wie das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Verfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht. Die Richtlinie 2012/13 ist dahin auszulegen, dass Personen, die im Verdacht stehen, eine Straftat begangen zu haben, ab dem Zeitpunkt, zu dem der gegen sie gerichtete Verdacht es in einem anderen Kontext als dem der Dringlichkeit rechtfertigt, dass die zuständigen Behörden ihre Freiheit durch Zwangsmaßnahmen einschränken, so schnell wie möglich und spätestens vor ihrer ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei über ihre Rechte belehrt werden müssen. 2. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2012/13 und Art. 12 der Richtlinie 2013/48 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die ein gerichtliches Verfahren vorsieht, das aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen die psychiatrische Unterbringung von Personen gestattet, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, entgegenstehen, soweit diese Regelung dem zuständigen Gericht nicht die Prüfung ermöglicht, ob die in diesen Richtlinien genannten Verfahrensrechte in Verfahren beachtet wurden, die dem Verfahren, mit dem das Gericht befasst ist, vorausgingen und die keiner solchen gerichtlichen Kontrolle unterliegen. 3. Die Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren und Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte sind dahin auszulegen, dass weder die Richtlinie noch diese Bestimmung der Charta der Grundrechte auf ein gerichtliches Verfahren der psychiatrischen Unterbringung zu therapeutischen Zwecken, wie es die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art. 155 ff. des Zakon za zdraveto (Gesundheitsgesetz) vorsehen, Anwendung findet, wenn sich das Verfahren darauf gründet, dass der Betroffene angesichts seines Gesundheitszustands eine Gefahr für seine eigene Gesundheit oder die Gesundheit Dritter darstellen könnte. 4. Der in Art. 3 der Richtlinie 2016/343 aufgestellte Grundsatz der Unschuldsvermutung ist dahin auszulegen, dass er im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens, das wie im Ausgangsverfahren aus therapeutischen Gründen und aus Sicherheitsgründen zur psychiatrischen Unterbringung von Personen durchgeführt wird, die im Zustand geistiger Verwirrung Taten begangen haben, aufgrund deren eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, verlangt, dass die Staatsanwaltschaft nachweist, dass die Person, deren Unterbringung begehrt wird, die Taten, von denen eine solche Gefahr ausgehen soll, begangen hat. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 21. Mai 2019.#Europäische Kommission gegen Ungarn.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 63 AEUV – Freier Kapitalverkehr – Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Eigentumsrecht – Nationale Regelung, kraft deren die Nießbrauchsrechte, die in der Vergangenheit von juristischen Personen oder von natürlichen Personen ohne nachgewiesenes nahes Angehörigenverhältnis zum Eigentümer an land‑ und forstwirtschaftlichen Flächen erworben wurden, ex lege und ohne Entschädigung erlöschen.#Rechtssache C-235/17.
62017CJ0235
ECLI:EU:C:2019:432
2019-05-21T00:00:00
Gerichtshof, Saugmandsgaard Øe
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62017CJ0235 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 21. Mai 2019 (*1) Inhalt I. Rechtlicher Rahmen A. Unionsrecht 1. Charta 2. Beitrittsakte von 2003 B. Ungarisches Recht II. Vorverfahren III. Zum Gegenstand der Klage IV. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs A. Vorbringen der Parteien B. Würdigung durch den Gerichtshof V. Zur Begründetheit A. Vorbringen der Parteien B. Würdigung durch den Gerichtshof 1. Zu Art. 49 AEUV 2. Zu Art. 63 AEUV und Art. 17 der Charta a) Zur Anwendbarkeit von Art. 63 AEUV und zum Vorliegen einer Beschränkung des freien Kapitalverkehrs b) Zur Rechtfertigung der Beschränkung des freien Kapitalverkehrs und zur Anwendbarkeit von Art. 17 der Charta 1) Zum Vorliegen einer Entziehung von Eigentum im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Charta 2) Zu den Rechtfertigungsgründen und den Gründen des öffentlichen Interesses i) Zur Rechtfertigung durch dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen betreffend die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen ii) Zur Rechtfertigung, es sei gegen die nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen verstoßen worden iii) Zur Rechtfertigung durch die zum Schutz der öffentlichen Ordnung erfolgende Bekämpfung von Praktiken zur Umgehung des nationalen Rechts iv) Zum Fehlen von Gründen des öffentlichen Interesses und einer Entschädigungsregelung im Sinne von Art. 17 der Charta c) Ergebnis Kosten „Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 63 AEUV – Freier Kapitalverkehr – Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Eigentumsrecht – Nationale Regelung, kraft deren die Nießbrauchsrechte, die in der Vergangenheit von juristischen Personen oder von natürlichen Personen ohne nachgewiesenes nahes Angehörigenverhältnis zum Eigentümer an land‑ und forstwirtschaftlichen Flächen erworben wurden, ex lege und ohne Entschädigung erlöschen“ In der Rechtssache C‑235/17 betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 5. Mai 2017, Europäische Kommission, vertreten durch L. Malferrari und L. Havas als Bevollmächtigte, Klägerin, gegen Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten, Beklagter, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten E. Regan und T. von Danwitz sowie der Richter A. Rosas, L. Bay Larsen, M. Safjan, D. Šváby, C. G. Fernlund, C. Vajda und S. Rodin, Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe, Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Juli 2018, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. November 2018 folgendes Urteil 1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission die Feststellung, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 49 und 63 AEUV sowie aus Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen hat, indem es insbesondere durch die seit dem 1. Januar 2013 in Kraft befindlichen Vorschriften des Termőföldről szóló 1994. évi LV. törvény (Gesetz Nr. LV von 1994 über Anbauflächen, im Folgenden: Gesetz von 1994 über Anbauflächen), durch die einschlägigen Vorschriften des Mező- és erdőgazdasági földek forgalmáról szóló 2013. évi CXXII. törvény (Gesetz Nr. CXXII von 2013 betreffend den Verkauf land- und forstwirtschaftlicher Flächen, im Folgenden: Gesetz von 2013 über landwirtschaftliche Flächen) sowie durch bestimmte Vorschriften des Mező- és erdőgazdasági földek forgalmáról szóló 2013. évi CXXII. törvénnyel összefüggő egyes rendelkezésekről és átmeneti szabályokról szóló 2013. évi CCXII. törvény (Gesetz Nr. CCXII von 2013 mit verschiedenen Vorschriften und Übergangsregelungen betreffend das Gesetz Nr. CXXII von 2013 betreffend den Verkauf land‑ und forstwirtschaftlicher Flächen, im Folgenden: Gesetz von 2013 betreffend die Übergangsregelungen) und durch § 94 Abs. 5 des Ingatlan-nyilvántartásról szóló 1997. évi CXLI. törvény (Gesetz Nr. CXLI von 1997 über das Grundbuch, im Folgenden: Gesetz über das Grundbuch) die Nießbrauchsrechte an land‑ und forstwirtschaftlichen Flächen offensichtlich unverhältnismäßig beschränkt hat. I. Rechtlicher Rahmen A. Unionsrecht 1. Charta 2 Art. 17 („Eigentumsrecht“) Abs. 1 der Charta lautet: „Jede Person hat das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.“ 3 Art. 51 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Charta bestimmt: „Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. …“ 4 In Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) Abs. 1 und 3 der Charta heißt es: „(1)   Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. … (3)   Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“ 2. Beitrittsakte von 2003 5 Anhang X der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33, im Folgenden: Beitrittsakte von 2003) trägt die Überschrift „Liste nach Artikel 24 der Beitrittsakte: Ungarn“. In Nr. 2 von Kapitel 3 („Freier Kapitalverkehr“) dieses Anhangs heißt es: „Unbeschadet der Verpflichtungen aus den Verträgen, auf die sich die Europäische Union gründet, kann Ungarn die Verbote des Erwerbs von landwirtschaftlichen Flächen durch natürliche Personen, die weder ihren Wohnsitz in Ungarn haben noch ungarische Staatsbürger sind, sowie durch juristische Personen gemäß seinen zum Zeitpunkt der Unterzeichnung dieser Akte geltenden Rechtsvorschriften nach dem Beitritt sieben Jahre lang beibehalten. Auf keinen Fall dürfen Staatsangehörige der Mitgliedstaaten oder juristische Personen, die gemäß den Gesetzen eines anderen Mitgliedstaats geschaffen wurden, beim Erwerb von landwirtschaftlichen Flächen ungünstiger als am Tag der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags behandelt werden. … Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats, die sich als selbstständige Landwirte niederlassen wollen, mindestens drei Jahre lang ununterbrochen ihren rechtmäßigen Wohnsitz in Ungarn hatten und dort mindestens drei Jahre lang ununterbrochen in der Landwirtschaft tätig waren, dürfen weder den Bestimmungen des vorstehenden Unterabsatzes noch anderen Regeln und Verfahren als denjenigen unterworfen werden, die für ungarische Staatsangehörige gelten. … Liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass bei Ablauf der Übergangsfrist der Markt für landwirtschaftliche Flächen in Ungarn ernsthaft gestört ist oder dass solche ernsthaften Störungen drohen, so entscheidet die Kommission auf Antrag Ungarns über eine Verlängerung der Übergangsfrist von bis zu drei Jahren.“ 6 Mit dem Beschluss 2010/792/EU der Kommission vom 20. Dezember 2010 zur Verlängerung des Übergangszeitraums für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen in Ungarn (ABl. 2010, L 336, S. 60) wurde die in Anhang X Kapitel 3 Nr. 2 der Beitrittsakte von 2003 vorgesehene Übergangsfrist bis zum 30. April 2014 verlängert. B. Ungarisches Recht 7 § 38 Abs. 1 des Földről szóló 1987. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 1987 über Grundbesitz) sah vor, dass natürliche Personen, die nicht die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen oder diese zwar besitzen, sich aber dauerhaft außerhalb Ungarns aufhalten, und juristische Personen, die ihren Sitz außerhalb Ungarns haben oder zwar in Ungarn haben, aber deren Kapital von natürlichen oder juristischen Personen gehalten wird, die außerhalb Ungarns ansässig sind, das Eigentum an Anbauflächen – sei es durch Kauf, Tausch oder Schenkung – nur nach vorheriger Genehmigung durch das Finanzministerium erwerben konnten. 8 Mit § 1 Abs. 5 der 171/1991 Korm. rendelet (Regierungsverordnung 171/1991) vom 27. Dezember 1991, die am 1. Januar 1992 in Kraft trat, wurde für Personen, die nicht die ungarische Staatsangehörigkeit besitzen, die Möglichkeit eines Erwerbs von Anbauflächen ausgeschlossen; dies galt nicht für Personen mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder für Personen mit Flüchtlingsstatus. 9 Mit dem Gesetz von 1994 über Anbauflächen wurde das Erwerbsverbot aufrechterhalten und auf juristische Personen ausgeweitet, und zwar unabhängig davon, ob sie ihren Sitz in Ungarn oder außerhalb Ungarns haben. 10 Dieses Gesetz wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2002 durch das Termőföldről szóló 1994. évi LV. törvény módosításáról szóló 2001. évi CXVII. Törvény (Gesetz Nr. CXVII von 2001 zur Änderung des Gesetzes Nr. LV von 1994 über Anbauflächen) geändert, um auch die Möglichkeit auszuschließen, vertraglich ein Nießbrauchsrecht an Anbauflächen zugunsten von natürlichen Personen ohne ungarische Staatsangehörigkeit oder juristischen Personen zu bestellen. § 11 Abs. 1 des Gesetzes von 1994 über Anbauflächen bestimmte nach diesen Änderungen: „Für die vertragliche Bestellung eines Nießbrauchsrechts und Nutzungsrechts gelten die Bestimmungen des Kapitels II über die Beschränkung des Eigentumserwerbs. …“ 11 § 11 Abs. 1 des Gesetzes von 1994 über Anbauflächen wurde in der Folge durch das Egyes agrár tárgyú törvények módosításáról szóló 2012. évi CCXIII. Törvény (Gesetz Nr. CCXIII von 2012 zur Änderung bestimmter Gesetze über die Landwirtschaft) geändert. In der neuen geänderten Fassung, die am 1. Januar 2013 in Kraft trat, bestimmte § 11 Abs. 1: „Das vertraglich bestellte Nießbrauchsrecht ist nichtig, es sei denn, die Bestellung erfolgte zugunsten eines nahen Verwandten.“ Durch das Gesetz Nr. CCXIII von 2012 wurde in das Gesetz von 1994 auch ein neuer § 91 Abs. 1 eingefügt, wonach „[a]m 1. Januar 2033 … kraft Gesetzes alle am 1. Januar 2013 bestehenden unbefristeten oder über den 30. Dezember 2032 hinaus befristeten Nießbrauchsrechte [erlöschen], die durch einen Vertrag zwischen Personen begründet worden sind, die keine nahen Angehörigen sind“. 12 Das Gesetz von 2013 über landwirtschaftliche Flächen wurde am 21. Juni 2013 erlassen und trat am 15. Dezember 2013 in Kraft. 13 § 37 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 über landwirtschaftliche Flächen beließ es bei der Regelung, dass ein vertraglich bestelltes Nießbrauchsrecht oder Nutzungsrecht an den genannten Flächen nichtig ist, es sei denn, die Bestellung erfolgte zugunsten eines nahen Angehörigen. 14 § 5 Nr. 13 des genannten Gesetzes enthält folgende Begriffsbestimmung: „‚nahe Angehörige‘: die Ehegatten, die Verwandten in gerader aufsteigender und absteigender Linie, die Adoptivkinder, die Kinder des Ehegatten, die Adoptiv‑, Schwieger- und Stiefeltern und die Geschwister“. 15 Das Gesetz von 2013 betreffend die Übergangsregelungen wurde am 12. Dezember 2013 erlassen und trat am 15. Dezember 2013 in Kraft. 16 § 108 Abs. 1 dieses Gesetzes, mit dem § 91 Abs. 1 des Gesetzes von 1994 über Anbauflächen aufgehoben wurde, bestimmt: „Am 1. Mai 2014 erlöschen kraft Gesetzes alle am 30. April 2014 bestehenden unbefristeten oder über den 30. April 2014 hinaus befristeten Nießbrauchsrechte oder Nutzungsrechte, die durch einen Vertrag zwischen Personen begründet worden sind, die keine nahen Angehörigen sind.“ 17 § 94 des Gesetzes über das Grundbuch bestimmt: „(1)   Im Hinblick auf die Löschung eines aufgrund der Bestimmungen von § 108 Abs. 1 [des Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen] erlöschenden Nießbrauchs- oder Nutzungsrechts (in diesem Paragrafen im Folgenden zusammen: Nießbrauchsrecht) aus dem Grundbuch muss eine nießbrauchsberechtigte natürliche Person auf die durch die Grundbuchbehörde spätestens bis zum 31. Oktober 2014 versandte Aufforderung hin binnen 15 Tagen nach deren Zustellung auf einem durch den Minister eingeführten Formular eine Erklärung über das Bestehen des nahen Angehörigenverhältnisses zwischen ihr und dem Grundstückseigentümer, der gemäß der für die Eintragung als Grundlage dienenden Urkunde das Nießbrauchsrecht bestellt hat, abgeben. Bei einem Versäumen dieser Frist ist nach dem 31. Dezember 2014 kein Antrag auf Wiedereinsetzung zulässig. … (3)   Wenn der Erklärung zufolge kein nahes Angehörigenverhältnis besteht oder innerhalb der Frist keine Erklärung abgegeben wird, löscht die Grundbuchbehörde das eingetragene Nießbrauchsrecht innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Frist zur Abgabe der Erklärung, spätestens bis zum 31. Juli 2015 von Amts wegen aus dem Grundbuch. … (5)   Die Grundbuchbehörde löscht spätestens am 31. Dezember 2014 von Amts wegen aus dem Grundbuch Nießbrauchsrechte, die zugunsten von juristischen Personen oder Einheiten eingetragen wurden, die keine Rechtspersönlichkeit haben, aber fähig sind, Rechte zu erwerben, die in das Register eingetragen werden können, und die gemäß § 108 Abs. 1 des [Gesetzes von 2013 über Übergangsregelungen] erloschen sind.“ II. Vorverfahren 18 Am 17. Oktober 2014 sandte die Kommission an Ungarn ein Mahnschreiben, da sie der Auffassung war, dass dieser Mitgliedstaat dadurch gegen die Art. 49 und 63 AEUV sowie gegen Art. 17 der Charta verstoßen habe, dass er in bestimmte Vorschriften des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen – u. a. in § 108 Abs. 1 dieses Gesetzes – Beschränkungen des Nießbrauchsrechts an landwirtschaftlichen Flächen aufgenommen hat. Ungarn antwortete mit Schreiben vom 18. Dezember 2014, in dem es die genannten Verstöße bestritt. 19 Am 19. Juni 2015 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie daran festhielt, dass Ungarn mit dem Erlöschen bestimmter Nießbrauchsrechte, das gemäß § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen mit Wirkung vom 1. Mai 2014 eingetreten sei, gegen die in der vorstehenden Randnummer genannten Vorschriften des Unionsrechts verstoßen habe. Ungarn antwortete mit Schreiben vom 9. Oktober 2015 und 18. April 2016, in denen es erklärte, dass die angeblichen Vertragsverletzungen nicht vorlägen. 20 Vor diesem Hintergrund hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben. III. Zum Gegenstand der Klage 21 Im Petitum der Klageschrift wirft die Kommission Ungarn unter Verweis auf diverse nationale Bestimmungen vor, die Nießbrauchsrechte an land‑ und forstwirtschaftlichen Flächen (im Folgenden: landwirtschaftliche Flächen) unionsrechtswidrig „beschränkt“ zu haben. Wie jedoch aus der mit Gründen versehenen Stellungnahme und der Klageschrift selbst hervorgeht, im Übrigen zwischen den Parteien unstrittig ist und auch durch die Ausführungen in der mündlichen Verhandlung – auf die der Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge Bezug nimmt – bestätigt worden ist, ergibt sich die von der Kommission im vorliegenden Fall monierte Beschränkung der Nießbrauchsrechte insbesondere aus dem Erlöschen dieser Rechte kraft § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen. Die anderen nationalen Bestimmungen, auf die im Petitum der Klageschrift Bezug genommen wird, werden im Petitum und in der Klageschrift selbst nur als Bestandteile des nationalen rechtlichen Rahmens, in den sich der genannte § 108 Abs. 1 einfügt, erwähnt, wobei diese Bestandteile für ein umfassendes Verständnis der Tragweite des genannten § 108 Abs. 1 unverzichtbar sind. 22 Somit ist die Klage der Kommission auf die Feststellung gerichtet, dass Ungarn durch den Erlass von § 108 Abs. 1 des Gesetzes von 2013 betreffend die Übergangsregelungen (im Folgenden: angefochtene Regelung) und durch das damit ex lege eintretende Erlöschen der Nießbrauchsrechte, die in der Vergangenheit an landwirtschaftlichen Flächen in Ungarn zugunsten von Personen bestellt wurden, die keine nahen Familienangehörigen sind, gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 49 und 63 AEUV sowie aus Art. 17 der Charta verstoßen hat. IV. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs A. Vorbringen der Parteien 23 Ungarn bringt zunächst vor, da mit den kraft der angefochtenen Regelung erloschenen Nießbrauchsverträgen die vor seinem Beitritt zur Union geltenden Verbote, Eigentum an landwirtschaftlichen Flächen zu erwerben, umgangen worden seien und die Nießbrauchsverträge deshalb von Anfang an, also bereits vor dem EU-Beitritt, nichtig gewesen seien, könnten weder die auf diese Weise missachteten Verbote oder deren Auswirkungen noch das spätere Erlöschen der fraglichen Nießbrauchsrechte kraft der angefochtenen Regelung anhand des Unionsrechts beurteilt werden. Der Gerichtshof sei nämlich für die Auslegung dieses Rechts nicht zuständig, wenn sich der Sachverhalt des Rechtsstreits vor dem Beitritt des betreffenden Mitgliedstaats zur Union zugetragen habe. 24 Demgegenüber macht die Kommission geltend, dass das Unionsrecht in den neuen Mitgliedstaaten sofort anwendbar sei und dass Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits eine im Jahr 2013 erlassene nationale Regelung sei – nach der am 1. Mai 2014 die zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden und in die Grundbücher eingetragenen Nießbrauchsrechte ex lege erloschen seien –, und nicht die Rechtmäßigkeit von vor dem Beitritt Ungarns zur Union geschlossenen Nießbrauchsverträgen. Außerdem habe Ungarn in seiner Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme ausdrücklich anerkannt, dass die ungarischen Gerichte keinen einzigen Nießbrauchsvertrag für nichtig erklärt hätten. B. Würdigung durch den Gerichtshof 25 Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof für die Auslegung des Unionsrechts in Bezug auf seine Anwendung in einem neuen Mitgliedstaat ab dem Zeitpunkt des Beitritts dieses Staates zur Union zuständig (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 26 Im vorliegenden Fall bestanden – wie von der Kommission geltend gemacht – die von der angefochtenen Regelung betroffenen Nießbrauchsrechte am 30. April 2014 noch, und ihr Erlöschen und ihre anschließende Löschung aus dem Grundbuch erfolgten aufgrund der angefochtenen Regelung (die fast zehn Jahre nach dem Beitritt Ungarns zur Union erlassen wurde) und nicht aufgrund nationaler Regelungen, die bereits vor dem Beitrittsdatum in Kraft gewesen wären und alle ihre Auswirkungen in Bezug auf diese Nießbrauchsrechte entfaltet hätten. 27 Folglich ist das Vorbringen Ungarns, wonach der Gerichtshof unzuständig sei, zurückzuweisen. V. Zur Begründetheit A. Vorbringen der Parteien 28 Die Kommission bringt als Erstes vor, dass die angefochtene Regelung je nach den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls geeignet sei, sowohl die Niederlassungsfreiheit als auch den freien Kapitalverkehr zu beschränken und somit sowohl gegen Art. 49 AEUV als auch gegen Art. 63 AEUV zu verstoßen. 29 Als Zweites würden durch diese Regelung Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten als Ungarn mittelbar diskriminiert, da die Bestellung eines Nießbrauchs zwischen 1992 und 2002 der einzige Weg für sie gewesen sei, in landwirtschaftliche Flächen in Ungarn zu investieren, und es darüber hinaus selten sei, dass diese Staatsangehörigen enge Verwandte hätten, die solche Flächen besäßen und von denen sie ein Nießbrauchsrecht an diesen Flächen hätten erwerben können. Unter diesen Voraussetzungen könne die angefochtene Regelung nicht auf der Grundlage von Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV oder aus in der Rechtsprechung anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden. 30 Als Drittes seien für den Fall, dass solche Rechtfertigungsgründe denkbar seien, die von Ungarn geltend gemachten Rechtfertigungsgründe im vorliegenden Fall nicht zulässig und entspreche die angefochtene Regelung nicht den Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. 31 Was erstens die verschiedenen agrarpolitischen Zielsetzungen – die in der Präambel des Gesetzes von 2013 über landwirtschaftliche Flächen genannt werden und vom Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht, Ungarn) in seinem Urteil Nr. 25 vom 21. Juli 2015 aufgegriffen wurden und die darin bestehen sollen, sicherzustellen, dass landwirtschaftliche Anbauflächen nur den natürlichen Personen gehören, die sie bewirtschaften, und nicht der Spekulation dienen, die Zerstückelung von Agrarflächen zu verhindern und weiterhin eine Landbevölkerung und eine nachhaltige Landwirtschaft zu haben sowie Betriebe zu schaffen, die aufgrund ihrer Größe lebensfähig und wettbewerbsfähig sind – anbelangt, vertritt die Kommission die Auffassung, dass sie keine Behinderung des freien Kapitalverkehrs rechtfertigten. 32 Jedenfalls seien die fraglichen Beschränkungen weder geeignet noch kohärent oder erforderlich, um die angestrebten Zielsetzungen zu erreichen. 33 Was zweitens die Zielsetzung, rechtswidrige Zustände zu legalisieren, die sich aus dem Erwerb von Nießbrauchsrechten durch Gebietsfremde ergäben, die nicht über die Devisengenehmigung der ungarischen Nationalbank verfügt hätten, die nach dem Gesetz Nr. XCV von 1995 über die Devisen bis zum 16. Juni 2001 erforderlich gewesen sei, betrifft, macht die Kommission geltend, dass seit dem Beitritt Ungarns zur Union eine solche Genehmigungspflicht eine durch das Unionsrecht verbotene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit darstelle. Im Übrigen habe Ungarn während des Vorverfahrens eingeräumt, dass es keine Entscheidung eines ungarischen Gerichts gebe, wonach ein ohne Devisengenehmigung erworbenes Nießbrauchsrecht nichtig sein könne. 34 Was drittens die Zielsetzung des Erlöschens von Nießbrauchsrechten, die vor dem 1. Januar 2002 von gebietsfremden natürlichen Personen oder von juristischen Personen erworben wurden, die dadurch das Eigentumserwerbsverbot rechtswidrigerweise umgangen hätten, anbelangt, vertritt die Kommission die Ansicht, dass die Tatsache, dass ein Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats als Ungarn beschließe, für die Investition in landwirtschaftliche Flächen oder für die Niederlassung in Ungarn einen nach dem Recht dieses Mitgliedstaats verfügbaren Rechtstitel zu wählen, eine bloße Ausübung der in den Art. 49 und 63 AEUV garantierten Freiheiten darstelle und daher nicht als Missbrauch gewertet werden könne. 35 Außerdem belege Ungarn seine Behauptung nicht, dass alle von der angefochtenen Regelung betroffenen Nießbrauchsverträge in missbräuchlicher Weise geschlossen worden seien. Ungarn führe insbesondere nicht aus, warum dies bei Verträgen von Beschwerdeführern, die die Kommission dem Gerichtshof vorgelegt habe, der Fall sein könnte, und verweise auch auf keinen Vertrag, der gerichtlich für unzulässig erklärt worden sei. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass in bestimmten Fällen das Nießbrauchsrecht zur Umgehung der geltenden Regelung bestellt worden sei, könnte diese Feststellung auf keinen Fall zu der allgemeinen Annahme führen, dass jede Person, die ein solches Recht bestellt habe, in Umgehungsabsicht gehandelt habe. 36 Als Viertes vertritt die Kommission die Ansicht, dass die angefochtene Regelung gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstoße. Diese Grundsätze hätten nämlich zur Folge, dass es im Fall der Abschaffung von Rechtstiteln, die es ihren Inhabern ermöglichten, eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, nicht verhältnismäßig und gerechtfertigt wäre, einen Übergangszeitraum von nur viereinhalb Monaten vorzusehen und dadurch gleichzeitig den 20‑jährigen Übergangszeitraum abzuschaffen, der weniger als ein Jahr zuvor eingeführt worden sei. Es stehe ebenfalls im Widerspruch zu diesen Grundsätzen, dass es nicht vorgesehen sei, dass die Betroffenen unter vorher festgelegten Bedingungen für den Verlust der gezahlten Gegenleistung, die Abwertung der getätigten Investitionen und den entgangenen Gewinn individuell entschädigt würden. 37 Als Fünftes macht die Kommission geltend, die Charta sei im vorliegenden Fall anwendbar, weil die angefochtene Regelung die Niederlassungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr behindere und Ungarn dies mit zwingenden Gründen des Allgemeininteresses rechtfertige. 38 Die angefochtene Regelung verstoße gegen Art. 17 der Charta. Das Erlöschen der fraglichen Nießbrauchsrechte stelle nämlich eine Entziehung des Eigentums dar, und zwar sowohl im Sinne dieses Artikels als auch im Sinne von Art. 1 des Protokolls Nr. 1 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet wurde (im Folgenden: EMRK). 39 Die Entziehung der Nießbrauchsrechte tausender nicht ungarischer Staatsangehöriger sei im vorliegenden Fall durch keinen zulässigen Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt, und selbst wenn dem so sein sollte, wäre das Erlöschen der Nießbrauchsrechte insbesondere unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen nicht verhältnismäßig. Zudem sehe die angefochtene Regelung keine Entschädigung vor, die nach Art. 17 der Charta zwingend sei und durch die die Entziehung dinglicher Rechte von erheblichem wirtschaftlichem Wert mit wirksamen Mitteln ausgeglichen werden solle. 40 Schließlich hätten die Betroffenen in gutem Glauben gehandelt, indem sie eine Investitionsmöglichkeit genutzt hätten, die ihnen der bestehende Rechtsrahmen geboten habe, und sowohl die Praxis der für die Grundbucheintragung zuständigen Verwaltungsbehörden als auch die Praxis der Gerichte hätten die Rechtmäßigkeit der betreffenden Nießbrauchsverträge bestätigt. 41 Demgegenüber bestreitet Ungarn jegliche Behinderung der Niederlassungsfreiheit. Aus dem Urteil Nr. 25 des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) vom 21. Juli 2015 gehe hervor, dass den Inhabern der betreffenden Nießbrauchsrechte kein Vermögensschaden entstanden sei, da ihnen dem Alkotmánybíróság zufolge durch das ungarische Zivilrecht im Allgemeinen hinreichend die Möglichkeit gewährt werde, ihre Interessen im Rahmen einer Abrechnung zwischen den Parteien geltend zu machen. Die Inhaber der Nießbrauchsrechte könnten außerdem das Grundstück in Zukunft weiterbewirtschaften, indem sie mit Zustimmung des Eigentümers das Eigentum am Grundstück erwerben oder einen Pachtvertrag abschließen würden. Was den freien Kapitalverkehr anbelange, könne keine Beschränkung festgestellt werden, denn nach der angefochtenen Regelung werde nur einer der Titel zur Bewirtschaftung von Ackerland an das Bestehen eines nahen Angehörigenverhältnisses geknüpft, während Kauf und Pacht weiterhin möglich seien. 42 Darüber hinaus bestreitet Ungarn das Bestehen einer mittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, da die angefochtene Regelung ungarische und Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten gleichermaßen betroffen habe, was dadurch belegt werde, dass von den mehr als 100000 von dieser Regelung erfassten Personen nur 5058 Angehörige anderer Staaten, einschließlich Drittstaatsangehöriger, gewesen seien. Die Tatsache, dass die Ausnahme für nahe Angehörigenverhältnisse typischerweise ungarischen Staatsangehörigen zugutekomme, sei darauf zurückzuführen, dass es um in Ungarn gelegene Grundstücke gehe, deren Eigentümer in der Regel Ungarn seien. Diese Ausnahme trage dem Rechnung, dass Eltern häufig für ihre Kinder Immobilien kauften, an denen sie sich ein Nießbrauchsrecht einräumen ließen, und der überlebende Ehepartner oft ein solches Recht erbe. 43 Für den Fall, dass eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs festgestellt wird, hält Ungarn diese zunächst durch die in Rn. 31 des vorliegenden Urteils genannten agrarpolitischen Zielsetzungen für gerechtfertigt. 44 Des Weiteren macht Ungarn geltend, dass die von Anfang an bestehende Rechtswidrigkeit der betreffenden Nießbrauchsverträge vom Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) anerkannt worden sei, der in seinem Urteil Nr. 25 vom 21. Juli 2015 festgestellt habe, dass die Zielsetzung der angefochtenen Regelung insbesondere darin bestehe, sicherzustellen, dass das Grundbuch der neuen Regelung für landwirtschaftliche Flächen entsprechende Rechtsverhältnisse widerspiegele, und die Rechtswirkungen einer Praxis zu beseitigen, die zu einer funktionswidrigen Anwendung des Nießbrauchsrechts geführt habe. 45 Für den Fall, dass sich die Parteien für eine andere Vertragsart als die ihrer wahren Absicht entsprechende entschieden, ergebe sich aus § 207 Abs. 6 des A polgári törvénykönyvről szóló 1959. évi IV. törvény (Gesetz Nr. IV von 1959 zur Einführung des Zivilgesetzbuchs), dass der Vertrag fiktiv und nichtig sei. 46 Angesichts der großen Zahl von Nießbrauchsrechten, die Gebietsfremde auf verschiedene Art und Weise in der Hoffnung erworben hätten, dass sie nach dem Beitritt Ungarns zur Union oder nach dem Wegfall der rechtlichen Hindernisse eines Tages das Eigentum an den betreffenden Flächen erwerben könnten – wobei das Erlöschen der Nießbrauchsrechte unter den Begriff der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV fallen könnte –, habe der nationale Gesetzgeber aus haushaltstechnischen und prozessökonomischen Gründen das Erlöschen dieser Rechte und ihre Löschung aus dem Grundbuch auf Ebene der Gesetzgebung beschlossen, um zu verhindern, dass sie einzeln vor Gericht angefochten würden. 47 Schließlich vertritt Ungarn die Ansicht, dass die angefochtene Regelung auch durch den Wunsch gerechtfertigt sei, der Rechtswidrigkeit von Nießbrauchsverträgen ein Ende zu setzen, die ohne die nach dem Gesetz Nr. XCV von 1995 erforderliche Devisengenehmigung geschlossen worden seien. 48 Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit und Notwendigkeit der Beschränkung des Eigentumsrechts habe der Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) in seinem Urteil Nr. 25 vom 21. Juli 2015 entschieden, dass das Erlöschen der betreffenden Nießbrauchsrechte keine Enteignung darstelle, denn die betreffenden Rechte seien vertraglicher Natur und könnten daher im Allgemeininteresse durch Rechtsvorschriften eingeschränkt werden und das genannte Erlöschen führe weder zum Erwerb eines Rechts durch den Staat noch zur Entstehung eines neuen dinglichen Rechts zugunsten eines anderen Rechtssubjekts. Darüber hinaus stehe diese Maßnahme im Allgemeininteresse, da das Grundstück des Eigentümers entlastet werde und nunmehr aufgrund sozialer Zwänge Verpflichtungen in Bezug auf Anbauflächen unterworfen sei. 49 Was den kurzen Übergangszeitraum anbelange, so gebe es kein berechtigtes Vertrauen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer auf Beibehaltung der bisherigen Regelung, da vorhersehbar gewesen sei, dass sie sich durch Ablauf des sich aus der Beitrittsakte von 2003 ergebenden Moratoriums für den Erwerb von Grundstücken ändern werde. 50 Im Übrigen macht Ungarn geltend, dass eine gesonderte Prüfung der angefochtenen Regelung im Licht der Charta nicht erforderlich sei und dass jedenfalls aus dem Urteil Nr. 25 des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) vom 21. Juli 2015 hervorgehe, dass das Erlöschen der betreffenden Nießbrauchsrechte keine Enteignung darstelle und zudem durch das Allgemeininteresse gerechtfertigt sei, während die zivilrechtlichen Vorschriften es dem ehemaligen Nießbraucher ermöglichten, eine angemessene, umfassende und rechtzeitige Entschädigung für die entstandenen Verluste zu erhalten. Darüber hinaus sei Art. 17 der Charta im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da die erloschenen Nießbrauchsverträge auf rechtswidrige und bösgläubige Weise geschlossen worden seien. B. Würdigung durch den Gerichtshof 1. Zu Art. 49 AEUV 51 In Bezug auf den Antrag der Kommission auf Feststellung, dass Ungarn gegen seine Pflichten aus Art. 49 AEUV verstoßen habe, ist darauf hinzuweisen, dass das Recht, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats Immobilien zu erwerben, zu nutzen und darüber zu verfügen, wenn es ergänzend zum Niederlassungsrecht ausgeübt wird, zu Kapitalverkehr führt (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 54). 52 Wie die Kommission unter Bezugnahme auf den Fall von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten als Ungarn, die in diesem Mitgliedstaat eine landwirtschaftliche Tätigkeit ausüben und zu diesem Zweck unmittelbar oder mittelbar ein Nießbrauchsrecht an landwirtschaftlichen Flächen erworben haben, geltend gemacht hat, stellt das Nießbrauchsrecht in einem solchen Fall eine Ergänzung zur Ausübung des Niederlassungsrechts der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten dar. 53 Wenngleich die angefochtene Regelung daher grundsätzlich sowohl in den Anwendungsbereich von Art. 49 AEUV als auch von Art. 63 AEUV fallen kann, ändert dies jedoch nichts daran, dass im vorliegenden Fall die sich durch die angefochtene Regelung ergebende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, die von der Kommission in ihrer Klage behauptet wird, die unmittelbare Folge der Beschränkung des freien Kapitalverkehrs wäre, die sie in ihrer Klage ebenfalls rügt. Da die erste angebliche Beschränkung somit untrennbar mit der zweiten verbunden ist, braucht die angefochtene Regelung nicht im Licht von Art. 49 AEUV geprüft zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Juni 2002, Kommission/Portugal, C‑367/98, EU:C:2002:326, Rn. 56, vom 13. Mai 2003, Kommission/Spanien, C‑463/00, EU:C:2003:272, Rn. 86, sowie vom 10. November 2011, Kommission/Portugal, C‑212/09, EU:C:2011:717, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung). 2. Zu Art. 63 AEUV und Art. 17 der Charta a) Zur Anwendbarkeit von Art. 63 AEUV und zum Vorliegen einer Beschränkung des freien Kapitalverkehrs 54 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Kapitalverkehr Vorgänge umfasst, durch die Personen im Gebiet eines Mitgliedstaats, in dem sie nicht ihren Wohnsitz haben, Investitionen in Immobilien tätigen; dies ergibt sich aus der Nomenklatur für den Kapitalverkehr in Anhang I der Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages [der durch den Vertrag von Amsterdam aufgehoben wurde] (ABl. 1988, L 178, S. 5), die ihren Hinweischarakter für die Definition des Begriffs des Kapitalverkehrs behält (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 56 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Unter diesen Begriff fallen u. a. Immobilieninvestitionen, die den Erwerb eines Nießbrauchs an Flächen betreffen, wie sich insbesondere der Angabe in den Begriffsbestimmungen in Anhang I der Richtlinie 88/361 entnehmen lässt, wonach die Kategorie der von ihr erfassten Immobilieninvestitionen den Erwerb von Nießbrauchsrechten an bebauten und unbebauten Grundstücken einschließt (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 57). 56 Im vorliegenden Fall erlöschen kraft der angefochtenen Regelung die zuvor an landwirtschaftlichen Flächen erworbenen Nießbrauchsrechte, wenn die Inhaber dieser Rechte die Voraussetzung, von der die nationalen Rechtsvorschriften den Erwerb dieser Rechte nunmehr abhängig machen, nicht erfüllen, nämlich das Bestehen eines nahen Angehörigenverhältnisses zwischen dem Erwerber des Nießbrauchsrechts und dem Eigentümer der betreffenden Flächen. 57 Fest steht auch, dass sich unter den auf diese Weise von der angefochtenen Regelung betroffenen Inhabern von Nießbrauchsrechten zahlreiche Angehörige anderer Mitgliedstaaten als Ungarn finden, die diese Rechte entweder unmittelbar oder mittelbar über eine in Ungarn ansässige juristische Person erworben haben. 58 Indem die angefochtene Regelung jedoch ex lege das Erlöschen der Nießbrauchsrechte vorsieht, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten als Ungarn an landwirtschaftlichen Flächen innehaben, beschränkt sie bereits dadurch – also schon allein aufgrund ihres Gegenstands – das Recht der Betroffenen auf den durch Art. 63 AEUV garantierten freien Kapitalverkehr. Durch die angefochtene Regelung wird den Betroffenen nämlich sowohl die Möglichkeit genommen, ihr Nießbrauchsrecht weiterhin auszuüben, indem sie u. a. daran gehindert werden, die betreffenden Flächen zu nutzen und zu bewirtschaften oder zu verpachten und auf diese Weise gewinnbringend zu nutzen, als auch die Möglichkeit, dieses Recht zu veräußern, indem es beispielsweise dem Eigentümer rückübertragen wird. Die angefochtene Regelung ist zudem geeignet, Gebietsfremde künftig von Investitionen in Ungarn abzuhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 62 bis 66). b) Zur Rechtfertigung der Beschränkung des freien Kapitalverkehrs und zur Anwendbarkeit von Art. 17 der Charta 59 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Maßnahme wie die angefochtene Regelung, die den freien Kapitalverkehr beschränkt, nur dann zulässig, wenn sie aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und verhältnismäßig ist, was bedeutet, dass sie geeignet sein muss, die Erreichung der legitimerweise verfolgten Zielsetzung zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was hierzu erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. November 2010, Kommission/Portugal, C‑543/08, EU:C:2010:669, Rn. 83). 60 Ebenso kann eine solche Maßnahme aus den in Art. 65 AEUV genannten Gründen gerechtfertigt sein, sofern sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 77 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 61 Insoweit ist außerdem darauf hinzuweisen, dass eine nationale Regelung nur dann geeignet ist, die Erreichung der angeführten Zielsetzung zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 78 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Vorliegend hat Ungarn geltend gemacht, dass die angefochtene Regelung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sei, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt seien, und zwar durch Zielsetzungen der fachgerechten Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen, und durch Gründe, die unter Art. 65 AEUV fielen. Hinsichtlich dieses Artikels beruft sich Ungarn zum einen darauf, dass es Verstöße gegen die nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen abstellen wolle, und zum anderen darauf, dass es aus Gründen des Schutzes der öffentlichen Ordnung missbräuchliche Erwerbspraktiken bekämpfen wolle. 63 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die durch die Charta garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden und daher auch zu beachten sind, wenn eine nationale Regelung in den Geltungsbereich dieses Rechts fällt (vgl. u. a. Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19 bis 21, und vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis, C‑201/15, EU:C:2016:972, Rn. 62). 64 Dies ist namentlich der Fall, wenn eine nationale Regelung geeignet ist, eine oder mehrere durch den AEU-Vertrag garantierte Grundfreiheiten zu beeinträchtigen, und der betreffende Mitgliedstaat sich auf unter Art. 65 AEUV fallende Gründe und auf unionsrechtlich anerkannte zwingende Gründe des Allgemeininteresses beruft, um eine solche Beeinträchtigung zu rechtfertigen. Unter diesen Umständen können nach ständiger Rechtsprechung Ausnahmen für die betreffende nationale Regelung nur dann gelten, wenn sie im Einklang mit den Grundrechten steht, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juni 1991, ERT, C‑260/89, EU:C:1991:254, Rn. 43, vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland, C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 108 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis, C‑201/15, EU:C:2016:972, Rn. 63). 65 Nimmt ein Mitgliedstaat im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen in Anspruch, um eine Beschränkung einer durch den Vertrag garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen, muss dies – wie der Gerichtshof bereits entschieden hat – als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta angesehen werden (Urteil vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis, C‑201/15, EU:C:2016:972, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 66 Wie aber in den Rn. 58 und 62 des vorliegenden Urteils festgestellt, stellt die angefochtene Regelung im vorliegenden Fall eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar und macht Ungarn zur Rechtfertigung dieser Beschränkung zwingende Gründe des Allgemeininteresses und unter Art. 65 AEUV fallende Gründe geltend. Unter diesen Umständen ist die Vereinbarkeit der angefochtenen Regelung mit dem Unionsrecht unter Berücksichtigung sowohl der sich aus dem Vertrag und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden Ausnahmen als auch der durch die Charta garantierten Grundrechte zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis, C‑201/15, EU:C:2016:972, Rn. 65, 102 und 103), zu denen das durch Art. 17 der Charta garantierte Eigentumsrecht gehört, dessen Verletzung die Kommission im vorliegenden Fall behauptet. 1) Zum Vorliegen einer Entziehung von Eigentum im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Charta 67 Nach Art. 17 Abs. 1 der Charta hat jede Person das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Außerdem kann die Nutzung des Eigentums gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist. 68 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 17 der Charta – wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat – eine Rechtsnorm darstellt, die Einzelnen Rechte verleihen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 66). 69 Was die in Art. 17 Abs. 1 der Charta genannten materiellen Voraussetzungen betrifft, ergibt sich als Erstes aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass sich der durch diese Bestimmung gewährte Schutz auf vermögenswerte Rechte bezieht, aus denen sich im Hinblick auf die betreffende Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht (Urteile vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 34, sowie vom 3. September 2015, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission, C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 60). 70 Entgegen den von Ungarn in der mündlichen Verhandlung hierzu gemachten Ausführungen ist jedoch offenkundig, dass Nießbrauchsrechte an Immobilien wie die fraglichen, insofern als sie ihrem Inhaber die Nutzung und den Nießbrauch dieser Immobilien erlauben, einen Vermögenswert haben und dem Inhaber eine erworbene Rechtsposition verleihen, die die autonome Ausübung dieser Nutzungs- und Nießbrauchsrechte ermöglicht, und zwar selbst dann, wenn die Übertragbarkeit dieser Rechte nach dem anwendbaren nationalen Recht eingeschränkt oder ausgeschlossen wäre. 71 Der vertragliche Erwerb solcher Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen ist nämlich grundsätzlich mit der Zahlung eines Preises verbunden. Diese Rechte ermöglichen es ihren Inhabern, diese Flächen insbesondere zu wirtschaftlichen Zwecken zu nutzen oder sie gegebenenfalls an Dritte zu verpachten, und fallen somit in den Anwendungsbereich von Art. 17 Abs. 1 der Charta. 72 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 1 des Protokolls Nr. 1 zur EMRK, die nach Art. 52 Abs. 3 der Charta bei der Auslegung ihres Art. 17 als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 37, vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 49, sowie vom 12. Februar 2019, TC, C‑492/18 PPU, EU:C:2019:108, Rn. 57), dass Nutzungs‑ oder Nießbrauchsrechte an Immobilien unter den Begriff des „Eigentums“ fallen und somit vom Schutz nach dem genannten Art. 1 erfasst sind (vgl. u. a. Urteile des EGMR vom 12. Dezember 2002, Wittek/Deutschland, CE:ECHR:2002:1212JUD003729097, §§ 43 bis 46, vom 16. November 2004, Bruncrona/Finnland, CE:ECHR:2004:1116JUD004167398, § 78, sowie vom 9. Februar 2006, Athanasiou u. a./Griechenland, CE:ECHR:2006:0209JUD000253102, § 22). 73 Als Zweites sind die kraft der angefochtenen Regelung erloschenen Nießbrauchsrechte entgegen dem Vorbringen Ungarns als „rechtmäßig erworben“ im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Charta anzusehen. 74 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass – wie aus den Rn. 8 und 9 des vorliegenden Urteils hervorgeht – die 1991 und 1994 eingeführten Gesetzesänderungen zum Verbot des Erwerbs von landwirtschaftlichen Flächen durch natürliche Personen ohne ungarische Staatsangehörigkeit und durch juristische Personen nicht den Erwerb von Nießbrauchsrechten an solchen Flächen betrafen. Das Gesetz von 1994 über Anbauflächen wurde nämlich erst zum 1. Januar 2002 dahin geändert, dass es auch ausgeschlossen ist, vertraglich ein Nießbrauchsrecht an landwirtschaftlichen Flächen zugunsten dieser natürlichen oder juristischen Personen zu bestellen. 75 Die von der angefochtenen Regelung betroffenen Nießbrauchsrechte wurden somit an landwirtschaftlichen Flächen zu einem Zeitpunkt bestellt, zu dem die Bestellung dieser Rechte nicht durch die geltenden nationalen Rechtsvorschriften verboten war. 76 Des Weiteren hat Ungarn weder nachgewiesen, dass mit den von ihm geltend gemachten nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen der Erwerb von Nießbrauchsrechten durch Gebietsfremde von einer Devisengenehmigung bei sonstiger Nichtigkeit des Erwerbs abhängig gemacht werden sollte, noch dass die von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten erworbenen und kraft der angefochtenen Regelung erloschenen Nießbrauchsrechte nach dem anwendbaren nationalen Recht wegen Umgehung der auf den Erwerb des Eigentums an landwirtschaftlichen Flächen anwendbaren Vorschriften von vornherein nichtig waren. 77 Insoweit gibt es – wie von der Kommission festgestellt und von Ungarn im Vorverfahren eingeräumt – keine gerichtliche Entscheidung, durch die die Nichtigkeit solcher Nießbrauchsrechte festgestellt worden wäre. Dagegen hat die Kommission vor dem Gerichtshof auf ein Urteil der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) vom 26. Januar 2010 verwiesen, aus dessen Begründung eindeutig hervorgeht, dass die bloße Bestellung eines Nießbrauchsrechts an einer landwirtschaftlichen Fläche nicht bedeutet, dass die Parteien beabsichtigten, die auf den Verkauf solcher Flächen anwendbaren Vorschriften zu umgehen. 78 Außerdem scheint aus dem Urteil Nr. 25 des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) vom 21. Juli 2015 zwar hervorzugehen, dass die angefochtene Regelung zumindest zum Teil darauf gerichtet war, die Rechtswirkungen einer Praxis des Erwerbs von landwirtschaftlichen Flächen, bei der das Nießbrauchsrecht angeblich „funktionswidrig“ angewandt wurde, zu beseitigen, jedoch bedeutet dies nicht, dass alle betroffenen Inhaber von Nießbrauchsrechten missbräuchlich handelten. Im genannten Urteil wird zudem darauf hingewiesen, dass mit der angefochtenen Regelung den betreffenden Nießbrauchsrechten für die Zukunft ein Ende gesetzt wurde, ohne jedoch ein früheres Verhalten als rechtswidrig einzustufen. 79 Schließlich ist unstrittig, dass die auf diese Weise von Gebietsfremden erworbenen Nießbrauchsrechte von den zuständigen ungarischen Behörden systematisch in die Grundbücher eingetragen wurden. Wie jedoch beide Parteien anerkennen, setzt diese Eintragung voraus, dass es sich bei der entsprechenden Urkunde entweder um eine öffentliche Urkunde oder um eine von einem Rechtsanwalt gegengezeichnete Privaturkunde handelt, und hat gemäß § 5 des Gesetzes über das Grundbuch zur Folge, dass die betreffenden Immobilienangaben bis zum Beweis des Gegenteils gelten. Die Kommission hat zudem – ohne Widerspruch seitens Ungarns – darauf hingewiesen, dass eine solche Eintragung nach § 3 des Gesetzes über das Grundbuch in der bis zum 15. März 2014 geltenden Fassung konstitutiv war. 80 Somit steht fest, dass die Betroffenen diese Rechte in der Regel ungestört ausüben konnten, indem sie als Nießbraucher handelten, und zwar mitunter seit vielen Jahren. Bestärkt wurden sie in Bezug auf die mit ihren Titeln verbundene Rechtssicherheit zunächst durch die Eintragung der Titel in die Grundbücher, des Weiteren dadurch, dass die nationalen Behörden innerhalb einer angemessenen Frist keine Handlungen setzten, um diese Titel für nichtig zu erklären und ihre Eintragung in den Grundbüchern zu löschen, und schließlich dadurch, dass das Bestehen dieser Titel durch Gesetz bestätigt wurde, da nämlich durch das etwas mehr als ein Jahr vor der angefochtenen Regelung erlassene Gesetz Nr. CCXIII von 2012 die Aufrechterhaltung dieser Titel bis zum 1. Januar 2033 angeordnet wurde. 81 Als Drittes stellen die betreffenden Nießbrauchsrechte – wie der Generalanwalt in den Nrn. 136 und 157 seiner Schlussanträge festgestellt hat – einen abgespaltenen Teil des Eigentums dar, da sie ihren Inhabern zwei wesentliche Merkmale dieses Rechts verleihen, nämlich das Recht, die betreffende Sache zu nutzen, und das Recht, die Erträge zu vereinnahmen. Kraft der angefochtenen Regelung erlöschen jedoch ex lege alle bestehenden Nießbrauchsrechte an den betreffenden Flächen mit Ausnahme von zwischen nahen Familienangehörigen bestellten Nießbrauchsrechten. Durch ein solches Erlöschen werden somit den Betroffenen per Definition zwangsweise, vollständig und endgültig diese Nießbrauchsrechte zugunsten der Eigentümer der genannten Flächen entzogen. 82 Daraus folgt, dass die angefochtene Regelung zu keiner Beschränkung der Nutzung von Gütern führt, sondern zu einer Entziehung von Eigentum im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Charta. 83 Insoweit kann Ungarn mit seinem in der mündlichen Verhandlung erstatteten Vorbringen, wonach den so enteigneten Inhabern von Nießbrauchsrechten die Möglichkeit offenstehe, die betreffenden Flächen durch den Abschluss eines Pachtvertrags mit dem Eigentümer weiterhin zu nutzen, nicht durchdringen. Ein solcher Abschluss hängt nämlich ausschließlich von der Zustimmung des Eigentümers ab und ermöglicht es nicht, dem ehemaligen Inhaber des Nießbrauchsrechts das ihm zuvor zustehende dingliche Recht, das sich vom persönlichen Recht aus einem Pachtvertrag unterscheidet, wiederzuverleihen. Außerdem entstehen ihm durch einen solchen Abschluss Unannehmlichkeiten, die er nicht gehabt hätte, wenn er seinen Titel behalten hätte. 84 Außerdem bezieht sich der Halbsatz „Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden“ in Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Charta nicht nur auf die Entziehung von Eigentum, um es der öffentlichen Hand zu übertragen. Entgegen dem, was Ungarn hierzu ebenfalls vorgebracht hat, hat der Umstand, dass die betreffenden Nießbrauchsrechte nicht von der öffentlichen Hand erworben werden, sondern dass ihr Erlöschen zur Wiederherstellung des vollständigen Eigentums an den betreffenden Flächen zugunsten der Eigentümer führt, keine Auswirkung darauf, dass diese Rechte durch das Erlöschen den früheren Inhabern entzogen werden. 85 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass es sich nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei einer nach nationalem Recht zwangsweisen Übertragung des Eigentums an Immobilien zwischen dem Eigentümer der Immobilien und dem Inhaber eines Erbpachtrechts an diesen Immobilien (Urteil des EGMR vom 21. Februar 1986, James u. a./Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1986:0221JUD000879379, §§ 27, 30 und 38) sowie bei der zwangsweisen Übertragung einer landwirtschaftlichen Liegenschaft von einer Person auf eine andere zwecks Rationalisierung der Landwirtschaft (Urteil des EGMR vom 21. Februar 1990, Håkansson und Sturesson/Schweden, CE:ECHR:1990:0221JUD001185585, §§ 42 bis 44) um eine Entziehung von Eigentum im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Satz 2 des Protokolls Nr. 1 zur EMRK handelt. 86 Aus den Erwägungen in den Rn. 69 bis 85 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass das Erlöschen von Nießbrauchsrechten kraft der angefochtenen Regelung eine Entziehung von Eigentum im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Charta darstellt. 87 Diese Bestimmung verbietet zwar nicht generell die Entziehung von Eigentum, sieht aber vor, dass eine solche Entziehung nur aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums erfolgen darf. 88 Im Hinblick auf diese Anforderungen ist auch Art. 52 Abs. 1 der Charta zu berücksichtigen, wonach die Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte eingeschränkt werden kann, sofern diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieser Rechte achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind sowie den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 89 Aus Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta ergibt sich zum einen, dass bei Berufung auf einen Grund des öffentlichen Interesses zur Rechtfertigung einer Entziehung von Eigentum der in Art. 52 Abs. 1 der Charta verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf diesen Grund und die von ihm abgedeckten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen gewahrt sein muss. Zum anderen bedeutet eine solche Lesart, dass das durch Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Charta garantierte Eigentumsrecht verletzt würde, wenn kein eine Eigentumsentziehung rechtfertigender Grund des öffentlichen Interesses vorliegt oder zwar vorliegt, aber die in der genannten Bestimmung enthaltenen Voraussetzungen nicht erfüllt sind. 2) Zu den Rechtfertigungsgründen und den Gründen des öffentlichen Interesses i) Zur Rechtfertigung durch dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen betreffend die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen 90 Wie aus den Rn. 31 und 43 des vorliegenden Urteils hervorgeht, vertritt Ungarn für den Fall, dass entschieden werden sollte, dass durch die angefochtene Regelung der freie Kapitalverkehr beschränkt wird, die Auffassung, dass diese Regelung insofern, als sie die Aufrechterhaltung bestehender Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen davon abhängig macht, dass der Nießbraucher ein naher Familienangehöriger des Eigentümers der betreffenden Flächen ist, gleichzeitig darauf abzielt, das Eigentum an landwirtschaftlichen Flächen denjenigen vorzubehalten, die sie bewirtschaften, und darauf, zu verhindern, dass diese Flächen zu reinen Spekulationszwecken erworben werden, die Bewirtschaftung dieser Flächen durch neue Unternehmen zu ermöglichen, die Schaffung aufgrund ihrer Größe lebensfähiger und wettbewerbsfähiger Landwirtschaftsbetriebe zu erleichtern und eine Zerstückelung von Agrarflächen sowie Landflucht und Abwanderung aus ländlichen Gebieten zu verhindern. 91 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof anerkannt hat, dass nationale Regelungen den freien Kapitalverkehr mit der Zielsetzung beschränken dürfen, die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen durch den Eigentümer selbst zu erhalten und darauf hinzuwirken, dass Bauernhöfe überwiegend von ihren Eigentümern bewohnt und bewirtschaftet werden, sowie, als Raumordnungsziel, eine beständige Bevölkerung in den ländlichen Gebieten zu erhalten und eine vernünftige Nutzung der verfügbaren Flächen unter Bekämpfung des Drucks auf den Grundstücksmarkt zu fördern (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung). 92 Ebenso verhält es sich mit den Zielsetzungen, die in der Wahrung einer die Entwicklung lebensfähiger Betriebe sowie die harmonische Pflege des Raumes und der Landschaft ermöglichenden Aufteilung des Grundeigentums bestehen (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). 93 Im vorliegenden Fall ist jedoch – entsprechend dem Hinweis in Rn. 59 des vorliegenden Urteils – zu prüfen, ob die angefochtene Regelung tatsächlich die behaupteten legitimen Zielsetzungen des Allgemeininteresses verfolgt und ob sie geeignet ist, die Erreichung dieser Zielsetzungen zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist. 94 In diesem Kontext ist ferner darauf hinzuweisen, dass ein Mitgliedstaat neben den Rechtfertigungsgründen, die er geltend machen kann, geeignete Beweise oder eine Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen beschränkenden Maßnahme vorlegen sowie genaue Angaben zur Stützung seines Vorbringens machen muss (Urteil vom 26. Mai 2016, Kommission/Griechenland, C‑244/15, EU:C:2016:359, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 95 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die angefochtene Regelung, insofern als durch sie alle bestehenden Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen mit Ausnahme von zugunsten naher Familienangehöriger des Eigentümers bestellten Nießbrauchsrechten erlöschen, nicht geeignet erscheint, die von Ungarn geltend gemachten Zielsetzungen zu verfolgen, zu denen sie keinen unmittelbaren Zusammenhang aufweist. 96 Ungarn hat nämlich nicht nachgewiesen, warum anhand der Art des Titels, den jemand an einer landwirtschaftlichen Fläche hat, ermittelt werden können soll, ob der Betroffene die Fläche selbst bewirtschaftet, in der Nähe der Fläche wohnt, diese zu etwaigen Spekulationszwecken erworben hat oder zur Entwicklung einer lebens‑ und wettbewerbsfähigen Landwirtschaft, insbesondere durch Verhinderung einer Zerstückelung der Agrarflächen, beitragen kann. 97 Wie der Gerichtshof bereits in Rn. 87 des Urteils vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth (C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157), entschieden hat, vermag das Bestehen des im vorliegenden Fall zwischen dem Nießbraucher und dem Eigentümer verlangten Verwandtschaftsverhältnisses nicht sicherzustellen, dass der Nießbraucher das betreffende Grundstück selbst bewirtschaftet und dass er das fragliche Nießbrauchsrecht nicht zu reinen Spekulationszwecken erworben hat. Gleichermaßen kann nicht von vornherein angenommen werden, dass ein nicht zur Familie des Eigentümers gehörender Dritter, der einen Nießbrauch an einem solchen Grundstück erworben hat, nicht in der Lage wäre, es selbst zu bewirtschaften, und dass der Erwerb zwangsläufig zu reinen Spekulationszwecken und ohne jede Bewirtschaftungsabsicht erfolgte. 98 Im Übrigen hat Ungarn auch nicht nachgewiesen, inwiefern das Erfordernis eines nahen Angehörigenverhältnisses geeignet sein soll, zur Unterstützung und Entwicklung einer lebens‑ und wettbewerbsfähigen Landwirtschaft – insbesondere durch Verhinderung einer Zerstückelung der Agrarflächen – beizutragen oder Landflucht und Abwanderung aus ländlichen Gebieten zu verhindern. 99 Zweitens geht die angefochtene Regelung jedenfalls über das hinaus, was zur Erreichung der von Ungarn behaupteten Zielsetzungen erforderlich ist. 100 Es hätten nämlich andere, die Freiheit des Kapitalverkehrs weniger einschränkende Maßnahmen als die in der angefochtenen Regelung vorgesehenen erlassen werden können, um sicherzustellen, dass das Bestehen eines Nießbrauchsrechts an einer landwirtschaftlich genutzten Fläche nicht die Einstellung ihrer Bewirtschaftung zur Folge hat. Insoweit wäre es z. B. möglich gewesen, vom Nießbraucher zu verlangen, dass er die landwirtschaftliche Nutzung beibehält, gegebenenfalls indem er selbst die Bewirtschaftung der betreffenden Fläche unter Bedingungen sicherstellt, die den Fortbestand der Bewirtschaftung gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 92 und 93). 101 Ungarn hat somit weder nachgewiesen, dass mit der angefochtenen Regelung tatsächlich die behaupteten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen betreffend die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen verfolgt würden, noch dass sie überhaupt geeignet wäre, die Erreichung dieser Zielsetzungen in kohärenter Weise zu gewährleisten, und sich auf die hierzu erforderlichen Maßnahmen beschränkte. ii) Zur Rechtfertigung, es sei gegen die nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen verstoßen worden 102 Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV bestimmt, dass Art. 63 AEUV nicht das Recht der Mitgliedstaaten berührt, die unerlässlichen Maßnahmen zu treffen, um Zuwiderhandlungen gegen innerstaatliche Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften zu verhindern, sowie Meldeverfahren für den Kapitalverkehr zwecks administrativer oder statistischer Information vorzusehen oder Maßnahmen zu ergreifen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt sind. Nach Art. 65 Abs. 3 AEUV dürfen solche Maßnahmen oder Verfahren jedoch weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital‑ und Zahlungsverkehrs im Sinne des Art. 63 AEUV darstellen. 103 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV als Ausnahme vom Grundprinzip des freien Kapitalverkehrs eng auszulegen ist (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung). 104 Vorliegend macht Ungarn geltend, da die Erwerbe von Nießbrauchsrechten an landwirtschaftlichen Flächen vor dem 1. Januar 2002 stattgefunden hätten und von Gebietsfremden im Sinne der damals anwendbaren nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen getätigt worden seien, seien sie nach dieser Regelung von einer Genehmigung der ungarischen Nationalbank abhängig gewesen. Für solche Erwerbe seien indes nie derartige Devisengenehmigungen beantragt worden, weshalb die Erwerbe ungültig seien. 105 Hierzu ist erstens festzustellen, dass Ungarn – wie aus Rn. 76 des vorliegenden Urteils hervorgeht – nicht nachgewiesen hat, dass mit den von ihm herangezogenen nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen der Erwerb von Nießbrauchsrechten durch Gebietsfremde von einer Devisengenehmigung bei sonstiger Nichtigkeit des Erwerbs abhängig gemacht werden sollte. Ebenso wenig hat Ungarn nachgewiesen, dass der Erlass der angefochtenen Regelung vom Willen getragen war, Verstöße gegen die nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen abzustellen. 106 Zu dem ersten dieser beiden Aspekte ist außerdem festzustellen, dass – selbst wenn man annimmt, dass bestimmte kraft der angefochtenen Regelung erloschene Nießbrauchsrechte nur dann von Anfang an gültig waren, wenn eine Devisengenehmigung vorlag – die Kommission dem Gerichtshof Auszüge aus dem Gutachten Nr. 1/2010 vom 28. Juni 2010 und einem Urteil (Rechtssache BH2000.556) der Kúria (Oberster Gerichtshof) vorgelegt hat, aus deren Wortauslegung sich ergibt, dass nach der Bestimmung des § 237 Abs. 2 des Gesetzes Nr. IV von 1959 zur Einführung des Zivilgesetzbuchs, die in Kraft war, als die geltend gemachten nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen aufgehoben wurden, ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Genehmigung für den Abschluss eines Vertrags nicht mehr erforderlich ist, ein ohne Genehmigung geschlossener Vertrag als endgültig und gültig geschlossen anzusehen ist. 107 In Bezug auf den zweiten Aspekt ist darauf hinzuweisen, dass die angefochtene Regelung das systematische Erlöschen der Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen vorsieht, die Personen ohne nachgewiesenes nahes Angehörigenverhältnis zum Eigentümer des betreffenden Grundstücks innehaben. Dieses Verwandtschaftskriterium steht jedoch in keinem Zusammenhang mit den nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen. Außerdem ist – wie insbesondere aus Rn. 42 des vorliegenden Urteils hervorgeht – unstrittig, dass kraft der angefochtenen Regelung nicht nur Nießbrauchsrechte von Gebietsfremden erlöschen, sondern auch solche von natürlichen und juristischen Personen mit Wohnsitz bzw. Sitz in Ungarn, die jedoch nicht den geltend gemachten nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen unterliegen. 108 Zweitens stellt das Ex-lege-Erlöschen von seit Langem in den Grundbüchern eingetragenen Nießbrauchsrechten, die mehr als zehn Jahre nach der Aufhebung der genannten nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen erfolgt, jedenfalls keine verhältnismäßige Maßnahme dar. Es hätten nämlich andere Maßnahmen mit weniger weitgehenden Wirkungen, wie z. B. Geldbußen, erlassen werden können, um eventuelle Verstöße gegen die nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen ab initio zu ahnden (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 106 und die dort angeführte Rechtsprechung). 109 In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen hat Ungarn weder nachgewiesen, dass die geltend gemachten nationalen Vorschriften über Devisenkontrollen die Gültigkeit der von der angefochtenen Regelung betroffenen Nießbrauchsrechte beeinträchtigen konnten, noch dass die angefochtene Regelung erlassen wurde, um etwaige Verstöße gegen die Vorschriften über Devisenkontrollen abzustellen, oder gar dass das Erlöschen von Nießbrauchsrechten kraft der angefochtenen Regelung – angenommen, diese hätte tatsächlich eine solche Zielsetzung gehabt – in angemessenem Verhältnis zu dieser Zielsetzung stünde und nach Art. 65 AEUV zulässig wäre. iii) Zur Rechtfertigung durch die zum Schutz der öffentlichen Ordnung erfolgende Bekämpfung von Praktiken zur Umgehung des nationalen Rechts 110 Wie in Rn. 102 des vorliegenden Urteils erwähnt, bestimmt Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV u. a., dass Art. 63 AEUV nicht das Recht der Mitgliedstaaten berührt, Maßnahmen zu ergreifen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt sind. 111 Im vorliegenden Fall bringt Ungarn vor, dass die kraft der angefochtenen Regelung erloschenen Nießbrauchsrechte durch Umgehung des rechtlichen Verbots für natürliche Personen aus anderen Mitgliedstaaten und juristische Personen, Eigentum an landwirtschaftlichen Flächen zu erwerben, erworben worden seien und daher von Anfang an nichtig gewesen seien, weshalb der ungarische Gesetzgeber beschlossen habe, solche Missbräuche ex lege abzustellen. 112 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in Bezug auf die Bekämpfung von Praktiken, mit denen das nationale Recht umgangen werden soll, der Gerichtshof zwar bereits anerkannt hat, dass eine Maßnahme, die eine Grundfreiheit beschränkt, gegebenenfalls gerechtfertigt sein kann, wenn mit ihr rein künstliche Gestaltungen bekämpft werden sollen, die darauf ausgerichtet sind, der Anwendung der betreffenden nationalen Rechtsvorschriften zu entgehen (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 114 und die dort angeführte Rechtsprechung). 113 Als Erstes hat Ungarn jedoch – wie bereits in den Rn. 76 bis 80 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist – nicht nachgewiesen, dass die von der angefochtenen Regelung betroffenen Nießbrauchsrechte – d. h. jene, die vor 2002 zugunsten von juristischen Personen und von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten an landwirtschaftlichen Flächen bestellt wurden – nach dem anwendbaren nationalen Recht wegen der Umgehung bestimmter Vorschriften dieses Rechts ungültig waren. 114 Als Zweites ist eine Rechtfertigung wie die oben in Rn. 112 erwähnte nach der Rechtsprechung nur dann zulässig, wenn sie sich speziell auf die künstlichen Gestaltungen bezieht, die darauf ausgerichtet sind, der Anwendung der betreffenden nationalen Rechtsvorschriften zu entgehen. Dies schließt insbesondere jede Aufstellung einer allgemeinen Vermutung missbräuchlicher Praktiken als ausreichende Rechtfertigung für eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs aus (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 115 und 116 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 115 Eine Maßnahme, mit der die spezielle Zielsetzung der Bekämpfung rein künstlicher Gestaltungen verfolgt wird, steht vielmehr nur dann mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang, wenn sie es den nationalen Gerichten ermöglicht, eine Einzelfallprüfung unter Einbeziehung der Besonderheiten jedes Falles durchzuführen und dabei die Berücksichtigung von missbräuchlichem oder betrügerischem Verhalten der betroffenen Personen auf objektive Elemente zu stützen (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 117 und die dort angeführte Rechtsprechung). 116 Es ist jedoch festzustellen, dass die angefochtene Regelung keiner der oben in den Rn. 114 und 115 genannten Anforderungen genügt. 117 Erstens enthält das in Rn. 78 des vorliegenden Urteils erwähnte Urteil Nr. 25 des Alkotmánybíróság (Verfassungsgericht) vom 21. Juli 2015 keine Feststellung eines Missbrauchs seitens der Inhaber der betreffenden Nießbrauchsrechte und wird darin betont, dass das Erlöschen dieser Nießbrauchsrechte kraft der angefochtenen Regelung vor allem für erforderlich erachtet wurde, um die mit der neuen rechtlichen Regelung verfolgte nationale strategische Zielsetzung zu erreichen, wonach Anbauflächen ausschließlich im Eigentum der natürlichen Personen stehen sollten, die sie bewirtschaften. 118 Unter diesen Umständen ist nicht nachgewiesen worden, dass mit der angefochtenen Regelung die besondere Zielsetzung verfolgt wird, Verhaltensweisen in Form künstlicher Gestaltungen zu bekämpfen, die darauf ausgerichtet gewesen sein sollen, der Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften über den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen zu entgehen. 119 Zweitens kann jedenfalls aus dem bloßen Umstand, dass der Inhaber eines Nießbrauchsrechts an einer landwirtschaftlichen Fläche eine juristische Person oder eine natürliche Person ohne nahes Angehörigenverhältnis mit dem Eigentümer dieser Fläche ist, bei vernünftiger Betrachtung nicht geschlossen werden, dass eine solche Person beim Erwerb eines solchen Nießbrauchsrechts missbräuchlich handelte. Wie in Rn. 114 des vorliegenden Urteils erwähnt, ist die Aufstellung einer allgemeinen Vermutung missbräuchlicher Praktiken nicht zulässig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 121). 120 So könnten andere, den freien Kapitalverkehr weniger einschränkende Maßnahmen wie Sanktionen oder spezielle Nichtigkeitsklagen vor dem nationalen Gericht zur Bekämpfung etwaiger erwiesener Umgehungen der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften in Betracht gezogen werden, sofern die übrigen dem Unionsrecht zu entnehmenden Erfordernisse eingehalten werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 122). 121 Insoweit kann dem auf haushaltsrechtliche Gründe und auf Gründe des wirtschaftlichen Einsatzes von Mitteln der Justiz gestützten Vorbringen Ungarns nicht gefolgt werden. Nach ständiger Rechtsprechung können nämlich Motive rein wirtschaftlicher Art keine zwingenden Gründe des Allgemeininteresses darstellen, die eine Beschränkung einer vom Vertrag garantierten Grundfreiheit rechtfertigen können. Das Gleiche gilt für rein administrative Erwägungen (Urteil vom 6. März 2018, SEGRO und Horváth, C‑52/16 und C‑113/16, EU:C:2018:157, Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung). 122 Daraus folgt, dass die mit der angefochtenen Regelung verbundene Beschränkung des freien Kapitalverkehrs nicht mit der Absicht gerechtfertigt werden kann, rein künstliche Gestaltungen zu bekämpfen, deren Ziel darin bestanden haben soll, den für den Erwerb landwirtschaftlicher Flächen geltenden nationalen Rechtsvorschriften zu entgehen. iv) Zum Fehlen von Gründen des öffentlichen Interesses und einer Entschädigungsregelung im Sinne von Art. 17 der Charta 123 Was die Entziehung von Eigentum im Sinne von Art. 17 Abs. 1 der Charta betrifft, die sich aus dem Erlöschen der betreffenden Nießbrauchsrechte ergibt, ist angesichts der in den Rn. 87 bis 89 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen an die Zulässigkeit einer solchen Entziehung hinzuzufügen, dass das Erlöschen gesetzlich vorgesehen ist. 124 Außerdem können dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen betreffend die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen – wie sie in den Rn. 91 und 92 des vorliegenden Urteils genannt sind – oder Zielsetzungen wie etwa die Abstellung von Verstößen gegen nationale Vorschriften über Devisenkontrollen oder die Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken, mit denen anwendbare nationale Rechtsvorschriften umgangen werden sollen, zwar unter einen Grund oder mehrere Gründe des öffentlichen Interesses im Sinne der genannten Bestimmung fallen, jedoch ergibt sich aus Rn. 101 des vorliegenden Urteils, dass Ungarn im vorliegenden Fall in keiner Weise nachgewiesen hat, dass mit dem Ex-lege-Erlöschen der Nießbrauchsrechte kraft der angefochtenen Regelung tatsächlich die genannten Zielsetzungen betreffend die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen verfolgt werden oder gar dass das Erlöschen zur Erreichung der Zielsetzungen geeignet oder hierzu erforderlich wäre. Darüber hinaus kann unter Berücksichtigung der Feststellungen in den Rn. 109 bzw. 122 des vorliegenden Urteils auch nicht davon ausgegangen werden, dass ein Erlöschen von Nießbrauchsrechten, wie es kraft der angefochtenen Regelung ex lege eintritt, zwecks Abstellung von Verstößen gegen die nationalen Rechtsvorschriften über Devisenkontrollen oder Bekämpfung solcher missbräuchlichen Praktiken erfolgt ist (mangels Nachweises derartiger Verstöße und Praktiken) oder gar, dass es dem in Rn. 89 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernis der Verhältnismäßigkeit genügte. 125 Jedenfalls genügt die angefochtene Regelung nicht der Anforderung nach Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Charta, dass bei der Entziehung von Eigentum, wie beispielsweise dem Verlust der betreffenden Nießbrauchsrechte, rechtzeitig eine angemessene Entschädigung gezahlt werden muss. 126 Nach dem Wortlaut der genannten Bestimmung darf Eigentum nur „in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums“ entzogen werden, so dass die Entschädigung – die somit eine der Bedingungen der Charta für die Enteignung ist – gesetzlich vorgesehen sein muss. Daraus folgt, dass eine nationale Rechtsvorschrift, die zu einer Entziehung von Eigentum führt, klar und genau vorsehen muss, dass diese Entziehung einen Anspruch auf eine Entschädigung begründet und welche Bedingungen für sie gelten. Es ist jedoch festzustellen, dass die angefochtene Regelung keine Bestimmung enthält, die die Entschädigung enteigneter Inhaber von Nießbrauchsrechten vorsieht und die entsprechenden Modalitäten regelt. 127 Insoweit genügt der von Ungarn in seiner Klagebeantwortung vorgebrachte Verweis auf die allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften nicht den Anforderungen von Art. 17 Abs. 1 der Charta. Auch wenn es einem Mitgliedstaat im Licht dieser Bestimmung rechtlich möglich wäre, die Entschädigung für die Entziehung von Eigentum, für die er selbst allein verantwortlich ist, Privatpersonen zu überlassen, ist festzustellen, dass mit einem solchen Verweis im vorliegenden Fall den Inhabern von Nießbrauchsrechten die Last auferlegt würde, eine ihnen möglicherweise vom Eigentümer des Grundstücks geschuldete Entschädigung mittels Verfahren, die sich als langwierig und kostspielig erweisen können, zu erhalten. Solche zivilrechtlichen Vorschriften ermöglichen es nicht, leicht und mit hinreichender Genauigkeit oder Vorhersehbarkeit festzustellen, ob am Ende eines solchen Verfahrens tatsächlich eine Entschädigung erlangt werden kann und welche Form und Höhe sie gegebenenfalls hat. 128 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 1 des Protokolls Nr. 1 zur EMRK ergibt, dass die Enteignung des Vermögens einer Person auf einem Verfahren beruhen muss, das eine umfassende Beurteilung der Folgen der Enteignung gewährleistet, nämlich die Gewährung einer Entschädigung im Verhältnis zum Wert des enteigneten Vermögens, die Bestimmung der Entschädigungsberechtigten und alle weiteren Fragen im Zusammenhang mit der Enteignung (Urteil des EGMR vom 9. Oktober 2003, Biozokat A. E./Griechenland, CE:ECHR:2003:1009JUD006158200, § 29). 129 Unter Berücksichtigung der Erwägungen in den Rn. 123 bis 128 des vorliegenden Urteils ist festzustellen, dass die Entziehung des Eigentums kraft der angefochtenen Regelung nicht durch einen Grund des öffentlichen Interesses gerechtfertigt ist und im Übrigen auch nicht von einer Regelung zur Zahlung einer angemessenen und rechtzeitigen Entschädigung begleitet wird. Folglich verletzt die angefochtene Regelung das durch Art. 17 Abs. 1 der Charta garantierte Eigentumsrecht. c) Ergebnis 130 Nach alledem ist zum einen festzustellen, dass Ungarn nicht nachgewiesen hat, dass das kraft der angefochtenen Regelung eintretende Erlöschen von Nießbrauchsrechten, die unmittelbar oder mittelbar Angehörige anderer Mitgliedstaaten als Ungarn innehaben, darauf gerichtet ist, die Erreichung dem Gemeinwohl dienender Zielsetzungen zu gewährleisten, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt oder in Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV genannt sind, dass dieses Erlöschen geeignet und kohärent ist und dass es sich auf die zur Erreichung solcher Zielsetzungen erforderlichen Maßnahmen beschränkt. Zum anderen steht dieses Erlöschen nicht im Einklang mit Art. 17 Abs. 1 der Charta. Folglich können die Hindernisse für den freien Kapitalverkehr, die sich aus der Enteignung von Gütern ergeben, die mit Kapital erworben wurden, das durch Art. 63 AEUV geschützt wird, nicht gerechtfertigt werden. 131 Somit ist festzustellen, dass Ungarn durch den Erlass der angefochtenen Regelung und das damit ex lege eintretende Erlöschen der Nießbrauchsrechte, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar an landwirtschaftlichen Flächen in Ungarn innehaben, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 63 AEUV in Verbindung mit Art. 17 der Charta verstoßen hat. Kosten 132 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Ungarn mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Ungarn hat durch den Erlass von § 108 Abs. 1 des Mező- és erdőgazdasági földek forgalmáról szóló 2013. évi CXXII. törvénnyel összefüggő egyes rendelkezésekről és átmeneti szabályokról szóló 2013. évi CCXII. törvény (Gesetz Nr. CCXII von 2013 mit verschiedenen Vorschriften und Übergangsregelungen betreffend das Gesetz Nr. CXXII von 2013 betreffend den Verkauf land‑ und forstwirtschaftlicher Flächen) und das damit ex lege eintretende Erlöschen der Nießbrauchsrechte, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar an land- und forstwirtschaftlichen Flächen in Ungarn innehaben, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 63 AEUV in Verbindung mit Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen. 2. Ungarn trägt die Kosten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 19. März 2019.#Abubacarr Jawo gegen Bundesrepublik Deutschland.#Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Dublin-System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Überstellung des Asylbewerbers in den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat – Begriff ,Flucht‘ – Modalitäten der Verlängerung der Überstellungsfrist – Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Ernsthaftes Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Abschluss des Asylverfahrens – Lebensverhältnisse der Personen, denen in dem Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist.#Rechtssache C-163/17.
62017CJ0163
ECLI:EU:C:2019:218
2019-03-19T00:00:00
Wathelet, Gerichtshof
62017CJ0163 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 19. März 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Dublin-System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Überstellung des Asylbewerbers in den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat – Begriff ‚Flucht‘ – Modalitäten der Verlängerung der Überstellungsfrist – Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Ernsthaftes Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Abschluss des Asylverfahrens – Lebensverhältnisse der Personen, denen in dem Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist“ In der Rechtssache C‑163/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 15. März 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 3. April 2017, in dem Verfahren Abubacarr Jawo gegen Bundesrepublik Deutschland erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan und F. Biltgen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe und des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, M. Ilešič (Berichterstatter), J. Malenovský, L. Bay Larsen und D. Šváby, Generalanwalt: M. Wathelet, Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2018, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Jawo, vertreten durch die Rechtsanwälte B. Münch und U. Bargon, – der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, R. Kanitz, M. Henning und V. Thanisch als Bevollmächtigte, – der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul und P. Cottin als Bevollmächtigte, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Cordi und L. D’Ascia, avvocati dello Stato, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. M. Tátrai, M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer, M. Bulterman, C. S. Schillemans und M. Gijzen als Bevollmächtigte, – der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon und C. Crane als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister, – der Schweizer Regierung, vertreten durch E. Bichet als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und C. Ladenburger als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juli 2018 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2, von Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung), und von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Abubacarr Jawo und der Bundesrepublik Deutschland wegen einer Entscheidung, Herrn Jawo nach Italien zu überstellen. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 Art. 3 („Verbot der Folter“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ Unionsrecht Charta 4 Art. 1 („Würde des Menschen“) der Charta lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ 5 Art. 4 („Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“) der Charta lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ 6 Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“) Abs. 1 der Charta lautet: „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.“ 7 Art. 51 („Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Charta bestimmt: „Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.“ 8 Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) Abs. 3 der Charta lautet: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“ Dublin‑III-Verordnung 9 Die Dublin‑III-Verordnung hat die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1, im Folgenden: Dublin‑II-Verordnung) aufgehoben und ersetzt. In den Erwägungsgründen 4, 5, 19, 32 und 39 der Dublin‑III-Verordnung heißt es: „(4) Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in] Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen. (5) Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden. … (19) Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der Charta … Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird. … (32) In Bezug auf die Behandlung von Personen, die unter diese Verordnung fallen, sind die Mitgliedstaaten an ihre Verpflichtungen aus den völkerrechtlichen Instrumenten einschließlich der einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden. … (39) Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta … anerkannt wurden. Diese Verordnung zielt insbesondere darauf ab, sowohl die uneingeschränkte Wahrung des in Artikel 18 der Charta verankerten Rechts auf Asyl als auch die in ihren Artikeln 1, 4, 7, 24 und 47 anerkannten Rechte zu gewährleisten. Diese Verordnung sollte daher in diesem Sinne angewandt werden.“ 10 Art. 2 Buchst. n der Dublin‑III-Verordnung definiert „Fluchtgefahr“ als „das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte“. 11 Art. 3 („Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“) der Dublin‑III-Verordnung bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. (2)   Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig. Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der Charta … mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann. Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat. …“ 12 Kapitel VI („Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren“) der Dublin‑III-Verordnung enthält u. a. die Art. 27 und 29 der Verordnung. 13 Art. 27 („Rechtsmittel“) Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung bestimmt: „Der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.“ 14 Der der Überstellung von Antragstellern in den zuständigen Mitgliedstaat gewidmete Abschnitt VI von Kapitel VI der Dublin‑III-Verordnung enthält deren Art. 29 („Modalitäten und Fristen“), der vorsieht: „(1)   Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat. Wenn Überstellungen in den zuständigen Mitgliedstaat in Form einer kontrollierten Ausreise oder in Begleitung erfolgen, stellt der Mitgliedstaat sicher, dass sie in humaner Weise und unter uneingeschränkter Wahrung der Grundrechte und der Menschenwürde durchgeführt werden. … (2)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist. … (4)   Die Kommission legt im Wege von Durchführungsrechtsakten einheitliche Bedingungen für Konsultationen und den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere für den Fall, dass Überstellungen verschoben werden oder nicht fristgerecht erfolgen, für Überstellungen nach stillschweigender Annahme, für Überstellungen Minderjähriger oder abhängiger Personen und für kontrollierte Überstellungen fest. …“ Durchführungsverordnung 15 Die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 343/2003 (ABl. 2003, L 222, S. 3) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (ABl. 2014, L 39, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsverordnung) enthält die Durchführungsbestimmungen zur Dublin‑II-Verordnung und nunmehr zur Dublin‑III-Verordnung. 16 Kapitel III („Durchführung der Überstellung“) der Durchführungsverordnung enthält u. a. Art. 9 („Verschieben der Überstellung und nicht fristgerechte Überstellungen“) der Verordnung, der bestimmt: „(1)   Der zuständige Mitgliedstaat wird unverzüglich unterrichtet, wenn sich die Überstellung wegen eines Rechtsbehelfsverfahrens mit aufschiebender Wirkung oder wegen materieller Umstände wie der Gesundheitszustand des Antragstellers, die Nichtverfügbarkeit des Beförderungsmittels oder der Umstand, dass der Antragsteller sich der Überstellung entzogen hat, verzögert. (1a)   Wurde eine Überstellung auf Ersuchen des überstellenden Mitgliedstaats verschoben, so nehmen der überstellende und der zuständige Mitgliedstaat wieder Kontakt auf, um möglichst bald und nicht später als zwei Wochen ab dem Zeitpunkt, zu dem die Behörden erfahren, dass die Umstände, die die Verzögerung oder Verschiebung verursacht haben, nicht mehr vorliegen, eine neue Überstellung gemäß Artikel 8 zu organisieren. In diesem Fall wird vor der Überstellung ein aktualisiertes Standardformblatt für die Übermittlung von Daten vor einer Überstellung gemäß Anhang VI übermittelt. (2)   Ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Artikel 29 Absatz 2 der [Dublin‑III‑]Verordnung genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Annahme des Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betroffenen Person oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat, vornehmen kann, unterrichtet den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist. Ansonsten fallen die Zuständigkeit für die Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. die sonstigen Verpflichtungen aus der [Dublin‑III‑] Verordnung gemäß Artikel 29 Absatz 2 der genannten Verordnung dem ersuchenden Mitgliedstaat zu. …“ Anerkennungsrichtlinie 17 Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie), das die Art. 20 bis 35 der Richtlinie enthält, legt den Inhalt des internationalen Schutzes fest. 18 Art. 34 („Zugang zu Integrationsmaßnahmen“) der Anerkennungsrichtlinie sieht vor: „Um die Integration von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in die Gesellschaft zu erleichtern, gewährleisten die Mitgliedstaaten den Zugang zu Integrationsprogrammen, die sie als den besonderen Bedürfnissen von Personen mit Flüchtlingsstatus oder subsidiärem Schutzstatus angemessen erachten, oder schaffen die erforderlichen Voraussetzungen, die den Zugang zu diesen Programmen garantieren.“ Aufnahmerichtlinie 19 Art. 5 („Information“) der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96, im Folgenden: Aufnahmerichtlinie) sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten unterrichten die Antragsteller innerhalb einer angemessenen Frist von höchstens fünfzehn Tagen nach dem gestellten Antrag auf internationalen Schutz zumindest über die vorgesehenen Leistungen und die Verpflichtungen, die mit den im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile verbunden sind. … (2)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die in Absatz 1 genannten Informationen schriftlich und in einer Sprache erteilt werden, die der Antragsteller versteht oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass er sie versteht. Gegebenenfalls können diese Informationen auch mündlich erteilt werden.“ 20 Art. 7 („Aufenthaltsort und Bewegungsfreiheit“) der Aufnahmerichtlinie bestimmt: „(1)   Antragsteller dürfen sich im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats oder in einem ihnen von diesem Mitgliedstaat zugewiesenen Gebiet frei bewegen. Das zugewiesene Gebiet darf die unveräußerliche Privatsphäre nicht beeinträchtigen und muss hinreichenden Raum dafür bieten, dass Gewähr für eine Inanspruchnahme aller Vorteile aus dieser Richtlinie gegeben ist. (2)   Die Mitgliedstaaten können – aus Gründen des öffentlichen Interesses, der öffentlichen Ordnung oder wenn es für eine zügige Bearbeitung und wirksame Überwachung des betreffenden Antrags auf internationalen Schutz erforderlich ist – einen Beschluss über den Aufenthaltsort des Antragstellers fassen. (3)   Die Mitgliedstaaten dürfen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen an die Bedingung knüpfen, dass sich Antragsteller tatsächlich an dem Ort aufhalten, der von den Mitgliedstaaten festgelegt wird. Ein derartiger Beschluss, der von allgemeiner Natur sein kann, wird jeweils für den Einzelfall und auf der Grundlage des einzelstaatlichen Rechts getroffen. (4)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass Antragstellern eine befristete Genehmigung zum Verlassen des in den Absätzen 2 und 3 genannten Aufenthaltsorts und/oder des in Absatz 1 genannten zugewiesenen Gebiets erteilt werden kann. Die Entscheidung ist von Fall zu Fall, objektiv und unparteiisch zu treffen und im Falle einer Ablehnung zu begründen. Der Antragsteller muss keine Genehmigung einholen, wenn er bei Behörden und Gerichten erscheinen muss. (5)   Die Mitgliedstaaten schreiben Antragstellern vor, den zuständigen Behörden ihre aktuelle Adresse und schnellstmöglich etwaige Adressenänderungen mitzuteilen.“ Deutsches Recht 21 § 60a („Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung [Duldung]“) Abs. 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (im Folgenden: Aufenthaltsgesetz) in der mit Wirkung vom 6. August 2016 geänderten Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBI. 2016 I, S. 1939) bestimmt: „Die Abschiebung eines Ausländers ist auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. … Einem Ausländer kann eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Eine Duldung wegen dringender persönlicher Gründe im Sinne von Satz 3 ist zu erteilen, wenn der Ausländer eine qualifizierte Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf in Deutschland aufnimmt oder aufgenommen hat, die Voraussetzungen nach Absatz 6 nicht vorliegen und konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung nicht bevorstehen. In den Fällen nach Satz 4 wird die Duldung für die im Ausbildungsvertrag bestimmte Dauer der Berufsausbildung erteilt. …“ 22 § 29 („Unzulässige Anträge“) des Asylgesetzes (im Folgenden: AsylG) in der mit Wirkung vom 6. August 2016 geänderten Fassung des Integrationsgesetzes sieht vor: „(1)   Ein Asylantrag ist unzulässig, wenn 1. ein anderer Staat a) nach Maßgabe der [Dublin‑III‑]Verordnung oder b) auf Grund von anderen Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, …“ 23 § 31 („Entscheidung des Bundesamtes über Asylanträge“) Abs. 3 AsylG bestimmt: „In den Fällen des Absatzes 2 und in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge ist festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen. Davon kann abgesehen werden, wenn der Ausländer als Asylberechtigter anerkannt wird oder ihm internationaler Schutz im Sinne des § 1 Absatz 1 Nummer 2 zuerkannt wird.“ 24 § 34a („Abschiebungsanordnung“) AsylG sieht vor: „(1)   Soll der Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Kann eine Abschiebungsanordnung nach Satz 1 oder 2 nicht ergehen, droht das Bundesamt die Abschiebung in den jeweiligen Staat an. (2)   Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung sind innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig. …“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 25 Herr Jawo ist nach seinen Angaben ein am 23. Oktober 1992 geborener Staatsangehöriger Gambias. 26 Nachdem Herr Jawo Gambia am 5. Oktober 2012 verlassen hatte, erreichte er auf dem Seeweg Italien, von wo er nach Deutschland weiterreiste. Am 23. Dezember 2014 stellte er dort einen Asylantrag. 27 Da Herr Jawo nach der Eurodac-Datenbank bereits einen Asylantrag in Italien gestellt hatte, ersuchte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland, im Folgenden: Bundesamt) die italienischen Behörden am 26. Januar 2015 um seine Wiederaufnahme. Eine Reaktion der italienischen Behörden auf dieses Ersuchen blieb aus. 28 Mit Bescheid vom 25. Februar 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag von Herr Jawo als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. 29 Herr Jawo erhob am 4. März 2015 Klage gegen den Bescheid und stellte am 12. März 2015 einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Mit Beschluss vom 30. April 2015 lehnte das Verwaltungsgericht Karlsruhe (Deutschland) den Antrag zunächst als unzulässig ab, weil er verspätet gestellt worden sei. 30 Am 8. Juni 2015 sollte Herr Jawo nach Italien überstellt werden. Diese Überstellung fand jedoch nicht statt, da Herr Jawo nicht in seinem Wohnbereich in der Gemeinschaftsunterkunft in Heidelberg (Deutschland) anwesend war. Nach entsprechenden Nachfragen des Regierungspräsidiums Karlsruhe teilte die Fachstelle für Wohnungsnotfälle der Stadt Heidelberg am 16. Juni 2015 mit, der zuständige Hausmeister habe bestätigt, dass Herr Jawo seit Längerem nicht in der Gemeinschaftsunterkunft anzutreffen sei. 31 Mit einem Formblatt vom 16. Juni 2015 unterrichtete das Bundesamt die italienischen Behörden, dass nach den Informationen vom selben Tag eine Überstellung derzeit nicht möglich sei, weil Herr Jawo flüchtig sei. Weiter heißt es in dem Formular, dass seine Überstellung bis spätestens zum 10. August 2016„gem. Art. 29 Abs. 2 [der Dublin‑III‑] Verordnung“ erfolgen werde. 32 Es steht fest, dass Herr Jawo am Tag der Zustellung des betreffenden Formblatts an die italienischen Behörden wieder in Heidelberg war, diese Information aber nicht das Bundesamt erreichte. Es ist jedoch nicht feststellbar, ob das Bundesamt zu dem genauen Zeitpunkt, als Herr Jawo nach Heidelberg zurückkehrte, das Formblatt den italienischen Behörden bereits übersandt hatte. 33 Herr Jawo erklärte hinsichtlich seiner Abwesenheit, dass er Anfang Juni 2015 zu einem in Freiberg am Neckar (Deutschland) lebenden Freund gereist sei, um ihn zu besuchen. Nachdem er einen Anruf von seinem Zimmergenossen aus Heidelberg erhalte habe, dass die Polizei ihn suche, habe er sich entschieden, nach Heidelberg zurückzukehren. Da er aber kein Geld gehabt habe, um die Rückfahrt für die Strecke zwischen den beiden Städten zu bezahlen, habe er sich dieses erst leihen müssen. Zurück in Heidelberg sei er zum Sozialamt gegangen und habe gefragt, ob er noch über sein Zimmer verfüge, was bejaht worden sei. 34 Herr Jawo erklärte außerdem, dass ihn niemand darauf hingewiesen habe, dass er seine Abwesenheit hätte melden müssen. 35 Am 3. Februar 2016 scheiterte der zweite Überstellungsversuch, weil Herr Jawo sich weigerte, das Flugzeug zu besteigen, mit dem er überstellt werden sollte. 36 Auf einen erneuten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hin ordnete das Verwaltungsgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 18. Februar 2016 die aufschiebende Wirkung der am 4. März 2015 von Herrn Jawo erhobenen Klage an. 37 Mit Urteil vom 6. Juni 2016 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. 38 Im Rahmen der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) machte Herr Jawo u. a. geltend, dass er im Juni 2015 nicht flüchtig gewesen sei und das Bundesamt die Verlängerung der Überstellungsfrist nicht habe bewirken können. Seine Überstellung nach Italien sei auch deshalb unzulässig, weil das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in dem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung aufwiesen. 39 Während des Berufungsverfahrens konnte das Bundesamt in Erfahrung bringen, dass dem Kläger in Italien ein nationaler Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen erteilt worden war, der ein Jahr gültig und am 9. Mai 2015 abgelaufen war. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts führte die Erteilung dieses Aufenthaltstitels jedoch nicht zur Unanwendbarkeit der Dublin‑III-Verordnung, da Herrn Jawo mit diesem Titel kein internationaler Schutz im Sinne der Anerkennungsrichtlinie gewährt worden sei. 40 Das vorlegende Gericht stellt fest, dass es zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zunächst die Frage beantworten müsse, ob der Kläger am 16. Juni 2015, d. h. zum Zeitpunkt der Meldung des Bundesamts an das italienische Innenministerium, „flüchtig“ im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung gewesen sei. 41 Die in Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene sechsmonatige Überstellungsfrist sei zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 18. Februar 2016, mit dem die aufschiebende Wirkung der Klage von Herrn Jawo angeordnet worden sei, bereits abgelaufen gewesen, so dass der Beschluss diese Frist nicht mehr habe verlängern oder unterbrechen können. 42 Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass, wenn von der Definition des Begriffs „Fluchtgefahr“ in Art. 2 Buchst. n der Dublin‑III-Verordnung auszugehen sei, die sich in der deutschen Fassung auf die Annahme bezieht, dass sich der Betroffene durch Flucht dem Überstellungsverfahren „entziehen könnte“, anzunehmen sei, dass nur ein bewusst auf Vermeidung einer Überstellung gerichtetes Verhalten des Betroffenen umfasst sei. Allerdings sprächen gute Gründe dafür, es für die Anwendung von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung ausreichen zu lassen, dass der zuständigen Behörde zum Zeitpunkt des Überstellungsversuchs und zum Zeitpunkt, an dem sie die zuständige Behörde des ersuchten Mitgliedstaats unterrichte, der Aufenthaltsort des Betroffenen nicht bekannt sei. Es gebe nämlich keine Anhaltspunkte dafür, dass mit dieser Vorschrift ein missbilligtes Verhalten des Betroffenen sanktioniert werden solle. Der Zweck der Vorschrift bestehe darin, das effektive Funktionieren des vom Unionsgesetzgeber entwickelten Systems zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats (im Folgenden: Dublin-System) zu sichern, das erheblich beeinträchtigt werden könne, wenn Überstellungen aus Gründen nicht erfolgen könnten, die nicht in die Verantwortungssphäre des ersuchenden Mitgliedstaats fielen. Im Übrigen könne es schwierig sein, den betroffenen Personen nachzuweisen, dass sie ihre Wohnung verlassen hätten, um ihre Überstellung zu verhindern. 43 Sodann stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage nach den Voraussetzungen, unter denen die in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Verlängerung der sechsmonatigen Überstellungsfrist im Fall der Flucht bewirkt wird. Der Wortlaut der Vorschrift lege zwar auf den ersten Blick die Herstellung eines Einvernehmens zwischen den Mitgliedstaaten nahe, doch könne er auch dahin ausgelegt werden, dass der ersuchende Mitgliedstaat die Fristverlängerung einseitig entscheiden könne, indem er den ersuchten Mitgliedstaat vor Ablauf der ursprünglichen Frist von sechs Monaten darüber informiere, dass die Überstellung nicht fristgemäß stattfinden könne und dass sie in einer Frist durchgeführt werde, die der ersuchende Mitgliedstaat dann benenne. Letztgenanntes Verständnis, von dem sich Art. 9 Abs. 2 der Durchführungsverordnung leiten lasse, könne zu bevorzugen sein, um die Effektivität des Überstellungsverfahrens zu gewährleisten. 44 Schließlich möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Überstellung die Lebensverhältnisse zu berücksichtigen habe, denen der Betroffene im ersuchten Mitgliedstaat ausgesetzt wäre, falls seinem Antrag auf internationalen Schutz dort stattgegeben werde, insbesondere das ernsthafte Risiko, dass er eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung erfahren würde. 45 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts darf sich die Prüfung, ob in einem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung bestehen, nicht auf das Asylverfahren und auf die Aufnahmebedingungen während des Verfahrens beschränken, sondern muss auch die Lage danach einbeziehen. So wären die besten Aufnahmebedingungen während des Verfahrens unzureichend, wenn dem Betroffenen nach der Gewährung internationalen Schutzes Verelendung drohe. Die Pflicht zur Durchführung dieser umfassenden Prüfung der Lage des Antragstellers vor seiner Überstellung sei die notwendige Kehrseite des Dublin-Systems, das es den Schutz beantragenden Personen verwehre, ihr Asylland frei zu wählen. Jedenfalls ergebe sich diese Pflicht aus Art. 3 EMRK. 46 Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass die Anerkennungsrichtlinie zwar in der Regel nur eine Gleichbehandlung gegenüber den Inländern des betreffenden Mitgliedstaats vorsehe. Eine solche „Inländerbehandlung“ könne sich für die Wahrung der Würde der Personen, denen internationaler Schutz gewährt werde, jedoch als unzureichend erweisen, da es sich typischerweise um verletzliche und entwurzelte Menschen handele, die nicht in der Lage seien, die Rechte, die ihnen der Aufnahmestaat gewährleiste, auch effektiv geltend zu machen. Damit diese Personen in eine den Angehörigen dieses Mitgliedstaats vergleichbare Position einrücken könnten, um diese Rechte effektiv in Anspruch zu nehmen, fordere Art. 34 der Anerkennungsrichtlinie von den Mitgliedstaaten, diesen Personen einen effektiven Zugang zu Integrationsprogrammen zu gewährleisten, denen eine spezifisch kompensatorische Funktion zukomme. Diese Vorschrift stelle eine Mindestanforderung und die Rechtfertigung des Dublin-Systems dar. 47 Das vorlegende Gericht verweist u. a. auf den im August 2016 vorgelegten Bericht „Aufnahmebedingungen in Italien“ der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, aus dem sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergäben, dass Personen, denen in diesem Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden sei, einem Risiko ausgesetzt sein könnten, bei einem Leben am Rande der Gesellschaft obdachlos zu werden und zu verelenden. Nach dem Bericht werde für die italienische Bevölkerung das unzureichend entwickelte Sozialsystem dieses Mitgliedstaats durch die familiäre Solidarität aufgewogen, die bei Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden sei, fehle. Der Bericht weise ferner darauf hin, dass in Italien kompensatorische Integrationsprogramme weitgehend fehlten und namentlich der Zugang zu den unerlässlichen Sprachkursen dem Zufall überlassen sei. Schließlich lasse der Bericht erkennen, dass die großen strukturellen Defizite des staatlichen Sozialsystems angesichts der in den vergangenen Jahren stark angestiegenen Flüchtlingszahlen durch Nichtregierungsorganisationen und Kirchen nicht ausgeglichen werden könnten. 48 Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist ein Asylbewerber nur dann flüchtig im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung, wenn er sich gezielt und bewusst dem Zugriff der für die Durchführung der Überstellung zuständigen nationalen Behörden entzieht, um die Überstellung zu vereiteln bzw. zu erschweren, oder genügt es, wenn er sich über einen längeren Zeitraum nicht mehr in der ihm zugewiesenen Wohnung aufhält und die Behörde nicht über seinen Verbleib informiert ist und deshalb eine geplante Überstellung nicht durchgeführt werden kann? Kann sich der Betroffene auf die richtige Anwendung der Vorschrift berufen und in einem Verfahren gegen die Überstellungsentscheidung einwenden, die Überstellungsfrist von sechs Monaten sei abgelaufen, weil er nicht flüchtig gewesen sei? 2. Kommt eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung allein dadurch zustande, dass der überstellende Mitgliedstaat noch vor Ablauf der Frist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass der Betreffende flüchtig ist, und zugleich eine konkrete Frist benennt, die 18 Monate nicht übersteigen darf, bis zu der die Überstellung durchgeführt werden wird, oder ist eine Verlängerung nur in der Weise möglich, dass die beteiligten Mitgliedstaaten einvernehmlich eine verlängerte Frist festlegen? 3. Ist eine Überstellung des Asylbewerbers in den zuständigen Mitgliedstaat unzulässig, wenn er für den Fall einer Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus dort im Hinblick auf die dann zu erwartenden Lebensumstände einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren? Fällt diese Fragestellung noch in den Anwendungsbereich des Unionsrechts? Nach welchen unionsrechtlichen Maßstäben sind die Lebensverhältnisse des anerkannten international Schutzberechtigten zu beurteilen? Verfahren vor dem Gerichtshof 49 Auf Antrag des vorlegenden Gerichts hat die hierfür bestimmte Kammer die Notwendigkeit geprüft, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Am 24. April 2017 hat die Kammer nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, diesem Antrag nicht stattzugeben. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 50 Mit seiner ersten Frage, die aus zwei Teilen besteht, möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, ob Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass die Annahme, dass die betreffende Person flüchtig im Sinne dieser Vorschrift ist, erfordert, dass sie sich den zuständigen Behörden gezielt entzogen hat, um ihre Überstellung zu vereiteln, oder ob es insoweit vielmehr genügt, dass diese Person die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne dass die Behörden über ihre Abwesenheit informiert worden sind, so dass die Überstellung nicht durchgeführt werden kann. 51 Zum anderen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass im Rahmen eines Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 der Verordnung berufen und geltend machen kann, die Überstellungsfrist sei abgelaufen, weil sie nicht flüchtig gewesen sei. 52 Zum ersten Teil der ersten Frage ist festzustellen, dass die Bestimmungen in Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung vorsehen, dass nach Ablauf der zwingenden Frist von sechs Monaten die Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz von Rechts wegen auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht, es sei denn, die Frist ist ausnahmsweise höchstens auf ein Jahr verlängert worden, weil die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf 18 Monate, wenn sie flüchtig ist. In diesen Fällen geht die Zuständigkeit für die Prüfung ihres Antrags nach Ablauf der auf diese Weise festgesetzten Frist über. 53 In Bezug auf die Frage, unter welchen Umständen davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller „flüchtig ist“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung, ist festzustellen, dass die Verordnung insoweit keine Angaben enthält. 54 Die Dublin‑III-Verordnung enthält nämlich keine Definition des Begriffs der Flucht, und in keiner ihrer Bestimmungen steht ausdrücklich, ob dieser Begriff voraussetzt, dass die betreffende Person beabsichtigte, sich dem Zugriff der Behörden zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln. 55 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus dem Erfordernis der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts, dass eine Unionsvorschrift, soweit sie für einen bestimmten Begriff nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der betreffenden Vorschrift, sondern auch ihres Kontexts und des mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil vom 8. März 2018, DOCERAM, C‑395/16, EU:C:2018:172, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung). 56 Insoweit ergibt sich aus der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes „Flucht“, das in den meisten Sprachfassungen von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung verwendet wird und den Willen der betreffenden Person voraussetzt, jemandem zu entkommen oder sich etwas zu entziehen, nämlich im vorliegenden Kontext den zuständigen Behörden und somit der eigenen Überstellung, dass diese Bestimmung grundsätzlich nur anwendbar ist, wenn sich diese Person diesen Behörden gezielt entzieht. Im Übrigen wird in Art. 9 Abs. 1 der Durchführungsverordnung als einer der möglichen Gründe für das Verschieben der Überstellung der Umstand genannt, dass „der Antragsteller sich der Überstellung entzogen hat“, was eine solche Absicht voraussetzt. Des Gleichen definiert Art. 2 Buchst. n der Dublin‑III-Verordnung den Begriff „Fluchtgefahr“ dadurch, dass in bestimmten Sprachfassungen – wie der deutschen – auf die Befürchtung verwiesen wird, dass sich der Betroffene dem Überstellungsverfahren durch Flucht „entziehen könnte“. 57 Der Kontext, in dem Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung steht, und die mit der Verordnung verfolgten Ziele stehen allerdings einer Auslegung dieser Bestimmung entgegen, wonach in einer Situation, in der die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil die betreffende Person die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen Behörden über ihre Abwesenheit zu informieren, diese Behörden beweisen müssten, dass diese Person tatsächlich beabsichtigte, sich ihnen zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln. 58 Aus den Erwägungsgründen 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung ergibt sich nämlich, dass durch sie eine auf sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für die betreffenden Personen objektiven und gerechten Kriterien beruhende klare und praktikable Formel eingeführt werden soll, um den für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat rasch zu bestimmen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung dieses Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden. 59 Angesichts dieses Zieles einer zügigen Bearbeitung soll die in Art. 29 Abs. 1 und 2 Satz 1 der Dublin‑III-Verordnung gesetzte Überstellungsfrist von sechs Monaten gewährleisten, dass die betreffende Person tatsächlich so rasch wie möglich an den für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird, dabei aber in Anbetracht der praktischen Komplexität und der organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Durchführung ihrer Überstellung einhergehen, die Zeit eingeräumt wird, die die beiden beteiligten Mitgliedstaaten benötigen, um sich im Hinblick auf die Durchführung der Überstellung abzustimmen, und insbesondere der ersuchende Mitgliedstaat benötigt, um die Modalitäten für die Durchführung der Überstellung zu regeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian, C‑19/08, EU:C:2009:41, Rn. 40). 60 In diesem Kontext gestattet Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung ausnahmsweise eine Verlängerung der sechsmonatigen Frist, um zu berücksichtigen, dass es dem ersuchenden Mitgliedstaat aufgrund der Inhaftierung oder Flucht der betreffenden Person tatsächlich unmöglich ist, die Überstellung durchzuführen. 61 Aufgrund der erheblichen Schwierigkeiten, auf die die zuständigen Behörden beim Nachweis der Absichten der betreffenden Person stoßen können, könnte die Verpflichtung der Behörden zur Erbringung dieses Nachweises es Personen, die internationalen Schutz beantragen und nicht an den Mitgliedstaat überstellt werden möchten, der nach der Dublin‑III-Verordnung für die Prüfung ihres Antrags zuständig ist, ermöglichen, einen Übergang der Zuständigkeit für diese Prüfung gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung auf den ersuchenden Mitgliedstaat zu bewirken, indem sie sich bis zum Ablauf der sechsmonatigen Frist den Behörden dieses Mitgliedstaats entziehen. 62 Um das effektive Funktionieren des Dublin-Systems und die Verwirklichung seiner Ziele zu gewährleisten, ist daher davon auszugehen, dass in dem Fall, in dem die Überstellung der betreffenden Person nicht durchgeführt werden kann, weil sie die ihr zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über ihre Abwesenheit zu informieren, diese Behörden unter der Voraussetzung, dass die Person ordnungsgemäß über die ihr insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, annehmen dürfen, dass sie beabsichtigte, sich ihnen zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln. 63 In diesem Kontext ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten – wie die Bundesrepublik Deutschland es offenbar tatsächlich getan hat – nach Art. 7 Abs. 2 bis 4 der Aufnahmerichtlinie die Möglichkeit der Wahl des Aufenthaltsorts, die Asylbewerbern eröffnet ist, beschränken können und von ihnen verlangen dürfen, dass sie zuvor eine behördliche Erlaubnis zum Verlassen dieses Ortes einholen müssen. Nach Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie schreiben die Mitgliedstaaten ferner den Antragstellern vor, den zuständigen Behörden ihre aktuelle Adresse und schnellstmöglich etwaige Adressenänderungen mitzuteilen. 64 Allerdings müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 5 der Aufnahmerichtlinie die Antragsteller über diese Pflichten unterrichten. Einem Antragsteller kann nämlich nicht zum Vorwurf gemacht werden, die ihm zugewiesene Wohnung verlassen zu haben, ohne die zuständigen Behörden darüber informiert zu haben und gegebenenfalls ohne bei ihnen eine vorherige Erlaubnis eingeholt zu haben, wenn der Antragsteller über diese Pflichten nicht unterrichtet worden ist. Das vorlegende Gericht hat im vorliegenden Fall zu prüfen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens tatsächlich über diese Pflichten unterrichtet worden war. 65 Da zudem nicht ausgeschlossen werden kann, dass es stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Antragsteller den zuständigen Behörden seine Abwesenheit nicht mitgeteilt hat, muss ihm die Möglichkeit des Nachweises erhalten bleiben, dass er nicht beabsichtigte, sich den Behörden zu entziehen. 66 Zum zweiten Teil der ersten Frage, der dahin geht, ob im Rahmen eines Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung berufen und geltend machen kann, die Überstellungsfrist sei abgelaufen, weil sie nicht flüchtig gewesen sei, ist festzustellen, dass sich aus dem nach der Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ergangenen Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:805), ergibt, dass dies zu bejahen ist. 67 In jenem Urteil hat der Gerichtshof nämlich zum einen entschieden, dass das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht, um sicherzustellen, dass die angefochtene Überstellungsentscheidung ergangen ist, nachdem die mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführten Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren korrekt durchgeführt wurden, das Vorbringen einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, prüfen können muss, wonach diese Entscheidung unter Verletzung der Bestimmungen in Art. 29 Abs. 2 der Verordnung ergangen sei, weil der ersuchende Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung wegen des vorherigen Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung festgelegten Frist von sechs Monaten bereits zum zuständigen Mitgliedstaat geworden sei (Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri, C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 40). 68 Zum anderen muss in Anbetracht des im 19. Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung erwähnten Ziels, im Einklang mit Art. 47 der Charta einen wirksamen Schutz der Betroffenen zu gewährleisten, und des im fünften Erwägungsgrund der Verordnung angeführten Ziels, im Interesse sowohl der Schutzsuchenden als auch des generellen reibungslosen Funktionierens des Dublin-Systems eine zügige Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats sicherzustellen, der Antragsteller über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können, der es ihm ermöglicht, sich auf den nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretenen Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung festgelegten sechsmonatigen Frist zu berufen (Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri, C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 44 und 46). 69 Das aufgrund der deutschen Rechtsvorschriften einem Antragsteller, der sich in einer Situation wie der von Herrn Jawo befindet, offenbar – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – zustehende Recht, sich im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die ihm gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung auf nach dem Erlass dieser Entscheidung eingetretene Umstände zu berufen, genügt dieser Verpflichtung, einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf vorzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2017, Shiri, C‑201/16, EU:C:2017:805, Rn. 46). 70 Nach alledem ist die erste Frage wie folgt zu beantworten: – Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung ist dahin auszulegen, dass ein Antragsteller „flüchtig ist“ im Sinne dieser Bestimmung, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Der Antragsteller behält die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er diesen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen. – Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ist dahin auszulegen, dass im Rahmen eines gegen eine Überstellungsentscheidung gerichteten Verfahrens die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 der Verordnung berufen und geltend machen kann, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, weil sie nicht flüchtig gewesen sei. Zur zweiten Frage 71 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt, oder ob es erforderlich ist, dass beide Mitgliedstaaten diese neue Frist vereinbaren. 72 Insoweit ist zunächst festzustellen, dass in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung für die Verlängerung der Überstellungsfrist in den dort genannten Situationen keine Abstimmung zwischen dem ersuchenden und dem zuständigen Mitgliedstaat vorgesehen ist. Diese Bestimmung unterscheidet sich dadurch von Art. 29 Abs. 1 der Verordnung, der ausdrücklich vorsieht, dass die Überstellung nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten erfolgt. 73 Des Weiteren würde die Verpflichtung zu einer Abstimmung auch in den in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten Situationen diese Bestimmung schwer anwendbar machen und könnte ihr einen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit nehmen. Es ist nämlich so, dass der Austausch zwischen den beiden beteiligten Mitgliedstaaten, der für die Vereinbarung einer Verlängerung der Überstellungsfrist erforderlich wäre, den Einsatz von Zeit und Ressourcen erfordern würde und dass es kein wirksames Instrumentarium zur Entscheidung der Streitigkeiten über die Frage gäbe, ob die Voraussetzungen für diese Verlängerung vorliegen. Außerdem wäre eine Fristverlängerung bereits ausgeschlossen, wenn der ersuchte Mitgliedstaat untätig bliebe. 74 Schließlich ist festzustellen, dass nach Art. 29 Abs. 4 der Dublin‑III-Verordnung die Kommission im Wege von Durchführungsrechtsakten einheitliche Bedingungen für Konsultationen und den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere für den Fall, dass Überstellungen verschoben werden oder nicht fristgerecht erfolgen, festlegt. Art. 9 Abs. 2 der Durchführungsverordnung stellt klar, dass ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von sechs Monaten vornehmen kann, den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist unterrichtet, ohne insoweit eine Abstimmungspflicht vorzusehen. 75 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt. Zur dritten Frage 76 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung in den Mitgliedstaat überstellt wird, der nach der Verordnung für die Bearbeitung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, wenn dieser Antragsteller im Fall der Gewährung eines solchen Schutzes in diesem Mitgliedstaat aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort als international Schutzberechtigten erwarten würden, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren. Das vorlegende Gericht möchte ferner wissen, ob diese Frage in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Darüber hinaus möchte es wissen, nach welchen Maßstäben das nationale Gericht gegebenenfalls die Lebensverhältnisse einer Person, der internationaler Schutz gewährt worden ist, zu beurteilen hat. 77 Insoweit ist erstens festzustellen, dass die Entscheidung eines Mitgliedstaats, einen Antragsteller gemäß Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung in den Mitgliedstaat zu überstellen, der nach der Verordnung grundsätzlich für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ein Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems darstellt und damit das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt (vgl. entsprechend Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 68 und 69, sowie vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 53 und 54). 78 Des Weiteren ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass die Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung unter Beachtung der Grundrechte auszulegen und anzuwenden sind, die durch die Charta, insbesondere ihren Art. 4, gewährleistet sind, der ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verbietet und somit fundamentale Bedeutung und allgemeinen und absoluten Charakter hat, da er eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 85 und 86, sowie vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 59, 69 und 93). 79 Die dritte Frage stellt somit eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts im Sinne von Art. 267 AEUV dar. 80 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden (Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung), und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte, insbesondere ihren Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 77 und 87). 81 Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten hat im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 78, sowie vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 36). 82 Folglich muss im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin‑III-Verordnung, die auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruht und durch eine Rationalisierung der Anträge auf internationalen Schutz deren Bearbeitung im Interesse sowohl der Antragsteller als auch der teilnehmenden Staaten beschleunigen soll, die Vermutung gelten, dass die Behandlung dieser Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) und der EMRK steht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 78 bis 80). 83 Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 81). 84 Daher wäre die Anwendung einer unwiderlegbaren Vermutung, dass die Grundrechte der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in dem Mitgliedstaat beachtet werden, der nach der Dublin‑III-Verordnung als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist, mit der Pflicht zu grundrechtskonformer Auslegung und Anwendung der Verordnung unvereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 99, 100 und 105). 85 Deshalb hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es nach Art. 4 der Charta den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin‑II-Verordnung, der Vorgängerin der Dublin‑III-Verordnung, zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden (Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 106). 86 Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 der Dublin‑III-Verordnung, durch den diese Rechtsprechung kodifiziert wurde, stellt klar, dass in einer solchen Situation der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat wird, wenn er nach Fortsetzung der Prüfung der Kriterien des Kapitels III der Verordnung feststellt, dass keine Überstellung an einen aufgrund dieser Kriterien bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann. 87 Zwar bezieht sich Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung nur auf die Situation, die dem Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865), zugrunde liegt, nämlich die, in der sich die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta aus systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Personen, die internationalen Schutz beantragen, in dem Mitgliedstaat ergibt, der nach dieser Verordnung als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist. Aus den Rn. 83 und 84 des vorliegenden Urteils sowie aus dem allgemeinen und absoluten Charakter des Verbots in Art. 4 der Charta geht jedoch hervor, dass die Überstellung eines Antragstellers in diesen Mitgliedstaat in all jenen Situationen ausgeschlossen ist, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei seiner Überstellung oder infolge seiner Überstellung eine solche Gefahr laufen wird. 88 Folglich ist es für die Anwendung von Art. 4 der Charta gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin‑III-Verordnung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. 89 Das Gemeinsame Europäische Asylsystem und der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen nämlich – wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat – auf der Zusicherung, dass die Anwendung dieses Systems in keinem Stadium und in keiner Weise zu einem ernsthaften Risiko von Verstößen gegen Art. 4 der Charta führt. In dieser Hinsicht wäre es widersprüchlich, wenn das Vorliegen eines solchen Risikos im Stadium des Asylverfahrens eine Überstellung verhindern würde, während dasselbe Risiko dann geduldet würde, wenn dieses Verfahren durch die Zuerkennung von internationalem Schutz zum Abschluss kommt. 90 Insoweit ist das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die die betreffende Person zum Nachweis des Vorliegens eines solchen Risikos vorgelegt hat, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (vgl. entsprechend Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89). 91 Was drittens die Frage anbelangt, anhand welcher Kriterien die zuständigen nationalen Behörden diese Würdigung vorzunehmen haben, ist festzustellen, dass die in der vorstehenden Randnummer erwähnten Schwachstellen nur dann unter Art. 4 der Charta, der Art. 3 der EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, fallen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (vgl. EGMR, 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, § 254). 92 Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne EGMR, 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland, CE:ECHR:2011:0121JUD003069609, §§ 252 bis 263). 93 Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann. 94 Ein Umstand wie der vom vorlegenden Gericht angesprochene, dass nach dem in Rn. 47 des vorliegenden Urteils angeführten Bericht die Formen familiärer Solidarität, die Angehörige des normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats in Anspruch nehmen, um den Mängeln des Sozialsystems dieses Mitgliedstaats zu begegnen, bei den Personen, denen in diesem Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist, im Allgemeinen fehlen, ist keine ausreichende Grundlage für die Feststellung, dass sich eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, im Fall ihrer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Situation extremer materieller Not befände. 95 Dennoch lässt sich nicht völlig ausschließen, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nachweisen kann, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen, die ihr eigen sind und im Fall ihrer Überstellung in den normalerweise für die Bearbeitung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat bedeuten würden, dass sie sich, nachdem ihr internationaler Schutz gewährt worden ist, aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die den in den Rn. 91 bis 93 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien entspricht. 96 Im vorliegenden Fall können Mängel in dem normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Personen, denen dieser Schutz zuerkannt worden ist, keinen ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Grund für die Annahme darstellen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in diesen Mitgliedstaat tatsächlich Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu sein. 97 Jedenfalls kann der bloße Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als im normalerweise für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren. 98 Nach alledem ist die dritte Frage wie folgt zu beantworten: – Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob Art. 4 der Charta dem entgegensteht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung in den nach dieser Verordnung normalerweise für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird, wenn dieser Antragsteller im Fall der Gewährung eines solchen Schutzes in diesem Mitgliedstaat aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort als international Schutzberechtigten erwarten würden, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, in seinen Anwendungsbereich fällt. – Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass er einer solchen Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht entgegensteht, es sei denn, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht stellt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte fest, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Kosten 99 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass ein Antragsteller „flüchtig ist“ im Sinne dieser Bestimmung, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Der Antragsteller behält die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er diesen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen. Art. 27 Abs. 1 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass im Rahmen eines Verfahrens gegen eine Überstellungsentscheidung die betreffende Person sich auf Art. 29 Abs. 2 der Verordnung berufen und geltend machen kann, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist abgelaufen sei, weil sie nicht flüchtig gewesen sei. 2. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 604/2013 ist dahin auszulegen, dass es für die Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt. 3. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Frage, ob Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dem entgegensteht, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 29 der Verordnung Nr. 604/2013 in den nach dieser Verordnung normalerweise für die Prüfung ihres Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat überstellt wird, wenn dieser Antragsteller im Fall der Gewährung eines solchen Schutzes in diesem Mitgliedstaat aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort als international Schutzberechtigten erwarten würden, einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta zu erfahren, in seinen Anwendungsbereich fällt. Art. 4 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass er einer solchen Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, nicht entgegensteht, es sei denn, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht stellt auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte fest, dass dieses Risiko für diesen Antragsteller gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Lenaerts Prechal Vilaras Regan Biltgen Jürimäe Lycourgos Rosas Juhász Ilešič Malenovský Bay Larsen Šváby Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. März 2019. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 28. Februar 2019.#Ateknea Solutions Catalonia, SA gegen Europäische Kommission.#Schiedsklausel – Im Rahmen des Sechsten Rahmenprogramms im Bereich der Forschung und der technologischen Entwicklung (2002 – 2006) geschlossene Verträge – Erstattung der von der Klägerin getragenen Kosten zuzüglich Verzugszinsen – Förderfähige Kosten – Vertragliche Haftung.#Rechtssache T-69/16.
62016TJ0069
ECLI:EU:T:2019:121
2019-02-28T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62016TJ0069 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62016TJ0069 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62016TJ0069 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 4. Oktober 2018.#Dooel Uvoz-Izvoz Skopje Link Logistic N&N gegen Budapest Rendőrfőkapitánya.#Vorabentscheidungsersuchen des Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Straßenverkehr – Steuerliche Vorschriften – Richtlinie 1999/62/EG – Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge – Mautgebühr – Pflicht der Mitgliedstaaten, wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen festzulegen – Pauschale Geldbuße – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie.#Rechtssache C-384/17.
62017CJ0384
ECLI:EU:C:2018:810
2018-10-04T00:00:00
Bobek, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62017CJ0384 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) 4. Oktober 2018 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Straßenverkehr – Steuerliche Vorschriften – Richtlinie 1999/62/EG – Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge – Mautgebühr – Pflicht der Mitgliedstaaten, wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen festzulegen – Pauschale Geldbuße – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie“ In der Rechtssache C‑384/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely, Ungarn) mit Entscheidung vom 13. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juni 2017, in dem Verfahren Dooel Uvoz‑Izvoz Skopje Link Logistic N&N gegen Budapest Rendőrfőkapitánya erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) sowie des Richters F. Biltgen, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der ungarischen Regierung, vertreten durch G. Koós und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Havas und J. Hottiaux als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Juni 2018 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9a der Richtlinie 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 1999 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge (ABl. 1999, L 187, S. 42) in der durch die Richtlinie 2011/76/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2011 (ABl. 2011, L 269, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 1999/62). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Dooel Uvoz‑Izvoz Skopje Link Logistic N&N (im Folgenden: Link Logistic N&N) und dem Budapest Rendőrfőkapitánya (Polizeipräsident in Budapest, Ungarn) über eine Geldbuße, die gegen die Link Logistic N&N wegen Benutzung eines Streckenabschnitts einer Autobahn ohne Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr verhängt wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Die Erwägungsgründe 1, 12 und 15 der Richtlinie 1999/62 lauten: „(1) Die Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen zwischen Verkehrsunternehmen aus den Mitgliedstaaten erfordert die Harmonisierung der Abgabesysteme und die Einführung gerechter Mechanismen für die Erhebung von Gebühren von den Verkehrsunternehmern. … (12) Die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen können zwar nicht allein durch die Harmonisierung der Steuern oder der Verbrauchsabgaben auf Kraftstoffe beseitigt werden, sie können jedoch – solange es keine technisch und wirtschaftlich besseren Erhebungsformen gibt – dadurch gemildert werden, dass Maut- und/oder Autobahnbenutzungsgebühren beibehalten oder eingeführt werden. Ferner sollte den Mitgliedstaaten das Erheben von Gebühren für die Benutzung von Brücken, Tunnels und Gebirgspässen gestattet sein. … (15) Die Benutzungsgebühren sollten entsprechend der Dauer der Benutzung der betreffenden Verkehrswege festgelegt werden und unter Berücksichtigung der von den Straßenfahrzeugen verursachten Kosten differenziert werden.“ 4 Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt: „Diese Richtlinie gilt für Kraftfahrzeugsteuern und für Maut- und Benutzungsgebühren, die von den in Artikel 2 definierten Fahrzeugen erhoben werden.“ 5 Art. 2 der Richtlinie sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … b) ‚Mautgebühr‘ eine für eine Fahrt eines Fahrzeugs auf einem bestimmten Verkehrsweg zu leistende Zahlung, deren Höhe sich nach der zurückgelegten Wegstrecke und dem Fahrzeugtyp richtet und die eine Infrastrukturgebühr und/oder eine Gebühr für externe Kosten beinhaltet; …“ 6 Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 1999/62 lautet: „Unbeschadet des Artikels 9 Absatz 1a dürfen die Mitgliedstaaten unter den in den Absätzen 2, 3, 4 und 5 dieses Artikels und in den Artikeln 7a bis 7k genannten Bedingungen Maut- und/oder Benutzungsgebühren auf dem transeuropäischen Straßennetz oder auf bestimmten Abschnitten dieses Netzes und zusätzlich auf anderen Abschnitten ihrer Autobahnnetze, die nicht zum transeuropäischen Straßennetz gehören, beibehalten oder einführen. Das Recht der Mitgliedstaaten, unter Beachtung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Maut- und/oder Benutzungsgebühren auf anderen Straßen zu erheben, bleibt hiervon unberührt, sofern die Erhebung von Maut- und/oder Benutzungsgebühren auf solchen anderen Straßen den internationalen Verkehr nicht diskriminiert und nicht zur Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen führt.“ 7 Art. 9a der Richtlinie bestimmt: „Die Mitgliedstaaten sehen geeignete Kontrollen vor und legen Sanktionen zur Ahndung von Verstößen gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Vorschriften fest. Sie treffen die zur Anwendung dieser Vorschriften erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, angemessen und abschreckend sein.“ Ungarisches Recht Straßenverkehrsgesetz 8 § 20 Abs. 1 des Közúti közlekedésről szóló 1988. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 1988 über den Straßenverkehr, im Folgenden: Straßenverkehrsgesetz) bestimmt: „Gegen eine Person, die gegen die in diesem Gesetz sowie in spezifischen Rechts- und Verwaltungsvorschriften und in Gemeinschaftsrechtsakten festgelegten Bestimmungen betreffend … m) die für die Nutzung des mautpflichtigen Streckenabschnitts fällige streckenbezogene Gebühr … verstößt, kann eine Geldbuße verhängt werden.“ 9 § 21 des Straßenverkehrsgesetzes sieht vor: „(1)   Der Fahrzeughalter oder, im Fall von § 21/A Abs. 2, die Person, der das Fahrzeug zur Nutzung überlassen wurde, ist dafür verantwortlich, dass mit dem von ihm gehaltenen oder benutzten Kraftfahrzeug die durch besondere Rechtsvorschriften festgelegten Vorschriften über … h) die für die Nutzung des mautpflichtigen Streckenabschnitts fällige streckenbezogene Gebühr eingehalten werden … (2)   Bei einem Verstoß gegen eine der in Abs. 1 genannten Vorschriften wird gegen den Fahrzeughalter oder, im Fall von § 21/A Abs. 2, die Person, der das Fahrzeug zur Nutzung überlassen wurde, eine Geldbuße in Höhe von 10000 [ungarischen] Forint bis 300000 [ungarischen] Forint [(HUF) (ungefähr 32 Euro bis 974 Euro)] festgesetzt. Die Höhe der bei einem Verstoß gegen diese Vorschriften zu verhängenden Geldbußen wird durch Regierungsverordnung festgelegt. Verstößt ein und dasselbe Verhalten gegen mehrere Vorschriften und wird es im Rahmen desselben Verfahrens geprüft, wird es mit einer Geldbuße geahndet, die der Summe der für jeden einzelnen Verstoß vorgesehenen Geldbußen entspricht. … (5)   Unter Berücksichtigung der Bestimmungen des Abs. 1 werden durch Regierungsverordnung die Verstöße bestimmt, für die gegen den Fahrzeughalter … eine Geldbuße festgesetzt werden kann.“ Mautgebührengesetz 10 § 3 Abs. 1 und 6 des Az autópályák, autóutak és főutak használatáért fizetendő, megtett úttal arányos díjról szóló 2013. évi LXVII. törvény (Gesetz Nr. LXVII von 2013 über die Erhebung von streckenbezogenen Gebühren für die Benutzung von Autobahnen, Schnellstraßen und Hauptstraßen, im Folgenden: Mautgebührengesetz) bestimmt: „(1)   Für die Benutzung mautpflichtiger Straßenabschnitte durch mautpflichtige Kraftfahrzeuge ist eine Straßennutzungsberechtigung nach diesem Gesetz erforderlich. … (6)   Der Halter des … Kraftfahrzeugs ist dafür verantwortlich, dass das von ihm gehaltene Kraftfahrzeug die in Abs. 1 festgelegten Vorgaben einhält.“ 11 § 14 des Mautgebührengesetzes sieht vor: „Eine unberechtigte Straßennutzung liegt – außer in den Befreiungsfällen nach § 9 – vor, wenn a) der zur Mautzahlung Verpflichtete nicht vor Beginn der Nutzung des mautpflichtigen Straßenabschnitts ein Streckenticket für diesen Straßenabschnitt erworben hat und nicht über einen gültigen, mit dem Verwalter des Mautsystems geschlossenen Vertrag über die Abgabe von Mauterklärungen bei der Mauterhebungsstelle und die Mautentrichtung nach diesem Gesetz verfügt, b) der zur Mautzahlung Verpflichtete den mautpflichtigen Straßenabschnitt auf der Grundlage einer Maut- oder Umweltschutzerklärung nutzt, in der eine niedrigere als die für ihn geltende Maut- oder Umweltschutzkategorie angegeben ist, oder c) für die Nutzung des mautpflichtigen Straßenabschnitts in Bezug auf das betreffende Kraftfahrzeug ein gültiger, mit dem Verwalter des Mautsystems geschlossener Vertrag über die Abgabe von Mauterklärungen bei der Mauterhebungsstelle und die Mautentrichtung nach diesem Gesetz vorliegt, während der Nutzung des mautpflichtigen Straßenabschnitts jedoch eine der Voraussetzungen für das vorschriftsmäßige Funktionieren des Bordgeräts, die in einer aufgrund der Ermächtigung nach diesem Gesetz erlassenen Rechtsverordnung festgelegt sind, nicht erfüllt ist und der zur Zahlung der Maut Verpflichtete nicht vor Beginn der Nutzung des mautpflichtigen Straßenabschnitts ein Streckenticket für diesen Straßenabschnitt erworben hat.“ 12 § 15 dieses Gesetzes bestimmt: „(1)   Die Höhe der Geldbuße wird so festgelegt, dass die zur Zahlung Verpflichteten dazu angehalten werden, den geforderten Mautbetrag zu entrichten. (2)   Die festgesetzten Geldbußen sind Haushaltseinnahmen des Zentralhaushalts, die in dem in § 14 Abs. 4 Buchst. d [des Az államháztartásról szóló 2011. évi CXCV. törvény (Gesetz Nr. CXCV von 2011 über den Staatshaushalt)] genannten Abschnitt zu verbuchen sind. Die Zahlung der Geldbuße erfolgt in [ungarischen] Forint durch Überweisung auf ein durch eine nach diesem Gesetz erlassene Rechtsvorschrift bestimmtes Bankkonto.“ 13 § 16 des Mautgebührengesetzes sieht vor: „Die unberechtigte Straßennutzung im Sinne dieses Gesetzes stellt einen Verstoß dar, der nach Maßgabe des Straßenverkehrsgesetzes mit einer Geldbuße geahndet werden kann.“ 14 Der mit dem Gesetz Nr. LIV von 2014 mit Wirkung zum 9. November 2014 in das Mautgebührengesetz eingefügte § 29/A des Mautgebührengesetzes bestimmt in den Abs. 1, 4, 6 und 7: „(1)   Bei Vorliegen der Voraussetzungen der Abs. 2 bis 4 wird Antragstellern, die bei der mit der Erhebung der Maut beauftragten Stelle (im Folgenden: Mauterhebungsstelle) einen Antrag gemäß den Abs. 6 und 7 (im Folgenden: Antrag) stellen, nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Gesetzes die Geldbuße erlassen, die wegen einer unberechtigten Straßennutzung im Sinne des § 14 Buchst. a, die zwischen dem 1. Juli 2013 und dem 31. März 2014 stattgefunden hat, festgesetzt worden ist. … (4)   Auf Antrag gemäß Abs. 7 wird dem Antragsteller die Geldbuße wegen einer Zuwiderhandlung gegen § 14 Buchst. a erlassen, wenn die Geldbuße auf einem mautpflichtigen Straßenabschnitt oder einer dorthin führenden Straße – innerhalb der Gültigkeitsdauer des Streckentickets höchstens einmal je Fahrtrichtung an einem bestimmten Kontrollpunkt – verhängt wurde, der betreffende mautpflichtige Straßenabschnitt unter Straßennetzgesichtspunkten funktionell parallel zu der Straße verläuft, für die das in Rede stehende Fahrzeug in demselben Zeitraum über eine Straßennutzungsberechtigung verfügte, und von dieser Berechtigung während ihrer Gültigkeitsdauer kein Gebrauch gemacht worden ist. … (6)   Neben der Erfüllung der Bestimmungen der Abs. 2 bis 4 setzt der Erlass der Geldbuße voraus, dass der Antragsteller vor Antragstellung bei der Mauterhebungsstelle für jede Geldbuße Bearbeitungsgebühren in Höhe von 12000 HUF [(ungefähr 39 Euro)] einschließlich Mehrwertsteuer entrichtet hat und diese Zahlung bei Antragstellung nachweist … (7)   Der Antrag kann innerhalb von 60 Tagen nach Inkrafttreten des Gesetzes Nr. LIV von 2014 zur Änderung des [Mautgebührengesetzes] gestellt werden. Die Mauterhebungsstelle stellt auf der Grundlage des eingereichten Antrags – wenn sein Inhalt den Bestimmungen dieses Gesetzes entspricht und zu den in der Datenbank der Mauterhebungsstelle gespeicherten Informationen nicht im Widerspruch steht – eine Bescheinigung darüber aus, dass dem Antragsteller wegen Erfüllung der in den Abs. 2 bis 4 geregelten Voraussetzungen die Geldbuße erlassen werden kann. Wenn der Inhalt des Antrags von den in der Datenbank der Mauterhebungsstelle gespeicherten Informationen abweicht, wird die Bescheinigung nicht erteilt. Die Mauterhebungsstelle erteilt die Bescheinigung binnen 120 Tagen nach Eingang des Antrags …“ Regierungsverordnung Nr. 410/2007 15 § 1 Abs. 1 der A közigazgatási bírsággal sújtandó közlekedési szabályszegések köréről, az e tevékenységekre vonatkozó rendelkezések megsértése esetén kiszabható bírságok összegéről, felhasználásának rendjéről és az ellenőrzésben történő közreműködés feltételeiről szóló 410/2007. (XII. 29.) Korm. rendelet (Regierungsverordnung Nr. 410 vom 29. Dezember 2007 über die bußgeldbewehrten Straßenverkehrsverstöße, die Höhe der möglichen Geldbußen bei solchen Verstößen, die Verwendung der Geldbußen und die Voraussetzungen für die Beteiligung an den Kontrollen, im Folgenden: Regierungsverordnung Nr. 410/2007) bestimmt: „Gemäß § 21 Abs. 1 des [Straßenverkehrsgesetzes] wird bei einem Verstoß gegen die Bestimmungen der §§ 2 bis 8/A gegen den Fahrzeughalter … eine Geldbuße in der in dieser Verordnung festgelegten Höhe festgesetzt.“ 16 In § 8/A der Regierungsverordnung Nr. 410/2007 heißt es: „(1)   In Verbindung mit § 21 Abs. 1 Buchst. h des [Straßenverkehrsgesetzes] hat der Fahrzeughalter bei einem Verstoß gegen die in Anhang 9 genannten Rechtsvorschriften eine Geldbuße in der für die Fahrzeugkategorie festgelegten Höhe zu zahlen. (2)   Gegen den Fahrzeughalter kann die Geldbuße nach Abs. 1 wegen unberechtigter Straßennutzung mit demselben Fahrzeug nicht erneut verhängt werden, wenn seit der erstmaligen Feststellung der unberechtigten Straßennutzung mit diesem Fahrzeug keine acht Stunden vergangen sind. …“ 17 In Anhang 9 dieser Verordnung ist Folgendes festgelegt: „A B B1 B2 B3 1. Verstoß gegen das Mautgebührengesetz Höhe der Geldbuße für die betreffende Fahrzeugkategorie J2 J3 J4 2. Verstoß gegen § 14 Buchst. a 140 000 150 000 165 000 3. Verstoß gegen § 14 Buchst. b 80 000 90 000 110 000 4. Verstoß gegen § 14 Buchst. c 140 000 150 000 165 000“ Regierungsverordnung Nr. 209/2013 18 § 24 Abs. 3 der Az ED törvény végrehajtásáról szóló 209/2013 (VI. 18.) Korm. rendelet (Regierungsverordnung Nr. 209 vom 18. Juni 2013 zur Durchführung des Mautgebührengesetzes) lautet: „Das Streckenticket ist eine Straßennutzungsberechtigung für eine Fahrt ohne Unterbrechungen mit einem Kraftfahrzeug, dessen Parameter beim Erwerb angegeben wurden. Das Streckenticket ist nicht übertragbar; die Route und die Kraftfahrzeugparameter, die bei seinem Erwerb angegeben wurden und auf ihm vermerkt sind, können nicht geändert werden. Das Streckenticket kann wie folgt für eine an einem zuvor festgelegten Tag angetretene Fahrt verwendet werden: a) wenn seine Gültigkeit am Tag des Erwerbs beginnt, vom Zeitpunkt des Erwerbs bis zum Ablauf des folgenden Tages, b) wenn es im Vorverkauf höchstens 30 Tage zuvor erworben wurde, vom Beginn des festgelegten Kalendertages bis zum Ablauf des folgenden Tages.“ 19 § 26 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung bestimmt: „Vor Beginn der Nutzung der mautpflichtigen Strecke hat der zur Entrichtung der Maut Verpflichtete dafür zu sorgen, dass er zu dem Verwalter des Mautsystems in einem Rechtsverhältnis steht, das es ihm ermöglicht, das von der Mauterhebungsstelle betriebene elektronische Mautsystem tatsächlich zu benutzen und darüber das Streckenticket für die tatsächlich benutzte Straße zu erwerben.“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 20 Am 29. Oktober 2015 um 19.34 Uhr war ein Lastkraftwagen der Kategorie J4 im Sinne der Regierungsverordnung Nr. 410/2007, dessen Halter die Link Logistik N&N, ein in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien registriertes Unternehmen, war, in Ungarn auf einem mautpflichtigen Straßenabschnitt unterwegs, ohne im Besitz eines gültigen Mauttickets zu sein und ohne die Gebühr entrichtet zu haben, die der auf diesem Abschnitt zurückgelegten Strecke entsprach. 21 Am gleichen Tag um 19.52 Uhr entrichtete der Fahrer des Lastkraftwagens von sich aus die Gebühr in Höhe von 19573 HUF (ungefähr 63 Euro) für den gesamten mautpflichtigen Straßenabschnitt, den er benutzen wollte, und setzte seine Fahrt auf diesem Abschnitt fort. 22 Mit Entscheidung vom 15. Januar 2016 verhängte der Vas Megye Rendőrfőkapitánya (Polizeipräsident für das Komitat Vas, Ungarn) dennoch nach den §§ 21 bis 21/B des Straßenverkehrsgesetzes sowie § 1 Abs. 1 und § 8/A der Regierungsverordnung Nr. 410/2007 eine Geldbuße in Höhe von 165000 HUF (ungefähr 532 Euro) gegen die Link Logistik N&N. Er begründete dies damit, dass das betreffende Fahrzeug unter Verstoß gegen § 14 Buchst. a des Mautgebührengesetzes ohne vorherige Zahlung der vorgeschriebenen Gebühr unterwegs gewesen sei. 23 Der Polizeipräsident in Budapest bestätigte diese Entscheidung mit der Begründung, dass die einschlägige nationale Regelung der Verwaltungsbehörde keinerlei Ermessen hinsichtlich der Höhe der Geldbußen einräume. Die Verwaltungsbehörde dürfe keine Billigkeitserwägungen berücksichtigen, sondern sich nur auf die gesetzlich vorgesehenen Gesichtspunkte stützen. Dazu zählten weder die von der Link Logistik N&N geltend gemachten Gesichtspunkte – wie der nachträgliche, kurzfristig erfolgte Erwerb eines Streckentickets für die gesamte mautpflichtige Strecke – noch etwaige Hindernisse für den Erwerb eines Streckentickets vor Benutzung des mautpflichtigen Straßenabschnitts. 24 Die Link Logistik N&N erhob gegen die Entscheidung des Polizeipräsidenten in Budapest beim vorlegenden Gericht, dem Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely, Ungarn), Klage und machte u. a. geltend, dass die ungarische Regelung mit dem Unionsrecht unvereinbar sei. Da sie eine Geldbuße habe entrichten müssen, die genauso hoch sei wie die, die gegen Personen oder Unternehmen verhängt werde, die gar kein Streckenticket erworben hätten, sei der Betrag dieser Geldbuße überhöht. 25 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit in den – sachlich dem Ausgangsrechtsstreit ähnlichen – Rechtssachen Euro-Team und Spirál-Gép (Urteil vom 22. März 2017, C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229) ausgelegt und festgestellt habe, dass die Höhe der von der ungarischen Regelung vorgeschriebenen Geldbußen diesem Erfordernis nicht entspreche. 26 Das vorlegende Gericht, das über den Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden hat, stellt sich zunächst die Frage, ob diese Bestimmung unmittelbar anwendbar ist. 27 Sodann meint das vorlegende Gericht, dass ein solches Erfordernis nicht schrankenlos sei. Zwar lasse sich aus dem Vorrang des Unionsrechts und der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten ableiten, dass nationales Recht unangewendet bleiben müsse, soweit es einer Bestimmung einer nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinie widerspreche, es sei aber nicht erforderlich und manchmal sogar unmöglich, das nationale Recht im Wege der Rechtsauslegung inhaltlich zu ergänzen. 28 Das vorlegende Gericht ist daher der Auffassung, dass eine mit einer Richtlinie vereinbare Auslegung des nationalen Rechts nicht zu einer verdeckten Gesetzgebung, einer Übernahme der Gesetzgebungszuständigkeit und einer Zuständigkeitsüberschreitung der Rechtsanwendungsorgane führen dürfe. 29 Im vorliegenden Fall sei es nicht möglich, durch eine im Einklang mit der Richtlinie 1999/62 stehende Auslegung des nationalen Rechts – ohne Tätigwerden des Gesetzgebers – § 21 Abs. 2 des Straßenverkehrsgesetzes um das Erfordernis der Angemessenheit zu ergänzen, da zum einen diese Bestimmung hinsichtlich der Festlegung der Höhe der Geldbußen auf eine Regierungsverordnung verweise und zum anderen die anzuwendende und auszulegende ungarische Regelung das Erfordernis der Angemessenheit nicht enthalte. 30 Hinsichtlich der Frage, ob das nationale Recht unionsrechtskonform ausgelegt werden könne, ohne dass der nationale Gesetzgeber das Erfordernis der Angemessenheit in das nationale Recht aufnehme, seien die Experten uneins und würden unterschiedliche Auffassungen vertreten. 31 Unter diesen Umständen hat das Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 festgelegte und im Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229), ausgelegte Erfordernis der Angemessenheit eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung? 2. Falls das in dieser Bestimmung festgelegte Erfordernis der Angemessenheit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229), keine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung ist: Ermöglicht und erfordert die Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts im Einklang mit dem Unionsrecht, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte und Verwaltungsbehörden die im vorliegenden Fall einschlägige innerstaatliche ungarische Regelung um die im Urteil des Gerichtshofs vom22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229), festgelegten inhaltlichen Kriterien der Angemessenheit ergänzen, ohne dass eine innerstaatliche Rechtsvorschrift erlassen worden ist? Zu den Vorlagefragen 32 Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es sich bei dem in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehenen Erfordernis der Angemessenheit der von den Mitgliedstaaten festgelegten Sanktionen für Verstöße gegen die aufgrund der Richtlinie 1999/62 erlassenen Vorschriften um eine unmittelbar anwendbare Bestimmung handelt und ob – falls dies nicht der Fall ist – die Gerichte und Verwaltungsbehörden des betreffenden Mitgliedstaats die in Rede stehende nationale Regelung im Hinblick auf eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts ohne ein Eingreifen des nationalen Gesetzgebers durch Hinzufügung von in der Rechtsprechung des Gerichtshofs definierten inhaltlichen Kriterien ergänzen dürfen oder müssen. Zur Zulässigkeit 33 Die ungarische Regierung hält die Vorlagefragen für unzulässig. Eine Beantwortung der ersten Frage sei für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich, da die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Weiteres auf das Ausgangsverfahren übertragbar sei. Zur zweiten Frage ergebe sich aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, dass dieses vom Gerichtshof Hinweise erwarte, wie das nationale Recht im Ausgangsverfahren auf unionsrechtskonforme Weise auszulegen sei, was aber in die alleinige Zuständigkeit des nationalen Richters falle. 34 Zur ersten Unzulässigkeitseinrede ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der mit Art. 267 AEUV eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (vgl. u. a. Urteil vom 5. Juni 2018, Wirtschaftsakademie Schleswig-Holstein, C‑210/16, EU:C:2018:388, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 35 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteil vom 31. Mai 2018, Zheng, C‑190/17, EU:C:2018:357, Rn. 21). 36 Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Die Vorlageentscheidung legt nämlich zunächst den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen hinreichend dar, damit die Bedeutung der Vorlagefragen erfasst werden kann. Danach bezeichnet das Vorabentscheidungsersuchen klar die Gründe, aus denen sich dem vorlegenden Gericht die Frage nach der Auslegung des Art. 9a der Richtlinie 1999/62, insbesondere des dort aufgestellten Erfordernisses der Angemessenheit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229), stellt. Außerdem steht die erbetene Auslegung im Zusammenhang mit der Realität und dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits, und die Vorlagefragen sind nicht hypothetisch, da die Antwort des Gerichtshofs eine unmittelbare Auswirkung auf die Geldbuße hat, die gegen die Klägerin des Ausgangsverfahrens verhängt bzw. nicht verhängt werden könnte. 37 Was die zweite Unzulässigkeitseinrede betrifft, ist es zwar nach ständiger Rechtsprechung nicht Sache des Gerichtshofs, über die Auslegung nationaler Vorschriften zu befinden, da ihre Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte fällt (Urteil vom 5. Juni 2018, Grupo Norte Facility, C‑574/16, EU:C:2018:390, Rn. 32). 38 Die Fragen beziehen sich jedoch, so wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert wurden, nicht auf die Auslegung des ungarischen Rechts, sondern auf die Auslegung des Unionsrechts, speziell des Erfordernisses der Angemessenheit nach Art. 9a der Richtlinie 1999/62, sowie auf die Folgen, die sich aus dem Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229), ergeben. Dies fällt in die Zuständigkeit des Gerichtshofs. 39 In Anbetracht dessen sind die Vorlagefragen zulässig. Zur Beantwortung der Fragen Vorbemerkungen 40 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen und die durch eine nationale Regelung zu beachten sind, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt oder dieses umsetzt (vgl. u. a. Beschluss vom 12. Juni 2014, Pańczyk, C‑28/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2003, Rn. 26). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet die Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu erlassen, die zur Erreichung der angestrebten Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Dieser Grundsatz, der auch durch Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantiert wird, wonach das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf, gilt gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union. 42 Somit muss die Schwere einer Sanktion der Schwere der betreffenden Straftat entsprechen, wobei sich eine solche Anforderung sowohl aus Art. 52 Abs. 1 der Charta als auch aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Strafen ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 56). 43 Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) besitzt das in Art. 49 der Charta garantierte Recht, da es einem durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Recht entspricht, gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie in der EMRK vorgesehen sind. Folglich gelten für einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens gemäß Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 und 3 der Charta die Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Bereich der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen. 44 Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Eigentumsrecht – wie es in Art. 1 des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten Zusatzprotokolls Nr. 1 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegt ist, wonach jede natürliche oder juristische Person das Recht auf Achtung ihres Eigentums hat – beurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, ob straf- oder verwaltungsrechtliche Sanktionen finanzieller Art für die von ihnen betroffene Person nicht eine übermäßige Belastung des Eigentums oder einen übermäßigen Eigentumsentzug bedeuten, der zur Unverhältnismäßigkeit dieser Sanktionen führt (vgl. u. a. EGMR, 18. Juni 2013, S. C. Complex Herta Import Export S.R.L. Lipova/Rumänien, CE:ECHR:2013:0618JUD001711804, § 38, und EGMR, 4. März 2014, Grande Stevens u. a./Italien, CE:ECHR:2014:0304JUD001864010, § 199). 45 Demnach verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum einen, dass die verhängte Sanktion der Schwere der Straftat entspricht, und zum anderen, dass die individuellen Umstände des Einzelfalls sowohl bei der Bestimmung der Sanktion als auch bei der Festlegung der Höhe der Geldbuße berücksichtigt werden. 46 Die Vorlagefragen sind im Licht dieser Erwägungen zu beantworten. Zur ersten und zur zweiten Frage 47 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich der Einzelne in allen Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, gegenüber einem Mitgliedstaat vor dessen Gerichten auf sie berufen, wenn dieser Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt hat (Urteil vom 15. Februar 2017, British Film Institute, C‑592/15, EU:C:2017:117, Rn. 13). 48 In diesem Zusammenhang sind die Rechtsnatur, die Systematik und der Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmung zu prüfen (Urteil vom 4. Dezember 1974, Van Duyn, 41/74, EU:C:1974:133, Rn. 12). Ein entsprechender Fall liegt u. a. vor, wenn die Bestimmung der fraglichen Richtlinie eine Verpflichtung enthält, die weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist und ihrem Wesen nach keiner weiteren Maßnahme der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf und diesen bei der Durchführung keinen Ermessensspielraum lässt (vgl. u. a. Urteile vom 4. Dezember 1974, Van Duyn, 41/74, EU:C:1974:133, Rn. 6 und 13, sowie vom 22. Dezember 2010, Gavieiro Gavieiro und Iglesias Torres, C‑444/09 und C‑456/09, EU:C:2010:819, Rn. 79). 49 Somit ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist, damit sich ein Einzelner gegenüber einem Mitgliedstaat vor dessen nationalen Behörden darauf berufen kann. 50 Nach dieser Bestimmung legen die Mitgliedstaaten zur Ahndung von Verstößen gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Vorschriften Sanktionen fest, die wirksam, angemessen und abschreckend sein müssen. 51 Die Mitgliedstaaten sind daher zur Umsetzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Richtlinie 1999/62 verpflichtet, die nach ihrem innerstaatlichen Recht erforderlichen Rechtsakte zu erlassen. Damit stellt Art. 9a der Richtlinie eine Verpflichtung auf, die ihrem Wesen nach eine Maßnahme der Mitgliedstaaten erfordert, die bei der Erfüllung dieser Verpflichtung über einen großen Ermessensspielraum verfügen. 52 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie nicht näher regelt, wie die innerstaatlichen Sanktionen festzulegen sind, und insbesondere kein ausdrückliches Kriterium für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit solcher Sanktionen enthält (Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép, C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229, Rn. 38). 53 Da Art. 9a der Richtlinie 1999/62 ein Eingreifen der Mitgliedstaaten erfordert und ihnen einen beträchtlichen Ermessensspielraum verleiht, kann er somit nicht als inhaltlich unbedingt und hinreichend genau angesehen werden und hat daher keine unmittelbare Wirkung. 54 Eine gegenteilige Auslegung würde in der Praxis zu einem Verlust des Ermessensspielraums führen, der allein den nationalen Gesetzgebern verliehen wurde, denen in dem von Art. 9a der Richtlinie 1999/62 definierten Rahmen die Schaffung einer geeigneten Sanktionsregelung obliegt. 55 Daraus folgt, dass das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht dahin ausgelegt werden kann, dass es den nationalen Richter verpflichtet, sich an die Stelle des nationalen Gesetzgebers zu setzen. 56 Art. 9a der Richtlinie 1999/62 hat somit keine unmittelbare Wirkung und verleiht dem Einzelnen in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens kein Recht, sich vor den nationalen Behörden auf ihn zu berufen. 57 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das darin vorgesehene Ziel zu erreichen, und die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 288 AEUV, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten obliegt (vgl. u. a. Urteile vom 14. September 2016, Martínez Andrés und Castrejana López, C‑184/15 und C‑197/15, EU:C:2016:680, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 24. Januar 2018, Pantuso u. a., C‑616/16 und C‑617/16, EU:C:2018:32, Rn. 42). 58 Zur Erfüllung dieser Verpflichtung verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung von den nationalen Behörden, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (vgl. u. a. Urteile vom 13. Juli 2016, Pöpperl, C‑187/15, EU:C:2016:550, Rn. 43, und vom 28. Juni 2018, Crespo Rey, C‑2/17, EU:C:2018:511, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung). 59 Allerdings unterliegt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl. u. a. Urteil vom 13. Juli 2016, Pöpperl, C‑187/15, EU:C:2016:550, Rn. 44). 60 Unter dem Vorbehalt der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass eine Auslegung des nationalen Rechts im Einklang mit Art. 9a der Richtlinie 1999/62 zu einer Auslegung contra legem führen könnte, da das Gericht die Geldbuße der Klägerin des Ausgangsverfahrens herabsetzen müsste, obwohl die ungarischen Rechtsvorschriften über Straßenverkehrsverstöße die Höhe der Geldbußen genau festlegen, ohne die Möglichkeit einer Herabsetzung vorzusehen oder zu verlangen, dass sie mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen. 61 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung ist das nationale Gericht, wenn eine solche konforme Auslegung nicht möglich ist, verpflichtet, das Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die dieses dem Einzelnen einräumt, zu schützen, indem es notfalls jede Bestimmung unangewendet lässt, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde (Urteil vom 13. Juli 2016, Pöpperl, C‑187/15, EU:C:2016:550, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zum einen zu antworten, dass das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit keine unmittelbare Wirkung hat, und zum anderen, dass das nationale Gericht aufgrund seiner Verpflichtung, alle zur Umsetzung dieser Bestimmung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, das nationale Recht im Einklang mit dieser Bestimmung auszulegen, oder, falls eine solche konforme Auslegung nicht möglich ist, jede nationale Bestimmung unangewendet zu lassen hat, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde. Kosten 63 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: Das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 1999 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge in der durch die Richtlinie 2011/76/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2011 geänderten Fassung vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit hat keine unmittelbare Wirkung. Das nationale Gericht hat aufgrund seiner Verpflichtung, alle zur Umsetzung dieser Bestimmung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, das nationale Recht im Einklang mit dieser Bestimmung auszulegen oder, falls eine solche konforme Auslegung nicht möglich ist, jede nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
Urteil des Gerichts (Rechtsmittelkammer) vom 27. Juni 2017 (Auszüge).#José Luis Ruiz Molina gegen Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum.#Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Bedienstete auf Zeit – Befristeter Vertrag, der eine Auflösungsklausel enthält, nach der der Vertrag beendet wird, falls der Name des Bediensteten nicht in die Reserveliste des nächsten allgemeinen Auswahlverfahrens aufgenommen wird – Auflösung des Vertrags gemäß der Auflösungsklausel – Umdeutung eines befristeten in einen unbefristeten Vertrag – Rechtskraft – Paragraf 5 Nr. 1 der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge – Begründungspflicht.#Rechtssache T-233/16 P.
62016TJ0233
ECLI:EU:T:2017:435
2017-06-27T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62016TJ0233 T‑233/16 P62016TJ0233EU:T:2017:43500011188T URTEIL DES GERICHTS (Rechtsmittelkammer) 27. Juni 2017 (*1) „Rechtsmittel — Öffentlicher Dienst — Bedienstete auf Zeit — Befristeter Vertrag, der eine Auflösungsklausel enthält, nach der der Vertrag beendet wird, falls der Name des Bediensteten nicht in die Reserveliste des nächsten allgemeinen Auswahlverfahrens aufgenommen wird — Auflösung des Vertrags gemäß der Auflösungsklausel — Umdeutung eines befristeten Vertrags in einen unbefristeten Vertrag — Rechtskraft — Paragraf 5 Nr. 1 der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge — Begründungspflicht“ In der Rechtssache T‑233/16 P betreffend ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (Dritte Kammer) vom 2. März 2016, Ruiz Molina/HABM (F‑60/15, EU:F:2016:28), wegen Aufhebung dieses Urteils, José Luis Ruiz Molina, wohnhaft in San Juan de Alicante (Spanien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte N. Lhoëst und S. Michiels, Rechtsmittelführer, andere Partei des Verfahrens: Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), Prozessbevollmächtigte: A. Lukošiūtė als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt B. Wägenbaur, Beklagter im ersten Rechtszug, erlässt DAS GERICHT (Rechtsmittelkammer) unter Mitwirkung des Präsidenten M. Jaeger sowie der Richter M. Prek (Berichterstatter) und A. Dittrich, Kanzler: E. Coulon, folgendes Urteil (1 ) 1 Mit seinem gemäß Art. 9 des Anhangs I der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingelegten Rechtsmittel beantragt der Rechtsmittelführer, Herr José Luis Ruiz Molina, die Aufhebung des Urteils des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union (Dritte Kammer) vom 2. März 2016, Ruiz Molina/HABM (F‑60/15, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:F:2016:28), mit dem das Gericht für den öffentlichen Dienst seine Klage auf Aufhebung der Entscheidung des Präsidenten des EUIPO vom 4. Juni 2014, seinen Vertrag als Bediensteter auf Zeit nach Ablauf einer sechsmonatigen Kündigungsfrist zu beenden, abgewiesen hat. Sachverhalt 2 Der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt wird in den Rn. 13 bis 29 des angefochtenen Urteils wie folgt dargestellt: „13 Der Kläger trat seinen Dienst beim [EUIPO] am 16. Juli 2001 an und erhielt mit Wirkung vom 16. Juli 2002 für eine ursprünglich vorgesehene Dauer von vier Jahren, d. h. bis zum 15. Juli 2006, einen Vertrag als Bediensteter auf Zeit nach Art. 2 Buchst. a der BSB in ihrer damals geltenden Fassung. [nicht wiedergegeben] 15 Nachdem der Kläger an einem im Bereich des ‚gewerblichen Eigentums‘ organisierten internen Ausleseverfahren teilgenommen hatte, wurde ihm unter Berücksichtigung seines Rangs auf der Liste mit Wirkung vom 1. Juni 2005 eine Zusatzvereinbarung zu seinem Vertrag als Bediensteter auf Zeit angeboten, die er annahm. Die Art. 4 und 5 dieses Vertrags wurden dabei geändert, wobei aus seinem Vertrag gemäß dem neuen Art. 4 ein ‚Vertrag … auf unbestimmte Dauer mit einer Auflösungsklausel‘ wurde. 16 Art. 5 des Vertrags als Bediensteter auf Zeit in der geänderten Fassung sah vor: ‚Dieser Vertrag wird zu den in Art. 47 der [BSB] genannten Bedingungen aufgelöst, wenn der [Name des] Bedienstete[n] nicht in die Reserveliste des nächsten vom [Europäischen Amt für Personalauswahl] für seine Funktionsgruppe organisierten allgemeinen Auswahlverfahrens mit dem Spezialgebiet gewerbliches Eigentum aufgenommen wird. Dieser Vertrag wird ferner aufgelöst, wenn der Bedienstete ein ihm vom [EUIPO] nach Veröffentlichung der Reserveliste des genannten Auswahlverfahrens unterbreitetes Angebot zur Einstellung als Beamter in seiner Funktionsgruppe ablehnt. Das [EUIPO] behält sich außerdem das Recht vor, den Vertrag aus einem der in den Art. 47 bis 50 der BSB aufgeführten Gründe unter den dort genannten Voraussetzungen zu kündigen. Wenn die Voraussetzungen für eine Auflösung des Vertrags vorliegen, endet der Vertrag automatisch nach Ablauf der in Art. 47 Buchst. c Ziff. i der [BSB] vorgesehenen Kündigungsfrist.‘ [nicht wiedergegeben] 18 Am 19. Dezember 2007 teilte der Direktor der Personalabteilung des [EUIPO] dem Kläger mit, dass die allgemeinen Auswahlverfahren OHIM/AD/02/07 und OHIM/AST/02/07 zu den Auswahlverfahren gehörten, auf die sich die Auflösungsklausel in Art. 5 seines Vertrags als Bediensteter auf Zeit in der Fassung vom 1. Juni 2005 beziehe. 19 Der Kläger bewarb sich für das allgemeine Auswahlverfahren OHIM/AST/02/07, aber [sein Name] wurde nicht in die Reserveliste aufgenommen. Sein Vertrag wurde mit Entscheidung vom 12. März 2009 zum 15. September 2009 abends aufgelöst (im Folgenden: Entscheidung vom 12. März 2009). 20 Der Kläger legte gegen die Entscheidung vom 12. März 2009 Beschwerde ein. Nach der Zurückweisung seiner Beschwerde focht er diese Entscheidung im Rahmen einer mit 13 anderen Bediensteten auf Zeit und ehemaligen Bediensteten auf Zeit des [EUIPO] erhobenen Kollektivklage an, die unter dem Aktenzeichen F‑102/09 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragen wurde. 21 Auf die unter dem Aktenzeichen F‑102/09 eingetragene Kollektivklage erging das Urteil vom 15. September 2011, Bennett u. a./HABM (F‑102/09, EU:F:2011:138, im Folgenden: Urteil Bennett II). In diesem Urteil kam das Gericht zum einen zu dem Schluss, dass der Vertrag des Klägers in der Fassung vom 1. Juni 2005 ungeachtet des Wortlauts seines Art. 4 nicht als unbefristeter Vertrag qualifiziert werden konnte, der durch die Beständigkeit des Beschäftigungsverhältnisses gekennzeichnet ist (Urteil Bennett II, Rn. 86), und befand zum anderen, dass die am 1. Juni 2005 vorgenommene Änderung seines Vertrags als Bediensteter auf Zeit durch Hinzufügung einer Auflösungsklausel als eine erste Verlängerung seines befristeten Vertrags nach Art. 2 Buchst. a der BSB zu werten war (Urteil Bennett II, Rn. 120). Mit demselben Urteil wies das Gericht die Klage ab, soweit sie den Kläger betraf, und hob die Entscheidung vom 12. März 2009 somit nicht auf. 22 Im Rahmen einer anderen – unter dem Aktenzeichen F‑19/08 in das Register der Kanzlei des Gerichts eingetragenen – Kollektivklage, an der der Kläger ebenfalls teilgenommen hatte und auf die das Urteil vom 2. Juli 2009, Bennett u. a./HABM (F‑19/08, EU:F:2009:75, im Folgenden: Urteil Bennett I) erging, war das Gericht zuvor, nachdem es festgestellt hatte, dass die Auswahlverfahren OHIM/AD/02/07 und OHIM/AST/02/07 im Hinblick auf die Einstellung von nur vier Assistenten bzw. eines einzigen Verwaltungsrats durchgeführt worden waren, in Rn. 116 dieses Urteils zu folgendem Schluss gekommen: ‚Das [EUIPO] hat sich dadurch, dass es 31 Bediensteten, die zu diesem Zweck erfolgreich an internen Ausleseverfahren teilgenommen hatten, einen unbefristeten Vertrag als Bedienstete auf Zeit angeboten hat, der eine Auflösungsklausel nur für den Fall enthielt, dass die Betroffenen nicht in eine Reserveliste aufgenommen werden, die nach Abschluss eines allgemeinen Auswahlverfahrens mit dem Schwerpunkt gewerbliches Eigentum erstellt wird, deren Durchführung von seinem Präsidenten selbst für 2007 oder 2008 angekündigt worden war, eindeutig dazu verpflichtet, die Betroffenen auf Dauer zu beschäftigen, sofern sie in eine solche Reserveliste aufgenommen werden. Unter diesen Umständen hat das [EUIPO], indem es die Zahl der zu besetzenden Stellen auf insgesamt fünf beschränkt hat, während es sich bei den Betroffenen um [31] Personen handelte, und indem es die Zahl der erfolgreichen Bewerber, die in die nach Abschluss der – überdies allgemeinen – [Auswahlverfahren OHIM/AD/02/07 und OHIM/AST/02/07] erstellten Eignungslisten aufgenommen wurden, auf genau die Zahl der zu besetzenden Stellen begrenzt hat, die Chancen der Kläger, dass die Auflösungsklausel nicht zur Anwendung kommt, insgesamt drastisch und objektiv verringert und damit den Umfang seiner gegenüber seinen Bediensteten auf Zeit eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen zum Teil ausgehöhlt.‘ [nicht wiedergegeben] 25 Im Anschluss an die Urteile Bennett I und Bennett II unterzeichneten das [EUIPO] und der Kläger am 1. Dezember 2011 ein ‚Wiedereinstellungsprotokoll‘, das die ‚Wiedereinstellung‘ des Klägers im Rahmen seines Vertrags als Bediensteter auf Zeit in der Fassung vom 1. Juni 2005 vorsah, wobei Art. 5 des Vertrags unverändert blieb und Art. 4 gelöscht wurde (im Folgenden: Wiedereinstellungsprotokoll); mit diesem Protokoll wies das [EUIPO] den Kläger zum 1. Dezember 2011 tatsächlich wieder in seine Aufgaben ein. [nicht wiedergegeben] 27 Am 28. November 2013 teilte der Präsident des [EUIPO] dem Kläger mit, dass nach der Veröffentlichung der fraglichen Bekanntmachung eines Auswahlverfahrens ‚die [in Art. 5 seines Vertrags als Bediensteter auf Zeit enthaltene Auflösungs-]Klausel … als aktiviert [gilt], wenn [sein] Name nicht in [den] Reserveliste[n] der [allgemeinen] Auswahlverfahren [OHIM/AD/01/13 und OHIM/AST/02/13] aufgeführt werden sollte‘. 28 Der Kläger nahm an dem allgemeinen Auswahlverfahren OHIM/AST/02/13 (im Folgenden: streitiges Auswahlverfahren) teil, aber [sein Name] wurde nicht in die Reserveliste aufgenommen. Sein Vertrag als Bediensteter auf Zeit wurde mit Entscheidung vom 4. Juni 2014 mit Wirkung nach Ablauf einer an diesem Tag beginnenden sechsmonatigen Kündigungsfrist, d. h. zum 3. Dezember 2014, aufgelöst (im Folgenden: angefochtene Entscheidung). 29 Der Kläger legte am 4. September 2014 gegen die angefochtene Entscheidung Beschwerde ein. Diese wurde am 12. Januar 2015 zurückgewiesen.“ Erstinstanzliches Verfahren und angefochtenes Urteil 3 Mit Klageschrift, die am 22. April 2015 bei der Kanzlei des Gerichts für den öffentlichen Dienst einging, erhob der Rechtsmittelführer eine unter dem Aktenzeichen F‑60/15 registrierte Klage auf Aufhebung der Entscheidung des Präsidenten des EUIPO vom 4. Juni 2014, seinen Vertrag als Bediensteter auf Zeit nach Ablauf einer sechsmonatigen Kündigungsfrist zu beenden. 4 Mit dem angefochtenen Urteil hat das Gericht für den öffentlichen Dienst die Klage abgewiesen und dem Rechtsmittelführer seine eigenen Kosten sowie die Hälfte der Kosten des EUIPO auferlegt. 5 Zunächst hat das Gericht für den öffentlichen Dienst darauf hingewiesen, dass „das Wiedereinstellungsprotokoll [das das EUIPO und der Kläger am 1. Dezember 2011 unterzeichnet haben] die Wiedereinstellung des Klägers im Rahmen seines Vertrags als Bediensteter auf Zeit in der Fassung vom 1. Juni 2005 in der Besoldungsgruppe und der Dienstaltersstufe vorsah, die er zu dem Zeitpunkt der Auflösung seines Vertrags innehatte, d. h. am Abend des 15. September 2009“, und dass das EUIPO „sich in diesem Protokoll verpflichtet [hat], die Laufbahn des Klägers ab diesem Zeitpunkt wiederherzustellen und ihm die Differenz zwischen den Beträgen, die er im Zeitraum vom 16. September 2009 bis zum 30. November 2011 erhalten hätte, wenn sein Vertrag nicht aufgelöst worden wäre, und den Beträgen, die er in diesem Zeitraum tatsächlich erhalten hat, zu zahlen“. Das Gericht hat festgestellt, dass „[u]nter diesen Bedingungen … die Entscheidung vom 12. März 2009 entsprechend dem ausdrücklichen Wortlaut von Art. 1 des Wiedereinstellungsprotokolls als durch dieses Protokoll aufgehoben anzusehen [ist] und dass der Kläger rückwirkend in den Rahmen der Durchführung seines Vertrags als Bediensteter auf Zeit in der Fassung vom 1. Juni 2005 zurückversetzt worden ist, und zwar ab dem 15. September 2009 abends, dem Tag des Wirksamwerdens der Entscheidung über die Auflösung“. Es hat somit entschieden, dass der Kläger, „[d]a sein Vertrag als Bediensteter auf Zeit in der Fassung vom 1. Juni 2005 … als eine erste Verlängerung seines befristeten Vertrags als Bediensteter auf Zeit im Sinne von Art. 2 Buchst. a der BSB zu werten ist, … nicht geltend machen [kann], dass die angefochtene Entscheidung deshalb gegen die Bestimmungen von Art. 8 Abs. 1 der BSB verstoße, weil das Wiedereinstellungsprotokoll die zweite Verlängerung seines Vertrags mit dem [EUIPO] dargestellt habe“ (angefochtenes Urteil, Rn. 39). 6 Sodann hat das Gericht für den öffentlichen Dienst betont, dass „die [mit der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 durchgeführte EGB-UNICE-CEEP‑]Rahmenvereinbarung [über befristete Arbeitsverträge vom 18. März 1999] … nicht die Bedingungen für die Kündigung von befristeten oder unbefristeten Verträgen betrifft, sondern – gemäß ihrem Paragraf 1 Buchst. b – die Voraussetzungen für die Verwendung solcher Verträge“ und dass „Paragraf 5 Nr. 1 Buchst. a der Rahmenvereinbarung … der angefochtenen Entscheidung nicht unmittelbar entgegengehalten werden [kann], die eine Verlängerung des Beschäftigungsverhältnisses des Klägers mit dem [EUIPO] weder bezweckt noch bewirkt und damit als solche nicht den Bestimmungen der Rahmenvereinbarung widerspricht“ (angefochtenes Urteil, Rn. 45). 7 Was ferner die angebliche Rechtswidrigkeit des am 1. Dezember 2011 vom EUIPO und vom Rechtsmittelführer unterzeichneten Wiedereinstellungsprotokolls (im Folgenden: Wiedereinstellungsprotokoll vom 1. Dezember 2011) angeht, hat das Gericht für den öffentlichen Dienst in Bezug auf das Argument, dass dieses Protokoll den Bestimmungen der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge vom 18. März 1999, durchgeführt mit der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 (ABl. 1999, L 175, S. 43, im Folgenden: Rahmenvereinbarung) widersprochen habe, darauf hingewiesen, dass der Rechtsmittelführer mit dem fraglichen Protokoll in seinen Vertrag als Bediensteter auf Zeit in der Fassung vom 1. Juni 2005 wiedereingegliedert worden sei und dass „[d]ieser Vertrag … als eine erste Verlängerung seines befristeten Vertrags als Bediensteter auf Zeit nach Art. 2 Buchst. a der BSB zu werten [ist], die gemäß den Bestimmungen von Art. 8 der BSB vorgenommen wurde, die gerade darauf abzielen, den Rückgriff auf aufeinanderfolgende Verträge als Bediensteter auf Zeit zu beschränken, und zu den in Paragraf 5 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung genannten Maßnahmen zur Verhinderung des Missbrauchs durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge oder ‑verhältnisse gehören“ (angefochtenes Urteil, Rn. 46). 8 Schließlich hat das Gericht für den öffentlichen Dienst betont, dass „die Wiedereinstellung des Klägers gemäß dem Wiedereinstellungsprotokoll [vom 1. Dezember 2011], da die Entscheidung über die Auflösung des vorangegangenen Vertrags des Klägers mit dem [EUIPO] … vom Gericht nicht aufgehoben wurde, allein auf Initiative der Verwaltung [erfolgte]“ und dass „[e]ine solche Wiedereinstellung des Klägers in den Dienst des [EUIPO], während das Beschäftigungsverhältnis für eine Dauer von über zwei Jahren unterbrochen worden war, … nicht als missbräuchlich im Sinne von Paragraf 1 Buchst. b der Rahmenvereinbarung bewertet werden [kann]“ (angefochtenes Urteil, Rn. 46). Verfahren vor dem Gericht und Anträge der Parteien 9 Mit Rechtsmittelschrift, die am 12. Mai 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Rechtsmittelführer das vorliegende Rechtsmittel eingelegt. [nicht wiedergegeben] 17 Der Rechtsmittelführer beantragt, — das angefochtene Urteil aufzuheben; — folglich seinen im ersten Rechtszug gestellten Anträgen stattzugeben und die Entscheidung des Präsidenten des EUIPO vom 4. Juni 2014, seinen Vertrag als Bediensteter auf Zeit nach Ablauf einer sechsmonatigen Kündigungsfrist zu beenden, aufzuheben; — dem EUIPO die gesamten Kosten beider Rechtszüge aufzuerlegen. 18 Das EUIPO beantragt, — das Rechtsmittel zurückzuweisen; — hilfsweise, entsprechend seinen im ersten Rechtszug gestellten Anträgen zu entscheiden; — dem Rechtsmittelführer die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Rechtliche Würdigung [nicht wiedergegeben] Zum ersten und zum zweiten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen Art. 8 der BSB und Verletzung der Rechtskraft des Urteils vom 15. September 2011, Bennett u. a./HABM (F‑102/09, EU:F:2011:138). 21 Mit den ersten beiden Rechtsmittelgründen macht der Rechtsmittelführer einen Verstoß gegen Art. 8 der BSB und eine Verletzung der Rechtskraft des Urteils vom 15. September 2011, Bennett u. a./HABM (F‑102/09, EU:F:2011:138) geltend. [nicht wiedergegeben] 24 Die ersten beiden Rechtsmittelgründe erfordern zum einen die Prüfung, ob das Gericht für den öffentlichen Dienst einen Fehler begangen hat, indem es angenommen hat, dass die Entscheidung über die Auflösung vom 12. März 2009 aufgehoben wurde, und zum anderen, ob es die Rechtsfolgen dieser Aufhebung richtig bewertet hat. 25 Als Erstes ist zu prüfen, ob die Aufhebung der Entscheidung über die Auflösung vom 12. März 2009 rechtlich möglich war. 26 Erstens ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass der rückwirkende Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsakts, durch den subjektive Rechte oder gleichartige Vorteile eingeräumt wurden, gegen die allgemeinen Rechtsgrundsätze verstößt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. September 1983, Verli-Wallace/Kommission, 159/82, EU:C:1983:242, Rn. 8, und vom 5. Dezember 2000, Gooch/Kommission, T‑197/99, EU:T:2000:282, Rn. 52). 27 Was zweitens rechtswidrige Verwaltungsakte angeht, ist darauf hinzuweisen, dass sich nach ständiger Rechtsprechung aus den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts ergibt, dass die Verwaltung grundsätzlich befugt ist, einen rechtswidrig erlassenen begünstigenden Verwaltungsakt rückwirkend zurückzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. November 2002, Lagardère und Canal+/Kommission, T‑251/00, EU:T:2002:278, Rn. 138 bis 140, und vom 15. April 2011, IPK International/Kommission, T‑297/05, EU:T:2011:185, Rn. 118), dass die rückwirkende Rücknahme eines Verwaltungsakts, durch den für den Adressaten Rechte begründet worden sind, aber im Allgemeinen strengen Voraussetzungen unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 1978, Herpels/Kommission, 54/77, EU:C:1978:45, Rn. 38). Zwar ist jedem Unionsorgan, das feststellt, dass ein von ihm erlassener Rechtsakt rechtswidrig ist, das Recht zuzuerkennen, diesen Rechtsakt innerhalb angemessener Frist rückwirkend zurückzunehmen, doch kann dieses Recht durch das Erfordernis eingeschränkt werden, das berechtigte Vertrauen des Adressaten des Rechtsakts in dessen Rechtmäßigkeit zu beachten (Urteile vom 26. Februar 1987, Consorzio Cooperative d’Abruzzo/Kommission, 15/85, EU:C:1987:111, Rn. 12 bis 17, vom 20. Juni 1991, Cargill/Kommission, C‑248/89, EU:C:1991:264, Rn. 20, und vom 17. April 1997, de Compte/Parlament, C‑90/95 P, EU:C:1997:198, Rn. 35). Eine solche Entscheidung setzt auch voraus, dass dadurch der Grundsatz der Rechtssicherheit nicht verletzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2003, Ineichen/Kommission, T‑293/01, EU:T:2003:55, Rn. 91). 28 Drittens ergibt sich im Wesentlichen aus dem Urteil vom 16. Dezember 2010, Athinaïki Techniki/Kommission (C‑362/09 P, EU:C:2010:783, Rn. 59), dass die in den Urteilen vom 9. März 1978, Herpels/Kommission (54/77, EU:C:1978:45), vom 26. Februar 1987, Consorzio Cooperative d’Abruzzo/Kommission (15/85, EU:C:1987:111), und vom 17. April 1997, de Compte/Parlament (C‑90/95 P, EU:C:1997:198), festgelegten strengen Voraussetzungen, unter denen ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann, nicht einschlägig sind, wenn der betreffende Rechtsakt für den Adressaten nicht begünstigend, sondern belastend ist. 29 Angesichts dieser Rechtsprechung ist das Gericht der Ansicht, dass nichts dagegen spricht, dass ein rechtswidriger oder rechtmäßiger Verwaltungsakt, der für seinen Adressaten hauptsächlich belastend und als Nebenfolge begünstigend ist, aufgehoben werden kann, wenn weder das berechtigte Vertrauen des Adressaten noch der Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt wird. 30 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Entscheidung über die Auflösung vom 12. März 2009 hauptsächlich einen den Rechtsmittelführer belastenden Verwaltungsakt darstellt und dass sie ihn als Nebenfolge begünstigt. 31 Ferner ist hervorzuheben, dass der Rechtsmittelführer durch die Unterzeichnung des Wiedereinstellungsprotokolls vom 1. Dezember 2011 seine Zustimmung zur Aufhebung der Entscheidung über die Auflösung vom 12. März 2009 gegeben hat und dass die fragliche Aufhebung folglich unter Wahrung des Grundsatzes des Schutzes des berechtigten Vertrauens des Rechtsmittelführers und in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Sinne der oben in Rn. 27 genannten Rechtsprechung stattgefunden hat. In dieser Hinsicht stellt Art. 1 des Protokolls unmissverständlich klar, dass diese Entscheidung aufgehoben wird. 32 Das Gericht für den öffentlichen Dienst hat somit in Rn. 39 des angefochtenen Urteils zu Recht den Schluss gezogen, dass die Entscheidung über die Auflösung vom 12. März 2009 durch das Wiedereinstellungsprotokoll vom 1. Dezember 2011 aufgehoben wurde. 33 Da die Aufhebung der Entscheidung über die Auflösung vom 12. März 2009 rechtlich möglich war, ist als Zweites zu prüfen, ob das Gericht für den öffentlichen Dienst bei der Prüfung der Rechtsfolgen dieser Aufhebung einen Rechtsfehler begangen hat. 34 Erstens ist die Entscheidung über die Auflösung vom 12. März 2009 aufgrund ihrer Aufhebung so anzusehen, als habe es sie niemals gegeben. Das Gericht für den öffentlichen Dienst hat daher in Rn. 39 des angefochtenen Urteils zu Recht den Schluss gezogen, dass der Rechtsmittelführer mit Wirkung vom 15. September 2009 rückwirkend in den Rahmen der Durchführung seines Vertrags als Bediensteter auf Zeit in der Fassung vom 1. Juni 2005 zurückversetzt wurde. Die Bestimmungen des Wiedereinstellungsprotokolls vom 1. Dezember 2011 konkretisieren in dieser Hinsicht lediglich die Wiedereinstellung des Rechtsmittelführers in die Stellung, die er vor dem 15. September 2009 innehatte. 35 Zweitens ist das Gericht für den öffentlichen Dienst in Rn. 39 des angefochtenen Urteils zu dem Schluss gelangt, dass der Vertrag des Rechtsmittelführers als Bediensteter auf Zeit in der durch den Änderungsvertrag vom 1. Juni 2005 geänderten Fassung als eine erste Verlängerung seines befristeten Vertrags als Bediensteter auf Zeit nach Art. 2 Buchst. a der BSB zu werten sei, und hat die Auffassung verworfen, dass das Wiedereinstellungsprotokoll vom 1. Dezember 2011 die zweite Verlängerung dieses Vertrags gewesen sei. 36 Diese Argumentation des Gerichts für den öffentlichen Dienst ist rechtsfehlerfrei. Wie oben in Rn. 34 angegeben, hatte die durch das Wiedereinstellungsprotokoll vom 1. Dezember 2011 konkretisierte Aufhebung der Entscheidung über die Auflösung vom 12. März 2009 nämlich die Wirkung, den Rechtsmittelführer in die Stellung zurückzuversetzen, die er vor dem 15. September 2009 innehatte, und nicht die, ihm eine Stellung zuzuweisen, die er vor diesem Zeitpunkt nicht hatte, und demzufolge auch nicht die, eine zweite Verlängerung seines befristeten Vertrags vorzunehmen. [nicht wiedergegeben] Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Rechtsmittelkammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen. 2. Herr José Luis Ruiz Molina trägt seine eigenen Kosten sowie die dem Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) im Rahmen des vorliegenden Rechtszugs entstandenen Kosten. Jaeger Prek Dittrich Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 27. Juni 2017. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch. (1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 26. Mai 2016.#Județul Neamț und Județul Bacău gegen Ministerul Dezvoltării Regionale și Administrației Publice.#Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Bacău.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union – Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 – Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) – Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 – Vergabe eines öffentlichen Auftrags, der die Durchführung der geförderten Maßnahme zum Gegenstand hat, durch den Empfänger der Finanzmittel, der als öffentlicher Auftraggeber handelt – Begriff ‚Unregelmäßigkeit‘ – Kriterium des ‚Verstoßes gegen das Unionsrecht‘ – Gegen das nationale Recht verstoßende Ausschreibungsverfahren – Rechtsnatur der von den Mitgliedstaaten beschlossenen finanziellen Berichtigungen – Verwaltungsrechtliche Maßnahmen oder Sanktionen.#Verbundene Rechtssachen C-260/14 und C-261/14.
62014CJ0260
ECLI:EU:C:2016:360
2016-05-26T00:00:00
Gerichtshof, Bot
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62014CJ0260 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) 26. Mai 2016 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union — Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 — Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) — Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 — Vergabe eines öffentlichen Auftrags, der die Durchführung der geförderten Maßnahme zum Gegenstand hat, durch den Empfänger der Finanzmittel, der als öffentlicher Auftraggeber handelt — Begriff ‚Unregelmäßigkeit‘ — Kriterium des ‚Verstoßes gegen das Unionsrecht‘ — Gegen das nationale Recht verstoßende Ausschreibungsverfahren — Rechtsnatur der von den Mitgliedstaaten beschlossenen finanziellen Berichtigungen — Verwaltungsrechtliche Maßnahmen oder Sanktionen“ In den verbundenen Rechtssachen C‑260/14 und C‑261/14 betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Bacău (Berufungsgericht Bacău, Rumänien) mit Entscheidungen vom 8. Mai 2014, eingegangen beim Gerichtshof am 30. Mai 2014, in den Verfahren Judeţul Neamţ (C‑260/14), Judeţul Bacău (C‑261/14) gegen Ministerul Dezvoltării Regionale şi Administraţiei Publice erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter F. Biltgen, A. Borg Barthet und E. Levits (Berichterstatter) sowie der Richterin M. Berger, Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: A. Calot Escobar, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der rumänischen Regierung, vertreten durch R. H. Radu, V. Angelescu und D. M. Bulancea als Bevollmächtigte, — der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und A. Pálfy als Bevollmächtigte, — der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und B. Koopman als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und A. Ştefănuc als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Januar 2016 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 1, 2 und 4 und von Art. 5 Buchst. c der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1) sowie von Art. 2 Nr. 7 und von Art. 98 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 (ABl. 2006, L 210, S. 25). 2 Sie ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Judeţul Neamţ (Kreis Neamţ) und dem Judeţul Bacău (Kreis Bacău) einerseits und dem Ministerul Dezvoltării Regionale şi Administraţiei Publice (im Folgenden: Ministerium für regionale Entwicklung und öffentliche Verwaltung) andererseits wegen der Gültigkeit zweier von diesem Ministerium an sie gerichteter Verwaltungsrechtsakte, mit denen sie in ihrer Eigenschaft als öffentliche Auftraggeber, die Ausschreibungsverfahren über geförderte Maßnahmen durchgeführt hatten, zur Rückzahlung eines Teils der erhaltenen Zuschüsse verpflichtet wurden. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 lautet: „(1)   Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen. (2)   Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haushalte, die von den Gemeinschaften verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der Gemeinschaften erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe.“ 4 Art. 2 dieser Verordnung sieht vor: „(1)   Kontrollen und verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen werden eingeführt, soweit sie erforderlich sind, um die ordnungsgemäße Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Sie müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein, um einen angemessenen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zu gewährleisten. (2)   Eine verwaltungsrechtliche Sanktion kann nur verhängt werden, wenn sie in einem Rechtsakt der Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unregelmäßigkeit vorgesehen wurde. Bei späterer Änderung der in einer Gemeinschaftsregelung enthaltenen Bestimmungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen gelten die weniger strengen Bestimmungen rückwirkend. (3)   In den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts werden Art und Tragweite der verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und Sanktionen in dem für die ordnungsgemäße Anwendung der betreffenden Regelung erforderlichen Maß und entsprechend der Art und Schwere der Unregelmäßigkeit, dem gewährten oder erlangten Vorteil und dem Grad des Verschuldens festgelegt. (4)   Vorbehaltlich des anwendbaren Gemeinschaftsrechts unterliegen die Verfahren für die Anwendung der gemeinschaftlichen Kontrollen, Maßnahmen und Sanktionen dem Recht der Mitgliedstaaten.“ 5 Art. 4 dieser Verordnung bestimmt: „(1)   Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils — durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags; — durch vollständigen oder teilweisen Verlust der Sicherheit, die für einen Antrag auf Gewährung eines Vorteils oder bei Zahlung eines Vorschusses geleistet wurde. (2)   Die Anwendung der Maßnahmen nach Absatz 1 beschränkt sich auf den Entzug des erlangten Vorteils, zuzüglich – falls dies vorgesehen ist – der Zinsen, die pauschal festgelegt werden können. (3)   Handlungen, die nachgewiesenermaßen die Erlangung eines Vorteils, der den Zielsetzungen der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften zuwiderläuft, zum Ziel haben, indem künstlich die Voraussetzungen für die Erlangung dieses Vorteils geschaffen werden, haben zur Folge, dass der betreffende Vorteil nicht gewährt bzw. entzogen wird. (4)   Die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen stellen keine Sanktionen dar.“ 6 Art. 5 der Verordnung Nr. 2988/95 bestimmt: „(1)   Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, können zu folgenden verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen: a) Zahlung einer Geldbuße; b) Zahlung eines Betrags, der den rechtswidrig erhaltenen oder hinterzogenen Betrag, gegebenenfalls zuzüglich der Zinsen, übersteigt; dieser zusätzliche Betrag, der nach einem in den Einzelregelungen festzulegenden Prozentsatz zu bestimmen ist, darf die zur Abschreckung unbedingt erforderliche Höhe nicht übersteigen; c) vollständiger oder teilweiser Entzug eines nach Gemeinschaftsrecht gewährten Vorteils auch dann, wenn der Wirtschaftsteilnehmer nur einen Teil dieses Vorteils rechtswidrig erlangt hat; …“ 7 Art. 1 letzter Absatz der Verordnung Nr. 1083/2006 sieht vor: „[D]iese Verordnung [legt] auf der Grundlage von zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission geteilten Zuständigkeiten die Grundsätze und Regeln für die Partnerschaft, die Programmplanung, die Bewertung, die Verwaltung einschließlich der finanziellen Abwicklung, die Begleitung und die Kontrolle fest.“ 8 Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung bestimmt: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck … 7. ‚Unregelmäßigkeit‘ jeden Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers, die dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union bewirkt hat oder haben würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste.“ 9 Art. 98 derselben Verordnung bestimmt: „(1)   Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen, bei nachgewiesenen erheblichen Änderungen, welche sich auf die Art oder die Bedingungen für die Durchführung und Kontrolle der Vorhaben oder der operationellen Programme auswirken, zu handeln und die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen. (2)   Der Mitgliedstaat nimmt die finanziellen Berichtigungen vor, die aufgrund der im Rahmen von Vorhaben oder operationellen Programmen festgestellten vereinzelten oder systembedingten Unregelmäßigkeiten notwendig sind. Die vom Mitgliedstaat vorgenommenen Berichtigungen erfolgen, indem der öffentliche Beitrag zum operationellen Programm ganz oder teilweise gestrichen wird. Der Mitgliedstaat berücksichtigt Art und Schweregrad der Unregelmäßigkeiten sowie den dem Fonds entstandenen finanziellen Verlust. Der Mitgliedstaat kann die auf diese Weise freigesetzten Mittel aus dem Fonds nach Maßgabe der in Absatz 3 genannten Vorschriften bis 31. Dezember 2015 für das betreffende operationelle Programm wieder einsetzen. (3)   Der gemäß Absatz 2 eingezogene Beitrag darf weder für die Vorhaben, auf die sich die Berichtigung bezog, noch – im Falle einer finanziellen Berichtigung aufgrund einer systemischen Unregelmäßigkeit – für bestehende Vorhaben im Rahmen der ganzen oder eines Teils der Prioritätsachse, bei dem der systemische Fehler aufgetreten ist, wieder eingesetzt werden. …“ 10 Die Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1083/2006 (ABl. 2013, L 347, S. 320) trat mit Wirkung vom 1. Januar 2014 an die Stelle der Verordnung Nr. 1083/2006. 11 In Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013 heißt es: „Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck … 36. ‚Unregelmäßigkeit‘ jeden Verstoß gegen Unionsrecht oder gegen nationale Vorschriften zu dessen Anwendung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines an der Inanspruchnahme von Mitteln aus den [Europäische Struktur- und Investitions-]Fonds beteiligten Wirtschaftsteilnehmers, die einen Schaden für den Haushalt der Union in Form einer ungerechtfertigten Ausgabe bewirkt oder bewirken würde“. 12 Der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1422/2007 der Kommission vom 4. Dezember 2007 (ABl. 2007, L 317, S. 34) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2004/18) sieht vor: „Die Vergabe von Aufträgen in den Mitgliedstaaten auf Rechnung des Staates, der Gebietskörperschaften und anderer Einrichtungen des öffentlichen Rechts ist an die Einhaltung der im Vertrag niedergelegten Grundsätze gebunden, insbesondere des Grundsatzes des freien Warenverkehrs, des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit und des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit sowie der davon abgeleiteten Grundsätze wie z. B. des Grundsatzes der Gleichbehandlung, des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes der Transparenz. Für öffentliche Aufträge, die einen bestimmten Wert überschreiten, empfiehlt sich indessen die Ausarbeitung von auf diesen Grundsätzen beruhenden Bestimmungen zur gemeinschaftlichen Koordinierung der nationalen Verfahren für die Vergabe solcher Aufträge, um die Wirksamkeit dieser Grundsätze und die Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens für den Wettbewerb zu garantieren. Folglich sollten diese Koordinierungsbestimmungen nach Maßgabe der genannten Regeln und Grundsätze sowie gemäß den anderen Bestimmungen des Vertrags ausgelegt werden.“ 13 Art. 7 („Schwellenwerte für öffentliche Aufträge“) dieser Richtlinie bestimmt: „Diese Richtlinie gilt für die Vergabe öffentlicher Aufträge, die nicht aufgrund der Ausnahmen nach den Artikeln 10 und 11 und nach den Artikeln 12 bis 18 ausgeschlossen sind und deren geschätzter Wert netto ohne Mehrwertsteuer (MwSt) die folgenden Schwellenwerte erreicht oder überschreitet: a) 133000 [Euro] bei öffentlichen Liefer- und Dienstleistungsaufträgen, die von den in Anhang IV genannten zentralen Regierungsbehörden als öffentlichen Auftraggebern vergeben werden und die nicht unter Buchstabe b dritter Gedankenstrich fallen; … b) 206000 [Euro] — bei öffentlichen Liefer- und Dienstleistungsaufträgen, die von anderen als den in Anhang IV genannten öffentlichen Auftraggebern vergeben werden; — bei öffentlichen Lieferaufträgen, die von den in Anhang IV genannten öffentlichen Auftraggebern im Verteidigungsbereich vergeben werden, sofern es sich um Aufträge über Waren handelt, die nicht in Anhang V aufgeführt sind; — bei öffentlichen Dienstleistungsaufträgen, die von öffentlichen Auftraggebern für die in Anhang II Teil A Kategorie 8 genannten Dienstleistungen, für die in Anhang II Teil A Kategorie 5 genannten Dienstleistungen im Telekommunikationsbereich, deren … Positionen [im Gemeinsamen Vokabular für öffentliche Aufträge] den CPC‑Referenznummern 7524, 7525 und 7526 entsprechen, und/oder für die in Anhang II Teil B genannten Dienstleistungen vergeben werden; c) 5150000 [Euro] bei öffentlichen Bauaufträgen.“ Rumänisches Recht 14 Art. 1 der Ordonanţă Guvernului nr. 79/2003 privind controlul şi recuperarea fondurilor comunitare, precum şi a fondurilor de cofinanţare aferente utilizate necorespunzător (Regierungsverordnung Nr. 79/2003 über die Kontrolle und Rückforderung von Gemeinschaftsmitteln sowie über die betreffenden Kofinanzierungsmittel, die ordnungswidrig verwendet wurden, Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 622, vom 30. August 2003) in ihrer im Zeitpunkt des Abschlusses der Finanzierungsverträge und der Ausschreibungsverfahren, die zur Durchführung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geförderten Maßnahmen abgehalten wurden, anwendbaren Fassung (im Folgenden: O.G. Nr. 79/2003) lautet: „Diese Verordnung regelt die Feststellung und Rückforderung der zu Unrecht geleisteten Beträge des nicht rückzahlbaren Zuschusses, der Rumänien von der Europäischen Gemeinschaft gewährt wurde, und/oder der entsprechenden Kofinanzierungsmittel als Folge von Unregelmäßigkeiten.“ 15 In Art. 2 der O.G. Nr. 79/2003 ist vorgesehen: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck: a) ‚Unregelmäßigkeit‘ jeden Gesetzes-, Ordnungs- oder Konformitätsverstoß gegen die nationalen und/oder gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften, vertraglichen Bestimmungen oder anderen auf der Grundlage dieser Vorschriften begründeten Rechtspflichten, der durch eine ungerechtfertigte Ausgabe einen Schaden für den Gesamthaushalt der Europäischen Gemeinschaft und/oder für die von dieser oder in ihrem Namen verwalteten Haushalte oder für die Haushalte bewirkt, aus denen die damit in Zusammenhang stehende Kofinanzierung erfolgt; … d) ‚Haushaltsforderungen aufgrund von Unregelmäßigkeiten‘ Beträge, die an den Gesamthaushalt der Europäischen Gemeinschaft und/oder an von dieser oder in ihrem Namen verwaltete Haushalte oder an Haushalte, aus denen die zugehörige Kofinanzierung erfolgt, zurückzuerstatten sind, wenn Gemeinschaftsmittel bzw. damit in Zusammenhang stehende Kofinanzierungsbeträge ordnungswidrig verwendet wurden und/oder aufgrund von Maßnahmen, die Teil der Gesamt- oder Teilfinanzierung dieser Mittel sind, unberechtigt vereinnahmt wurden; …“ 16 In Art. 4 der O.G. Nr. 79/2003 heißt es: „Gegenstand der Beitreibung von Haushaltsforderungen aufgrund von Unregelmäßigkeiten sind die Beträge der zu Unrecht geleisteten Gemeinschaftsmittel und/oder der betreffenden Kofinanzierung, die Bankkosten einschließlich der betreffenden Nebenkosten sowie die sonstigen nach dem Gesetz vom Schuldner zu tragenden Beträge. …“ 17 Im Zeitpunkt der Kontrolle der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geförderten Maßnahmen durch die zuständige Behörde hatte die Ordonanță de urgență a Guvernului nr. 66/2011 privind prevenirea, constatarea și sancționarea neregulilor apărute în obținerea și utilizarea fondurilor europene și/sau a fondurilor publice naționale aferente acestora (Dringlichkeitsverordnung der Regierung Nr. 66/2011 betreffend die Bekämpfung, Feststellung und Sanktionierung von Unregelmäßigkeiten, die bei der Erlangung und der Verwendung von Unionsmitteln und/oder von mit diesen in Zusammenhang stehenden nationalen öffentlichen Mitteln begangen wurden, Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 461, vom 30. Juni 2011, im Folgenden: O.U.G. Nr. 66/2011) die O.G. Nr. 79/2003 ersetzt. 18 Art. 2 der O.U.G. Nr. 66/2011 bestimmt: „Im Sinne dieser Dringlichkeitsverordnung bezeichnet der Ausdruck a) ‚Unregelmäßigkeit‘ jeden Gesetzes-, Ordnungs- oder Konformitätsverstoß gegen die nationalen und/oder europäischen Rechtsvorschriften, vertraglichen Bestimmungen oder anderen auf der Grundlage dieser Vorschriften begründeten Rechtspflichten, der auf einer Handlung oder Unterlassung des Begünstigten oder der zur Verwaltung von Unionsmitteln befugten Behörde beruht und der den Haushalt der Europäischen Union/die öffentlichen Haushalte internationaler öffentlicher Geldgeber und/oder mit diesen in Zusammenhang stehende nationale Mittel durch zu Unrecht gezahlte Beträge geschädigt hat oder schädigen könnte; … h) ‚Ermittlung der Unregelmäßigkeit‘ die Kontroll- bzw. Ermittlungstätigkeit der zuständigen Behörde nach Maßgabe der Bestimmungen der vorliegenden Verordnung zwecks Feststellung einer Unregelmäßigkeit; i) ‚Feststellung der Haushaltsforderungen aufgrund von Unregelmäßigkeiten‘ die Tätigkeit, durch die die sich aus der festgestellten Unregelmäßigkeit ergebende Zahlungsverpflichtung festgestellt und spezifiziert wird sowie ein Schuldtitel erteilt wird; … o) ‚Vornahme von finanziellen Berichtigungen‘ die von den zuständigen Behörden gemäß den Bestimmungen der vorliegenden Verordnung getroffenen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen, die darin bestehen, die Ausgaben, in Bezug auf die eine Unregelmäßigkeit festgestellt wurde, von der Finanzierung aus den Unionsmitteln und/oder den mit diesen in Zusammenhang stehenden nationalen Mitteln auszunehmen; …“ 19 In Art. 27 Abs. 1 der O.U.G. Nr. 66/2011 heißt es: „Werden seitens des Begünstigten Unregelmäßigkeiten bei der Anwendung der Vorschriften über das Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge im Hinblick auf die bei öffentlichen Aufträgen geltenden nationalen Vorschriften oder auf das für private Begünstigte geltende besondere Verfahren zur Vergabe von Aufträgen festgestellt, wird ein Vermerk über die Feststellung der Unregelmäßigkeiten und über die Feststellung der finanziellen Berichtigungen gemäß den Art. 20 und 21 erteilt.“ 20 Art. 28 der O.U.G. Nr. 66/2011 lautet: „Der Wert der nach den Vorschriften des Art. 27 bestimmten Haushaltsforderung wird durch Feststellung der finanziellen Berichtigungen nach den Vorschriften des Anhangs ermittelt.“ 21 Im Anhang der O.U.G. Nr. 66/2011 betreffend die Verträge, deren Wert unter dem Schwellenwert liegt, der für die Bestimmung der Pflicht zur Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union vom innerstaatlichen Vergaberecht festgesetzt wird, ist in Nr. 2.3 für Verstöße, die in der Anwendung unzulässiger Qualifikations- und Auswahlkriterien oder Bewertungskriterien bestehen, je nach Schwere des Verstoßes die Anwendung einer Berichtigung/Herabsetzung in Höhe von 10 % des Wertes des betreffenden Vertrags oder eines ermäßigten Satzes von 5 % vorgesehen. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 22 Im Rahmen des regionalen operationellen Programms für den Zeitraum 2007-2013 erhielten zwei benachbarte rumänische Regionalverwaltungen, der Kreis Neamţ (Rechtssache C‑260/14) und der Kreis Bacău (Rechtssache C‑261/14), Finanzmittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE). Die Gewährung dieser Finanzmittel erfolgte über einen zwischen dem Ministerul Dezvoltării Regionale şi Turismului (Ministerium für regionale Entwicklung und Tourismus) als Verwaltungsbehörde für das regionale operationelle Programm 2007-2013 und den beiden jeweiligen Regionalverwaltungen geschlossenen Finanzierungsvertrag. 23 In der Rechtssache C‑260/14 betrifft der Finanzierungsvertrag die Instandsetzung, Erweiterung und Modernisierung eines Schulzentrums in Roman (Rumänien), einer Stadt etwa 40 Kilometer nördlich der Stadt Bacău (Rumänien). Die Stadt Bacău befindet sich etwa 300 Kilometer nördlich von Bukarest (Rumänien), 370 Kilometer von der bulgarischen Grenze entfernt, jenseits der östlichen Karpaten und nahe den Grenzen von Moldau im Osten und der Ukraine im Norden. In seiner Eigenschaft als öffentlicher Auftraggeber führte der durch die Förderung begünstigte Kreis Neamț ein Ausschreibungsverfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über Auditdienstleistungen mit einem geschätzten Wert von 20264,18 Euro durch, das zum Abschluss eines Vertrags über Auditdienstleistungen im Wert von 19410,12 Euro führte. 24 In der Rechtssache C‑261/14 betrifft der Finanzierungsvertrag die Sanierung einer Kreisstraße. Der Kreis Bacău führte ein offenes Ausschreibungsverfahren zur Vergabe eines öffentlichen Bauauftrags im Wert von 2820515 Euro durch, das am 17. September 2009 zum Abschluss eines Vertrags von Bauleistungen führte. 25 Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Informationen ergibt sich, dass das Ministerium für regionale Entwicklung und öffentliche Verwaltung im Rahmen dieser beiden Verfahren sowohl die vom Kreis Neamț als auch die vom Kreis Bacău aufgestellten Voraussetzungen als nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die Auftragsvergabe unzulässig ansah. Daher nahm dieses Ministerium eine finanzielle Berichtigung in Höhe von jeweils 5 % des Wertes der in Rede stehenden Verträge vor. 26 Der Kreis Neamț und der Kreis Bacău erhoben daraufhin Beschwerde gegen die jeweiligen Berichtigungsentscheidungen. Das Ministerium für regionale Entwicklung und öffentliche Verwaltung wies die Beschwerden ab, woraufhin sich die Kläger des Ausgangsverfahrens an das vorlegende Gericht wandten, um die Nichtigerklärung dieser Entscheidungen zu erwirken. 27 In diesen Verfahren hat das vorlegende Gericht insbesondere über das Vorliegen einer „Unregelmäßigkeit“ im Sinne der Verordnung Nr. 2988/95 oder der Verordnung Nr. 1083/2006 und gegebenenfalls über die Rechtsnatur der von diesem Ministerium vorgenommenen finanziellen Berichtigungen zu entscheiden. 28 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Bacău (Berufungsgericht Bacău, Rumänien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, wobei die erste Frage nur die Rechtssache C‑260/14 betrifft und die Fragen 2 bis 4 in den Rechtssachen C‑260/14 und C‑261/14 im Wesentlichen identisch sind. 1. Stellt der Verstoß gegen Vorschriften über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags mit einem geschätzten Wert, der unter dem Schwellenwert des Art. 7 Buchst. a der Richtlinie 2004/18 liegt, durch einen öffentlichen Auftraggeber, der einen Zuschuss aus den Strukturfonds erhält, im Rahmen der Vergabe eines Auftrags, der die Durchführung der geförderten Maßnahme zum Gegenstand hat, eine „Unregelmäßigkeit“ (rumänisch: „abatere“) im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 oder eine „Unregelmäßigkeit“ (rumänisch: „neregularitate“) im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 dar? 2. Ist Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen, dass die finanziellen Berichtigungen der Mitgliedstaaten, wenn diese bei den aus den Strukturfonds kofinanzierten Ausgaben wegen des Verstoßes gegen Vorschriften über öffentliche Aufträge vorgenommen werden, verwaltungsrechtliche Maßnahmen im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 oder verwaltungsrechtliche Sanktionen im Sinne von Art. 5 Buchst. c dieser Verordnung sind? 3. Falls die Antwort auf die zweite Frage dahin lautet, dass die finanziellen Berichtigungen der Mitgliedstaaten verwaltungsrechtliche Sanktionen sind: Ist der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/95 niedergelegte Grundsatz anwendbar, wonach die weniger strengen Bestimmungen rückwirkend gelten? 4. Verstößt es in dem Fall, dass bei den aus den Strukturfonds kofinanzierten Ausgaben finanzielle Berichtigungen wegen Verstoßes gegen Vorschriften über öffentliche Aufträge vorgenommen werden, gegen Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 in Verbindung mit Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 unter Berücksichtigung auch der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, wenn ein Mitgliedstaat finanzielle Berichtigungen vornimmt, die in einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift geregelt sind, die nach dem Zeitpunkt des angeblichen Verstoßes gegen die Vorschriften über öffentliche Aufträge in Kraft getreten ist? 29 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 16. Juli 2014 sind die Rechtssachen C‑260/14 und C‑261/14 zu gemeinsamen schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑260/14 30 Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑260/14 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 und Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen sind, dass es eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 oder Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 bei der Vergabe dieses Auftrags darstellen kann, wenn ein öffentlicher Auftraggeber, der einen Zuschuss aus dem Strukturfonds erhält, im Rahmen der Vergabe eines öffentlichen Auftrags mit einem geschätzten Wert, der unter dem Schwellenwert des Art. 7 Buchst. a der Richtlinie 2004/18 liegt, gegen die nationalen Vorschriften verstößt. 31 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Wert des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Auftrags unter dem in Art. 7 Buchst. a der Richtlinie 2004/18 festgelegten Schwellenwert liegt und dieser Auftrag folglich nicht unter die in dieser Richtlinie vorgesehenen Verfahren fällt. 32 In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass die Verordnung Nr. 2988/95 lediglich allgemeine Regeln für Kontrollen und Sanktionen zum Schutz der finanziellen Interessen der Union aufstellt. Eine Rückforderung nicht richtig verwendeter Mittel hat auf der Grundlage anderer, gegebenenfalls sektorbezogener Bestimmungen zu erfolgen (vgl. Urteil vom 18. Dezember 2014, Somvao, C‑599/13, EU:C:2014:2462, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). 33 Diese sektorbezogenen Bestimmungen unterliegen, wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Verordnung Nr. 1083/2006. 34 Die Verordnungen Nr. 2988/95 und Nr. 1083/2006 sind jedoch Teil desselben Systems, das die ordnungsgemäße Verwaltung der Finanzmittel der Union und den Schutz ihrer finanziellen Interessen gewährleistet, so dass der Begriff „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 und von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 einheitlich auszulegen ist. 35 Nach dieser Klarstellung ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2015, Sodiaal International, C‑383/14, EU:C:2015:541, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 und von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 ergibt sich zwar, dass bei einem Verstoß gegen Unionsrecht der Tatbestand der Unregelmäßigkeit gegeben ist; gleichwohl lässt sich nicht ausschließen, dass eine solche Unregelmäßigkeit auch aus einem Verstoß gegen das nationale Recht resultieren kann. 37 In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahmen, soweit sie seitens der Union gefördert wurden, den Vorschriften des Unionsrechts unterliegen. Der Begriff „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 und von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 ist deshalb dahin auszulegen, dass er nicht nur jeden Verstoß gegen dieses Recht erfasst, sondern auch den Verstoß gegen die nationalen Rechtsvorschriften, die dazu beitragen, die ordnungsgemäße Anwendung des Unionsrechts im Bereich der Verwaltung von Vorhaben, die von EU-Fonds gefördert werden, sicherzustellen. 38 Eine solche Auslegung des Begriffs „Unregelmäßigkeit“ sieht sich durch die Prüfung des normativen Kontexts, in den sich insbesondere Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 einfügt, sowie durch das mit dieser Verordnung verfolgte Ziel bestätigt. 39 Was erstens den normativen Kontext angeht, in den sich Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 einfügt, ist festzustellen, dass das Ziel dieser Verordnung, wie es in ihrem Art. 1 definiert wird, u. a. darin besteht, die Grundsätze für die Verwaltung, die Begleitung und die Kontrolle der vom EFRE finanziell unterstützten Maßnahmen auf der Grundlage der zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission geteilten Verantwortung festzulegen. 40 Diese Aufgaben der Verwaltung, der Begleitung und der Kontrolle werden in Titel VI der Verordnung Nr. 1083/2006 einzeln angeführt, während jene, die mit der finanziellen Abwicklung zusammenhängen, Gegenstand von Titel VII dieser Verordnung sind, dessen zweites Kapitel den finanziellen Berichtigungen gewidmet ist. Daraus ergibt sich eindeutig, dass es in erster Linie Aufgabe der Mitgliedstaaten ist, gegebenenfalls die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen und somit darauf zu achten, dass die Maßnahmen im Einklang mit sämtlichen Rechtsvorschriften stehen, die sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler Ebene anzuwenden sind. 41 Was zweitens das mit der Verordnung Nr. 1083/2006 verfolgte Ziel angeht, soll mit den im Rahmen dieser Verordnung aufgestellten Regeln, wie in Rn. 34 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, insbesondere die ordnungsgemäße und effiziente Verwendung der Strukturfonds gewährleistet werden, um die finanziellen Interessen der Union zu schützen. 42 Da sich aber nicht ausschließen lässt, dass die Verstöße gegen das nationale Recht die Wirksamkeit der Intervention der betreffenden Fonds in Frage stellen könnten, würde eine Auslegung, nach der diese Verstöße keine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 darstellen, keine Gewähr für die vollständige Verwirklichung der vom Unionsgesetzgeber auf diesem Gebiet verfolgten Ziele bieten. 43 Vor diesem Hintergrund muss der Begriff der Unregelmäßigkeit in Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 und in Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 dahin ausgelegt werden, dass er sich auch auf Verstöße gegen Vorschriften des nationalen Rechts bezieht, die für die von den Strukturfonds geförderten Maßnahmen gelten. 44 Eine solche Auslegung sieht sich im Übrigen durch die Definition der Unregelmäßigkeit bestätigt, die Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013, die mit Wirkung vom 1. Januar 2014 an die Stelle der Verordnung Nr. 1083/2006 getreten ist, enthält. 45 Diese in Rn. 11 des vorliegenden Urteils wiedergegebene Definition umfasst nämlich nunmehr ausdrücklich jeden Verstoß gegen das Unionsrecht oder gegen das mit dessen Anwendung verbundene nationale Recht. Im Licht der vorstehenden Erwägungen ist diese Erläuterung zum Verstoß gegen das nationale Recht geeignet, die Tragweite des Begriffs „Unregelmäßigkeit“ in Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 klarzustellen (vgl. in diesem Sinne e contrario, Urteil vom 7. April 2016, PARTNER Apelski Dariusz, C‑324/14, EU:C:2016:214, Rn. 90 und 91). 46 Daher ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑260/14 zu antworten, dass Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 und Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen sind, dass der Verstoß gegen nationale Rechtsvorschriften durch einen öffentlichen Auftraggeber, der einen Zuschuss aus den Strukturfonds erhält, im Rahmen der Vergabe eines öffentlichen Auftrags mit einem geschätzten Wert, der unter dem Schwellenwert des Art. 7 Buchst. a der Richtlinie 2004/18 liegt, bei der Vergabe dieses Auftrags eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 oder Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 darstellen kann, soweit dieser Verstoß dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union bewirkt hat oder bewirken würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste. Zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑260/14 und zur ersten Frage in der Rechtssache C‑261/14 47 Mit seiner zweiten Frage in der Rechtssache C‑260/14 und seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑261/14 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen ist, dass die finanziellen Berichtigungen der Mitgliedstaaten, wenn diese bei den aus den Sturkturfonds kofinanzierten Ausgaben wegen des Verstoßes gegen Vorschriften über öffentliche Aufträge vorgenommen werden, verwaltungsrechtliche Maßnahmen im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 sind, oder ob es sich stattdessen um verwaltungsrechtliche Sanktionen im Sinne von Art. 5 Buchst. c dieser Verordnung handelt. 48 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut von Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 1083/2006 die finanziellen Berichtigungen, die die Mitgliedstaaten vorzunehmen haben, wenn sie Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit den Maßnahmen oder den operationellen Programmen feststellen, darin bestehen, dass der öffentliche Beitrag zum operationellen Programm ganz oder teilweise gestrichen wird. Überdies kann der betroffene Mitgliedstaat nach Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Verordnung die auf diese Weise freigesetzten Mittel aus dem Fonds unter bestimmten Voraussetzungen wieder einsetzen. 49 Des Weiteren ist festzustellen, dass sich aus dem Wortlaut der oben genannten Bestimmung selbst in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2988/95 ergibt, dass die finanziellen Berichtigungen, die die Mitgliedstaaten vorzunehmen haben, wenn sie Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit Maßnahmen oder operationellen Programmen feststellen, auf die Rückerstattung eines Vorteils abzielen, den der betreffende Wirtschaftsteilnehmer unrechtmäßig erhalten hat, insbesondere im Wege der Verpflichtung zur Rückzahlung der zu Unrecht gezahlten Geldbeträge. 50 Schließlich hat der Gerichtshof, wie der Generalanwalt in Nr. 105 seiner Schlussanträge dargelegt hat, bereits wiederholt klargestellt, dass die Pflicht, einen durch eine Unregelmäßigkeit unrechtmäßig erhaltenen Vorteil zurückzugewähren, keine Sanktion ist, sondern lediglich die Folge der Feststellung, dass die Voraussetzungen für den Erhalt des unionsrechtlich vorgesehenen Vorteils nicht beachtet worden sind und der erlangte Vorteil rechtsgrundlos gewährt wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Juni 2009, Pometon, C‑158/08, EU:C:2009:349, Rn. 28, vom 17. September 2014, Cruz & Companhia, C‑341/13, EU:C:2014:2230, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 18. Dezember 2014, Somvao, C‑599/13, EU:C:2014:2462, Rn. 36). Der in den Vorlageentscheidungen erwähnte Umstand, dass sich der rückzuerstattende absolute Betrag in einem konkreten Fall möglicherweise nicht zur Gänze mit dem von den Strukturfonds tatsächlich erlittenen Verlust deckt, kann diese Schlussfolgerung nicht in Frage stellen. 51 Somit ist auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑260/14 und auf die erste Frage in der Rechtssache C‑261/14 zu antworten, dass Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 dahin auszulegen ist, dass die finanziellen Berichtigungen der Mitgliedstaaten, wenn diese bei den aus den Strukturfonds kofinanzierten Ausgaben wegen des Verstoßes gegen Vorschriften über öffentliche Aufträge vorgenommen werden, verwaltungsrechtliche Maßnahmen im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 sind. Zur dritten Frage in der Rechtssache C‑260/14 und zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑261/14 52 In Anbetracht der Antwort, die dem vorlegenden Gericht in Rn. 51 des vorliegenden Urteils gegeben wurde, sind die dritte Frage in der Rechtssache C‑260/14 und die zweite Frage in der Rechtssache C‑261/14 nicht zu beantworten. Zur vierten Frage in der Rechtssache C‑260/14 53 Mit seiner vierten Frage in der Rechtssache C‑260/14 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass ein Mitgliedstaat finanzielle Berichtigungen vornimmt, die in einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift geregelt sind, die nach dem Zeitpunkt eines angeblichen Verstoßes gegen die Vorschriften über die öffentliche Auftragsvergabe in Kraft getreten ist. 54 Hierzu ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie Maßnahmen zur Durchführung des Unionsrechts erlassen, dessen allgemeine Grundsätze zu beachten haben, zu denen u. a. die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes gehören (vgl. insbesondere Urteil vom 3. September 2015, A2A, C‑89/14, EU:C:2015:537, Rn. 35 und 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Außerdem steht nach derselben Rechtsprechung der Grundsatz der Rechtssicherheit einer rückwirkenden Anwendung einer Verordnung, also einer Anwendung auf einen vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossenen Sachverhalt, unabhängig davon, ob sie sich für den Betroffenen günstig oder ungünstig auswirkt, entgegen und verlangt, dass jeder Sachverhalt normalerweise, soweit nichts Gegenteiliges bestimmt ist, anhand der seinerzeit geltenden Rechtsvorschriften beurteilt wird. Auch wenn die neue Regelung somit nur für die Zukunft gilt, gilt sie, soweit nichts anderes bestimmt ist, jedoch auch für die künftigen Wirkungen der unter dem alten Recht entstandenen Sachverhalte (vgl. insbesondere Urteil vom 3. September 2015, A2A, C‑89/14, EU:C:2015:537, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). 56 Auch darf nach dieser Rechtsprechung der Anwendungsbereich des Grundsatzes des Vertrauensschutzes nicht so weit ausgedehnt werden, dass die Anwendung einer neuen Regelung auf die künftigen Auswirkungen von unter Geltung der früheren Regelung entstandenen Sachverhalten schlechthin ausgeschlossen ist (vgl. u. a. Urteil vom 3. September 2015, A2A, C‑89/14, EU:C:2015:537, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 57 Nach alledem ist auf die vierte Frage in der Rechtssache C‑260/14 zu antworten, dass die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes dahin auszulegen sind, dass sie dem nicht entgegenstehen, dass ein Mitgliedstaat finanzielle Berichtigungen vornimmt, die in einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift geregelt sind, die nach dem Zeitpunkt des angeblichen Verstoßes gegen die Vorschriften über öffentliche Aufträge in Kraft getreten sind, soweit es sich um die Anwendung einer neuen Regelung auf die künftigen Auswirkungen von unter Geltung der früheren Regelung entstandenen Sachverhalten handelt, was das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Ausgangsfalls zu prüfen hat. Kosten 58 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 1 Abs. 2 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und Art. 2 Nr. 7 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 sind dahin auszulegen, dass der Verstoß gegen nationale Rechtsvorschriften durch einen öffentlichen Auftraggeber, der einen Zuschuss aus den Strukturfonds erhält, im Rahmen der Vergabe eines öffentlichen Auftrags, dessen geschätzter Wert unter dem Schwellenwert des Art. 7 Buchst. a der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1422/2007 der Kommission vom 4. Dezember 2007 geänderten Fassung liegt, bei der Vergabe dieses Auftrags eine „Unregelmäßigkeit“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 oder Art. 2 Nr. 7 der Verordnung Nr. 1083/2006 darstellen kann, soweit dieser Verstoß dadurch einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Union bewirkt hat oder bewirken würde, dass ihm eine ungerechtfertigte Ausgabe angelastet werden muss oder müsste. 2. Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1083/2006 ist dahin auszulegen, dass die finanziellen Berichtigungen der Mitgliedstaaten, wenn diese wegen des Verstoßes gegen Vorschriften über öffentliche Aufträge vorgenommen werden, verwaltungsrechtliche Maßnahmen im Sinne von Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 sind. 3. Die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sind dahin auszulegen, dass sie dem nicht entgegenstehen, dass ein Mitgliedstaat finanzielle Berichtigungen vornimmt, die in einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift geregelt sind, die nach dem Zeitpunkt des angeblichen Verstoßes gegen die Vorschriften über öffentliche Aufträge in Kraft getreten sind, soweit es sich um die Anwendung einer neuen Regelung auf die künftigen Auswirkungen von unter Geltung der früheren Regelung entstandenen Sachverhalten handelt, was das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Ausgangsfalls zu prüfen hat. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Rumänisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. Juli 2015.#CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD gegen Komisia za zashtita ot diskriminatsia.#Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad.#Richtlinie 2000/43/EG – Grundsatz der Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – Stadtviertel, in denen überwiegend Personen mit Roma-Herkunft wohnen – Anbringung von Stromzählern in einer Höhe von sechs bis sieben Metern an den Betonmasten des Freileitungsnetzes – Begriff der ‚unmittelbaren Diskriminierung‘ und der ‚mittelbaren Diskriminierung‘ – Beweislast – Etwaige Rechtfertigung – Verhinderung von Manipulationen an den Stromzählern und von illegalen Stromentnahmen – Verhältnismäßigkeit – Allgemeiner Charakter der Maßnahme – Beleidigende und stigmatisierende Wirkung der Maßnahme – Richtlinien 2006/32/EG und 2009/72/EG – Unmöglichkeit für den Endverbraucher, seinen Stromverbrauch zu kontrollieren.#Rechtssache C-83/14.
62014CJ0083
ECLI:EU:C:2015:480
2015-07-16T00:00:00
Kokott, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62014CJ0083 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 16. Juli 2015 (*1) „Richtlinie 2000/43/EG — Grundsatz der Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft — Stadtviertel, in denen überwiegend Personen mit Roma-Herkunft wohnen — Anbringung von Stromzählern in einer Höhe von sechs bis sieben Metern an den Betonmasten des Freileitungsnetzes — Begriff der ‚unmittelbaren Diskriminierung‘ und der ‚mittelbaren Diskriminierung‘ — Beweislast — Etwaige Rechtfertigung — Verhinderung von Manipulationen an den Stromzählern und von illegalen Stromentnahmen — Verhältnismäßigkeit — Allgemeiner Charakter der Maßnahme — Beleidigende und stigmatisierende Wirkung der Maßnahme — Richtlinien 2006/32/EG und 2009/72/EG — Unmöglichkeit für den Endverbraucher, seinen Stromverbrauch zu kontrollieren“ In der Rechtssache C‑83/14 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 5. Februar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Februar 2014, in dem Verfahren CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD gegen Komisia za zashtita ot diskriminatsia, Beteiligte: Anelia Nikolova, Darzhavna Komisia po energiyno i vodno regulirane erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Vizepräsidenten K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und S. Rodin, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Richter A. Rosas, E. Juhász, J. Malenovský und D. Šváby, der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin) sowie der Richter F. Biltgen und C. Lycourgos, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Januar 2015, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD, vertreten durch A. Ganev, V. Bozhilov und A. Dzhingov, avocats, — der Komisia za zashtita ot diskriminatsia, vertreten durch A. Strashimirova als Bevollmächtigte, — von Frau Nikolova, vertreten durch S. Cox, Barrister, sowie durch M. Ferschtman und Y. Grozev, avocats, — der bulgarischen Regierung, vertreten durch E. Petranova und D. Drambozova als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und D. Roussanov als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. März 2015 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 1 und 2 Abs. 1 und 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. L 180, S. 22) sowie von Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem die CHEZ Razpredelenie Bulgaria AD (im Folgenden: CHEZ RB) die Nichtigerklärung einer Entscheidung der Komisia za zashtita ot dikriminatsia (Kommission für den Schutz vor Diskriminierung, im Folgenden: KZD) begehrt, mit der diese CHEZ RB verpflichtet hat, Frau Nikolova nicht mehr zu diskriminieren und sich für die Zukunft solcher diskriminierender Praktiken zu enthalten. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2000/43 3 Die Erwägungsgründe 2, 3, 9, 12, 13, 15, 16 und 28 der Richtlinie 2000/43 lauten: „(2) Nach Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union beruht die Europäische Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind den Mitgliedstaaten gemeinsam. Nach Artikel 6 EU-Vertrag sollte die Union ferner die Grundrechte, wie sie in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben, achten. (3) Die Gleichheit vor dem Gesetz und der Schutz aller Menschen vor Diskriminierung ist ein allgemeines Menschenrecht. Dieses Recht wurde in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, im VN-Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen, im Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, im Internationalen Pakt der VN über bürgerliche und politische Rechte sowie im Internationalen Pakt der VN über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten anerkannt, die von allen Mitgliedstaaten unterzeichnet wurden. … (9) Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft können die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt sowie die Solidarität. Ferner kann das Ziel der Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beeinträchtigt werden. … (12) Um die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen – ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen, sollten spezifische Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft über die Gewährleistung des Zugangs zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit hinausgehen und auch Aspekte wie Bildung, Sozialschutz, einschließlich sozialer Sicherheit und der Gesundheitsdienste, soziale Vergünstigungen, Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, mit abdecken. (13) Daher sollte jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen gemeinschaftsweit untersagt werden. … … (15) Die Beurteilung von Tatbeständen, die auf eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung schließen lassen, obliegt den einzelstaatlichen gerichtlichen Instanzen oder anderen zuständigen Stellen nach den nationalen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten. In diesen einzelstaatlichen Vorschriften kann insbesondere vorgesehen sein, dass mittelbare Diskriminierung mit allen Mitteln, einschließlich statistischer Beweise, festzustellen ist. (16) Es ist wichtig, alle natürlichen Personen gegen Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft zu schützen. Die Mitgliedstaaten sollten auch, soweit es angemessen ist und im Einklang mit ihren nationalen Gepflogenheiten und Verfahren steht, den Schutz juristischer Personen vorsehen, wenn diese aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft ihrer Mitglieder Diskriminierungen erleiden. … (28) … das Ziel dieser Richtlinie, nämlich ein einheitliches, hohes Niveau des Schutzes vor Diskriminierungen in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, [kann] auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden …“ 4 Nach Art. 1 der Richtlinie 2000/43 ist der Zweck dieser Richtlinie „die Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“. 5 Art. 2 („Der Begriff ‚Diskriminierung‘“) dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft geben darf. (2)   Im Sinne von Absatz 1 a) liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde; b) liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich. (3)   Unerwünschte Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit der Rasse oder der ethnischen Herkunft einer Person stehen und bezwecken oder bewirken, dass die Würde der betreffenden Person verletzt und ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird, sind Belästigungen, die als Diskriminierung im Sinne von Absatz 1 gelten. … …“ 6 Art. 3 („Geltungsbereich“) Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie sieht vor: „Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen … in Bezug auf: … h) den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum.“ 7 Art. 6 („Mindestanforderungen“) Abs. 1 der Richtlinie 2000/43 bestimmt: „Es bleibt den Mitgliedstaaten unbenommen, Vorschriften einzuführen oder beizubehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind.“ 8 Art. 8 („Beweislast“) Abs. 1 dieser Richtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten ergreifen im Einklang mit ihrem nationalen Gerichtswesen die erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass immer dann, wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat.“ Richtlinie 2006/32/EG 9 Der 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/32/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 über Endenergieeffizienz und Energiedienstleistungen und zur Aufhebung der Richtlinie 93/76/EWG des Rates (ABl. L 114, S. 64) lautete: „Damit die Endverbraucher besser fundierte Entscheidungen in Bezug auf ihren individuellen Energieverbrauch treffen können, sollten sie mit ausreichenden Informationen über diesen Verbrauch und mit weiteren zweckdienlichen Informationen versorgt werden … Die Verbraucher sollten zusätzlich aktiv ermutigt werden, ihre Zählerstände regelmäßig zu überprüfen.“ 10 Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/32 sah vor: „Soweit es technisch machbar, finanziell vertretbar und im Vergleich zu den potenziellen Energieeinsparungen angemessen ist, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass alle Endkunden in den Bereichen Strom … individuelle Zähler zu wettbewerbsorientierten Preisen erhalten, die den tatsächlichen Energieverbrauch des Endkunden und die tatsächliche Nutzungszeit widerspiegeln.“ Richtlinie 2009/72/EG 11 Art. 3 Abs. 3 und 7 der Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG (ABl. L 211, S. 55) bestimmt: „(3)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass alle Haushalts-Kunden … in ihrem Hoheitsgebiet über eine Grundversorgung verfügen, also das Recht auf Versorgung mit Elektrizität einer bestimmten Qualität zu angemessenen, leicht und eindeutig vergleichbaren und transparenten und nichtdiskriminierenden Preisen haben. … … (7)   Die Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Endkunden … Zumindest im Fall der Haushalts-Kunden schließen solche Maßnahmen die in Anhang I aufgeführten Maßnahmen ein.“ 12 Anhang I Abs. 1 Buchst. h und i der Richtlinie 2009/72 lautet: „(1)   … mit den in Artikel 3 genannten Maßnahmen [soll] sichergestellt werden, dass die Kunden … h) über ihre Verbrauchsdaten verfügen können … i) häufig genug in angemessener Form über ihren tatsächlichen Stromverbrauch und ihre Stromkosten informiert werden, um ihren eigenen Stromverbrauch regulieren zu können. …“ Bulgarisches Recht Gesetz zum Schutz vor Diskriminierung 13 Art. 4 des Gesetzes zum Schutz vor Diskriminierung (Zakon za zashtita ot diskriminatsia, im Folgenden: ZZD) sieht vor: „(1)   Verboten ist jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen … der Rasse, der Nationalität, der ethnischen Zugehörigkeit, … der persönlichen … Verhältnisse … (2)   Eine unmittelbare Diskriminierung liegt immer dann vor, wenn eine Person aufgrund von Eigenschaften nach Abs. 1 weniger günstig behandelt wird, als eine andere Person unter vergleichbaren oder ähnlichen Umständen behandelt wird, behandelt wurde oder behandelt würde. (3)   Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person aufgrund von Eigenschaften nach Abs. 1 durch dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren in eine im Vergleich zu anderen Personen weniger günstige Lage versetzt wird, es sei denn, diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind im Hinblick auf ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung des Ziels angemessen und erforderlich.“ 14 In § 1 Ziff. 7 bis 9 der Ergänzungsvorschriften zum ZZD heißt es: „Im Sinne dieses Gesetzes bedeutet … 7. ‚ungünstige Behandlung‘: jeder Akt, jede Handlung und jede Unterlassung, der/die Rechte oder legitime Interessen unmittelbar oder mittelbar beeinträchtigt; 8. ‚aufgrund der Eigenschaften nach Art. 4 Abs. 1‘: aufgrund des tatsächlichen gegenwärtigen oder vergangenen oder des vermuteten Vorliegens einer oder mehrerer dieser Eigenschaften bei der diskriminierten Person oder bei einer Person, mit der sie verbunden ist oder bezüglich deren anzunehmen ist, dass sie mit ihr verbunden ist, wenn diese Verbindung Grund für die Diskriminierung ist; 9. ‚verbundene Personen‘: … Personen, die aus anderen Gründen als von der diskriminierten Person unmittelbar oder mittelbar abhängig anzusehen sind, sofern diese Verbindung die Ursache für die Diskriminierung ist; …“ 15 Art. 40 Abs. 1 und 2 ZZD sieht vor: „(1)   Die [KZD] ist eine spezialisierte und unabhängige staatliche Stelle zur Verhinderung von und zum Schutz vor Diskriminierungen sowie zur Gewährleistung der Chancengleichheit. (2)   Die KZD überwacht die Anwendung und die Einhaltung des vorliegenden Gesetzes …“ Energiegesetz 16 In Art. 10 des Energiegesetzes (Zakon za energetikata, im Folgenden: ZE) heißt es, dass „[f]ür die Regelung der Tätigkeiten im Energiebereich die Darzhavna Komisia za energiyno i vodno regulirane [Nationale Regulierungskommission für Energie und Wasser] … als spezialisierte und unabhängige staatliche Stelle … zuständig ist“. 17 Art. 104a Abs. 4 ZE bestimmt: „Die veröffentlichten allgemeinen Bedingungen gelten für den Endkunden auch ohne ausdrückliche schriftliche Anerkennung.“ 18 Art. 120 Abs. 1 und 3 ZE sieht vor: „(1)   Die dem Endkunden gelieferte elektrische Energie wird mit Mitteln zur kommerziellen Messung abgelesen, die im Eigentum des Betreibers des Netzes für den Transport und die Verteilung elektrischer Energie stehen … … (3)   Der Betreiber des Netzes für den Transport und die Verteilung elektrischer Energie bestimmt Art, Anzahl und Standort der Messgeräte und ‑einrichtungen …“ Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von CHEZ RB 19 In Art. 27 der von der Darzhavna Komisia po energiyno i vodno regulirane genehmigten Allgemeinen Geschäftsbedingungen von CHEZ RB heißt es: „(1)   Die Mittel zur kommerziellen Messung … werden derart angebracht, dass dem Kunden eine Sichtkontrolle der angezeigten Werte möglich ist. (2)   Werden die Mittel zur kommerziellen Messung zum Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bürger, des Eigentums, der Qualität der elektrischen Energie, der kontinuierlichen Energieversorgung, der Sicherheit und der Zuverlässigkeit des Energieversorgungssystems an schwer zugänglichen Orten angebracht, ist das Stromversorgungsunternehmen verpflichtet, auf seine Kosten sicherzustellen, dass auf einen entsprechenden schriftlichen Antrag eines Verbrauchers hin eine Sichtkontrolle innerhalb von drei Tagen möglich ist.“ 20 Zu dieser Möglichkeit einer Sichtkontrolle sehen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von CHEZ RB vor, dass diese Gesellschaft ein mit einer Hebebühne ausgerüstetes Fahrzeug entsendet, mittels dessen Mitarbeiter von CHEZ RB die hoch angebrachten Stromzähler ablesen und diese Angaben dem Kunden mitteilen können. Außerdem steht es dem Kunden frei, in seiner Wohnung einen zweiten, sogenannten „Kontrollzähler“ kostenpflichtig installieren zu lassen. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 21 Frau Nikolova betreibt als Einzelkauffrau ein Lebensmittelgeschäft in der Stadt Dupnitsa (Bulgarien), und zwar in dem Stadtteil „Gizdova mahala“, in dem im Wesentlichen Personen mit Roma-Herkunft wohnen. 22 In den Jahren 1999 und 2000 installierte CHEZ RB die Stromzähler aller ihrer Kunden in diesem Stadtteil an den Betonmasten des Freileitungsnetzes in einer Höhe von sechs bis sieben Metern, während sich die von CHEZ RB in den anderen Stadtteilen installierten Zähler in einer Höhe von 1,70 Meter befanden, meistens in den Wohnungen der Kunden, an der Fassade oder an Zäunen (im Folgenden: streitige Praxis). 23 Im Dezember 2008 beschwerte sich Frau Nikolova bei der KZD über die streitige Praxis, die darauf beruhe, dass die meisten Bewohner des Stadtteils „Gizdova mahala“ Personen mit Roma-Herkunft seien, und zur Folge habe, dass sie selbst dadurch einer unmittelbaren Diskriminierung wegen ihrer Nationalität (narodnost) unterliege. Insbesondere rügte sie, dass sie den Zählerstand von ihrem Stromzähler nicht zur Kontrolle ihres Verbrauchs ablesen und die an sie gerichteten Stromrechnungen, die sie für überhöht halte, nicht überprüfen könne. 24 Mit Entscheidung vom 6. April 2010 stellte die KZD fest, dass die streitige Praxis eine unzulässige mittelbare Diskriminierung aufgrund der Nationalität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 3 ZZD darstelle. 25 Diese Entscheidung wurde vom Varhoven administrativen sad (Oberster Verwaltungsgerichtshof) mit Urteil vom 19. Mai 2011 mit der Begründung aufgehoben, dass die KZD nicht angegeben habe, im Vergleich zu welcher anderen Nationalität Frau Nikolova diskriminiert worden sei. Die Sache wurde an die KZD zurückverwiesen. 26 Am 30. Mai 2012 erließ die KZD erneut eine Entscheidung, mit der sie feststellte, CHEZ RB habe Frau Nikolova aufgrund ihrer „persönlichen Verhältnisse“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 2 ZZD unmittelbar diskriminiert, denn Frau Nikolova sei aufgrund des Orts ihrer Geschäftsniederlassung weniger günstig behandelt worden als andere Kunden von CHEZ RB, deren Zähler an zugänglichen Orten angebracht seien. 27 CHEZ RB erhob gegen diese Entscheidung beim Administrativen sad Sofia-grad Klage. 28 In seiner Vorlageentscheidung weist dieses Gericht zunächst darauf hin, dass die Richtlinie 2000/43 eine konkrete Anwendung des insbesondere in Art. 21 der Charta festgelegten allgemeinen Grundsatzes des Verbots einer Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft bilde und dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. h dieser Richtlinie in deren sachlichen Anwendungsbereich falle. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts stehe daher außer Frage, und deshalb lege das Gericht hierzu keine Frage zur Vorabentscheidung vor, obwohl der Gerichtshof, bevor er sich den Vorlagefragen des Gerichts zuwende, in jedem Fall diesen Punkt zu beurteilen haben werde. 29 Das vorlegende Gericht weist in seiner weiteren Begründung für die Vorlage an den Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die KZD zwar von einer Diskriminierung aufgrund der „persönlichen Verhältnisse“ von Frau Nikolova ausgegangen sei und dass Letztere selbst in ihrer Klageschrift fälschlicherweise eine Diskriminierung aus Gründen der Nationalität geltend gemacht habe, dass aber im vorliegenden Fall hinsichtlich der geschützten persönlichen Eigenschaft auf die „ethnische Herkunft“ der Roma abzustellen sei, die die meisten Bewohner des Stadtteils „Gizdova mahala“ besäßen. 30 Erstens handele es sich bei den Roma durchaus um eine Volksgruppe, und im Übrigen genieße diese in Bulgarien den Status einer ethnischen Minderheit. 31 Zweitens gebe es zwar keine Statistiken über die Zahl der in dem fraglichen Stadtteil wohnenden und zur Bevölkerungsgruppe der Roma gehörenden Personen, doch sei dieser Stadtteil allgemein als größter „Roma-Bezirk“ von Dupnista bekannt. Im Übrigen seien sich die Parteien des Ausgangsrechtsstreits darüber einig, dass die streitige Praxis ganz allgemein nur in den „Roma-Bezirken“ verschiedener bulgarischer Städte geübt werde. Dies sei der entscheidende Grund für die Entscheidung von CHEZ RB, die Stromzähler in einer unzugänglichen Höhe anzubringen, und auch wenn CHEZ RB nicht ausdrücklich erklärt habe, dass die illegalen Stromentnahmen vor allem von Personen mit Roma-Herkunft getätigt würden, ergebe sich dieser Grund aus dem Kontext. 32 Drittens habe die KZD zu Unrecht festgestellt, dass die Roma-Herkunft von Frau Nikolova nicht erwiesen sei. Dadurch nämlich, dass sich Frau Nikolova in ihrer Beschwerde mit den Bewohnern mit Roma-Herkunft des Stadtteils „Gizdova mahala“ identifiziert habe, habe sie sich selbst als eine Person dieser Herkunft definiert. Das vorlegende Gericht meint jedenfalls unter Hinweis auf das Urteil Feryn (C‑54/07, EU:C:2008:397), dass das Vorliegen einer Diskriminierung nicht voraussetze, dass eine beschwerte Person identifizierbar sei, die behaupte, Opfer einer derartigen Diskriminierung geworden zu sein. Außerdem ergebe sich aus dem Urteil Coleman (C‑303/06, EU:C:2008:415), dass sich die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung nicht auf diejenigen Personen beschränke, welche die geschützte persönliche Eigenschaft aufwiesen. 33 Die erste Vorlagefrage beziehe sich auf die vorstehenden Erwägungen. 34 Weiter führt das vorlegende Gericht aus, es neige zwar selbst der Auffassung der KZD zu, dass die streitige Praxis eine unmittelbare Diskriminierung darstelle, aber die Generalanwältin Kokott habe in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Belov (C‑394/11, EU:C:2012:585, Nr. 99) festgestellt, dass bei einer Praxis wie der streitigen der erste Anschein einer mittelbaren Diskriminierung bestehe. Im Übrigen habe der Varhoven administrativen sad in ähnlichen Rechtssachen seinerseits entschieden, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft vorliege. 35 In diesem Zusammenhang hegt das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Begriffe „unmittelbare Diskriminierung“ und „mittelbare Diskriminierung“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2000/43 sowie der Frage, ob die streitige Praxis unter einen dieser Begriffe fällt. 36 Für den Fall, dass die genannte Praxis in den Anwendungsbereich von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie fällt, wirft das vorlegende Gericht schließlich die Frage auf, ob diese Praxis sachlich gerechtfertigt, angemessen und erforderlich im Sinne der genannten Vorschrift sein kann. Insbesondere weist es darauf hin, dass diese Praxis zwar nach Ansicht von CHEZ RB aufgrund der Vielzahl illegaler Stromentnahmen, Beschädigungen und Manipulationen von Zählern gerechtfertigt sei, aber diese Gesellschaft ihre bei der KZD ursprünglich gestellten Anträge auf Beibringung eines Gutachtens und auf Anhörung von Zeugen mit der Begründung zurückgenommen habe, dass die genannten Verhaltensweisen allgemein bekannt seien. Die Parteien des Ausgangsverfahrens hätten beim vorlegenden Gericht im Übrigen trotz der Aufforderungen, die an sie im Hinblick auf die Beweislast ergangen seien, keine weiteren Beweise vorgetragen. Zudem sei auf Presseartikel zu verweisen, in denen über neue und effiziente, für die Verbraucher weniger restriktive Methoden berichtet werde, insbesondere durch den Einsatz von Zählern, bei denen das Versorgungsunternehmen eine Fernablesung vornehmen könne und ihm jeder Versuch einer Manipulation signalisiert werde. 37 Vor diesem Hintergrund hat der Administrativen sad Sofia-grad beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist der in der Richtlinie 2000/43 und in der Charta verwendete Begriff „ethnische Herkunft“ dahin auszulegen, dass er eine kompakte Gruppe bulgarischer Staatsangehöriger mit Roma-Herkunft wie die im Stadtteil „Gizdova mahala“ der Stadt Dupnitsa Wohnenden erfasst? 2. Ist der Begriff „vergleichbare Situation“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar, bei dem die Mittel zur kommerziellen Messung in Roma-Stadtteilen in einer Höhe von 6 bis 7 Metern angebracht werden, während sie in anderen Stadtteilen ohne kompakte Roma-Bevölkerung üblicherweise in einer Höhe von weniger als 2 Metern angebracht werden? 3. Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen, dass die Anbringung von Mitteln zur kommerziellen Messung in Roma-Stadtteilen in einer Höhe von 6 bis 7 Metern eine weniger günstige Behandlung der Bevölkerung mit Roma-Herkunft im Vergleich zu der Bevölkerung mit anderer ethnischer Herkunft darstellt? 4. Wenn es sich um eine weniger günstige Behandlung handelt, ist dann die genannte Bestimmung dahin auszulegen, dass diese Behandlung beim Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ganz oder teilweise auf dem Umstand beruht, dass sie die ethnische Gruppe der Roma betrifft? 5. Ist nach der Richtlinie 2000/43 eine nationale Bestimmung wie § 1 Nr. 7 der Ergänzungsvorschriften zum ZZD zulässig, wonach jeder Akt, jede Handlung und jede Unterlassung, der/die unmittelbar oder mittelbar Rechte oder rechtmäßige Interessen beeinträchtigt, eine „ungünstige Behandlung“ ist? 6. Ist der Begriff „dem Anschein nach neutrale Verfahren“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 auf die Praxis der CHEZ RB, Mittel zur kommerziellen Messung in einer Höhe von 6 bis 7 Metern anzubringen, anwendbar? Wie ist der Begriff „dem Anschein nach“ auszulegen – dahin, dass die Praxis offensichtlich neutral ist, oder dahin, dass sie nur auf den ersten Blick neutral erscheint, d. h. scheinbar neutral ist? 7. Ist es für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 erforderlich, dass das neutrale Verfahren die Personen aufgrund ihrer Rasse oder ethnischen Herkunft in eine in besonderem Maß ungünstigere Lage versetzt, oder genügt es, wenn dieses Verfahren nur Personen mit einer bestimmten ethnischen Herkunft beeinträchtigt? Ist in diesem Zusammenhang nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 eine nationale Bestimmung wie Art. 4 Abs. 3 ZZD zulässig, wonach eine mittelbare Diskriminierung vorliegt, wenn eine Person wegen Eigenschaften nach Abs. 1 (einschließlich der ethnischen Zugehörigkeit) in eine ungünstigere Lage versetzt wird? 8. Wie ist der Begriff „in besonderer Weise benachteiligen“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 auszulegen? Entspricht er dem in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 verwendeten Begriff „weniger günstige Behandlung“, oder umfasst er nur besonders erhebliche, offensichtliche und schwerwiegende Fälle der Ungleichbehandlung? Stellt die im vorliegenden Fall beschriebene Praxis eine besonders ungünstige Lage dar? Falls kein besonders erheblicher, offensichtlicher und schwerwiegender Fall der Versetzung in eine ungünstige Lage vorliegt, genügt dies, um eine mittelbare Diskriminierung zu verneinen (ohne zu prüfen, ob die jeweilige Praxis im Hinblick auf die Erreichung eines rechtmäßigen Ziels gerechtfertigt, angemessen und erforderlich ist)? 9. Sind nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2000/43 nationale Bestimmungen wie Art. 4 Abs. 2 und 3 ZZD zulässig, die für das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung eine „ungünstigere Behandlung“ und für das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung die „Versetzung in eine ungünstigere Lage“ verlangen, ohne wie die Richtlinie nach der Schwere der jeweiligen ungünstigen Behandlung zu differenzieren? 10. Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen, dass die in Rede stehende Praxis der CHEZ RB im Hinblick auf die Gewährleistung der Sicherheit des Elektrizitätsnetzes und die ordnungsgemäße Erfassung der verbrauchten Elektrizität sachlich gerechtfertigt ist? Ist diese Praxis auch unter Berücksichtigung der Verpflichtung der Beklagten, den Verbrauchern freien Zugang zu den Anzeigen der Stromzähler zu ermöglichen, angemessen? Ist diese Praxis erforderlich, wenn aus Veröffentlichungen in den Medien andere technisch und finanziell zugängliche Mittel zur Gewährleistung der Sicherheit der Mittel zur kommerziellen Messung bekannt sind? Zu den Vorlagefragen Vorbemerkungen 38 Wie sich aus Rn. 28 des vorliegenden Urteils ergibt, fällt zwar der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt nach Ansicht des vorlegenden Gerichts gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2000/43 in deren sachlichen Anwendungsbereich, so dass es keine Notwendigkeit sieht, dem Gerichtshof hierzu eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass der Gerichtshof diesen Aspekt zu beurteilen haben werde, bevor er sich den Vorlagefragen zuwende. 39 Während die streitige Praxis nach Ansicht der bulgarischen Regierung und der Europäischen Kommission in diesen sachlichen Anwendungsbereich fällt, ist das nach Ansicht von CHEZ RB nicht der Fall, weil die Klarstellung in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2000/43, wonach diese „[i]m Rahmen der auf die [Union] übertragenen Zuständigkeiten gilt“, zur Folge habe, dass die Richtlinie nur für Sachverhalte gelte, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen. Dazu müsste das materielle Unionsrecht auf den fraglichen Sachverhalt anwendbar sein. Die Union habe jedoch für die Aufstellung oder die Ablesbarkeit von Stromzählern keinerlei Regelung erlassen. 40 Insoweit hat der Unionsgesetzgeber, wie sich aus dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/43 ergibt, den Standpunkt eingenommen, dass, um die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen – ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen, spezifische Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft auch Aspekte wie die in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten mit abdecken sollten (vgl. Urteil Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 41). 41 Art. 3 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2000/43 nimmt allgemein auf den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, Bezug (vgl. Urteil Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 45). 42 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, darf der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 in Anbetracht ihres Gegenstands und der Natur der Rechte, die sie schützen soll, sowie des Umstands, dass sie in dem jeweiligen Bereich nur dem Gleichbehandlungsgrundsatz Ausdruck gibt, der einer der tragenden Grundsätze des Unionsrechts und in Art. 21 der Charta niedergelegt ist, nicht eng definiert werden (Urteil Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 43). 43 Unter diesen Umständen und mit Rücksicht darauf, dass die Elektrizitätsversorgung ohne Zweifel, wie die Generalanwältin in den Nrn. 38 und 39 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, unter Art. 3 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2000/43 fällt, ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass die Anbringung eines Stromzählers beim Endverbraucher, die einen untrennbar mit der Elektrizitätsversorgung verbundenen Nebengegenstand darstellt, in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt und dem in dieser niedergelegten Grundsatz der Gleichbehandlung unterliegt. 44 Hinsichtlich der Bezugnahme in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2000/43 auf den „Rahmen der auf die [Union] übertragenen Zuständigkeiten“ genügt im vorliegenden Fall der Hinweis, dass sich Vorschriften wie Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/32 und Art. 3 Abs. 3 und 7 der Richtlinie 2009/72 in Verbindung mit deren Anhang I Nr. 1 Buchst. h und i auf die Bereitstellung von individuellen Stromzählern für die Endverbraucher beziehen, wobei diese Stromzähler es im Rahmen des Universaldiensts den betroffenen Personen ermöglichen sollen, ihren Stromverbrauch zu verfolgen und zu regulieren. Deshalb steht es außer Frage, dass die Bedingungen für eine solche Bereitstellung in den Zuständigkeitsbereich der Union fallen, so insbesondere gemäß Art. 95 EG, jetzt Art. 114 AEUV, oder Art. 175 EG, jetzt Art. 191 AEUV, die die Rechtsgrundlage der genannten Richtlinien bilden. Zur ersten Frage 45 Die erste Frage bezieht sich ihrem Wortlaut nach auf den Begriff „ethnische Herkunft“ im Sinne der Richtlinie 2000/43 und von Art. 21 der Charta und geht dahin, ob dieser Begriff so auszulegen ist, dass er „eine kompakte Gruppe bulgarischer Staatsangehöriger mit Roma-Herkunft“ wie diejenigen erfasst, die in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Stadtteil wohnen. 46 Den detaillierten Ausführungen, die die Vorlageentscheidung hierzu enthält und die in den Rn. 29 bis 33 des vorliegenden Urteils zusammengefasst worden sind, ist zu entnehmen, dass sich die Fragen des vorlegenden Gerichts nicht darauf beziehen, ob eine Roma-Herkunft als „ethnische Herkunft“ im Sinne der Richtlinie 2000/43 und ganz allgemein des Unionsrechts anzusehen ist, was das vorlegende Gericht zu Recht für unstreitig erachtet. Der Begriff der ethnischen Herkunft, der auf dem Gedanken beruht, dass gesellschaftliche Gruppen insbesondere durch eine Gemeinsamkeit der Staatsangehörigkeit, Religion, Sprache, kulturelle und traditionelle Herkunft und Lebensumgebung gekennzeichnet sind, erfasst nämlich auch die Gemeinschaft der Roma (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf Art. 14 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten EGMR, Natchova u. a./Bulgarien, Nrn. 43577/98 und 43579/98, EGMR 2005-VII, sowie Sejdić und Finbci/Bosnien-Herzegovina, Nrn. 27996/06 und 34836/06, §§ 43 bis 45 und 50, EGMR 2009). 47 Der ausschlaggebende Gesichtspunkt, der das vorlegende Gericht zu seiner ersten Frage veranlasst hat, liegt vielmehr, wie sich aus den Rn. 31 und 32 des vorliegenden Urteils ergibt, offenbar darin, dass die streitige Praxis in einem gesamten Stadtteil geübt wird, in dem überwiegend, aber nicht ausschließlich Personen mit Roma-Herkunft wohnen. 48 Insoweit ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass Frau Nikolova dadurch, dass sie sich mit ihrer Beschwerde der Bevölkerung mit Roma-Herkunft, die in dem fraglichen Stadtteil lebe und wie sie die mit der streitigen Praxis verbundenen Unannehmlichkeiten erleide, selbst zugerechnet habe, sich selbst als Roma definiert habe. Aber auch wenn Frau Nikolova nicht als Roma anzusehen sein sollte, hätte dies nach Auffassung des vorlegenden Gerichts im vorliegenden Fall keinen Einfluss auf die Anwendbarkeit der Richtlinie 2000/43 und darauf, dass Frau Nikolova im vorliegenden Fall einen Verstoß gegen diese Richtlinie in ihrem eigenen Fall geltend machen könnte. 49 Frau Nikolova hat indessen in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen, die zu berücksichtigen sind, ausdrücklich erklärt, dass sie bulgarischer Abstammung sei, sich nicht als Roma definiere und nicht als Roma anzusehen sei. 50 Nach alledem ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob der Begriff der „Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft“ im Sinne der Richtlinie 2000/43, insbesondere ihrer Art. 1 und 2 Abs. 1, und gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 21 der Charta, dahin auszulegen ist, dass er auf einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren fraglichen unterschiedslos anzuwenden ist, gleichviel ob die fragliche Maßnahme Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft oder Personen anderer Herkunft betrifft, die durch diese Maßnahme zusammen mit Ersteren weniger günstig behandelt oder in besonderer Weise benachteiligt werden. 51 In diesem Zusammenhang ist angesichts des Wortlauts der Richtlinie 2000/43 festzustellen, dass deren Zweck gemäß ihrem Art. 1 die Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung „der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft“ bildet. 52 In Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie wird der Gleichbehandlungsgrundsatz dahin definiert, dass es „keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft“ geben darf. 53 Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 sieht, wie die Generalanwältin in Nr. 53 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, in den meisten Sprachfassungen dieser Richtlinie vor, dass eine unmittelbare Diskriminierung gegeben ist, wenn eine Person „aufgrund der Rasse oder ethnischen Herkunft“ in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde, während nur in einigen Sprachfassungen dieser Bestimmung die Rede von einer weniger günstigen Behandlung aufgrund „ihrer“ Rasse oder „ihrer“ ethnischen Herkunft ist. 54 Gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, „wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich“. 55 Da der Wortlaut der fraglichen Bestimmungen als solcher angesichts insbesondere der in Rn. 53 des vorliegenden Urteils genannten Abweichung zwischen den einzelnen Sprachfassungen der Richtlinie 2000/43 keine Antwort auf die Frage erlaubt, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz, den die Richtlinie gewährleisten soll, nur denjenigen Personen zugutekommen soll, die von einer auf die Rasse oder die ethnische Herkunft abstellenden diskriminierenden Maßnahme betroffen sind und die tatsächlich dieser Rasse angehören oder diese Herkunft besitzen, sind zur Auslegung dieser Bestimmungen auch der Zusammenhang, in dem sie stehen, sowie der allgemeine Aufbau und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Richtlinie 2000/43 verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile VEMW u. a., C‑17/03, EU:C:2005:362, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Kommission/Portugal, C‑450/11, EU:C:2013:611, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 56 Die bereits in Rn. 42 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 in Anbetracht ihres Gegenstands und der Natur der Rechte, die sie schützen soll, nicht eng definiert werden darf, vermag im vorliegenden Fall eine Auslegung zu rechtfertigen, nach der der Gleichbehandlungsgrundsatz, den die Richtlinie zum Gegenstand hat, nicht für eine bestimmte Kategorie von Personen, sondern nach Maßgabe der in ihrem Art. 1 genannten Gründe anwendbar ist, so dass er auch für Personen zu gelten hat, die zwar nicht selbst der betreffenden Rasse oder Ethnie angehören, aber gleichwohl aus einem dieser Gründe weniger günstig behandelt werden oder in besonderer Weise benachteiligt werden (vgl. entsprechend Urteil Coleman, C‑303/06, EU:C:2008:415, Rn. 38 und 50). 57 Für diese Auslegung sprechen außerdem der 16. Erwägungsgrund und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie, wonach der mit ihr angestrebte Schutz vor einer Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft für „alle“ Personen gelten soll. 58 Für diese Auslegung sprechen desgleichen sowohl der Wortlaut von Art. 13 EG, der nach Änderungen zum jetzigen Art. 19 AEUV wurde und die Rechtsgrundlage der Richtlinie 2000/43 bildet und in dem der Union die Zuständigkeit übertragen wird, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen u. a. aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft zu bekämpfen (vgl. entsprechend Urteil Coleman, C‑303/06, EU:C:2008:415, Rn. 38), als auch, wie die Generalanwältin in Nr. 53 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, das in Art. 21 der Charta niedergelegte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft, dessen konkreten Ausdruck die Richtlinie in den von ihr erfassten Bereichen bildet (vgl. Urteil Runevič-Vardyn und Wardyn, C‑391/09, EU:C:2011:291, Rn. 43, sowie entsprechend Urteil Felber, C‑529/13, EU:C:2015:20, Rn. 15 und 16). 59 In dem Sachverhalt, der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, bleibt auch dann, wenn Frau Nikolova keine Roma-Herkunft aufweist, wie sie vor dem Gerichtshof erklärt hat, gleichwohl die Roma-Herkunft, nämlich die des größten Teils der übrigen Bewohner des Stadtviertels, in dem sie ihr Geschäft unterhält, der Gesichtspunkt, aufgrund dessen sie nach ihrem Vorbringen weniger günstig behandelt oder in besonderer Weise benachteiligt worden sei. 60 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Begriff der „Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft“ im Sinne der Richtlinie 2000/43, insbesondere ihrer Art. 1 und 2 Abs. 1, dahin auszulegen ist, dass er auf einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, in dem in einem Stadtviertel, in dem im Wesentlichen Personen mit Roma-Herkunft wohnen, sämtliche Stromzähler in einer Höhe von sechs bis sieben Metern an den Masten des Freileitungsnetzes angebracht sind, während solche Zähler in den übrigen Stadtvierteln in einer Höhe von weniger als zwei Metern angebracht sind, unterschiedslos anzuwenden ist, gleichviel ob die fragliche Maßnahme Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft oder Personen anderer Herkunft betrifft, die durch diese Maßnahme zusammen mit Ersteren weniger günstig behandelt oder in besonderer Weise benachteiligt werden. Zur fünften Frage 61 Mit seiner fünften Frage, die als Zweites zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob § 1 Nr. 7 der Ergänzungsvorschriften zum ZZD, der eine „ungünstige Behandlung“ als jede Handlungsweise definiert, die unmittelbar oder mittelbar „Rechte oder legitime Interessen“ beeinträchtigt, mit der Richtlinie 2000/43 vereinbar ist. 62 Es ist daran zu erinnern, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, sich im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV zur Vereinbarkeit von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts mit denen des Unionsrechts zu äußern. Der Gerichtshof ist jedoch befugt, dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, über die Frage der Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu entscheiden (vgl. u. a. Urteil Placanica u. a., C‑338/04, C‑359/04 und C‑360/04, EU:C:2007:133, Rn. 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 63 Im Übrigen ergibt sich aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, dass der genannte Begriff der „ungünstigen Behandlung“ nach dem nationalen Recht bei der Prüfung der Frage zur Anwendung kommt, ob eine unmittelbare oder eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 und 3 ZZD vorliegt. 64 Nach alledem ist die fünfte Frage dahin zu verstehen, dass mit ihr Aufschluss darüber begehrt wird, ob die Richtlinie 2000/43, insbesondere ihr Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. a und b, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der, um das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft in den von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie erfassten Bereichen bejahen zu können, die weniger günstige Behandlung oder die in besonderer Weise benachteiligende Maßnahme im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie in einer Beeinträchtigung von Rechten oder legitimen Interessen bestehen muss. 65 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2000/43, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 12 und 13 ergibt, darauf gerichtet ist, die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen – ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen, und dass hierfür „jede“ unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen in der Union untersagt werden soll. Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie bekräftigt im gleichen Sinne, dass unter dem Gleichbehandlungsgrundsatz zu verstehen ist, dass es „keine“ unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft geben darf. 66 Des Weiteren darf der Geltungsbereich der genannten Richtlinie, wie in Rn. 42 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nicht eng definiert werden. 67 Schließlich weist der 28. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/43 darauf hin, dass deren Ziel darin besteht, ein einheitliches, hohes Niveau des Schutzes vor Diskriminierungen in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Insoweit geht aus Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie hervor, dass sie „Mindestanforderungen“ enthält, wobei es den Mitgliedstaaten unbenommen bleibt, Vorschriften einzuführen oder beizubehalten, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes „günstiger“ sind. 68 Es ist festzustellen, dass eine nationale Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren fragliche, wonach als „weniger günstige“ Behandlung bzw. als „in besonderer Weise benachteiligen[d]“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a bzw. b lediglich eine Handlungsweise anzusehen ist, die ein „Recht“ oder ein „legitimes Interesse“ einer Person beeinträchtigt, eine sich nicht aus diesen Richtlinienbestimmungen ergebende Bedingung aufstellt und dadurch bewirkt, dass der Geltungsbereich des durch die genannte Richtlinie gewährleisteten Schutzes eingeschränkt wird. 69 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2000/43, insbesondere ihr Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. a und b, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der, um das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft in den von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie erfassten Bereichen bejahen zu können, die weniger günstige Behandlung oder die in besonderer Weise benachteiligende Maßnahme im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie in einer Beeinträchtigung von Rechten oder legitimen Interessen bestehen muss. Zu den Fragen 2 bis 4 70 Mit seinen Fragen 2 bis 4, die zusammen als Drittes zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass eine Maßnahme wie die streitige Praxis geeignet ist, eine Situation zu schaffen, in der Personen im Sinne dieser Bestimmung aus Gründen, die ausschließlich oder teilweise auf der ethnischen Herkunft beruhen, „in einer vergleichbaren Situation“ eine „weniger günstige Behandlung“ erfahren als andere Personen, so dass die streitige Praxis eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund einer solchen Herkunft im Sinne dieser Bestimmung bewirkt. 71 Insoweit ist daran zu erinnern, dass Art. 267 AEUV dem Gerichtshof nicht die Befugnis gibt, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern. Der Gerichtshof kann aber das Unionsrecht im Rahmen der durch diesen Artikel begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen dieser Bestimmung dienlich sein könnte (vgl. u. a. Urteil Feryn, C‑54/07, EU:C:2008:397, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). 72 Im vorliegenden Fall ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2000/43, wie bereits in Rn. 58 des vorliegenden Urteils ausgeführt, den konkreten Ausdruck des in Art. 21 der Charta niedergelegten Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft in ihrem Geltungsbereich bildet. 73 Zweitens ist zu beachten, dass der dritte Erwägungsgrund dieser Richtlinie auf mehrere internationale Abkommen verweist, zu denen insbesondere das am 21. Dezember 1965 angenommene Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung gehört. Gemäß Art. 1 dieses Übereinkommens stellt jede auf dem Volkstum einer Person beruhende Unterscheidung eine Form der Rassendiskriminierung dar. 74 Drittens hat der Unionsgesetzgeber, wie sich aus den Erwägungsgründen 9, 12 und 13 der Richtlinie 2000/43 ergibt, zum einen auch hervorheben wollen, dass Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft die Verwirklichung der im Vertrag festgelegten Ziele untergraben können, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt sowie die Solidarität und das Ziel der Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, und zum anderen, dass das Verbot jeglicher Diskriminierung dieser Art, das die genannte Richtlinie für die von ihr geregelten Bereiche vorsieht, insbesondere darauf gerichtet ist, die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen – ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen. 75 Nach diesen Vorüberlegungen ist, erstens, zu der Frage, ob davon ausgegangen werden kann, dass die sich aus der streitigen Praxis ergebende Ungleichbehandlung aufgrund der ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 eingeführt wurde – was Gegenstand der vierten Vorlagefrage ist –, zunächst hervorzuheben, dass der bloße Umstand, dass in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Stadtviertel auch Bewohner leben, die keine Roma sind, nicht ausschließt, dass diese Praxis wegen der ethnischen Roma-Herkunft eingeführt wurde, die den meisten Bewohnern dieses Viertels gemeinsam ist. 76 Weiter ist in Anbetracht der Bezugnahme dieser vierten Frage auf eine weniger günstige Behandlung, die „ganz oder teilweise“ darauf zurückzuführen sein könnte, dass sie die ethnische Gruppe der Roma betrifft, klarzustellen, dass es für das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 genügt, dass diese ethnische Herkunft für die Entscheidung, die genannte Behandlung einzuführen, auschlaggebend war, wobei die in den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2000/43 vorgesehenen und für die vorliegende Rechtssache nicht einschlägigen Ausnahmen für wesentliche und entscheidende berufliche Anforderungen und für positive Maßnahmen der Mitgliedstaaten, mit denen Benachteiligungen aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft verhindert oder ausgeglichen werden sollen, unbeschadet bleiben. 77 Schließlich ergibt sich aus Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/43, dass, wenn Personen, die sich durch die Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert halten und bei einem Gericht bzw. einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Beklagten obliegt, zu beweisen, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt wurde. 78 Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass es zwar der Person obliegt, die sich durch eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für beschwert hält, zunächst Tatsachen glaubhaft zu machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, jedoch im Rahmen des Nachweises solcher Tatsachen sicherzustellen ist, dass eine Verweigerung von Informationen durch den Beklagten nicht die Verwirklichung der mit der Richtlinie 2000/43 verfolgten Ziele zu beeinträchtigen droht (Urteil Meister, C‑415/10, EU:C:2012:217, Rn. 36 und 40). 79 Es obliegt dem einzelstaatlichen Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle, die Tatsachen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, im Einklang mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten zu bewerten, wie es der 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/43 vorsieht (Urteil Meister, C‑415/10, EU:C:2012:217, Rn. 37). 80 Daher hat im vorliegenden Fall das vorlegende Gericht sämtliche mit der streitigen Praxis zusammenhängenden Umstände zu berücksichtigen, um festzustellen, ob es hinreichende Anhaltspunkte gibt, die darauf schließen lassen, dass das Vorliegen einer unmittelbaren Diskriminierung aus Gründen der ethnischen Herkunft erwiesen ist, und darüber zu wachen, dass eine Auskunftsverweigerung seitens der Beklagten, hier CHEZ RB, im Rahmen des Nachweises derartiger Tatsachen nicht die Verwirklichung der mit der Richtlinie 2000/43 verfolgten Ziele zu beeinträchtigen droht (vgl. in diesem Sinne Urteil Meister, C‑415/10, EU:C:2012:217, Rn. 42). 81 Zu den insoweit zu berücksichtigenden Gesichtspunkten gehört insbesondere der vom vorlegenden Gericht dargelegte Umstand, dass CHEZ RB unstrittig – und auch von ihr selbst nicht bestritten – die streitige Praxis nur in Stadtvierteln eingeführt hat, in denen, wie im Stadtteil „Gizdova mahala“, bekanntermaßen überwiegend bulgarische Staatsangehörige mit Roma-Herkunft wohnen. 82 Das Gleiche gilt für den von der KZD in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen geltend gemachten Umstand, dass CHEZ RB in mehreren Verfahren, mit denen die KZD befasst gewesen sei, behauptet habe, die Beschädigungen und illegalen Stromentnahmen seien hauptsächlich von bulgarischen Bürgern mit Roma-Herkunft begangen worden. Derartige Behauptungen könnten nämlich dafür sprechen, dass die streitige Praxis auf ethnischen Stereotypen oder Vorurteilen beruht, womit sich rassenbezogene Motive mit anderen Motiven verbänden. 83 Zu den Gesichtspunkten, die Berücksichtigung finden können, zählt auch der vom vorlegenden Gericht erwähnte Umstand, dass CHEZ RB trotz entsprechender Aufforderungen dieses Gerichts zur Frage der Beweislast davon abgesehen hat, für die behaupteten Beschädigungen und Manipulationen von Zählern sowie illegalen Stromentnahmen Beweise beizubringen, um stattdessen lediglich vorzutragen, diese seien allgemein bekannt. 84 Das vorlegende Gericht hat darüber hinaus zu berücksichtigen, dass die streitige Praxis einen zwingenden, verallgemeinerten und dauerhaften Charakter trägt, denn zum einen wurde sie unterschiedslos auf alle Bewohner des Stadtteils unabhängig davon erstreckt, ob deren individuelle Verbrauchszähler Gegenstand von Manipulationen oder illegalen Stromentnahmen waren und wer diese verübte, und zum anderen existiert diese Praxis, nachdem sie vor nahezu einem Vierteljahrhundert eingeführt wurde, noch immer, was darauf hindeutet, dass die Bewohner dieses Stadtteils, von dem bekannt ist, dass dort im Wesentlichen bulgarische Staatsangehörige mit Roma-Herkunft wohnen, in ihrer Gesamtheit als potenzielle Urheber derartiger illegaler Handlungen angesehen werden. Eine solche Wahrnehmung kann nämlich ebenfalls ein stichhaltiges Indiz für die Gesamtwürdigung der im Ausgangsverfahren streitigen Praxis darstellen (vgl. entsprechend Urteil Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 51). 85 Im Übrigen würde, wenn das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen sollte, dass eine Diskriminierung zu vermuten ist, die tatsächliche Umsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes verlangen, dass die Beweislast bei den Beklagten des Ausgangsverfahrens liegt, die beweisen müssten, dass dieser Grundsatz nicht verletzt wurde (vgl. u. a. Urteile Coleman, C‑303/06, EU:C:2008:415, Rn. 54, und Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 55). In einem solchen Fall obläge es CHEZ RB als der Beklagten, das Vorliegen einer solchen Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes durch den Nachweis zu bestreiten, dass die Einführung der streitigen Praxis und deren Beibehaltung keineswegs auf dem Umstand beruhen, dass in den fraglichen Stadtteilen überwiegend bulgarische Staatsangehörige mit Roma-Herkunft wohnen, sondern ausschließlich auf objektiven Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft zu tun haben (vgl. entsprechend Urteile Coleman, C‑303/06, EU:C:2008:415, Rn. 55, und Asociația Accept, C‑81/12, EU:C:2013:275, Rn. 56). 86 Als Zweites steht außer Frage, dass eine Praxis wie die streitige im Hinblick auf die übrigen in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 vorgesehenen Voraussetzungen, die Gegenstand der zweiten und der dritten Vorlagefrage sind, d. h. das Vorliegen einer „weniger günstigen Behandlung“ und die „Vergleichbarkeit“ der geprüften Situationen, diese Merkmale aufweist. 87 Zum einen nämlich lässt sich die ungünstige Behandlung der Bewohner des betroffenen Stadtteils, die überwiegend eine Roma-Herkunft haben, nicht bestreiten, da es für die Betroffenen außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich ist, ihren Stromzähler abzulesen, um ihren Verbrauch zu überprüfen, und diese Praxis, wie bereits in Rn. 84 des vorliegenden Urteils ausgeführt, einen beleidigenden und stigmatisierenden Charakter trägt. 88 Zum anderen ergibt sich hinsichtlich der Frage, ob die Voraussetzung des Vorliegens einer „vergleichbaren Situation“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 im Ausgangsverfahren erfüllt sein kann, aus der Vorlageentscheidung, dass die vom vorlegenden Gericht in dieser Hinsicht gehegten Zweifel auf dem zweifachen Umstand beruhen, dass in den „Roma-Stadtteilen“ wohnende Personen, die keine Roma-Herkunft aufweisen, ebenfalls von der streitigen Praxis betroffen sind und dass umgekehrt Personen mit Roma-Herkunft, die in Stadtteilen wohnen, in denen die meisten Bewohner nicht dieser Herkunft sind, von ihr nicht betroffen sind. 89 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis der Vergleichbarkeit der Situationen für die Feststellung, ob eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorliegt, im Hinblick auf alle Merkmale zu beurteilen ist, die diese Situationen kennzeichnen (vgl. u. a. Urteil Arcelor Atlantique und Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 25). 90 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass grundsätzlich alle vom selben städtischen Versorgungsunternehmen belieferten Endabnehmer elektrischem Stroms unabhängig von dem Stadtteil, in dem sie wohnen, im Hinblick auf dieses Versorgungsunternehmen als Personen anzusehen sind, die sich hinsichtlich der Bereitstellung eines Zählers, durch den sie ihren Stromverbrauch ablesen und verfolgen können, in einer vergleichbaren Situation befinden. 91 Nach alledem ist auf die Fragen 2 bis 4 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass eine Maßnahme wie die streitige Praxis eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn sich erweist, dass diese Maßnahme aus Gründen eingeführt und/oder beibehalten wurde, die mit der ethnischen Herkunft des überwiegenden Teils der Bewohner des betroffenen Stadtteils zusammenhängen. Dies ist vom vorlegenden Gericht unter Berücksichtigung sämtlicher relevanten Umstände des Falles und der in Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Regeln über die Beweislastumkehr zu beurteilen. Zu den Fragen 6 bis 9 92 Mit seinen Fragen 6 bis 9, die zusammen als Viertes zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, welche Tragweite die Begriffe „dem Anschein nach neutral“ und „Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 haben und ob eine Praxis wie die hier streitige, falls sie keine unmittelbare Diskriminierung darstellt, die genannten Voraussetzungen erfüllt und demzufolge eine mittelbare Diskriminierung im Sinne der genannten Bestimmung sein kann. Ferner möchte das vorlegende Gericht wissen, ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der das Bestehen einer solchen mittelbaren Diskriminierung voraussetzt, dass die in besonderer Weise benachteiligende Maßnahme aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft ergriffen wurde. 93 Was erstens das Vorliegen einer „dem Anschein nach neutrale[n] Praxis“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 und die Frage angeht, ob dieser Begriff, wie das vorlegende Gericht mit seiner sechsten Frage wissen möchte, dahin aufzufassen ist, dass er eine Praxis bezeichnet, die „offensichtlich“ neutral ist, oder vielmehr dahin, dass er eine „dem Anschein nach“ oder „auf den ersten Blick neutral[e]“ Praxis bezeichnet, besteht, wie die Generalanwältin in Nr. 92 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, kein Zweifel, dass der genannte Begriff im zweitgenannten Sinne zu verstehen ist. 94 Abgesehen davon, dass diese Auslegung dem natürlichsten Sinn des benutzten Begriffs entspricht, ist dieser Wortsinn in Anbetracht der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff der mittelbaren Diskriminierung geboten, der zufolge die mittelbare Diskriminierung im Gegensatz zu einer unmittelbaren Diskriminierung aus einer Maßnahme resultieren kann, die zwar neutral formuliert ist, d. h. unter Bezugnahme auf andere Kriterien, die mit dem geschützten Merkmal in keinem Zusammenhang stehen, gleichwohl aber die Personen, die dieses Merkmal aufweisen, in besonderer Weise benachteiligt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Z., C‑363/12, EU:C:2014:159, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). 95 Zweitens ist hinsichtlich der Zweifel, die das vorlegende Gericht mit seiner siebten Frage in Bezug auf Art. 4 Abs. 3 ZZD aufgeworfen hat, wonach eine mittelbare Diskriminierung vorliegt, wenn eine Person wegen der Rasse oder der ethnischen Herkunft in eine ungünstigere Lage versetzt wird, darauf hinzuweisen, dass – wie sich aus der Antwort auf die zweite, die dritte und die vierte Frage ergibt – eine Maßnahme, die zu einer Ungleichbehandlung führt, eine „unmittelbare Diskriminierung“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 darstellt, wenn sie aus Gründen eingeführt wurde, die mit der Rasse oder der ethnischen Herkunft zusammenhängen. 96 Demgegenüber ist für eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft nicht erforderlich, dass die fragliche Maßnahme auf derartigen Gründen beruht. Wie sich nämlich aus der in Rn. 94 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, fällt eine Maßnahme, auch wenn sie unter Rückgriff auf neutrale Kriterien formuliert ist, die nicht auf das geschützte Merkmal abstellen, bereits dann unter Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43, wenn sie bewirkt, dass die Personen, die dieses Merkmal aufweisen, in besonderer Weise benachteiligt werden. 97 Nach alledem ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Bestimmung entgegensteht, nach der eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft voraussetzt, dass die fragliche Maßnahme aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft ergriffen wurde. 98 Drittens weist das vorlegende Gericht hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43, dass Personen, die einer bestimmten Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, „in besonderer Weise benachteilig[t werden]“, im Rahmen seiner achten Frage darauf hin, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie hinsichtlich einer unmittelbaren Diskriminierung auf das Vorliegen „eine[r] weniger günstige[n] Behandlung“ abstelle. Angesichts dieser terminologischen Unterscheidung wirft es die Frage auf, ob nur ein „besonders erheblicher, offensichtlicher und schwerwiegender Fall“ unter den Begriff „in besonderer Weise benachteiligen“ im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 fallen kann. 99 Insoweit ist weder dem Wortlaut „in besonderer Weise benachteiligen“ in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b noch den übrigen in dieser Vorschrift enthaltenen Tatbestandsmerkmalen zu entnehmen, dass eine solche Benachteiligung lediglich in einem besonders erheblichen, offensichtlichen und schwerwiegenden Fall von Ungleichheit vorliegt. 100 Die genannte Bedingung ist vielmehr im Sinne der Bedeutung zu verstehen, dass es insbesondere Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft sind, die durch die fragliche Maßnahme benachteiligt werden. 101 Zum einen steht diese Auslegung im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff der mittelbaren Diskriminierung, wonach eine solche insbesondere dann vorliegen kann, wenn eine nationale Maßnahme zwar neutral formuliert ist, in ihrer Anwendung aber wesentlich mehr Inhaber der geschützten persönlichen Eigenschaft benachteiligt als Personen, die diese Eigenschaft nicht besitzen (vgl. u. a. in diesem Sinne Urteile Z., C‑363/12, EU:C:2014:159, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Cachaldora Fernández, C‑527/13, EU:C:2015:215, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 102 Zum anderen wird die genannte Auslegung gegenüber der, wonach lediglich besonders erhebliche, offensichtliche und schwerwiegende Fälle von Ungleichheit unter Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 fallen, den in den Rn. 42, 67 und 72 bis 74 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Zielen des Unionsgesetzgebers am ehesten gerecht. 103 Viertens kann es hinsichtlich der neunten Frage des vorlegenden Gerichts, mit der es wissen möchte, ob Art. 4 Abs. 2 und 3 ZZD, der sowohl für die Definition der unmittelbaren Diskriminierung als auch die der mittelbaren Diskriminierung auf eine „ungünstigere“ Behandlung oder Lage und damit auf den gleichen Schweregrad abhebt, mit der Richtlinie 2000/43 in Einklang steht, mit dem Hinweis sein Bewenden haben, dass nach der in den Rn. 99 bis 102 des vorliegenden Urteils vorgenommenen Auslegung die in besonderer Weise benachteiligende Maßnahme im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie keinen bestimmten Schweregrad voraussetzt. Dass die genannte nationale Regelung kein solches auf den Schweregrad abstellendes Kriterium enthält, stellt daher ihre Übereinstimmung mit der Richtlinie nicht in Frage. 104 Fünftens ist hinsichtlich der mit der sechsten und der achten Frage angesprochenen Überlegung, ob eine Praxis wie die streitige „dem Anschein nach“ neutral und im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 in seiner vorstehend näher umrissenen Bedeutung „in besonderer Weise benachteiligen[d]“ ist, ebenso wie bereits in Rn. 71 des vorliegenden Urteils darauf hinzuweisen, dass es dem vorlegenden Gericht zwar obliegt, den Sachverhalt zu beurteilen und die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, aber der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht die Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben kann, die ihm bei der Beurteilung der Wirkungen einer bestimmten Vorschrift dienlich sein könnten. 105 In der vorliegenden Rechtssache ist für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen sollte, es sei nicht erwiesen, dass die streitige Praxis eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft darstellt, darauf hinzuweisen, dass der vom vorlegenden Gericht festgestellte Sachverhalt den Schluss zulässt, dass eine derartige Praxis die erforderlichen Merkmale aufweist, um – vorausgesetzt, dass sie nicht gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 gerechtfertigt werden kann – eine mittelbare Diskriminierung darzustellen. 106 Denn es besteht erstens kein Zweifel daran, dass diese Praxis und das Kriterium, nach dem sie ausschließlich ins Werk gesetzt worden sein soll, nämlich die Belegenheit der betroffenen Wohnungen in einem Stadtteil, in dem zahlreiche Manipulationen und Beschädigungen der Stromzähler sowie illegale Stromentnahmen festgestellt worden seien, eine Praxis und ein Kriterium, die dem Anschein nach neutral sind, im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 in seiner in den Rn. 93 und 94 des vorliegenden Urteils dargelegten Bedeutung bilden. 107 Da zweitens in Anbetracht der in der Vorlageentscheidung enthaltenen Angaben feststeht, dass die genannte Praxis nur in Stadtteilen verwirklicht worden ist, in denen, wie in dem im Ausgangsverfahren fraglichen Stadtviertel, im Wesentlichen Personen mit Roma-Herkunft wohnen, ist eine solche Praxis geeignet, Personen mit einer solchen ethnischen Herkunft in erheblich größerem Maße zu beeinträchtigen und daher Personen mit einer solchen ethnischen Herkunft im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 in seiner in den Rn. 100 bis 102 des vorliegenden Urteils dargelegten Bedeutung in besonderer Weise zu benachteiligen. 108 Wie bereits in Rn. 87 des vorliegenden Urteils hervorgehoben worden ist, liegt diese Benachteiligung insbesondere in dem beleidigenden und stigmatisierenden Charakter der fraglichen Praxis und der Tatsache, dass es für den Endverbraucher außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich ist, seinen Stromzähler abzulesen, um seinen Verbrauch zu überprüfen. 109 Nach alledem ist auf die Fragen 6 bis 9 zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass — diese Bestimmung einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft nur vorliegt, wenn die in besonderer Weise benachteiligende Maßnahme aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft ergriffen wurde; — mit dem Begriff „dem Anschein nach neutrale“ Vorschriften, Kriterien oder Verfahren im Sinne dieser Bestimmung solche Vorschriften, Kriterien oder Verfahren gemeint sind, die dem Anschein nach in neutraler Weise formuliert sind und angewendet werden, d. h. nach Maßgabe von Faktoren, die andere als das geschützte Merkmal und diesem auch nicht gleichwertig sind; — der Begriff „in besonderer Weise benachteiligen“ im Sinne dieser Bestimmung nicht besonders erhebliche, offensichtliche und schwerwiegende Fälle von Ungleichheit bezeichnet, sondern vielmehr bedeutet, dass es insbesondere Personen einer bestimmten Rasse oder mit einer bestimmten ethnischen Herkunft sind, die durch die Vorschrift, das Kriterium oder das Verfahren, welche in Frage stehen, benachteiligt werden; — eine Praxis wie die im Ausgangsverfahren fragliche, falls in ihr keine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie liegen sollte, grundsätzlich geeignet ist, eine im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie dem Anschein nach neutrale Praxis darzustellen, die Personen mit einer bestimmten ethnischen Herkunft in besonderer Weise benachteiligt. Zur zehnten Frage 110 Mit seiner zehnten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass eine Praxis wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende im Hinblick auf die Gewährleistung der Sicherheit des Elektrizitätsnetzes und die ordnungsgemäße Erfassung der verbrauchten Elektrizität sachlich gerechtfertigt sein kann, wenn insbesondere das Erfordernis, den Endverbrauchern freien Zugang zu ihrem Stromzähler zu gewähren, und die Tatsache berücksichtigt wird, dass in den Medien über das Bestehen anderer technisch und finanziell verfügbarer Mittel berichtet wurde, die die Sicherheit der Stromzähler gewährleisten können. 111 Gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 liegt eine mittelbare und damit verbotene Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich. 112 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass in Anbetracht der in den Rn. 72 bis 74 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Erwägungen und Ziele der Begriff der sachlichen Rechtfertigung im Fall einer Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft eng auszulegen ist. 113 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung und aus den Erklärungen, die CHEZ RB beim Gerichtshof eingereicht hat, dass nach dem Vorbringen dieser Gesellschaft die streitige Praxis eingeführt wurde, um die zahlreichen Beschädigungen und Manipulationen der Stromzähler sowie illegale Stromentnahmen zu bekämpfen, die in dem fraglichen Stadtteil festgestellt worden seien. Die genannte Praxis diene somit dazu, Betrug und Missbrauch zu verhindern, die Einzelnen vor den durch solche Handlungen verursachten Gefahren für Leben und Gesundheit zu schützen sowie die Qualität und die Sicherheit der Elektrizitätsversorgung im Interesse aller Verbraucher zu gewährleisten. 114 Insoweit ist erstens den Ausführungen der Generalanwältin in Nr. 117 ihrer Schlussanträge zuzustimmen, dass solche Ziele, in ihrer Gesamtheit betrachtet, vom Unionsrecht anerkannte, legitime Ziele sind (vgl. in Bezug auf die Bekämpfung von Betrug und Kriminalität Urteil Placanica u. a., C‑338/04, C‑359/04 und C‑360/04, EU:C:2007:133, Rn. 46 sowie 55). 115 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die untersuchten Maßnahmen nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 durch solche Ziele „sachlich“ gerechtfertigt sein müssen. 116 Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens und in Anbetracht des Umstands, dass CHEZ RB die streitige Praxis mit einer Vielzahl von Beschädigungen der Stromzähler und illegalen Stromentnahmen, die sich in der Vergangenheit in dem fraglichen Stadtteil ereignet haben sollen, sowie mit der Gefahr begründet, dass sich derartige Handlungen fortsetzen könnten, ist es zumindest, wie die Generalanwältin in Nr. 115 ihrer Schlussanträge dargelegt hat, Sache dieser Gesellschaft, zum einen das tatsächliche Bestehen und den tatsächlichen Umfang der genannten illegalen Handlungen objektiv nachzuweisen und zum anderen, nachdem seither ungefähr 25 Jahre verstrichen sind, die genauen Gründe darzutun, aus denen gegenwärtig in dem betroffenen Stadtteil eine erhebliche Gefahr besteht, dass sich derartige Beschädigungen der Stromzähler und illegale Stromentnahmen fortsetzen könnten. 117 Ihrer insoweit bestehenden Beweislast könnte CHEZ RB nicht bereits dadurch genügen, dass sie lediglich behauptete, derartige Handlungen und Gefahren seien „bekannt“, wie sie es vor dem vorlegenden Gericht offenbar getan hat. 118 Auch wenn, drittens, CHEZ RB nachweisen könnte, dass die streitige Praxis durch die von ihr geltend gemachten rechtmäßigen Ziele sachlich gerechtfertigt ist, bedürfte es gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 außerdem des Nachweises, dass diese Praxis ein angemessenes und erforderliches Mittel zur Erreichung dieser Ziele darstellt. 119 Wie die Generalanwältin in den Nrn. 121 bis 124 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, erscheint a priori und vorbehaltlich der abschließenden Feststellungen zum Sachverhalt, die insoweit dem vorlegenden Gericht obliegen, eine Praxis wie die hier streitige geeignet, die im vorliegenden Fall angeblich anvisierten illegalen Handlungen wirksam zu bekämpfen, so dass die Voraussetzung der Geeignetheit einer solchen Praxis, um die angeführten rechtmäßigen Ziele zu erreichen, offenbar erfüllt ist. 120 Was die Voraussetzung der Erforderlichkeit der streitigen Praxis im Hinblick auf diese Ziele angeht, wird das vorlegende Gericht insbesondere zu prüfen haben, ob die Stadtteile wie der im Ausgangsverfahren fragliche, in denen CHEZ RB die streitige Praxis übt, Besonderheiten aufweisen, die so beschaffen sind, dass die entstandenen Probleme nicht durch andere geeignete und weniger einschneidende Mittel gelöst werden können. 121 Die KZD macht hierzu in ihren Erklärungen geltend, andere Stromversorgungsunternehmen hätten die streitige Praxis aufgegeben und stattdessen andere Techniken zur Bekämpfung von Beschädigungen und Manipulationen gewählt. Gleichzeitig hätten sie die Stromzähler in den betroffenen Stadtteilen wieder in einer normalen Höhe angebracht. 122 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob es andere geeignete und weniger einschneidende Maßnahmen gibt, um die von CHEZ RB geltend gemachten Ziele zu erreichen, und, falls es solche Maßnahmen gibt, die Feststellung zu treffen, dass die streitige Praxis nicht im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 erforderlich ist. 123 Im Übrigen wird das vorlegende Gericht, falls keine andere ebenso wirksame Maßnahme wie die streitige Praxis ermittelt werden kann, weiter zu prüfen haben, ob die durch diese Praxis verursachten Nachteile im Hinblick auf die angestrebten Ziele nicht unverhältnismäßig sind und ob diese Praxis nicht eine übermäßige Beeinträchtigung der legitimen Interessen derjenigen Personen bewirkt, die in den betroffenen Stadtteilen wohnen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Ingeniørforeningen i Danmark, C‑499/08, EU:C:2010:600, Rn. 32 und 47, sowie Nelson u. a., C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657, Rn. 76 ff.). 124 Das vorlegende Gericht wird zum Ersten das legitime Interesse der Endabnehmer elektrischen Stroms am Zugang zur Stromversorgung unter Bedingungen zu berücksichtigen haben, die weder beleidigend noch stigmatisierend sind. 125 Ferner wird es den zugleich zwingenden, verallgemeinerten und zeitlich weit zurückreichenden Charakter der streitigen Praxis in Rechnung zu stellen haben, die unstrittig, wie in Rn. 84 des vorliegenden Urteils festgestellt, unterschiedslos und dauerhaft alle Bewohner des betroffenen Stadtteils betrifft, obwohl – was vom vorlegenden Gericht zu überprüfen sein wird – den meisten von ihnen keinerlei rechtswidriges Verhalten vorgeworfen werden kann und sie nicht für derartige Handlungen Dritter verantwortlich gemacht werden dürfen. 126 Im Rahmen seiner Beurteilung wird das vorlegende Gericht schließlich das legitime Interesse der in dem betroffenen Stadtteil wohnenden Endverbraucher zu berücksichtigen haben, ihren Stromverbrauch effektiv und regelmäßig ablesen und kontrollieren zu können. Dieses Interesse und diese Kontrolle sind, wie oben in Rn. 44 des vorliegenden Urteils dargelegt, vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich anerkannt und gefördert worden. 127 Obgleich die Berücksichtigung sämtlicher vorstehender Beurteilungskriterien offenbar zu dem Schluss führen muss, dass die streitige Praxis nicht nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 gerechtfertigt sein kann, weil die durch sie verursachten Nachteile im Hinblick auf die angestrebten Ziele als unverhältnismäßig erscheinen, ist es im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV Sache des vorlegenden Gerichts, die in dieser Hinsicht erforderliche abschließende Beurteilung vorzunehmen. 128 Nach alledem ist auf die zehnte Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 dahin auszulegen ist, dass eine Praxis wie die im Ausgangsverfahren fragliche durch das Bestreben, die Sicherheit des Elektrizitätsnetzes zu gewährleisten und ordnungsgemäß den Stromverbrauch zu erfassen, nur dann sachlich gerechtfertigt sein kann, wenn sie nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was zur Verwirklichung dieser rechtmäßigen Ziele angemessen und erforderlich ist, und wenn die verursachten Nachteile im Hinblick auf die damit angestrebten Ziele nicht unverhältnismäßig sind. Das ist nicht der Fall, wenn, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, festgestellt wird, dass es andere geeignete und weniger einschneidende Mittel gibt, um die genannten Ziele zu erreichen, oder wenn, sollte es solche anderen Mittel nicht geben, diese Praxis eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des legitimen Interesses darstellt, das die Endabnehmer elektrischen Stroms, die in dem betroffenen Stadtteil leben, das im Wesentlichen von Personen mit Roma-Herkunft bewohnt wird, am Zugang zur Stromversorgung unter Bedingungen haben, die weder beleidigend noch stigmatisierend sind und es ihnen ermöglichen, ihren Stromverbrauch regelmäßig zu kontrollieren. Kosten 129 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Der Begriff der „Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft“ im Sinne der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, insbesondere ihrer Art. 1 und 2 Abs. 1, ist dahin auszulegen, dass er auf einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, in dem in einem Stadtviertel, in dem im Wesentlichen Personen mit Roma-Herkunft wohnen, sämtliche Stromzähler in einer Höhe von sechs bis sieben Metern an den Masten des Freileitungsnetzes angebracht sind, während solche Zähler in den übrigen Stadtvierteln in einer Höhe von weniger als zwei Metern angebracht sind, unterschiedslos anzuwenden ist, gleichviel ob die fragliche Maßnahme Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft oder Personen anderer Herkunft betrifft, die durch diese Maßnahme zusammen mit Ersteren weniger günstig behandelt oder in besonderer Weise benachteiligt werden. 2. Die Richtlinie 2000/43, insbesondere ihr Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. a und b, ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der, um das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft in den von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie erfassten Bereichen bejahen zu können, die weniger günstige Behandlung oder die in besonderer Weise benachteiligende Maßnahme im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie in einer Beeinträchtigung von Rechten oder legitimen Interessen bestehen muss. 3. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/43 ist dahin auszulegen, dass eine Maßnahme wie die in Nr. 1 des Tenors des vorliegenden Urteils beschriebene eine unmittelbare Diskriminierung im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn sich erweist, dass diese Maßnahme aus Gründen eingeführt und/oder beibehalten wurde, die mit der ethnischen Herkunft des überwiegenden Teils der Bewohner des betroffenen Stadtteils zusammenhängen. Dies ist vom vorlegenden Gericht unter Berücksichtigung sämtlicher relevanten Umstände des Falles und der in Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Regeln über die Beweislastumkehr zu beurteilen. 4. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 ist dahin auszulegen, dass — diese Bestimmung einer nationalen Vorschrift entgegensteht, nach der eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft nur vorliegt, wenn die in besonderer Weise benachteiligende Maßnahme aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft ergriffen wurde; — mit dem Begriff „dem Anschein nach neutrale“ Vorschriften, Kriterien oder Verfahren im Sinne dieser Bestimmung solche Vorschriften, Kriterien oder Verfahren gemeint sind, die dem Anschein nach in neutraler Weise formuliert sind und angewendet werden, d. h. nach Maßgabe von Faktoren, die andere als das geschützte Merkmal und diesem auch nicht gleichwertig sind; — der Begriff „in besonderer Weise benachteiligen“ im Sinne dieser Bestimmung nicht besonders erhebliche, offensichtliche und schwerwiegende Fälle von Ungleichheit bezeichnet, sondern vielmehr bedeutet, dass es insbesondere Personen einer bestimmten Rasse oder mit einer bestimmten ethnischen Herkunft sind, die durch die Vorschrift, das Kriterium oder das Verfahren, welche in Frage stehen, benachteiligt werden; — eine Maßnahme wie die in Nr. 1 des Tenors des vorliegenden Urteils beschriebene, falls in ihr keine unmittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie liegen sollte, grundsätzlich geeignet ist, eine im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie dem Anschein nach neutrale Praxis darzustellen, die Personen mit einer bestimmten ethnischen Herkunft in besonderer Weise benachteiligt; — eine solche Maßnahme durch das Bestreben, die Sicherheit des Elektrizitätsnetzes zu gewährleisten und ordnungsgemäß den Stromverbrauch zu erfassen, nur dann sachlich gerechtfertigt sein kann, wenn sie nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was zur Verwirklichung dieser rechtmäßigen Ziele angemessen und erforderlich ist, und wenn die verursachten Nachteile im Hinblick auf die damit angestrebten Ziele nicht unverhältnismäßig sind. Das ist nicht der Fall, wenn, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, festgestellt wird, dass es andere geeignete und weniger einschneidende Mittel gibt, um die genannten Ziele zu erreichen, oder wenn, sollte es solche anderen Mittel nicht geben, diese Praxis eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des legitimen Interesses darstellt, das die Endabnehmer elektrischen Stroms, die in dem betroffenen Stadtteil leben, das im Wesentlichen von Personen mit Roma-Herkunft bewohnt wird, am Zugang zur Stromversorgung unter Bedingungen haben, die nicht beleidigend oder stigmatisierend sind und es ihnen ermöglichen, ihren Stromverbrauch regelmäßig zu kontrollieren. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 29. April 2015.#Geoffrey Léger gegen Ministre des Affaires sociales et de la Santé und Etablissement français du sang.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal administratif de Strasbourg.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Gesundheit – Richtlinie 2004/33/EG – Technische Anforderungen für Blut und Blutbestandteile – Blutspende – Eignungskriterien für die Spender – Kriterien für einen Ausschluss oder eine Rückstellung – Personen, deren Sexualverhalten ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten birgt – Mann, der sexuelle Beziehungen zu einem Mann hatte – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 21 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 – Sexuelle Ausrichtung – Diskriminierung – Rechtfertigung – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C-528/13.
62013CJ0528
ECLI:EU:C:2015:288
2015-04-29T00:00:00
Gerichtshof, Mengozzi
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62013CJ0528 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 29. April 2015 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung — Öffentliche Gesundheit — Richtlinie 2004/33/EG — Technische Anforderungen für Blut und Blutbestandteile — Blutspende — Eignungskriterien für die Spender — Kriterien für einen Ausschluss oder eine Rückstellung — Personen, deren Sexualverhalten ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten birgt — Mann, der sexuelle Beziehungen zu einem Mann hatte — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 21 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 — Sexuelle Ausrichtung — Diskriminierung — Rechtfertigung — Verhältnismäßigkeit“ In der Rechtssache C‑528/13 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal administratif de Strasbourg (Frankreich) mit Entscheidung vom 1. Oktober 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Oktober 2013, in dem Verfahren Geoffrey Léger gegen Ministre des Affaires sociales, de la Santé et des Droits des femmes, Établissement français du sang erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský und M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richterin A. Prechal, Generalanwalt: P. Mengozzi, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und F. Gloaguen als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Gheorghiu und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Juli 2014 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33/EG der Kommission vom 22. März 2004 zur Durchführung der Richtlinie 2002/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich bestimmter technischer Anforderungen für Blut und Blutbestandteile (ABl. L 91, S. 25). 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Léger und dem Ministre des Affaires sociales, de la Santé et des Droits des femmes sowie dem Établissement français du sang wegen der Weigerung, die Blutspende von Herrn Léger zuzulassen, mit der Begründung, dass er eine sexuelle Beziehung zu einem Mann gehabt habe. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2002/98/EG 3 Die Richtlinie 2002/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Gewinnung, Testung, Verarbeitung, Lagerung und Verteilung von menschlichem Blut und Blutbestandteilen und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG (ABl. L 33, S. 30) stützt sich auf Art. 152 Abs. 4 Buchst. a EG. 4 Die Erwägungsgründe 1, 2, 24 und 29 der Richtlinie 2002/98 lauten: „(1) Das Ausmaß, in dem menschliches Blut therapeutisch verwendet wird, macht es erforderlich, dass insbesondere zur Verhütung der Übertragung von Krankheiten die Qualität und Sicherheit von Blut und Blutbestandteilen gewährleistet wird. (2) Die Verfügbarkeit von Blut und Blutbestandteilen für therapeutische Zwecke hängt weitgehend davon ab, ob Bürger der Gemeinschaft zur Blutspende bereit sind. Zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und zur Verhütung der Übertragung von Infektionskrankheiten müssen bei deren Gewinnung, Verarbeitung, Verteilung und Verwendung alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen bei entsprechender Berücksichtigung des wissenschaftlichen Fortschritts im Bereich des Nachweises, der Inaktivierung und der Beseitigung von durch Transfusionen übertragbaren Krankheitserregern getroffen werden. … (24) Blut und Blutbestandteile für therapeutische Zwecke oder zur Verwendung in Medizinprodukten sollten von Personen gewonnen werden, deren Gesundheitszustand schädliche Folgen aufgrund der Blutspende ausschließt und das Risiko einer Übertragung von Infektionskrankheiten minimiert; ausnahmslos jede Blutspende sollte nach Regeln getestet werden, die die Gewähr dafür bieten, dass alle erforderlichen Maßnahmen getroffen wurden, um die Gesundheit der Einzelpersonen, die Empfänger von Blut und Blutbestandteilen sind, zu schützen. … (29) Die Tests sollten nach den neuesten wissenschaftlichen und technischen Verfahren aufgrund der besten verfügbaren Praxis durchgeführt werden, die im Rahmen eines geeigneten Verfahrens der Konsultation von Sachverständigen festgelegt, regelmäßig überprüft und aktualisiert wird. Bei diesem Überprüfungsprozess sollte ferner dem wissenschaftlichen Fortschritt im Bereich des Nachweises, der Inaktivierung und der Beseitigung von durch Transfusionen übertragbaren Krankheitserregern gebührend Rechnung getragen werden.“ 5 Art. 1 der Richtlinie bestimmt: „Diese Richtlinie legt Qualitäts- und Sicherheitsstandards für menschliches Blut und Blutbestandteile fest mit dem Ziel, ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu gewährleisten.“ 6 Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor: „Diese Richtlinie gilt für die Gewinnung und Testung von menschlichem Blut und Blutbestandteilen unabhängig von deren Verwendungszweck sowie für deren Verarbeitung, Lagerung und Verteilung, sofern sie zur Transfusion bestimmt sind.“ 7 Art. 18 („Spendereignung“) der Richtlinie 2002/98 lautet: „(1)   Die Blutspendeeinrichtungen gewährleisten, dass Verfahren zur Bewertung sämtlicher Spender von Blut und Blutbestandteilen vorhanden sind und dass die Spendekriterien gemäß Artikel 29 Buchstabe d) erfüllt werden. (2)   Die Ergebnisse der Spenderbewertung und der Testverfahren sind zu dokumentieren; diesbezügliche abnorme Ergebnisse sind dem Spender mitzuteilen.“ 8 Art. 19 („Untersuchung der Spender“) dieser Richtlinie bestimmt: „Vor jeder Spende von Blut oder Blutbestandteilen wird eine Untersuchung des Spenders, die eine Befragung einschließt, durchgeführt. Insbesondere obliegt es einem hierfür qualifizierten Angehörigen eines Gesundheitsberufs, dem Spender die Informationen zu geben und bei diesem die Informationen einzuholen, die notwendig sind, um über dessen Eignung als Spender zu entscheiden; danach entscheidet er über die Spendereignung.“ 9 Art. 20 („Freiwillige, unbezahlte Blutspenden“) dieser Richtlinie sieht in Abs. 1 vor: „Die Mitgliedstaaten ergreifen die notwendigen Maßnahmen, um freiwillige, unbezahlte Blutspenden zu fördern, damit erreicht wird, dass Blut und Blutbestandteile so weit wie möglich aus solchen Spenden stammen.“ 10 Art. 21 („Prüfungsverfahren“) der Richtlinie 2002/98 bestimmt: „Die Blutspendeeinrichtungen gewährleisten, dass jede Spende von Blut und Blutbestandteilen gemäß den Anforderungen in Anhang IV getestet wird. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass Blut und Blutbestandteile, die in die Gemeinschaft eingeführt werden, entsprechend den Anforderungen in Anhang IV getestet werden.“ 11 In Art. 29 Satz 2 Buchst. d dieser Richtlinie heißt es: „Folgende technische Anforderungen und ihre Anpassung an den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt werden nach dem in Artikel 28 Absatz 2 genannten Verfahren festgelegt: … d) die Anforderungen betreffend die Eignung von Blut- und Plasmaspendern und das Screening von gespendetem Blut, einschließlich — der Ausschlusskriterien und möglicher diesbezüglicher Ausnahmen, — der Rückstellungskriterien“. 12 In Anhang IV („Grundlegende Anforderungen für die Testung von Vollblut- und Plasmaspenden“) dieser Richtlinie heißt es: „Für Vollblut- und Apheresespenden, einschließlich Spenden für spätere Eigenbluttransfusionen, müssen folgende Tests durchgeführt werden: … — Tests auf folgende Infektionen beim Spender: — Hepatitis B (HBs-Ag), — Hepatitis C (Anti-HCV), — HIV 1/2 (Anti-HIV 1/2). Für spezielle Bestandteile, Spender oder epidemiologische Situationen können zusätzliche Tests angefordert werden.“ Richtlinie 2004/33 13 Art. 3 („Bei den Spendern einzuholende Informationen“) der Richtlinie 2004/33 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Spender nach der Einwilligung in die Spende von Blut oder Blutbestandteilen der Blutspendeeinrichtung die in Anhang II Teil B aufgeführten Angaben machen.“ 14 Art. 4 („Spendereignung“) dieser Richtlinie sieht vor: „Die Blutspendeeinrichtungen stellen sicher, dass Spender von Vollblut und Blutbestandteilen die in Anhang III aufgeführten Eignungskriterien erfüllen.“ 15 Anhang I Nrn. 2 und 4 dieser Richtlinie enthält die folgenden Definitionen: „2. ‚Fremdspende‘: Blut und Blutbestandteile, die von einer Person gewonnen wurden und zur Transfusion bei einer anderen Person, zur Verwendung in Medizinprodukten oder als Ausgangs- oder Rohmaterial für die Herstellung von Arzneimitteln bestimmt sind. … 4. ‚Vollblut‘: eine Einzelblutspende.“ 16 Anhang II Teil B („Von den Spendern durch die Blutspendeeinrichtung bei jeder Spende einzuholende Informationen“) dieser Richtlinie bestimmt in Nr. 2, dass die Spender folgende Informationen zur Verfügung zu stellen haben: „Erfassung von Gesundheitszustand und Vorerkrankungen mittels eines Fragebogens und einer persönlichen Befragung durch einen qualifizierten Angehörigen eines Gesundheitsberufs; sie enthält relevante Faktoren, die zur Identifizierung und zum Ausschluss von Personen beitragen können, deren Spende mit einem Gesundheitsrisiko für sie selbst oder mit dem Risiko einer Krankheitsübertragung für andere verbunden sein könnte.“ 17 Anhang III („Eignungskriterien für die Spender von Vollblut und Blutbestandteilen“) der Richtlinie 2004/33 führt in Nr. 2 die Ausschlusskriterien für Spender von Vollblut und Blutbestandteilen auf. 18 Nr. 2.1 dieses Anhangs trägt die Überschrift „Ausschlusskriterien für Fremdblutspender“. Diese Kriterien betreffen im Wesentlichen folgende vier Kategorien von Personen: Personen mit bestimmten Krankheiten, darunter „HIV 1/2“, oder mit bestimmten Krankheitssymptomen; Personen, die intravenös oder intramuskulär Drogen konsumiert haben; Empfänger von Xenotransplantaten sowie „Personen, deren Sexualverhalten ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten birgt“. 19 Nr. 2.2 („Rückstellungskriterien für Fremdblutspender“) dieses Anhangs enthält eine Nr. 2.2.2 über die Exposition gegenüber dem Risiko, an einer durch Transfusionen übertragbaren Infektion zu erkranken. 20 Zu den in der Tabelle in dieser Nr. 2.2.2 aufgeführten „Personen mit einem Verhalten oder einer Tätigkeit, das/die ein hohes Risiko für durch Blut übertragene Infektionskrankheiten birgt“, gehört der folgende Eintrag: „Rückstellung nach Beendigung des Risikoverhaltens für einen Zeitraum, der je nach Krankheit und Verfügbarkeit geeigneter Tests festgelegt wird“. Französisches Recht 21 Die Ministre de la Santé et des Sports erließ am 12. Januar 2009 eine Verordnung über die Kriterien für die Auswahl von Blutspendern (JORF vom 18. Januar 2009, S. 1067, im Folgenden: Verordnung vom 12. Januar 2009), die die Richtlinie 2004/33 in ihren Bezugsvermerken erwähnt. 22 Art. 1 Abschnitt V Abs. 1 dieser Verordnung sieht hinsichtlich der klinischen Merkmale des Spenders vor: „In dem vor einer Spende geführten Gespräch ist es Sache der zur Auswahl der Spender berechtigten Person, die Möglichkeit einer Spende im Hinblick auf Kontraindikationen und deren Dauer, ihr früheres Vorhandensein und ihre Entwicklung anhand von Fragen zu beurteilen, die den Fragebogen im Vorfeld der Spende ergänzen. … Eine Blutspende wird aufgeschoben, wenn auf den Spender eine in einer der Tabellen des Anhangs II der vorliegenden Verordnung aufgeführte Kontraindikation zutrifft. … …“ 23 Anhang II dieser Verordnung enthält Tabellen mit den Kontraindikationen, von denen Tabelle B die Kontraindikationen im Fall eines Risikos für den Empfänger betrifft. Gemäß dem Teil der Tabelle B, der das Risiko der Übertragung einer Virusinfektion betrifft, besteht hinsichtlich der Gefahr der Ansteckung des Blutspenders mit einer sexuell übertragbaren Infektionskrankheit eine dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden für den Fall, dass ein „Mann … sexuelle Beziehungen zu einem Mann hatte“. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 24 Herr Léger meldete sich bei der Blutabnahmestelle des Établissement français du sang in Metz (Frankreich), um Blut zu spenden. 25 Mit Entscheidung vom 29. April 2009 lehnte der für die Spenden verantwortliche Arzt diese Blutspende mit der Begründung ab, dass Herr Léger eine sexuelle Beziehung mit einem Mann gehabt habe. 26 Der Arzt stützte sich auf die Verordnung vom 12. Januar 2009, deren Tabelle B des Anhangs II im Hinblick auf die Gefahr der Ansteckung des Blutspenders mit einer sexuell übertragbaren Infektionskrankheit eine dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden von einem Mann vorsieht, der sexuelle Beziehungen zu einem Mann hatte. 27 Herr Léger erhob gegen diese Entscheidung beim Tribunal administratif de Strasbourg Klage und machte u. a. geltend, dass Anhang II der Verordnung vom 12. Januar 2009 die Richtlinie 2004/33 verletze. 28 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Frage, ob die Existenz einer dauerhaften Kontraindikation bei Blutspenden von einem Mann, der sexuelle Beziehungen zu einem Mann hatte, mit Anhang III dieser Richtlinie vereinbar sei, eine ernsthafte Schwierigkeit aufweise und für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich sei. 29 Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal administratif de Strasbourg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Stellen im Licht des Anhangs III der Richtlinie 2004/33 sexuelle Beziehungen eines Mannes zu einem anderen Mann als solche ein Sexualverhalten mit einem hohen Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten dar und rechtfertigen sie den Ausschluss von Personen mit einem solchen Sexualverhalten von Blutspenden, oder können sie je nach den Umständen des Einzelfalls einfach ein Sexualverhalten mit einem hohen Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare Infektionskrankheiten darstellen und die vorübergehende Rückstellung von der Blutspende für eine bestimmte Dauer nach Beendigung des Risikoverhaltens rechtfertigen? Zur Vorlagefrage 30 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33 dahin auszulegen ist, dass das in dieser Bestimmung enthaltene Kriterium für einen Ausschluss von der Blutspende, nämlich ein Sexualverhalten mit einem hohen Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare Infektionskrankheiten, es einem Mitgliedstaat verwehrt, eine dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden von Männern vorzusehen, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten. 31 Zunächst ist festzustellen, dass Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachfassungen der Nrn. 2.1 und 2.2.2 des Anhangs III dieser Richtlinie in Bezug auf die Höhe des in diesen Bestimmungen erfassten Risikos bestehen, wie die französische Regierung und die Europäische Kommission geltend gemacht haben. 32 In der französischen Fassung dieser Bestimmungen gelten nämlich der in Nr. 2.1 vorgesehene Ausschluss und die in Nr. 2.2.2 vorgesehene Rückstellung beide für Personen mit einem Sexualverhalten, das ein „Risiko“ („risque“) für durch Blut übertragene Infektionskrankheiten birgt. In dieser Sprachfassung ist daher die Höhe des Risikos, das einen Ausschluss von der Blutspende rechtfertigt, genau gleich wie diejenige, die für die Rückstellung gilt. 33 Demgegenüber setzt in einigen Sprachfassungen dieser Bestimmungen die Rückstellung das Vorliegen eines „Risikos“ voraus, während der Ausschluss seinerseits ein „hohes Risiko“ erfordert. Dies ist insbesondere in der dänischen („stor risiko“), der estnischen („kõrgendatud ohtu“), der englischen („high risk“), der italienischen („alto rischio“), der niederländischen („groot risico“), der polnischen („wysokie ryzyko“) und in der portugiesischen Fassung („grande risco“) der Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33 der Fall. 34 In anderen Sprachfassungen wiederum ist sowohl in Nr. 2.1 als auch in Nr. 2.2.2 dieses Anhangs ein „hohes Risiko“ vorgesehen, wie in der spanischen („alto riesgo“) und in der deutschen Fassung. 35 Nach ständiger Rechtsprechung kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen sprachlichen Fassungen beanspruchen. Die Bestimmungen des Unionsrechts müssen nämlich – im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Europäischen Union – einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Textes des Unionsrechts voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (Urteile Cricket St Thomas, C‑372/88, EU:C:1990:140, Rn. 18 und 19, Kurcums Metal, C‑558/11, EU:C:2012:721, Rn. 48, sowie Ivansson u. a., C‑307/13, EU:C:2014:2058, Rn. 40). 36 Im Hinblick auf die allgemeine Systematik der Nrn. 2.1 und 2.2.2 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33 ist darauf hinzuweisen, dass dieser Anhang zwischen einem Ausschluss und einer Rückstellung von der Blutspende unterscheidet, für die die anwendbaren Kriterien logischerweise unterschiedlich sein müssen. Daher setzt der – strengere – Ausschluss das Vorliegen eines Risikos voraus, das höher ist als beim vorübergehenden Verbot. 37 Wie es im Übrigen im 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/98 heißt, sollten Blut und Blutbestandteile für therapeutische Zwecke oder zur Verwendung in Medizinprodukten von Personen gewonnen werden, deren Gesundheitszustand schädliche Folgen aufgrund der Blutspende ausschließt und das Risiko einer Übertragung von durch Blut übertragbaren schweren Infektionskrankheiten minimiert. Daraus folgt im Hinblick auf den Zweck der Richtlinie 2004/33, dass der Ausschluss gelten muss, wenn das Risiko einer solchen Übertragung höher ist. 38 Folglich führen die allgemeine Systematik und der Zweck dieser Richtlinie zu einer Auslegung, wonach der Ausschluss von der Blutspende gemäß Nr. 2.1 des Anhangs III dieser Richtlinie die Personen betrifft, deren Sexualverhalten ein „hohes Risiko“ der Übertragung von durch Blut übertragbaren schweren Infektionskrankheiten birgt, während sich die Rückstellung von der Blutspende auf ein geringeres Risiko bezieht. 39 Im Hinblick auf diesen Ausschluss ist darauf hinzuweisen, dass der Ausdruck „Personen, deren Sexualverhalten ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragene Infektionskrankheiten birgt“ in Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33 die von diesem Ausschluss betroffenen Personen oder Personenkategorien nicht genau festlegt, was den Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum bei der Anwendung dieser Bestimmung einräumt. 40 Es ist jedoch zu prüfen, inwiefern die im französischen Recht vorgesehene dauerhafte Kontraindikation für den Fall, dass ein „Mann … sexuelle Beziehungen zu einem Mann hatte“, dem Erfordernis des Vorliegens eines „hohen Risikos“ im Sinne von Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33 entspricht und gleichzeitig die von der Rechtsordnung der Union anerkannten Grundrechte beachtet. 41 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs haben nämlich die Mitgliedstaaten die Erfordernisse des Schutzes dieser Grundrechte bei der Durchführung der Regelungen der Union zu beachten, so dass sie diese Regelungen so anwenden müssen, dass diese Erfordernisse nicht verkannt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Parlament/Rat, C‑540/03, EU:C:2006:429, Rn. 105 und die dort angeführte Rechtsprechung). In diesem Zusammenhang müssen die Mitgliedstaaten insbesondere darauf achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit diesen Grundrechten kollidiert (vgl. Urteile Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑305/05, EU:C:2007:383, Rn. 28, sowie O u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 78). 42 Erstens ist in Bezug auf die Beurteilung des Vorliegens eines hohen Übertragungsrisikos für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten die epidemiologische Situation in Frankreich zu berücksichtigen, die nach der französischen Regierung und der Kommission, die sich auf die vom Institut français de veille sanitaire vorgelegten Daten beziehen, einen spezifischen Charakter habe. Aus diesen Daten gehe hervor, dass fast alle Ansteckungen mit HIV in den Jahren 2003 bis 2008 auf eine sexuelle Beziehung zurückzuführen seien und dass Männer, die sexuelle Beziehungen zu Männern hätten, die am stärksten betroffene Bevölkerungsgruppe stellten, und zwar 48 % der Neuansteckungen. Im selben Zeitraum habe zwar die allgemeine Inzidenz der HIV-Infektionen, insbesondere hinsichtlich heterosexueller Beziehungen, abgenommen, sei aber für Männer, die sexuelle Beziehungen zu Männern hätten, nicht zurückgegangen. Außerdem stellten diese – immer noch in demselben Zeitraum –, mit einer Inzidenzrate von 1 % pro Jahr, die 200-mal höher sei als die der heterosexuellen französischen Bevölkerung, die am stärksten von der Ansteckung mit HIV betroffene Bevölkerungsgruppe. 43 Die Kommission bezieht sich auch auf einen Bericht des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, das durch die Verordnung (EG) Nr. 851/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 (ABl. L 142, S. 1) errichtet wurde. Dem im Oktober 2013 veröffentlichten Bericht mit dem Titel „Men who have sex with men (MSM), Monitoring implementation of the Dublin Declaration on Partnership to Fight HIV/AIDS in Europe and Central Asia: 2012 progress“ zufolge ist von allen untersuchten Staaten die Verbreitung von HIV in der Gruppe der Männer, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten, in Frankreich am stärksten. 44 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts zu beurteilen, ob die in Rn. 42 des vorliegenden Urteils genannten Daten im Licht der derzeitigen medizinischen, wissenschaftlichen und epidemiologischen Erkenntnisse belastbar sind und, wenn ja, ob sie nach wie vor relevant sind. 45 Sollte dieses Gericht insbesondere unter Berücksichtigung dieser Daten zu dem Schluss kommen, dass die nationalen Behörden zu Recht annehmen durften, dass in Frankreich ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten im Sinne von Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33 für den Fall besteht, dass ein Mann sexuelle Beziehungen zu einem Mann hatte, ist zweitens zu erörtern, ob und unter welchen Bedingungen eine dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit den von der Rechtsordnung der Union anerkannten Grundrechten vereinbar sein könnte. 46 Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Anwendungsbereich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in Art. 51 Abs. 1 der Charta definiert ist. Danach gilt diese für die Mitgliedstaaten „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. 47 Im vorliegenden Fall setzt die Verordnung vom 12. Januar 2009, die sich in ihren Bezugsvermerken ausdrücklich auf die Richtlinie 2004/33 bezieht, das Unionsrecht um. 48 Diese Verordnung muss daher unter den Bestimmungen der Charta insbesondere deren Art. 21 Abs. 1 beachten, wonach Diskriminierungen insbesondere wegen der sexuellen Ausrichtung verboten sind. Dieser Art. 21 Abs. 1 ist eine besondere Ausprägung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, der einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der in Art. 20 der Charta niedergelegt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Römer, C‑147/08, EU:C:2011:286, Rn. 59, und Glatzel, C‑356/12, EU:C:2014:350, Rn. 43). 49 Berücksichtigt man jedoch in diesem Zusammenhang die Tatsache, ein „Mann“ zu sein, „der eine sexuelle Beziehung zu einem Mann hatte“, als Kriterium für eine dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden, legt die Tabelle B des Anhangs II der Verordnung vom 12. Januar 2009 den Ausschluss von der Blutspende entsprechend der sexuellen Ausrichtung von männlichen Spendern fest, die aufgrund der Tatsache, dass sie eine sexuelle Beziehung mit dieser Ausrichtung gehabt haben, eine weniger günstige Behandlung als männliche heterosexuelle Personen erhalten. 50 Unter diesen Umständen kann die Verordnung vom 12. Januar 2009 im Hinblick auf homosexuelle Personen eine Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung im Sinne von Art. 21 Abs. 1 der Charta enthalten. 51 Deshalb ist zu prüfen, ob die in der Verordnung vom 12. Januar 2009 vorgesehene dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden für einen Mann, der sexuelle Beziehungen zu einem Mann hatte, dennoch die in Art. 52 Abs. 1 der Charta aufgestellten Bedingungen erfüllt, um gerechtfertigt zu sein. 52 Gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und zudem den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Außerdem dürfen nach dieser Bestimmung unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 53 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden für einen Mann, der sexuelle Beziehungen zu einem Mann hatte, die eine Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten darstellt, als gesetzlich vorgesehen im Sinne von Art. 52 Abs. 1 dieser Charta angesehen werden muss, da sie sich aus der Verordnung vom 12. Januar 2009 ergibt. 54 Außerdem achtet diese Einschränkung den Wesensgehalt des Diskriminierungsverbots. Diese Einschränkung stellt nämlich diesen Grundsatz als solchen nicht in Frage, da es nur um die spezifische Frage der Ausschlüsse von der Blutspende im Hinblick auf den Gesundheitsschutz der Empfänger geht. 55 Es ist jedoch weiter zu prüfen, ob diese Einschränkung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta dem Gemeinwohl dient und, wenn ja, ob sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne dieser Bestimmung wahrt. 56 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2004/33 die Richtlinie 2002/98 umsetzt. Diese Richtlinie dient gemäß ihrer Rechtsgrundlage, nämlich Art. 152 Abs. 4 Buchst. a EG, dem Schutz der öffentlichen Gesundheit. 57 Im vorliegenden Fall zielt der dauerhafte Ausschluss von der Blutspende darauf ab, das Risiko einer Übertragung einer Infektionskrankheit auf die Empfänger zu minimieren. Dieser Ausschluss trägt daher zum allgemeinen Ziel bei, ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen, das ein von der Union in Art. 152 EG und insbesondere in Abs. 4 Buchst. a und Abs. 5 dieses Artikels sowie in Art. 35 Satz 2 der Charta anerkanntes Ziel darstellt, die verlangten, dass bei der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union in allen Bereichen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt wird. 58 Im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Maßnahmen nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, von diesen die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen (vgl. Urteile ERG u. a., C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 86, Urbán, C‑210/10, EU:C:2012:64, Rn. 24, sowie Texdata Software, C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 52). 59 In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens wird dieser Grundsatz nur gewahrt, wenn ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger nicht mit wirksamen Techniken zum Nachweis von HIV und weniger belastenden Methoden als dem dauerhaften Verbot der Blutspende für alle Männer, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten, sichergestellt werden kann. 60 Zum einen kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass selbst bei Vorliegen eines Sexualverhaltens, das ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten im Sinne von Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33 birgt, die das Risiko einer Übertragung solcher Krankheiten zwischen Partnern infolge einer sexuellen Beziehung betrifft, wirksame Techniken bestehen, um ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger sicherzustellen. 61 Insoweit muss jede Blutspende, wie sich u. a. aus Art. 21 der Richtlinie 2002/98 ergibt, um die Qualität und die Sicherheit von Blut und Blutbestandteilen sicherzustellen, gemäß den Anforderungen in Anhang IV der Richtlinie getestet werden, wobei es auf der Hand liegt, dass diese Anforderungen nach Maßgabe des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts der Weiterentwicklung bedürfen (Urteil Humanplasma, C‑421/09, EU:C:2010:760, Rn. 42). Nach diesem Anhang IV müssen insbesondere Tests auf HIV 1/2 beim Spender durchgeführt werden. 62 Die französische Regierung und die Kommission weisen jedoch darauf hin, dass es nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft ein „diagnostisches Fenster“ gebe, d. h. einen Zeitraum, der einer Virusinfektion folge und in dem die im Rahmen des Tests der Blutspende verwendeten Biomarker trotz einer Infektion des Spenders negativ blieben. Daher seien es die neuesten Infektionen, die mit einem Risiko der Nichtentdeckung bei den Tests und daher der Übertragung von HIV auf den Empfänger verbunden seien. 63 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts zu beurteilen, ob es in einer solchen Situation und im Rahmen der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wirksame Techniken zum Nachweis von HIV gibt, um die Übertragung eines derartigen Virus auf die Empfänger zu vermeiden, wobei die Tests gemäß dem 29. Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/98 nach den neuesten wissenschaftlichen und technischen Verfahren durchgeführt werden sollten. 64 Insbesondere ist es Sache des vorlegenden Gerichts zu beurteilen, ob der Fortschritt der Wissenschaft oder der Gesundheitstechnik unter Berücksichtigung insbesondere der Kosten einer systematischen Quarantäne für Blutspenden von Männern, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten, oder eines systematischen Nachweises von HIV für alle Blutspenden erlauben, ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger sicherzustellen, ohne dass die sich daraus ergebende Belastung in unangemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen des Gesundheitsschutzes steht. 65 Zum anderen ist für den Fall, dass es nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft keine Technik gibt, die die in den Rn. 63 und 64 des vorliegenden Urteils aufgestellten Bedingungen erfüllt, eine dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden für alle Männer, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten, nur verhältnismäßig, wenn es keine weniger belastenden Methoden gibt, um ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger sicherzustellen. 66 Insoweit obliegt es dem vorlegenden Gericht insbesondere zu prüfen, ob möglicherweise anhand des Fragebogens und der persönlichen Befragung durch einen qualifizierten Angehörigen eines Gesundheitsberufs nach Anhang II Teil B Nr. 2 der Richtlinie 2004/33 die Verhaltensweisen genauer identifiziert werden können, die mit einem Gesundheitsrisiko für die Empfänger verbunden sind, um eine weniger einschränkende Kontraindikation festzulegen als eine dauerhafte für alle Männer, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten. 67 Wie der Generalanwalt in Nr. 61 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, muss das vorlegende Gericht in diesem Sinne insbesondere beurteilen, ob es durch gezielte Fragen zum seit der letzten sexuellen Beziehung verstrichenen Zeitraum im Verhältnis zur Dauer des „diagnostischen Fensters“, zur Beständigkeit der Beziehung der betreffenden Person oder zum Schutz in der sexuellen Beziehung möglich wäre, die Höhe des Risikos zu bewerten, das individuell durch den jeweiligen Spender aufgrund seines eigenen Sexualverhaltens besteht. 68 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass, falls es wirksame Techniken zum Nachweis durch Blut übertragbarer schwerer Krankheiten oder mangels solcher Techniken weniger belastende Methoden als das dauerhafte Verbot der Blutspende für alle Männer, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten, erlauben, ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger sicherzustellen, eine solche dauerhafte Kontraindikation gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta verstößt. 69 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33 dahin auszulegen ist, dass das in dieser Bestimmung enthaltene Kriterium für einen Ausschluss von der Blutspende, nämlich das Sexualverhalten, den Fall erfasst, dass ein Mitgliedstaat im Hinblick auf die in diesem herrschende Situation eine dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden für Männer vorsieht, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten, wenn aufgrund der derzeitigen medizinischen, wissenschaftlichen und epidemiologischen Erkenntnisse und Daten feststeht, dass ein solches Sexualverhalten für diese Personen ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten birgt und dass es unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit keine wirksamen Techniken zum Nachweis dieser Infektionskrankheiten oder mangels solcher Techniken weniger belastende Methoden als eine solche Kontraindikation gibt, um ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger sicherzustellen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen in dem betreffenden Mitgliedstaat erfüllt sind. Kosten 70 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33/EG der Kommission vom 22. März 2004 zur Durchführung der Richtlinie 2002/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates hinsichtlich bestimmter technischer Anforderungen für Blut und Blutbestandteile ist dahin auszulegen, dass das in dieser Bestimmung enthaltene Kriterium für einen Ausschluss von der Blutspende, nämlich das Sexualverhalten, den Fall erfasst, dass ein Mitgliedstaat im Hinblick auf die in diesem herrschende Situation eine dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden für Männer vorsieht, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten, wenn aufgrund der derzeitigen medizinischen, wissenschaftlichen und epidemiologischen Erkenntnisse und Daten feststeht, dass ein solches Sexualverhalten für diese Personen ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten birgt und dass es unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit keine wirksamen Techniken zum Nachweis dieser Infektionskrankheiten oder mangels solcher Techniken weniger belastende Methoden als eine solche Kontraindikation gibt, um ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger sicherzustellen. Es ist Sache des nationalen Gerichts zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen in dem betreffenden Mitgliedstaat erfüllt sind. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 12. Dezember 2014.#Xeda International SA gegen Europäische Kommission.#Pflanzenschutzmittel – Wirkstoff Ethoxyquin – Nichtaufnahme in Anhang I der Richtlinie 91/414/EWG – Entziehung der Zulassungen für diesen Wirkstoff enthaltende Pflanzenschutzmittel – Verordnung (EG) Nr. 2229/2004 – Verordnung (EG) Nr. 33/2008 – Beschleunigtes Bewertungsverfahren – Offensichtlicher Ermessensfehler – Verteidigungsrechte – Verhältnismäßigkeit – Berechtigtes Vertrauen.#Rechtssache T‑269/11.
62011TJ0269
ECLI:EU:T:2014:1069
2014-12-12T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62011TJ0269 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62011TJ0269 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62011TJ0269 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 22. Mai 2014.#Wolfgang Glatzel gegen Freistaat Bayern.#Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs.#Vorabentscheidungsersuchen – Verkehr – Richtlinie 2006/126/EG – Anhang III Nr. 6.4 – Gültigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 26 – Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – Führerschein – Körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs – Mindestanforderungen – Sehschärfe – Gleichbehandlung – Keine Möglichkeit einer Ausnahme – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache C‑356/12.
62012CJ0356
ECLI:EU:C:2014:350
2014-05-22T00:00:00
Gerichtshof, Bot
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62012CJ0356 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) 22. Mai 2014 (*1) „Vorabentscheidungsersuchen — Verkehr — Richtlinie 2006/126/EG — Anhang III Nr. 6.4 — Gültigkeit — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 26 — Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen — Führerschein — Körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs — Mindestanforderungen — Sehschärfe — Gleichbehandlung — Keine Möglichkeit einer Ausnahme — Verhältnismäßigkeit“ In der Rechtssache C‑356/12 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 5. Juli 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2012, in dem Verfahren Wolfgang Glatzel gegen Freistaat Bayern erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas (Berichterstatter), D. Šváby und C. Vajda, Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Juni 2013, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Herrn Glatzel, vertreten durch Rechtsanwalt E. Giebler, — des Freistaats Bayern, vertreten durch M. Niese als Bevollmächtigten, — der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und K. Petersen als Bevollmächtigte, — des Europäischen Parlaments, vertreten durch A. Troupiotis und P. Schonard als Bevollmächtigte, — des Rates der Europäischen Union, vertreten durch E. Karlsson, R. Wiemann und Z. Kupčová als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und J. Hottiaux als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Juli 2013 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Vereinbarkeit von Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl. L 403, S. 18) in der durch die Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25. August 2009 (ABl. L 223, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/126) mit Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in Bezug auf die Mindestanforderungen an die körperliche Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs, soweit sie das Sehvermögen berühren. 2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Glatzel und dem Freistaat Bayern wegen einer Entscheidung, mit der Herrn Glatzel die Erteilung einer Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Klassen C1 und C1E im Sinne der Richtlinie 2006/126 deswegen versagt wurde, weil das Sehvermögen, über das er auf seinem schlechteren Auge verfügt, nicht das in Anhang III Nr. 6.4 dieser Richtlinie geforderte Mindestniveau erreicht. Rechtlicher Rahmen Völkerrecht 3 Im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 (ABl. 2010, L 23, S. 35) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde (im Folgenden: VN-Übereinkommen), heißt es in Buchst. e der Präambel: „Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens … in der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“. 4 Art. 1 („Zweck“) dieses Übereinkommens lautet: „Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ 5 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) des VN-Übereinkommens heißt es: „Im Sinne dieses Übereinkommens … bedeutet ‚Diskriminierung aufgrund von Behinderung‘ jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen; …“ 6 Art. 4 („Allgemeine Verpflichtungen“) des VN-Übereinkommens sieht vor: „(1)   Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern. Zu diesem Zweck verpflichten sich die Vertragsstaaten, a) alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen; b) alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen; c) den Schutz und die Förderung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen in allen politischen Konzepten und allen Programmen zu berücksichtigen; d) Handlungen oder Praktiken, die mit diesem Übereinkommen unvereinbar sind, zu unterlassen und dafür zu sorgen, dass die staatlichen Behörden und öffentlichen Einrichtungen im Einklang mit diesem Übereinkommen handeln; e) alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung aufgrund von Behinderung durch Personen, Organisationen oder private Unternehmen zu ergreifen; …“ 7 Art. 5 („Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung“) des VN-Übereinkommens bestimmt: „(1)   Die Vertragsstaaten anerkennen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, vom Gesetz gleich zu behandeln sind und ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz und gleiche Vorteile durch das Gesetz haben. (2)   Die Vertragsstaaten verbieten jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung und garantieren Menschen mit Behinderungen gleichen und wirksamen rechtlichen Schutz vor Diskriminierung, gleichviel aus welchen Gründen. (3)   Zur Förderung der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierung unternehmen die Vertragsstaaten alle geeigneten Schritte, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu gewährleisten. (4)   Besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens.“ 8 Art. 27 („Arbeit und Beschäftigung“) des VN-Übereinkommens sieht in Abs. 1 Buchst. a vor: „Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird. Die Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit, einschließlich für Menschen, die während der Beschäftigung eine Behinderung erwerben, durch geeignete Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um unter anderem a) Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit einer Beschäftigung gleich welcher Art, einschließlich der Auswahl-, Einstellungs- und Beschäftigungsbedingungen, der Weiterbeschäftigung, des beruflichen Aufstiegs sowie sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen, zu verbieten“. Unionsrecht 9 Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/126 lautet: „Aus Gründen der Straßenverkehrssicherheit sollten die Mindestvoraussetzungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis festgelegt werden. Die Normen für die von den Fahrern abzulegenden Prüfungen und für die Erteilung der Fahrerlaubnis müssen harmonisiert werden. Zu diesem Zweck sollten die Kenntnisse, Fähigkeiten und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit dem Führen eines Kraftfahrzeugs festgelegt werden, die Fahrprüfung sollte auf diesen Konzepten beruhen, und die Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen dieser Fahrzeuge sollten neu festgelegt werden.“ 10 Im 14. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es: „Es sollten besondere Bestimmungen erlassen werden, um Körperbehinderten den Zugang zum Führen von Kraftfahrzeugen zu erleichtern.“ 11 Der 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/126 lautet: „Die Kommission sollte ermächtigt werden, die Anhänge I bis VI an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt anzupassen.“ 12 Art. 4 („Klassen, Begriffsbestimmungen und Mindestalter“) dieser Richtlinie bestimmt: „1.   Der Führerschein nach Artikel 1 berechtigt zum Führen von Kraftfahrzeugen der nachstehend definierten Klassen. … … 4.   Kraftwagen: … d) Klasse C1: nicht unter die Klassen D oder D1 fallende Kraftwagen, deren zulässige Gesamtmasse mehr als 3500 kg, jedoch nicht mehr als 7500 kg beträgt, und die zur Beförderung von nicht mehr als acht Personen außer dem Fahrzeugführer ausgelegt und gebaut sind; hinter Kraftwagen dieser Klasse darf ein Anhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von höchstens 750 kg mitgeführt werden; e) Klasse C1E: — unbeschadet der Vorschriften für die Typgenehmigung der betroffenen Fahrzeuge: Fahrzeugkombinationen, die aus einem Zugfahrzeug der Klasse C1 und einem Anhänger oder Sattelanhänger mit einer zulässigen Gesamtmasse von mehr als 750 kg bestehen, sofern die zulässige Masse der Fahrzeugkombination 12000 kg nicht übersteigt; — unbeschadet der Vorschriften für die Typgenehmigung der betroffenen Fahrzeuge: Fahrzeugkombinationen, die aus einem Zugfahrzeug der Klasse B und einem Anhänger oder Sattelanhänger mit einer zulässigen Masse von mehr als 3500 kg bestehen, sofern die zulässige Masse der Fahrzeugkombination 12000 kg nicht übersteigt; — unbeschadet der Vorschriften über das Führen derartiger Fahrzeuge in der Richtlinie 2003/59/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2003 über die Grundqualifikation und Weiterbildung der Fahrer bestimmter Kraftfahrzeuge für den Güter- oder Personenkraftverkehr [zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3820/85 des Rates und der Richtlinie 91/439/EWG des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 76/914/EWG des Rates (ABl. L 226, S. 4)] wird das Mindestalter für die Klassen C1 und C1E auf 18 Jahre festgelegt; …“ 13 In Art. 7 („Ausstellung, Gültigkeit und Erneuerung“) der Richtlinie 2006/126 heißt es: „1.   Ein Führerschein darf nur an Bewerber ausgestellt werden, die a) eine Prüfung der Fähigkeiten und Verhaltensweisen sowie eine theoretische Prüfung bestanden haben und die gesundheitlichen Anforderungen nach Maßgabe der Anhänge II und III erfüllen; … 3.   Die Erneuerung eines Führerscheins bei Ablauf der Gültigkeitsdauer ist von Folgendem abhängig zu machen: a) von der anhaltenden Erfüllung der Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit für das Führen der betreffenden Fahrzeuge gemäß Anhang III für Führerscheine der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1, D1E; … …“ 14 Art. 8 („Anpassung an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“) der Richtlinie 2006/126 bestimmt: „Die Änderungen, die erforderlich sind, um die Anhänge I bis VI an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt anzupassen, werden nach dem in Artikel 9 Absatz 2 genannten Verfahren erlassen.“ 15 Art. 9 („Ausschuss“) dieser Richtlinie lautet: „1.   Die Kommission wird von dem Ausschuss für den Führerschein unterstützt. 2.   Wird auf diesen Absatz Bezug genommen, so gelten Artikel 5a Absätze 1 bis 4 und Artikel 7 des Beschlusses 1999/468/EG unter Beachtung von dessen Artikel 8.“ 16 Anhang III der Richtlinie 2006/126 bezieht sich auf die Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs einschließlich der Anforderungen an das Sehvermögen. Für die Zwecke dieses Anhangs werden die Fahrzeugführer in zwei Gruppen eingeteilt, und zwar die Gruppe 1, die die Führer von Fahrzeugen der Klassen A, A1, A2, AM, B, B1 und BE umfasst, und die Gruppe 2, die sich aus den Führern von Fahrzeugen der Klassen C, CE, C1, C1E, D, DE, D1und D1E zusammensetzt. 17 In Bezug auf die ärztlichen Untersuchungen des Sehvermögens sieht Anhang III der Richtlinie 2006/126 Folgendes vor: „6. Alle Bewerber um eine Fahrerlaubnis müssen sich einer angemessenen Untersuchung unterziehen, um sicherzustellen, dass sie eine für das sichere Führen von Kraftfahrzeugen ausreichende Sehschärfe haben. In Zweifelsfällen ist der Bewerber von einer zuständigen ärztlichen Stelle zu untersuchen. Bei dieser Untersuchung ist unter anderem auf Sehschärfe, Gesichtsfeld, Dämmerungssehen, Blend- und Kontrastempfindlichkeit, Diplopie sowie andere Störungen der Sehfunktion zu achten, die ein sicheres Fahren in Frage stellen können. Für Fahrzeugführer der Gruppe 1 darf die Erteilung der Fahrerlaubnis ‚in Ausnahmefällen‘ in Betracht gezogen werden, wenn die Anforderungen an das Gesichtsfeld oder die Sehschärfe nicht erfüllt werden; in diesen Fällen sollte der Fahrzeugführer einer Untersuchung durch eine zuständige ärztliche Stelle unterzogen werden, um sicherzustellen, dass keine andere Störung von Sehfunktionen wie Blend- und Kontrastempfindlichkeit oder Dämmerungssehen vorliegt. Daneben sollte der Fahrzeugführer oder Bewerber eine praktische Prüfung durch eine zuständige Stelle erfolgreich absolvieren. Gruppe 1: 6.1. Alle Bewerber um Erteilung oder Erneuerung einer Fahrerlaubnis müssen, erforderlichenfalls mit Hilfe von Korrekturgläsern, beim beidäugigen Sehen eine Gesamtsehschärfe von mindestens 0,5 haben. Daneben sollte das horizontale Gesichtsfeld mindestens 120 Grad betragen, die Erweiterung sollte nach rechts und links mindestens 50 Grad und nach oben und unten mindestens 20 Grad betragen. Innerhalb des Bereichs der mittleren 20 Grad sollte keine Beeinträchtigung vorliegen. Wird eine fortschreitende Augenkrankheit festgestellt oder angegeben, so kann eine Fahrerlaubnis erteilt oder erneuert werden, sofern der Bewerber regelmäßig einer Untersuchung durch eine zuständige ärztliche Stelle unterzogen wird. 6.2. Alle Bewerber um die Erteilung oder Erneuerung einer Fahrerlaubnis, die unter dem völligen funktionalen Verlust des Sehvermögens eines Auges leiden, oder die (beispielsweise bei Diplopie) nur ein Auge benutzen, müssen, erforderlichenfalls mit Hilfe von Korrekturgläsern, eine Sehschärfe von mindestens 0,5 haben. Die zuständige ärztliche Stelle muss bescheinigen, dass diese Einäugigkeit ausreichend lange besteht, um dem Betreffenden eine Anpassung zu ermöglichen, und dass das Gesichtsfeld des betreffenden Auges den in Nummer 6.1. genannten Anforderungen genügt. 6.3. Bei in jüngerer Zeit eingetretener Diplopie und nach dem Verlust des Sehvermögens auf einem Auge sollte ein geeigneter Anpassungszeitraum (z. B. sechs Monate) eingehalten werden, während dessen das Führen von Fahrzeugen nicht erlaubt ist. Danach ist das Führen von Fahrzeugen nur mit einem befürwortenden Gutachten von Sachverständigen für das Sehvermögen und das Führen von Kraftfahrzeugen erlaubt. Gruppe 2: 6.4. Alle Bewerber um Erteilung oder Erneuerung einer Fahrerlaubnis müssen beidäugig sehen und dabei, erforderlichenfalls mit Korrekturgläsern, eine Sehschärfe von mindestens 0,8 auf dem besseren Auge und von mindestens 0,1 auf dem schlechteren Auge haben. Werden diese Werte mit Korrekturgläsern erreicht, so muss das Mindestsehvermögen (0,8 und 0,1) mittels einer Brille, deren Gläserstärke nicht über plus acht Dioptrien liegt, oder mittels Kontaktlinsen erreicht werden. Die Korrektur muss gut verträglich sein. Daneben sollte das horizontale Gesichtsfeld mit beiden Augen mindestens 160 Grad betragen, die Erweiterung sollte nach rechts und links mindestens 70 Grad und nach oben und unten mindestens 30 Grad betragen. Innerhalb des Bereichs der mittleren 30 Grad sollte keine Beeinträchtigung vorliegen. Bewerbern oder Fahrzeugführern, die an einer Störung der Kontrastempfindlichkeit oder an Diplopie leiden, darf eine Fahrerlaubnis weder erteilt noch darf ihre Fahrerlaubnis erneuert werden. Nach einem erheblichen Verlust des Sehvermögens auf einem Auge sollte ein geeigneter Anpassungszeitraum (z. B. sechs Monate) eingehalten werden, während dessen dem Betreffenden das Führen von Fahrzeugen nicht erlaubt ist. Danach ist das Führen von Fahrzeugen nur mit einem befürwortenden Gutachten von Sachverständigen für das Sehvermögen und das Führen von Kraftfahrzeugen erlaubt.“ 18 Nach Anhang III Nr. 1.3 der Richtlinie 2006/126 können die Mitgliedstaaten Bestimmungen vorsehen, wonach auf Führer von Fahrzeugen der Klasse B, die ihre Fahrerlaubnis für berufliche Zwecke verwenden (Taxis, Krankenwagen usw.), die in diesem Anhang enthaltenen Bestimmungen für Fahrzeugführer der Gruppe 2 angewandt werden. 19 Im Übrigen können die Mitgliedstaaten nach Nr. 5 dieses Anhangs hinsichtlich der Gruppe 2 bei der Erteilung oder bei jeder Erneuerung einer Fahrerlaubnis strengere als die in diesem Anhang genannten Auflagen vorschreiben. Deutsches Recht 20 § 2 Abs. 2 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl. 2003 I, S. 310, berichtigt S. 919), zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 118 des Gesetzes vom 22. Dezember 2011 (BGBl. 2011 I, S. 3044, im Folgenden: StVG), lautet: „Die Fahrerlaubnis ist für die jeweilige Klasse zu erteilen, wenn der Bewerber … 3. zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist, …“ 21 § 2 Abs. 4 Satz 1 StVG definiert den Begriff „Eignung“ wie folgt: „Geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat.“ 22 Welche Anforderungen im Einzelnen erfüllt sein müssen, damit eine Person zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist, legt die Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung) vom 13. Dezember 2010 (BGBl. 2010 I, S. 1980), zuletzt geändert durch die Verordnung vom 26. Juni 2012 (BGBl. 2012 I, S. 1394), fest. 23 Hinsichtlich des Sehvermögens bestimmt § 12 Abs. 1 dieser Verordnung: „Zum Führen von Kraftfahrzeugen sind die in der Anlage 6 genannten Anforderungen an das Sehvermögen zu erfüllen.“ 24 Anlage 6 Nr. 2.2.1 der Fahrerlaubnis-Verordnung sieht vor: „Zentrale Tagessehschärfe Fehlsichtigkeiten müssen – soweit möglich und verträglich – korrigiert werden. Dabei dürfen folgende Sehschärfenwerte nicht unterschritten werden: Sehschärfe des besseren Auges oder beidäugige Sehschärfe: 0,8, Sehschärfe des schlechteren Auges: 0,5. … In Einzelfällen kann unter Berücksichtigung von Fahrerfahrung und Fahrzeugnutzung der Visus des schlechteren Auges für die Klassen C, CE, C1, C1E unter 0,5 liegen, ein Wert von 0,1 darf nicht unterschritten werden. Ein augenärztliches Gutachten ist in diesen Fällen erforderlich.“ Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage 25 Herrn Glatzel (geboren 1959) wurde mit einer im April 2010 erlassenen gerichtlichen Entscheidung wegen einer Trunkenheitsfahrt die Fahrerlaubnis entzogen. 26 Mit Bescheid vom November 2010 gab das Landratsamt Schwandorf dem Antrag von Herrn Glatzel teilweise statt, indem es ihm eine neue Fahrerlaubnis erteilte, die ihn u. a. zum Führen von Kraftfahrzeugen der Klassen A, A1 und BE im Sinne der Richtlinie 2006/126 sowie bestimmter nationaler Klassen berechtigt, die das Recht verleihen, Fahrräder mit Hilfsmotor, Kleinkrafträder und Leichtkraftfahrzeuge mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von 45 km/h sowie Arbeits- und landwirtschaftliche Zugmaschinen mit einer durch die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h bzw. 32 km/h zu führen. 27 Dagegen wurde mit gleicher Entscheidung Herrn Glatzel die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Klassen C1 und C1E, also u. a. für Lastkraftwagen, versagt. Das Landratsamt Schwandorf begründete diese Versagung damit, dass eine augenärztliche Untersuchung ergeben habe, dass Herr Glatzel an einer einseitigen Amblyopie, d. h. einer stark ausgeprägten funktionellen Sehschwäche eines Auges, leide. Während seine zentrale Sehschärfe auf dem linken Auge bei 1,0 liege und somit in vollem Umfang bestehe und auch die beidäugige Sehschärfe diesen Wert erreiche, habe er bei der Untersuchung auf dem rechten Auge nur Handbewegungen erkennen können. Damit habe die Sehschärfe seines rechten Auges nicht die nach deutschem Recht geltenden Anforderungen für die Erteilung einer Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der letztgenannten Klassen erfüllt. 28 Herr Glatzel erhob nach erfolglosem Widerspruch gegen diese Versagung Klage beim Verwaltungsgericht Regensburg. Nachdem dieses die Klage abgewiesen hatte, legte er gegen dieses Urteil Berufung beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein. 29 Dieser erhob u. a. durch Einholung eines Sachverständigengutachtens bei einem augenärztlichen Dienst Beweis, um festzustellen, wie sich das aktuelle Sehvermögen von Herrn Glatzel darstelle, und um zu klären, ob und in welchem Umfang er in der Lage sei, bestehende Einschränkungen, namentlich hinsichtlich des räumlichen Sehvermögens, zu kompensieren, und ob bestehende Kompensationsmöglichkeiten unabhängig von seinem Willen zum Tragen kämen. Darüber hinaus wollte das vorlegende Gericht mittels eines weiteren Sachverständigengutachtens wissen, ob aus Sicht der augenärztlichen Wissenschaft tragfähige Gründe dafür bestünden, anatomisch oder funktionell einäugigen Personen die Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E selbst dann vorzuenthalten, wenn diese Personen Beeinträchtigungen des Sehvermögens in ausreichendem Umfang zu kompensieren vermögen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof möchte ferner wissen, welche Voraussetzungen gegebenenfalls erfüllt sein müssen, damit das Führen von Fahrzeugen dieser Fahrererlaubnisklassen durch einäugige Personen nicht mit höheren Gefahren für die Verkehrssicherheit einhergehe, als das beim Führen der gleichen Kraftfahrzeuge durch Personen der Fall sei, deren Sehvermögen keine Beeinträchtigung aufweise. 30 In der mündlichen Verhandlung vor dem vorlegenden Gericht nahmen die Sachverständigen darüber hinaus zu der Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene das Sehvermögen auf einem Auge plötzlich verliert, während er ein Fahrzeug der Klassen C1 und C1E führt, sowie zu der Frage Stellung, ob ein solcher Verlust des Sehvermögens so plötzlich eintreten kann, dass der Fahrzeugführer auf das Restsehvermögen auf dem anderen Auge in Höhe von 0,1 angewiesen ist, um das Fahrzeug sicher am Straßenrand zum Stillstand bringen zu können. 31 Aufgrund der so erlangten Informationen hält der Bayerische Verwaltungsgerichtshof es für geboten, dem Antrag von Herrn Glatzel stattzugeben, d. h. die behördlichen Entscheidungen sowie das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg aufzuheben und ihm eine Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Klassen C1 und C1E zu erteilen. Er sieht nämlich keinen Grund, Personen, die auf einem Auge nur über eine unter 0,1 liegende Sehschärfe verfügten, das Führen von Kraftfahrzeugen dieser Klassen zu verwehren, wenn es sich erstens um beidäugig sehende Personen handele, zweitens das beidäugige Gesichtsfeld dieser Personen den Erfordernissen entspreche, die in Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 niedergelegt seien, und drittens diese Personen gelernt hätten, ein bei ihnen nicht vorhandenes räumliches Sehvermögen vollständig zu kompensieren. 32 Zum letztgenannten Punkt führt das vorlegende Gericht aus, dass ein Mensch, bei dem das räumliche Sehvermögen nicht vorhanden sei, diesen Mangel nach spätestens sechs Monaten kompensiere, wenn er erst im Lauf des Lebens eintrete. Erst recht komme es zu einer solchen Kompensation, die im Übrigen nicht von der Bereitschaft des Betroffenen abhänge, bestimmte Verhaltensweisen zu praktizieren, wenn eine Person – wie Herr Glatzel – bereits von ihrer Geburt an auf einem Auge stark schwachsichtig sei. Daher beruhe das in Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 vorgesehene Erfordernis, wonach Fahrzeugführer der Gruppe 2 über eine Mindestsehschärfe von 0,1 verfügen müssten, nicht auf der Erwägung, hierdurch solle das fehlende räumliche Sehvermögen des Betroffenen kompensiert werden, sondern dem Gedanken, den Führer eines Kraftfahrzeugs dieser Klassen in die Lage zu versetzen, auf den plötzlichen Ausfall des besseren Auges während einer Fahrt zu reagieren und unter Nutzung seines verbliebenen Sehvermögens das Fahrzeug am Straßenrand zum Stillstand zu bringen. 33 Das vorlegende Gericht macht jedoch geltend, dass das Erfordernis einer derartigen Restsehschärfe des schlechteren Auges nur bei solchen Personen sachlich gerechtfertigt sei, die nicht binokular sehen könnten oder bei denen das beidäugige Gesichtsfeld nicht den Anforderungen von Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 entspreche. Eine Person, die – wie Herr Glatzel – über ein normales Gesichtsfeld verfüge und deren Sehbehinderung insbesondere ihre zentrale Sehschärfe betreffe, sei dagegen in der Lage, in ihrem peripheren Gesichtsfeld liegende Objekte im Wesentlichen in derselben Weise wahrzunehmen wie eine normalsichtige Person, und könne daher ein von ihr geführtes Kraftfahrzeug auch nur unter Nutzung ihres Restsehvermögens zum Stillstand bringen. Zudem seien Situationen, in denen der Führer eines Lastkraftwagens das Sehvermögen auf einem Auge so plötzlich verliere, dass er auf ein auf dem anderen Auge bestehendes Restsehvermögen angewiesen sei, um das Fahrzeug zum Stillstand zu bringen, extrem selten. 34 Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ist der Ansicht, dass das in Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 vorgesehene Erfordernis einen Eingriff in die durch Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 26 der Charta garantierten Grundrechte der Gleichheit vor dem Gesetz, des Verbots der Diskriminierung wegen einer Behinderung und der Integration von Menschen mit Behinderung darstelle. 35 Insbesondere sei der Ausschluss von Personen wie Herrn Glatzel von der Aufnahme beruflicher Tätigkeiten, deren Ausübung von Rechts wegen oder nach der Lebenswirklichkeit die Berechtigung zum Führen von Fahrzeugen der Klassen C1 und C1E voraussetze, eine Diskriminierung wegen der Behinderung des Betroffenen. Ferner führten die unterschiedlichen Anforderungen, die in Anhang III der Richtlinie 2006/126 an das Sehvermögen von Bewerbern um Erteilung oder Erneuerung einer Fahrerlaubnis der Gruppe 1 einerseits und der Gruppe 2 andererseits gestellt würden, zu einer Beeinträchtigung der Gleichbehandlung. In jedem Fall könne das Erfordernis einer Mindestsehschärfe von 0,1 in bestimmten Fällen nicht gerechtfertigt werden; eine angemessenere Lösung bestehe darin, im Einzelfall zu prüfen, ob eine amblyope Person zum Führen von Fahrzeugen der Klassen C1 und C1E wie Fahrzeugführer der Gruppe 1 von Anhang III der Richtlinie 2006/126 geeignet sei. 36 Unter diesen Voraussetzungen hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Nr. 6.4 des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 insoweit mit Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 26 der Charta vereinbar, als diese Vorschrift – ohne die Möglichkeit einer Ausnahme vorzusehen – von Bewerbern um eine Fahrerlaubnis der Klassen C1 und C1E auch dann eine Mindestsehschärfe von 0,1 auf dem schlechteren Auge verlangt, wenn diese Personen beidäugig sehen und auf beiden Augen über ein normales Gesichtsfeld verfügen? Zur Vorlagefrage 37 Mit seiner Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, die Gültigkeit von Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126, der die Mindestanforderungen an das Sehvermögen der Führer von Fahrzeugen der Klassen C1 und C1E, insbesondere Lastkraftwagen, betrifft, im Hinblick auf Art. 20, Art. 21 Abs. 1 und Art. 26 der Charta, die sich auf die Gleichheit vor dem Gesetz, die Nichtdiskriminierung wegen einer Behinderung bzw. die Integration von Menschen mit Behinderung beziehen, zu prüfen. 38 Das vorlegende Gericht geht insbesondere davon aus, dass das Erfordernis, wonach Führer von Kraftfahrzeugen der Klassen C1 und C1E über eine Mindestsehschärfe von 0,1 auf dem schlechteren Auge verfügen müssten, eine Diskriminierung aufgrund von Behinderung gegenüber Personen darstelle, die nicht über eine solche Sehschärfe verfügten, soweit diese Personen beidäugig sähen und auf beiden Augen über ein ausreichendes Gesichtsfeld verfügten. Zudem sei eine solche Anforderung an die Sehschärfe mit dem Grundsatz der Integration von Menschen mit Behinderung unvereinbar und verstoße gegen das VN-Übereinkommen. 39 Das vorlegende Gericht stellt ferner fest, dass nach Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/126 Fahrzeugführern der Gruppe 1, d. h. Führern von Leichtkraftfahrzeugen, eine Fahrerlaubnis „in Ausnahmefällen“ auch dann erteilt werden könne, wenn sie die Anforderungen an das Gesichtsfeld oder die Sehschärfe nicht erfüllten. Fahrzeugführern der Gruppe 2, die über eine Sehschärfe unter 0,1 auf dem schlechteren Auge verfügten, einschließlich der Fahrzeugführer, die die Erteilung einer Fahrerlaubnis für die Fahrzeugklassen C1 und C1E beantragt hätten, werde dagegen eine Fahrerlaubnis vorenthalten. Da die Richtlinie keine Möglichkeit einräume, anhand eines medizinischen Gutachtens im Einzelfall nachzuweisen, dass die Fahrsicherheit nicht beeinträchtigt werde, obwohl die betroffenen Fahrzeugführer die Anforderungen nicht erfüllten, werde das Recht dieser Fahrzeugführer auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt. 40 Um die Frage des vorlegenden Gerichts zu beantworten, ist erstens zu untersuchen, ob der Unionsgesetzgeber bei Festlegung der in Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 vorgesehenen Mindestsehschärfe gegen das in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Recht auf Nichtdiskriminierung verstoßen hat. Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob das VN-Übereinkommen Auswirkungen auf diese Bestimmung hat. Zweitens ist zu prüfen, ob Art. 26 der Charta, in dem der Grundsatz der Integration behinderter Personen niedergelegt ist, Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 entgegensteht, dessen Gültigkeit in Zweifel gezogen wird. Drittens ist zu prüfen, ob es mit Art. 20 der Charta, nach dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, unvereinbar ist, dass den Führern bestimmter Lastkraftwagen die Möglichkeit vorenthalten wird, mittels eines medizinischen Gutachtens im Einzelfall darzutun, dass sie auch ohne bestimmte, von der Richtlinie 2006/126 geforderte körperliche Fähigkeiten zum Führen solcher Fahrzeuge geeignet sind, während die Führer bestimmter anderer Fahrzeugarten eine solche Möglichkeit haben. Zu dem in Art. 21 der Charta verankerten Erfordernis der Nichtdiskriminierung 41 Es ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren betroffene Unionsvorschrift, die für die Führer von Kraftfahrzeugen der Klassen C1 und C1E die Anforderungen an die Sehschärfe festlegt, gegen Art. 21 Abs. 1 der Charta verstößt, wonach „Diskriminierungen insbesondere … wegen … einer Behinderung … verboten [sind]“. 42 Hierzu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 43 Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der in Art. 20 der Charta niedergelegt ist; das Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 der Charta stellt eine besondere Ausprägung dieses Grundsatzes dar. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt dieser allgemeine Grundsatz entsprechend den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta vom Unionsgesetzgeber, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission, C‑550/07 P, EU:C:2010:512, Rn. 54 und 55 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Eine unterschiedliche Behandlung ist gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, und wenn diese unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht (Urteile Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 47, und Schaible, C‑101/12, EU:C:2013:661, Rn. 77). 44 Sodann ist zu der besonderen Frage der Diskriminierung wegen einer Behinderung festzustellen, dass der Begriff „Behinderung“ in der Charta selbst nicht definiert wird. 45 In seiner Rechtsprechung zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf hat der Gerichtshof bereits ausgeführt, dass der Begriff „Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16) im Licht des VN-Übereinkommens so zu verstehen ist, dass er eine Einschränkung erfasst, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können (Urteile HK Danmark, C‑335/11 und C‑337/11, EU:C:2013:222, Rn. 37 bis 39, Kommission/Italien, C‑312/11, EU:C:2013:446, Rn. 56, und Z., C‑363/12, EU:C:2014:159, Rn. 76). 46 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass Art. 21 Abs. 1 der Charta in Bezug auf die Frage der Diskriminierung wegen einer Behinderung vom Unionsgesetzgeber insbesondere verlangt, dass er keine unterschiedliche Behandlung auf der Grundlage einer Einschränkung vornimmt, die u. a. auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Personen, hindern können, es sei denn, dass eine solche unterschiedliche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist. 47 Personen, die – wie Herr Glatzel – an einer dauerhaften Sinnesbeeinträchtigung leiden und die über eine Sehschärfe von weniger als 0,1 auf dem schlechteren Auge verfügen, erfüllen nicht die in Anhang III der Richtlinie 2006/126 enthaltenen medizinischen Anforderungen, und ihnen kann daher keine Fahrerlaubnis für die Fahrzeugklassen C1 und C1E erteilt werden. Es ist jedoch festzustellen, dass nach den Angaben in der Vorlageentscheidung die Sehschärfe von Herrn Glatzel zwar auf dem schlechteren Auge sehr schwach ist, er beim beidäugigen Sehen aber über eine Gesamtsehschärfe von 1,0, d. h. über eine Sehschärfe „in vollem Umfang“, verfügt. Dem Gerichtshof liegen keine hinreichenden Informationen vor, um beurteilen zu können, ob eine solche Beeinträchtigung eine „Behinderung“ im Sinne von Art. 21 Abs. 1 der Charta darstellt. 48 Um die Gültigkeit der Richtlinie 2006/126 im Hinblick auf Art. 21 Abs. 1 der Charta beurteilen zu können, ist es jedoch nicht erforderlich, abschließend festzustellen, ob im Ausgangsverfahren Herr Glatzel als ein Mensch mit einer Behinderung im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist. Auch wenn nämlich der Zustand, in dem sich eine Person wie Herr Glatzel befindet, als vom Begriff „Behinderung“ im Sinne der Charta erfasst anzusehen sein sollte, kann die unterschiedliche Behandlung, die darin besteht, dass ihr aus dem Grund keine Fahrerlaubnis für Fahrzeuge der Klassen C1 und C1E erteilt wird, weil ihre Sehschärfe unzureichend ist, aus zwingenden Erwägungen der Verkehrssicherheit objektiv gerechtfertigt sein. 49 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zu dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz im Zusammenhang mit Gründen wie dem Alter oder dem Geschlecht bereits festgestellt hat, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem solchen Diskriminierungsgrund steht, keine Diskriminierung – d. h. keinen Verstoß gegen Art. 21 Abs. 1 der Charta – darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Rahmenbedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung darstellt und sofern der Zweck einer solchen Ungleichbehandlung rechtmäßig ist und die Anforderung in angemessenem Verhältnis zu den verfolgen Zielen steht (vgl. in diesem Sinne zur Diskriminierung aufgrund des Alters Urteile Wolf, C‑229/08, EU:C:2010:3, Rn. 35, und Prigge u. a., C‑447/09, EU:C:2011:573, Rn. 66, sowie in diesem Sinne zur Diskriminierung aufgrund des Geschlechts Urteile Johnston, 222/84, EU:C:1986:206, Rn. 40, und Sirdar, C‑273/97, EU:C:1999:523, Rn. 25). 50 Für die Zwecke der vorliegenden Rechtssache ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass eine unterschiedliche Behandlung von Personen danach, ob sie über die erforderliche Sehschärfe zum Führen von Kraftfahrzeugen verfügen, grundsätzlich nicht gegen das Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung im Sinne von Art. 21 Abs. 1 der Charta verstößt, sofern diese Anforderung tatsächlich einem dem Gemeinwohl dienenden Ziel entspricht, erforderlich ist und nicht zu einer übermäßigen Belastung führt. 51 Die Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr stellt insoweit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein dem Gemeinwohl der Union dienendes Ziel dar (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile van Schaik, C‑55/93, EU:C:1994:363, Rn. 19, Cura Anlagen, C‑451/99, EU:C:2002:195, Rn. 59, Kommission/Finnland, C‑54/05, EU:C:2007:168, Rn. 40, Kommission/Italien, C‑110/05, EU:C:2009:66, Rn. 60, Attanasio Group, C‑384/08, EU:C:2010:133, Rn. 50, Kommission/Portugal, C‑438/08, EU:C:2009:651, Rn. 48, Grasser, C‑184/10, EU:C:2011:324, Rn. 26, und Apelt, C‑224/10, EU:C:2011:655, Rn. 47). Indem die Richtlinie 2006/126 in ihrem Anhang III für Fahrzeugführer der Gruppe 2 im Sinne dieses Anhangs eine Mindestsehschärfe auf dem schlechteren Auge festlegt, soll sie die Sicherheit im Straßenverkehr verbessern und entspricht damit einem dem Gemeinwohl dienenden Ziel. 52 Zur richterlichen Kontrolle der Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit betreffend die Mindestanforderungen an die für das Führen von Kraftfahrzeugen erforderliche Sehschärfe ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber in Bezug auf komplexe medizinische Prüfungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden über ein weites Ermessen verfügt und sich die Kontrolle durch den Gerichtshof auf die Prüfung beschränken muss, ob die Ausübung dieses Ermessens nicht offensichtlich fehlerhaft ist, einen Ermessensmissbrauch darstellt oder dieser Gesetzgeber die Grenzen seines Ermessens offensichtlich überschritten hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Enviro Tech [Europe], C‑425/08, EU:C:2009:635, Rn. 47, Afton Chemical, C‑343/09, EU:C:2010:419, Rn. 28, und Etimine, C‑15/10, EU:C:2011:504, Rn. 60). 53 Auch wenn der Unionsgesetzgeber über ein solches Ermessen verfügt, ist er jedoch verpflichtet, seine Entscheidung auf objektive Kriterien zu stützen (vgl. Urteil Vodafone u. a., C‑58/08, EU:C:2010:321, Rn. 53), und er hat die Wahrung der Grundrechte zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 46, und Association belge des Consommateurs Test-Achats u. a., C‑236/09, EU:C:2011:100, Rn. 17). 54 Zur Frage der Erforderlichkeit von Mindestanforderungen an das Sehvermögen von Kraftfahrzeugführern ist darauf hinzuweisen, dass es zur Gewährleistung der Sicherheit im Straßenverkehr unabdingbar ist, dass die Personen, denen eine Fahrerlaubnis erteilt wird, über angemessene körperliche Fähigkeiten, insbesondere hinsichtlich ihres Sehvermögens, verfügen, da körperliche Schwächen erhebliche Folgen haben können (vgl. entsprechend zu Verkehrspiloten Urteil Prigge u. a., EU:C:2011:573, Rn. 67). Es ist in der Tat offenkundig, dass dem Sehvermögen eine entscheidende Rolle für das Führen von Kraftfahrzeugen zukommt und dass die Berücksichtigung der Belange der Verkehrssicherheit daher umso notwendiger erscheint, je stärker das Sehvermögen eingeschränkt ist. 55 Auch wenn das Verbot, Personen mit einer Sehschärfe, die einen bestimmten Wert nicht erreicht, die beantragte Fahrerlaubnis zu erteilen, erforderlich ist und der Ausschluss dieser Personen vom Straßenverkehr zweifellos ein wirksames Mittel zur Verbesserung der Verkehrssicherheit darstellt, darf ein solches Verbot jedoch nicht zu einer übermäßigen Belastung führen. 56 In einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens erfordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit daher insbesondere, den Grundsatz der Gleichbehandlung so weit wie möglich mit den Erfordernissen der Sicherheit im Straßenverkehr, die für die Voraussetzungen zum Führen von Kraftfahrzeugen bestimmend sind, in Einklang zu bringen (vgl. entsprechend Urteile Johnston, EU:C:1986:206, Rn. 38, Sirdar, EU:C:1999:523, Rn. 26, und Kreil, C‑285/98, EU:C:2000:2, Rn. 23). 57 Es ist demnach zu prüfen, ob Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126, der für die Fahrzeugführer der Gruppe 2 im Sinne dieses Anhangs eine Mindestsehschärfe von 0,1 festlegt, nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht. 58 Die in Anhang III der Richtlinie 2006/126 vorgeschriebenen Mindestanforderungen an die körperliche und geistige Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs sind – wie sich aus dem achten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt – gemäß Art. 91 Abs. 1 Buchst. c AEUV aus Gründen der Sicherheit im Straßenverkehr festgelegt worden. 59 Der auf der Grundlage von Art. 9 der Richtlinie 2006/126 errichtete Ausschuss für den Führerschein setzte die Arbeitsgruppe „Eyesight“ ein; diese veröffentlichte im Mai 2005 den Bericht „New standards for the visual functions of drivers“. Nach diesem Bericht sollten die Anforderungen an die Sehfähigkeit, obwohl strenge Anforderungen insofern dem Ziel der Sicherheit im Straßenverkehr am besten dienten, angesichts der vorrangigen Bedeutung, die sowohl aus gesellschaftlicher als auch aus wirtschaftlicher Sicht der Fahrtätigkeit in der heutigen Gesellschaft zukomme, nicht derart sein, dass sie Personen ohne triftigen Grund von dieser Tätigkeit ausschlössen. 60 Die Sachverständigen der Arbeitsgruppe räumten in dem Bericht ein, dass Untersuchungsdaten zur Festlegung der Mindestwerte der Sehschärfe fehlten; gleichwohl vertraten sie die Auffassung, dass der in der Richtlinie 2006/126 für die Sehschärfe des schlechteren Auges geforderte Mindestwert von 0,5 nicht mehr gerechtfertigt sei, soweit er die Fahrzeugführer der Gruppe 2 im Sinne von Anhang III dieser Richtlinie, also u. a. Lastkraftwagenfahrer, betreffe. Die Arbeitsgruppe „Eyesight“ hielt zwar die Auffassung für vertretbar, dass das Führen von Kraftfahrzeugen eine beidäugige Tätigkeit sei, so dass für Fahrzeugführer dieser Gruppe 2 von Vorgaben zur monokularen Sehschärfe abgesehen werden solle, kam aber zu dem Schluss, dass die größere Verantwortung von Fahrzeugführern der Gruppe 2 dafür spreche, dass diese Fahrzeugführer über ein „Reserveauge“ verfügen müssten, um das von ihnen gelenkte Fahrzeug gegebenenfalls mit Hilfe des schlechteren Auges am Straßenrand zum Stehen bringen zu können. 61 Aufgrund der Vorschläge der Arbeitsgruppe „Eyesight“ änderte der Unionsgesetzgeber Anhang III der Richtlinie 2006/126 in der Weise, dass die für Fahrzeugführer der Gruppe 2 im Sinne dieses Anhangs geforderte Mindestsehschärfe auf dem schlechteren Auge von 0,5 auf 0,1 gesenkt wurde. Darüber hinaus enthält der Bericht der Arbeitsgruppe „Eyesight“ genaue Ausführungen zu den Auswirkungen einer Amblyopie für Kraftfahrzeugführer. 62 Es zeigt sich, dass der Unionsgesetzgeber die Änderung dieses Anhangs in Kenntnis der Sachlage vorgenommen und sich bemüht hat, die Beeinträchtigung der Rechte von Personen, die unter einer Sehschwäche leiden, so gering wie möglich zu halten. 63 Wie dem Vorabentscheidungsersuchen zu entnehmen ist, erscheint dem vorlegenden Gericht jedoch auch diese in der Richtlinie 2006/126 vorgesehene Mindestsehschärfe von 0,1 zu hoch. 64 Bei der Festlegung dieser von der Richtlinie 2006/126 geforderten Mindestsehschärfe verfügt der Unionsgesetzgeber jedoch über ein weites Ermessen im Hinblick auf komplexe Fragen medizinischer Art wie derjenigen, welche Sehschärfe für das Führen von Kraftfahrzeugen erforderlich ist. In einem solchen Kontext darf der Unionsrichter nämlich nicht seine Beurteilung der tatsächlichen Umstände wissenschaftlicher und technischer Art an die Stelle derjenigen des Unionsgesetzgebers setzen, dem allein die Gründungsverträge diese Aufgabe anvertraut haben (vgl. zum letztgenannten Punkt u. a. Urteil Afton Chemical, EU:C:2010:419, Rn. 28). 65 Im Übrigen weist die Arbeitsgruppe „Eyesight“ in ihrem Bericht darauf hin, dass es an wissenschaftlichen Studien zu mehreren Gesichtspunkten des Sehvermögens von Kraftfahrzeugführern fehle. Auch insoweit ist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, nach der der Unionsgesetzgeber bei Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit Schutzmaßnahmen treffen kann, ohne abwarten zu müssen, bis das Vorliegen und die Schwere dieser Risiken in vollem Umfang nachgewiesen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Vereinigtes Königreich/Kommission, C‑180/96, EU:C:1998:192, Rn. 99, Kommission/Dänemark, C‑192/01, EU:C:2003:492, Rn. 49, und Gowan Comércio Internacional e Serviços, C‑77/09, EU:C:2010:803, Rn. 73). 66 Aufgrund der engen Verbindung zwischen der Sicherheit im Straßenverkehr und dem Schutz der Gesundheit der Straßenbenutzer darf der Unionsgesetzgeber bei einer Anpassung der Mindestanforderungen im Bereich der Sehschärfe an den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt gemäß Art. 8 der Richtlinie 2006/126 bei wissenschaftlichen Ungewissheiten Erwägungen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit den Vorzug einräumen. Dass der Unionsgesetzgeber in dem Bemühen, die Sicherheit im Straßenverkehr nicht zu beeinträchtigen, entschieden hat, nicht auf alle Anforderungen an die Mindestsehschärfe des schlechteren Auges von Fahrzeugführern der Gruppe 2 im Sinne von Anhang III dieser Richtlinie zu verzichten, kann nicht dazu führen, dass diese Anpassung unverhältnismäßig wird. 67 Das vorlegende Gericht weist schließlich darauf hin, dass der Umstand, dass Herrn Glatzel die beantragte Fahrerlaubnis versagt worden sei, eine Diskriminierung im Sinne von Art. 2 des VN-Übereinkommens darstellen könne. Dem Wortlaut dieses Artikels („Begriffsbestimmungen“) lasse sich nämlich entnehmen, dass die Diskriminierung aufgrund von Behinderung alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Vorenthaltung angemessener Vorkehrungen, erfasse. 68 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Union das VN-Übereinkommen mit dem Beschluss 2010/48 genehmigt hat. Die Bestimmungen dieses Übereinkommens bilden folglich seit dessen Inkrafttreten einen integrierenden Bestandteil der Unionsrechtsordnung (vgl. Urteile Haegeman, 181/73, EU:C:1974:41, Rn. 5, und Z., EU:C:2014:159, Rn. 73). Darüber hinaus ergibt sich aus der Anlage zu Anhang II des Beschlusses 2010/48, dass im Bereich der persönlichen Mobilität die Richtlinie 2006/126 zu den Rechtsakten der Union gehört, die Angelegenheiten betreffen, die von diesem Übereinkommen erfasst werden. 69 Da allerdings die Erfüllung und die Wirkungen der Bestimmungen des VN-Übereinkommens nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs vom Erlass weiterer Rechtsakte durch die Vertragsstaaten abhängen, sind die Bestimmungen dieses Übereinkommens nicht inhaltlich unbedingt und hinreichend genau, um die Gültigkeit des Rechtsakts der Union anhand der Bestimmungen dieses Übereinkommens beurteilen zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil Z., EU:C:2014:159, Rn. 89 und 90). 70 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gebietet es jedoch der Vorrang der von der Union geschlossenen völkerrechtlichen Verträge vor den Bestimmungen des abgeleiteten Rechts, diese Bestimmungen nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesen Verträgen auszulegen (vgl. u. a. Urteile Kommission/Deutschland, C‑61/94, EU:C:1996:313, Rn. 52, HK Dänemark, EU:C:2013:222, Rn. 29, und Z., EU:C:2014:159, Rn. 72). 71 In Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 wird in eindeutiger Weise festgelegt, dass Fahrer von Kraftfahrzeugen der Klassen C1 und C1E eine Sehschärfe von mindestens 0,1 auf dem schlechteren Auge haben müssen. Unter diesen Umständen lässt sich diese Bestimmung des abgeleiteten Rechts nicht in einer Weise auslegen, dass von der eindeutigen Norm, mit der dieser Mindestwert festgelegt wird, abgewichen wird. 72 Aus den vorangehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er bei Erlass der Bestimmung, deren Gültigkeit in Frage gestellt wird, die Erfordernisse der Sicherheit im Straßenverkehr gegen das Recht der von einer Sehbehinderung betroffenen Personen auf Nichtdiskriminierung in einer Weise abgewogen hat, bei der nicht angenommen werden kann, dass sie außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen steht. 73 Nach alledem ist festzustellen, dass die Prüfung der vorgelegten Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 im Hinblick auf Art. 21 Abs. 1 der Charta beeinträchtigen könnte. Zu der in Art. 26 der Charta verankerten Integration von Menschen mit Behinderung 74 Wie sich aus Art. 52 Abs. 5 und 7 der Charta und den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17), die sich auf Art. 26 und Art. 52 Abs. 5 der Charta beziehen, ergibt, kann Art. 26 der Charta vor Gericht bei der Auslegung und bei Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit von Akten der Gesetzgebung der Union herangezogen werden, in denen der in diesem Artikel enthaltene Grundsatz, d. h. die Integration von Menschen mit Behinderung, festgelegt ist. 75 Zur Durchführung dieses Grundsatzes durch die Richtlinie 2006/126 folgt aus dem Wortlaut des 14. Erwägungsgrundes der Richtlinie, dass „besondere Bestimmungen erlassen werden [sollten], um Körperbehinderten den Zugang zum Führen von Kraftfahrzeugen zu erleichtern“. Ferner spielt Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie auf die Bedingungen an, unter denen Fahrern mit einer körperlichen Behinderung eine Fahrerlaubnis erteilt wird, insbesondere was die Erlaubnis zum Führen angepasster Fahrzeuge betrifft. 76 Da die Richtlinie 2006/126 einen Akt der Gesetzgebung der Union darstellt, mit dem der in Art. 26 der Charta enthaltene Grundsatz durchgeführt wird, findet diese letztgenannte Bestimmung auf das Ausgangsverfahren Anwendung. 77 Darüber hinaus hält sich der Unionsgesetzgeber nach Art. 51 Abs. 1 Satz 2 der Charta an die Grundsätze und fördert deren Anwendung. Zum Grundsatz der Integration von Menschen mit Behinderung proklamiert Art. 26 der Charta, dass die Union den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft anerkennt und achtet. 78 Obwohl Art. 26 der Charta demnach verlangt, dass die Union den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Integration anerkennt und achtet, führt der in diesem Artikel niedergelegte Grundsatz jedoch nicht dazu, dass der Unionsgesetzgeber diese oder jene besondere Maßnahme erlassen müsste. Damit dieser Artikel seine volle Wirksamkeit entfaltet, muss er nämlich durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden. Er kann für sich allein dem Einzelnen kein subjektives Recht verleihen, das als solches geltend gemacht werden kann (vgl. in diesem Sinne zu Art. 27 der Charta Urteil Association de médiation sociale, C‑176/12, EU:C:2014:2, Rn. 45 und 47). 79 Nach alledem ist festzustellen, dass die Prüfung der Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 im Hinblick auf Art. 26 der Charta beeinträchtigen könnte. Zu der in Art. 20 der Charta verankerten Gleichheit vor dem Gesetz 80 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass für Fahrzeugführer der Gruppe 1 im Sinne des Anhangs III der Richtlinie 2006/126, die die Anforderungen insbesondere an die Sehschärfe nicht erfüllten, gleichwohl „in Ausnahmefällen“ eine Erteilung der Fahrerlaubnis in Betracht gezogen werden dürfe, wenn der Fahrzeugführer sich einer Einzelprüfung seiner Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs unterziehe. Der Umstand, dass eine solche Möglichkeit für Fahrzeugführer der Gruppe 2 im Sinne dieses Anhangs nicht bestehe, könne daher zu einer Ungleichbehandlung führen, die nicht in Einklang mit Art. 20 der Charta stehe. 81 Wie in Rn. 43 des vorliegenden Urteils festgestellt, soll dieser Artikel mit der Überschrift „Gleichheit vor dem Gesetz“ u. a. gewährleisten, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden. 82 Es ist daher zu prüfen, ob die Situation der Fahrzeugführer der Gruppe 1 im Sinne des Anhangs III der Richtlinie 2006/126 mit derjenigen der Fahrzeugführer der Gruppe 2 im Sinne dieses Anhangs vergleichbar ist. 83 Hierzu hat der Generalanwalt in Nr. 62 seiner Schlussanträge ausgeführt, dass der Unionsgesetzgeber darauf bedacht war, die Fahrzeugführer in Abhängigkeit von der Größe des Fahrzeugs, der Zahl der beförderten Personen und der Verantwortung, die sich damit aus dem Führen solcher Fahrzeuge ergibt, in zwei Kategorien einzuteilen. In der Tat rechtfertigen die Merkmale der betroffenen Fahrzeuge, wie die Größe, das Gewicht oder die Manövrierfähigkeit dieser Fahrzeuge, unterschiedliche Voraussetzungen für die Erteilung der Fahrerlaubnis, soweit sie das Führen dieser Fahrzeuge betreffen. Die Situationen der Führer solcher Fahrzeuge sind daher nicht miteinander vergleichbar. 84 Soweit sich diese Situationen nicht miteinander vergleichen lassen, verstößt deren unterschiedliche Behandlung nicht gegen das Recht der Fahrzeugführer der jeweiligen Gruppe auf die in Art. 20 der Charta niedergelegte „Gleichheit vor dem Gesetz“. 85 Da die Situation der Fahrzeugführer der Gruppe 1 nicht mit derjenigen der Fahrzeugführer der Gruppe 2 vergleichbar ist, steht Art. 20 der Charta Anhang III Nr. 6 der Richtlinie 2006/126 nicht entgegen, da diese Bestimmung die Erteilung einer Fahrerlaubnis an Fahrzeugführer der Gruppe 1 „in Ausnahmefällen“ ermöglicht, auch wenn sie nicht über eine Sehschärfe verfügen, die den in dieser Richtlinie für Fahrzeugführer dieser Gruppe vorgesehenen Anforderungen genügt, diese Möglichkeit den Fahrerzeugführern der Gruppe 2 aber versagt. 86 Nach alledem ist festzustellen, dass die Prüfung der Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126 im Hinblick auf Art. 20, Art. 21 Abs. 1 oder Art. 26 der Charta beeinträchtigen könnte. Kosten 87 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: Die Prüfung der Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Anhang III Nr. 6.4 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein in der durch die Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25. August 2009 geänderten Fassung im Hinblick auf Art. 20, Art. 21 Abs. 1 oder Art. 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beeinträchtigen könnte. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 8. Mai 2013.#Kreshnik Ymeraga u. a. gegen Ministre du Travail, de l’Emploi et de l’Immigration.#Vorabentscheidungsersuchen der Cour administrative (Luxemburg).#Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Aufenthaltsrecht der Angehörigen von Drittstaaten, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat – Grundrechte.#Rechtssache C‑87/12.
62012CJ0087
ECLI:EU:C:2013:291
2013-05-08T00:00:00
Mengozzi, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62012CJ0087 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 8. Mai 2013 (*1) „Unionsbürgerschaft — Art. 20 AEUV — Aufenthaltsrecht der Angehörigen von Drittstaaten, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, der von seinem Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat — Grundrechte“ In der Rechtssache C-87/12 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour administrative (Luxemburg) mit Entscheidung vom 16. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Februar 2012, in dem Verfahren Kreshnik Ymeraga, Kasim Ymeraga, Afijete Ymeraga-Tafarshiku, Kushtrim Ymeraga, Labinot Ymeraga gegen Ministre du Travail, de l’Emploi et de l’Immigration erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter G. Arestis, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev und J. L. da Cruz Vilaça, Generalanwalt: P. Mengozzi, Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Januar 2013, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Herrn Ymeraga u. a., vertreten durch O. Lang, avocat, — der luxemburgischen Regierung, vertreten durch C. Schiltz, P. Frantzen und L. Maniewski als Bevollmächtigte, — der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne und C. Pochet als Bevollmächtigte, — der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte, — der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten, — der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte, — der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar und B. Majczyna als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und C. Tufvesson als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV. 2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Kreshnik Ymeraga, seinen Eltern Kasim Ymeraga und Afijete Ymeraga-Tafarshiku (im Folgenden: Eheleute Ymeraga) und seinen beiden Brüdern Kushtrim und Labinot Ymeraga auf der einen und dem Ministre du Travail, de l’Emploi et de l’Immigration (Minister für Arbeit, Beschäftigung und Zuwanderung, im Folgenden: Minister) auf der anderen Seite wegen der Entscheidung des Ministers, mit der den Eheleuten Ymeraga sowie Kushtrim und Labinot Ymeraga ein Aufenthaltsrecht in Luxemburg verweigert und ihnen aufgegeben wurde, das luxemburgische Hoheitsgebiet zu verlassen. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Die Richtlinie 2003/86/EG 3 Art. 1 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12) bestimmt: „Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.“ 4 Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie sieht vor: „Diese Richtlinie findet auf die Familienangehörigen eines Unionsbürgers keine Anwendung.“ Die Richtlinie 2004/38/EG 5 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, und Berichtigung ABl. L 229, S. 35) bestimmt: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck 1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt; 2. ‚Familienangehöriger‘ … d) die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b), denen von diesen Unterhalt gewährt wird; 3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den der Unionsbürger sich begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit und sein Aufenthaltsrecht auszuüben.“ 6 Art. 3 („Berechtigte“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt: „(1)   Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von AA 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen. (2)   Unbeschadet eines etwaigen persönlichen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt der Betroffenen erleichtert der Aufnahmemitgliedstaat nach Maßgabe seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Einreise und den Aufenthalt der folgenden Personen: a) jedes nicht unter die Definition in Artikel 2 Nummer 2 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit, dem der primär aufenthaltsberechtigte Unionsbürger im Herkunftsland Unterhalt gewährt oder der mit ihm im Herkunftsland in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat, oder wenn schwerwiegende gesundheitliche Gründe die persönliche Pflege des Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich machen; … Der Aufnahmemitgliedstaat führt eine eingehende Untersuchung der persönlichen Umstände durch und begründet eine etwaige Verweigerung der Einreise oder des Aufenthalts dieser Personen.“ Luxemburgisches Recht 7 Die Loi du 29 août 2008 portant sur la libre circulation des personnes et l’immigration (Gesetz vom 29. August 2008 über die Freizügigkeit und die Zuwanderung, Mém. A 2008, S. 2024, im Folgenden: Freizügigkeitsgesetz) bezweckt die Umsetzung der Richtlinien 2003/86 und 2004/38 in die luxemburgische Rechtsordnung. 8 Art. 6 dieses Gesetzes bestimmt: „(1)   Der Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet für eine Dauer von mehr als drei Monaten aufzuhalten, wenn er eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt: 1. Er übt als Arbeitnehmer eine Erwerbstätigkeit aus oder geht einer selbständigen Erwerbstätigkeit nach; 2. er verfügt für sich und seine Familienangehörigen im Sinne von Art. 12 über ausreichende Mittel, so dass Leistungen des Sozialhilfesystems nicht in Anspruch genommen werden müssen, und über eine Krankenversicherung; 3. er ist bei einer im Großherzogtum Luxemburg anerkannten öffentlichen oder privaten Bildungseinrichtung gemäß den geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eingeschrieben, um als Hauptzweck eine Ausbildung oder in diesem Rahmen eine Berufsausbildung zu absolvieren, wobei gewährleistet sein muss, dass er über ausreichende Mittel für sich und seine Familienangehörigen verfügt, so dass Leistungen des Sozialhilfesystems nicht in Anspruch genommen werden müssen, und dass er über eine Krankenversicherung verfügt. (2)   Durch großherzogliche Verordnung werden die nach den Nrn. 2 und 3 des vorstehenden Abs. 1 erforderlichen Mittel und die Art ihres Nachweises im Einzelnen festgelegt. …“ 9 Art. 12 des Gesetzes bestimmt: „(1)   Als Familienangehörige gelten … d) die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchst. b, denen von diesen Unterhalt gewährt wird. (2)   Der Minister kann jedem weiteren nicht unter die Definition nach Abs. 1 fallenden Familienangehörigen ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit den Aufenthalt im Hoheitsgebiet erlauben, wenn er eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt: 1. im Herkunftsland wurde ihm vom primär aufenthaltsberechtigten Unionsbürger Unterhalt gewährt oder er lebte mit ihm in häuslicher Gemeinschaft; 2. schwerwiegende gesundheitliche Gründe machen die persönliche Pflege des betreffenden Familienangehörigen durch den Unionsbürger zwingend erforderlich. Der Antrag auf Einreise und Aufenthalt der Familienangehörigen im Sinne des vorstehenden Unterabsatzes unterliegt einer eingehenden Untersuchung ihrer persönlichen Umstände. …“ 10 Art. 103 dieses Gesetzes lautet: „Vor Erlass einer Entscheidung über die Verweigerung, den Entzug oder die Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels oder einer Entscheidung über die Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet gegenüber einem Drittstaatsangehörigen berücksichtigt der Minister u. a. die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im luxemburgischen Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Situation, seine soziale und kulturelle Integration in Luxemburg sowie die Stärke seiner Bindungen zu seinem Herkunftsland, es sei denn, seine Anwesenheit stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Gegenüber einem nicht von seinem gesetzlichen Vertreter begleiteten Minderjährigen darf keine Entscheidung über die Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet – außer wenn sie auf schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit gestützt wird – ergehen, es sei denn, die Ausweisung ist in seinem Interesse erforderlich.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 11 Die Kläger des Ausgangsverfahrens stammen alle aus dem Kosovo. Im Jahr 1999 kam Kreshnik Ymeraga im Alter von 15 Jahren nach Luxemburg, um bei seinem Onkel zu wohnen, der die luxemburgische Staatsangehörigkeit besitzt und sein gesetzlicher Vormund wurde. Nachdem der Asylantrag von Kreshnik Ymeraga von den luxemburgischen Behörden abgelehnt worden war, wurde seine Situation im Jahr 2001 aber legalisiert, und in der Folge nahm er seine Ausbildung auf und fand eine reguläre Beschäftigung. 12 Zwischen 2006 und 2008 reisten nacheinander die Eheleute Ymeraga und die beiden Brüder von Kreshnik Ymeraga nach Luxemburg ein. Bei ihrer Ankunft waren alle bis auf Labinot Ymeraga volljährig, der erst drei Wochen später volljährig wurde. Unmittelbar am Tag ihrer Ankunft stellten sie alle einen Antrag auf internationalen Schutz nach der Loi relative au droit d’asile et à des formes complémentaires de protection (Gesetz über das Asylrecht und ergänzende Schutzformen). 13 Nachdem ihre Anträge auf internationalen Schutz von den luxemburgischen Behörden abgelehnt worden waren, beantragten die Eheleute Ymeraga und die beiden Brüder von Kreshnik Ymeraga am 8. Mai 2008 eine Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung mit Letzterem. Dieser Antrag wurde am 9. August 2008 stillschweigend abgelehnt und die Ablehnung durch Urteil des Tribunal administratif vom 9. März 2010 bestätigt, gegen das jedoch keine Berufung eingelegt wurde. 14 Unterdessen hatte Kreshnik Ymeraga am 16. März 2009 die luxemburgische Staatsangehörigkeit erworben. Am 14. August jenes Jahres beantragten die Eheleute Ymeraga beim Minister eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers. 15 Am 17. Mai 2010 wiederholten die Eheleute Ymeraga ihren Antrag vom 14. August 2009 beim Minister und beantragten zugleich einen Aufenthaltstitel, hilfsweise eine Aufenthaltserlaubnis für die beiden Brüder von Kreshnik Ymeraga. 16 Mit drei Entscheidungen vom 12. Juli 2010 lehnte der Minister diese Anträge ab. Die gegen diese Entscheidungen gerichtete Klage wurde mit Urteil des Tribunal administratif vom 6. Juli 2011 ebenfalls abgewiesen. 17 In diesem Urteil wird ausgeführt, dass Kreshnik Ymeraga zwar finanziell zum Unterhalt der im Kosovo verbliebenen Familie beigetragen habe, jedoch nicht davon ausgegangen werden könne, dass er seinen Eltern im Sinne des Freizügigkeitsgesetzes „Unterhalt“ gewährt habe. Da Kreshnik Ymeraga den Kosovo 1999 verlassen habe, könne hinsichtlich seiner beiden Brüder trotz der für die Zeit vom 19. März 2006 bis 20. Februar 2007 nachgewiesenen finanziellen Unterstützung auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie mit ihm im Sinne dieses Gesetzes „in häuslicher Gemeinschaft“ gelebt hätten. 18 Das Tribunal administratif wies auch die Rüge eines Verstoßes gegen Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten mit der Begründung zurück, dass die in Bezug auf die Eltern und die beiden Brüder von Kreshnik Ymeraga ergangenen Aufenthaltsverweigerungen sie nicht daran hindern könnten, ihr familiäres Zusammenleben mit ihm so weiterzuführen, wie es vor dessen Abreise aus dem Kosovo und vor ihrer Einreise nach Luxemburg bestanden habe. 19 Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten gegen das Urteil des Tribunal administratif Berufung beim vorlegenden Gericht ein. Der Vollzug der Entscheidungen des Ministers über die Ausweisung ist bis zur Entscheidung über den Rechtsstreit in der Hauptsache ausgesetzt; hiervon ausgenommen war die Labinot Ymeraga betreffende Entscheidung, die vor der Aussetzung vollzogen worden war. 20 Die Cour administrative weist darauf hin, dass das Freizügigkeitsgesetz zwar die Richtlinien 2003/86 und 2004/38 umsetzen solle, diese Richtlinien aber nicht auf Kreshnik Ymeraga anwendbar seien. 21 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich daher die Frage, ob Art. 20 AEUV und möglicherweise bestimmte Vorschriften der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) den Familienangehörigen von Kreshnik Ymeraga ein Recht auf Familienzusammenführung in Luxemburg gewähren könnten. 22 Vor diesem Hintergrund hat die Cour administrative beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Inwieweit gewähren die Eigenschaft als Unionsbürger und das entsprechende Aufenthaltsrecht in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, wie sie in Art. 20 AEUV vorgesehen sind, in Verbindung mit den in der Charta vorgesehenen Rechten, Garantien und Pflichten, insbesondere und soweit erforderlich deren Art. 20, 21, 24, 33 und 34, ein Recht auf Familienzusammenführung für einen Zusammenführenden, der Unionsbürger ist und in seinem Wohnsitzland, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, die Familienzusammenführung mit seinem Vater, seiner Mutter und seinen beiden Brüdern, die alle Drittstaatsangehörige sind, betreibt, wenn der Zusammenführende weder von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat noch sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt? Zur Vorlagefrage 23 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Weigerung eines Mitgliedstaats entgegensteht, Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu gewähren, wenn diese Drittstaatsangehörigen dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchten, der Unionsbürger ist und sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält, aber nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Zu den Richtlinien 2003/86 und 2004/38 24 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinien 2003/86 und 2004/38 nicht auf die Kläger des Ausgangsverfahrens anwendbar sind. 25 Was erstens die Richtlinie 2003/86 betrifft, ist nach ihrem Art. 1 ihr Ziel die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten. 26 Nach ihrem Art. 3 Abs. 3 findet diese Richtlinie jedoch auf Familienangehörige eines Unionsbürgers keine Anwendung. 27 Da sich im Ausgangsrechtsstreit der Unionsbürger in einem Mitgliedstaat aufhält und seine einem Drittstaat angehörenden Familienangehörigen beabsichtigen, sich in diesem Mitgliedstaat im Rahmen einer Familienzusammenführung mit diesem Unionsbürger aufzuhalten, ist festzustellen, dass die Richtlinie 2003/86 auf die Kläger des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar ist, soweit es um die im Ausgangsverfahren gestellten Anträge geht. 28 Was zweitens die Richtlinie 2004/38 betrifft, so hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass sie die Ausübung des den Unionsbürgern unmittelbar aus dem Vertrag erwachsenden elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern soll und insbesondere bezweckt, dieses Recht zu stärken (vgl. Urteil vom 15. November 2011, Dereci u. a., C-256/11, Slg. 2011, I-11315, Randnr. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). 29 Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 gilt diese Richtlinie für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne des Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie, die ihn begleiten oder ihm nachziehen. 30 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass ein Unionsbürger, der nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, nicht unter den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fällt, so dass diese auf ihn nicht anwendbar ist (Urteile vom 5. Mai 2011, McCarthy, C-434/09, Slg. 2011, I-3375, Randnrn. 31 und 39, und Dereci u. a., Randnr. 54). 31 Wie er ferner festgestellt hat, fällt, wenn ein Unionsbürger nicht unter den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 fällt, auch sein Familienangehöriger nicht unter diesen Begriff, da die durch diese Richtlinie den Familienangehörigen eines nach ihr Berechtigten verliehenen Rechte keine eigenen Rechte dieser Angehörigen, sondern abgeleitete Rechte sind, die sie als Familienangehörige des Berechtigten erworben haben (vgl. Urteile McCarthy, Randnr. 42, und Dereci u. a., Randnr. 55). 32 Da im vorliegenden Fall der betreffende Unionsbürger nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich als Unionsbürger stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, fällt er nicht unter den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, so dass diese weder auf ihn noch auf seine Familienangehörigen anwendbar ist. 33 Folglich sind die Richtlinien 2003/86 und 2004/38 nicht auf Drittstaatsangehörige anwendbar, die ein Aufenthaltsrecht begehren, um zu einem Familienangehörigen zu ziehen, der Unionsbürger ist, aber nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (vgl. in diesem Sinne Urteil Dereci u. a., Randnr. 58). Zu Art. 20 AEUV 34 Zu Art. 20 AEUV ist festzustellen, dass die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft Drittstaatsangehörigen keine eigenständigen Rechte verleihen (Urteil vom 8. November 2012, Iida, C-40/11, Randnr. 66). 35 Die etwaigen Rechte, die die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft den Drittstaatsangehörigen verleihen, sind nämlich keine eigenen Rechte dieser Staatsangehörigen, sondern Rechte, die daraus abgeleitet werden, dass ein Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat. Der Zweck und die Rechtfertigung dieser abgeleiteten Rechte beruhen auf der Feststellung, dass ihre Nichtanerkennung den Unionsbürger in seiner Freizügigkeit beeinträchtigen könnte, weil ihn dies davon abhalten könnte, von seinem Recht Gebrauch zu machen, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten (Urteil Iida, Randnrn. 67 und 68). 36 Hierzu hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass es ganz besondere Fälle gibt, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, trotz der Tatsache, dass das für das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen geltende Sekundärrecht nicht anwendbar ist und der betreffende Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hat, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft des betroffenen Bürgers ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn sich dieser infolge einer solchen Verweigerung de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm dieser Status verleiht, verwehrt würde (vgl. Urteile Dereci u. a., Randnrn. 64, 66 und 67, und Iida, Randnr. 71). 37 Kennzeichnend für die genannten Fälle ist, dass sie zwar durch Rechtsvorschriften geregelt sind, die a priori in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, d. h. durch die Rechtsvorschriften über das Einreise- und Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen außerhalb des Anwendungsbereichs des Sekundärrechts, das unter bestimmten Voraussetzungen die Verleihung dieses Rechts vorsieht, aber in einem inneren Zusammenhang mit der Freizügigkeit eines Unionsbürgers stehen, die beeinträchtigt würde, wenn den Drittstaatsangehörigen das Recht verweigert würde, in den Mitgliedstaat, in dem dieser Bürger wohnt, einzureisen und sich dort aufzuhalten, und die daher dieser Verweigerung entgegensteht (vgl. in diesem Sinne Urteil Iida, Randnr. 72). 38 Der Gerichtshof hat insoweit auch entschieden, dass die bloße Tatsache, dass es für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, mit ihm zusammen im Gebiet der Union aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme rechtfertigt, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn kein Aufenthaltsrecht gewährt würde (Urteil Dereci u. a., Randnr. 68). 39 Im Ausgangsverfahren ist das Einzige, was es nach Ansicht des vorlegenden Gerichts rechtfertigte, den Familienangehörigen des betreffenden Unionsbürgers ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, der Wunsch von Kreshnik Ymeraga, in seinem Wohnsitzmitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, die Familienzusammenführung mit seinen Angehörigen zu betreiben, was nicht für die Annahme ausreicht, dass die Verweigerung dieses Aufenthaltsrechts zur Folge hat, Kreshnik Ymeraga den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, zu verwehren. 40 Zu den vom vorlegenden Gericht angeführten Grundrechten ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen der Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 1 für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gelten. Nach Art. 51 Abs. 2 der Charta dehnt diese den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben. Somit hat der Gerichtshof im Licht der Charta das Unionsrecht in den Grenzen der der Union übertragenen Zuständigkeiten zu prüfen (vgl. Urteil Dereci u. a., Randnr. 71, und Iida, Randnr. 78). 41 Um festzustellen, ob die Weigerung der luxemburgischen Behörden, den Familienangehörigen von Kreshnik Ymeraga ein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige eines Unionsbürgers zu gewähren, die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 der Charta betrifft, ist u. a. zu prüfen, ob mit der in Rede stehenden nationalen Regelung eine Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, welchen Charakter diese Regelung hat und ob mit ihr andere als die unter das Unionsrecht fallenden Ziele verfolgt werden, selbst wenn sie das Unionsrecht mittelbar beeinflussen kann, sowie ob es eine Regelung des Unionsrechts gibt, die für diesen Bereich spezifisch ist oder ihn beeinflussen kann (Urteile vom 18. Dezember 1997, Annibaldi, C-309/96, Slg. 1997, I-7493, Randnrn. 21 bis 23, und Iida, Randnr. 79). 42 Das Freizügigkeitsgesetz soll zwar das Unionsrecht umsetzen, die Situation der Kläger des Ausgangsverfahrens fällt aber nicht unter das Unionsrecht, da Kreshnik Ymeraga weder im Sinne der Richtlinie 2004/38 noch – hinsichtlich der im Ausgangsverfahren gestellten Anträge – im Sinne der Richtlinie 2003/86 als Berechtigter angesehen werden kann und die Weigerung, den Familienangehörigen von Kreshnik Ymeraga ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, nicht zur Folge hat, ihm den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, zu verwehren. 43 Unter diesen Umständen betrifft die Weigerung der luxemburgischen Behörden, den Familienangehörigen von Kreshnik Ymeraga ein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige eines Unionsbürgers zu gewähren, nicht die Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 der Charta, so dass die Vereinbarkeit dieser Weigerung mit den Grundrechten nicht anhand der durch die Charta begründeten Rechte geprüft werden kann. 44 Diese Feststellung greift nicht der Frage vor, ob gestützt auf eine Prüfung im Licht der Bestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, zu deren Vertragsparteien alle Mitgliedstaaten gehören, den im Rahmen des Ausgangsverfahrens betroffenen Drittstaatsangehörigen ein Recht auf Aufenthalt nicht verweigert werden kann. 45 Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Weigerung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, einem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu gewähren, wenn dieser Drittstaatsangehörige dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchte, der Bürger der Europäischen Union ist und sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält, aber nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sofern eine solche Weigerung nicht dazu führt, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird. Kosten 46 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Weigerung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, einem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet zu gewähren, wenn dieser Drittstaatsangehörige dort zusammen mit einem Familienangehörigen wohnen möchte, der Bürger der Europäischen Union ist und sich in diesem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, aufhält, aber nie von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, sofern eine solche Weigerung nicht dazu führt, dass dem betreffenden Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 6. Dezember 2012.#O. und S. gegen Maahanmuuttovirasto und Maahanmuuttovirasto gegen L.#Vorabentscheidungsersuchen des Korkein hallinto-oikeus.#Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Richtlinie 2003/86/EG – Recht auf Familienzusammenführung – Minderjährige Unionsbürger, die sich mit ihren Müttern, die Drittstaatsangehörige sind, in dem Mitgliedstaat aufhalten, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen – Daueraufenthaltsrecht der Mütter, denen das ausschließliche Sorgerecht für die Unionsbürger übertragen wurde, in diesem Mitgliedstaat – Neue Zusammensetzung der Familien nach einer erneuten Eheschließung der Mütter mit Drittstaatsangehörigen und der Geburt von Kindern, die aus diesen Ehen hervorgegangen und ebenfalls Drittstaatsangehörige sind – Antrag auf Familienzusammenführung im Herkunftsmitgliedstaat der Unionsbürger – Verweigerung des Aufenthaltsrechts der neuen Ehegatten mangels ausreichender Einkünfte – Recht auf Achtung des Familienlebens – Berücksichtigung des Kindeswohls.#Verbundene Rechtssachen C‑356/11 und C‑357/11.
62011CJ0356
ECLI:EU:C:2012:776
2012-12-06T00:00:00
Gerichtshof, Bot
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62011CJ0356 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 6. Dezember 2012 (*1) „Unionsbürgerschaft — Art. 20 AEUV — Richtlinie 2003/86/EG — Recht auf Familienzusammenführung — Minderjährige Unionsbürger, die sich mit ihren Müttern, die Drittstaatsangehörige sind, in dem Mitgliedstaat aufhalten, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen — Daueraufenthaltsrecht der Mütter, denen das ausschließliche Sorgerecht für die Unionsbürger übertragen wurde, in diesem Mitgliedstaat — Neue Zusammensetzung der Familien nach einer erneuten Eheschließung der Mütter mit Drittstaatsangehörigen und der Geburt von Kindern, die aus diesen Ehen hervorgegangen und ebenfalls Drittstaatsangehörige sind — Antrag auf Familienzusammenführung im Herkunftsmitgliedstaat der Unionsbürger — Verweigerung des Aufenthaltsrechts der neuen Ehegatten mangels ausreichender Einkünfte — Recht auf Achtung des Familienlebens — Berücksichtigung des Kindeswohls“ In den verbundenen Rechtssachen C-356/11 und C-357/11 betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Finnland) mit Entscheidungen vom 5. Juli 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juli 2011, in den Verfahren O., S. gegen Maahanmuuttovirasto (C-356/11) und Maahanmuuttovirasto gegen L. (C-357/11) erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung des Richters A. Rosas in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Zweiten Kammer sowie der Richter U. Lõhmus, A. Ó Caoimh (Berichterstatter), A. Arabadjiev und C. G. Fernlund, Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2012, unter Berücksichtigung der Erklärungen — von Frau L., vertreten durch J. Streng, asianajaja, — der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten, — der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen und C. Vang als Bevollmächtigte, — der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und A. Wiedmann als Bevollmächtigte, — der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato, — der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte, — der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten, — der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und E. Paasivirta als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. September 2012 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 AEUV. 2 Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zum einen zwischen Herrn O. und Frau S., die beide Drittstaatsangehörige sind, und der Maahanmuuttovirasto (Einwanderungsbehörde) (Rechtssache C-356/11) und zum anderen zwischen der Maahanmuuttovirasto und Frau L., die ebenfalls Drittstaatsangehörige ist (Rechtssache C-357/11), über die Ablehnung der Anträge der Betroffenen auf Erteilung von Aufenthaltstiteln auf der Grundlage der Familienzusammenführung. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2003/86/EG 3 In den Erwägungsgründen 2, 4, 6 und 9 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12) heißt es: „(2) Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] anerkannt wurden. … (4) Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der [Europäischen] Gemeinschaft im [EG-]Vertrag aufgeführt wird. … (6) Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens sollten die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden. … (9) Die Familienzusammenführung sollte auf jeden Fall für die Mitglieder der Kernfamilie, d. h. den Ehegatten und die minderjährigen Kinder gelten.“ 4 Wie sich aus ihrem Art. 1 ergibt, ist Ziel dieser Richtlinie „die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten“. 5 In Art. 2 der Richtlinie heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck a) ‚Drittstaatsangehöriger‘ jede Person, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel 17 Absatz 1 des Vertrags ist; … c) ‚Zusammenführender‘ den sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen; d) ‚Familienzusammenführung‘ die Einreise und den Aufenthalt von Familienangehörigen eines sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat, mit dem Ziel, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden entstanden sind.“ 6 Art. 3 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2003/86 sieht vor: „(1)   Diese Richtlinie findet Anwendung, wenn der Zusammenführende im Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeit ist, begründete Aussicht darauf hat, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen, und seine Familienangehörigen Drittstaatsangehörige sind, wobei ihre Rechtsstellung unerheblich ist. … (3)   Diese Richtlinie findet auf die Familienangehörigen eines Unionsbürgers keine Anwendung.“ 7 Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt: „Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt: a) dem Ehegatten des Zusammenführenden; b) den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden und seines Ehegatten … c) den minderjährigen Kindern … des Zusammenführenden, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt. … d) den minderjährigen Kindern … des Ehegatten, wenn der Ehegatte das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt.“ 8 Bei der Prüfung des Antrags auf Einreise und Aufenthalt müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie dafür Sorge tragen, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird. 9 Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 sieht vor: „Bei Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung kann der betreffende Mitgliedstaat vom Antragsteller den Nachweis verlangen, dass der Zusammenführende über Folgendes verfügt: … c) feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreich[en]. Die Mitgliedstaaten beurteilen diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit und können die Höhe der Mindestlöhne und -renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen.“ 10 Art. 17 dieser Richtlinie lautet: „Im Fall der Ablehnung eines Antrags, dem Entzug oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“ Richtlinie 2004/38/EG 11 In Art. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. L 229, S. 35) heißt es: „Diese Richtlinie regelt a) die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen; b) das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten; …“ 12 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck 1. ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt; 2. ‚Familienangehöriger‘ a) den Ehegatten, … c) die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten …, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird; d) die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten …, denen von diesen Unterhalt gewährt wird; 3. ‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“ 13 Art. 3 („Berechtigte“) dieser Richtlinie sieht in seinem Abs. 1 vor: „Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“ Finnisches Recht 14 § 37 Abs. 1 des Ausländergesetzes (Ulkomaalaislaki) bestimmt: „Im Sinne dieses Gesetzes gelten als Familienangehöriger der Ehegatte einer in Finnland ansässigen Person und ein unverheiratetes Kind, das noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat und für das die in Finnland ansässige Person oder deren Ehegatte sorgeberechtigt ist. Ist die in Finnland ansässige Person ein minderjähriges Kind, ist sein Sorgeberechtigter Familienangehöriger …“ 15 In § 39 Abs. 1 dieses Gesetzes heißt es: „Die Ausstellung eines Aufenthaltstitels setzt voraus, dass der Lebensunterhalt des Ausländers gesichert ist, wenn nicht in diesem Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Im Einzelfall kann von der Voraussetzung des gesicherten Lebensunterhalts abgesehen werden, wenn hierfür ein außerordentlich schwerwiegender Grund besteht oder das Wohl des Kindes dies erfordert …“ 16 In § 47 Abs. 3 dieses Gesetzes heißt es: „Ist einem Ausländer ein Aufenthaltstitel für einen ununterbrochenen Aufenthalt oder ein unbefristeter Aufenthaltstitel ausgestellt worden, wird seinen Familienangehörigen ein Aufenthaltstitel für einen ununterbrochenen Aufenthalt ausgestellt.“ 17 § 66a des Ausländergesetzes sieht vor: „Wird ein Aufenthaltstitel aufgrund familiärer Bindungen beantragt, sind bei der Prüfung, ob der Antrag abzulehnen ist, die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts im Inland sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland zu berücksichtigen …“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen Rechtssache C-356/11 18 Frau S., eine ghanaische Staatsangehörige, die sich aufgrund eines unbefristeten Aufenthaltstitels in Finnland aufhält, heiratete am 4. Juli 2001 einen finnischen Staatsangehörigen, mit dem sie ein am 11. Juli 2003 geborenes Kind hat. Das Kind besitzt die finnische Staatsangehörigkeit und hat sich immer in Finnland aufgehalten. Frau S. erhielt ab 2. Juni 2005 das alleinige Sorgerecht für das Kind. Die Ehegatten wurden am 19. Oktober 2005 geschieden. Der Vater des Kindes lebt in Finnland. 19 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Frau S. während ihres Aufenthalts in Finnland Bildungseinrichtungen besucht, Mutterschaftsurlaub genommen, einen Beruf erlernt und eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat. 20 Am 26. Juni 2008 heiratete Frau S. Herrn O., einen ivorischen Staatsangehörigen. Am 3. Juli 2008 beantragte dieser bei der Maahanmuuttovirasto auf der Grundlage dieser Ehe einen Aufenthaltstitel. Aus der Ehe ist ein am 21. November 2009 in Finnland geborenes Kind hervorgegangen, das die ghanaische Staatsangehörigkeit besitzt und für das die Eltern das Sorgerecht gemeinsam ausüben. Herr O. lebt mit Frau S. und ihren beiden Kindern zusammen. 21 Der Vorlageentscheidung zufolge unterschrieb Herr O. am 1. Januar 2010 einen Arbeitsvertrag für ein Jahr, der eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden und ein Arbeitsentgelt von 7,50 Euro in der Stunde vorsah. Er hat jedoch keine Nachweise dafür vorgelegt, dass er tatsächlich auf der Grundlage dieses Arbeitsvertrags gearbeitet hat. 22 Mit Entscheidung vom 21. Januar 2009 lehnte die Maahanmuuttovirasto den bei ihr gestellten Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ab, da Herr O. nicht über ausreichende Einkünfte verfüge. Außerdem sah sie im vorliegenden Fall keinen Grund, von der Voraussetzung des gesicherten Lebensunterhalts abzusehen, wie es § 39 Abs. 1 des Ausländergesetzes erlaubt, wenn ein außerordentlich schwerwiegender Grund besteht oder das Wohl des Kindes es erfordert. 23 Mit Urteil vom 27. August 2009 wies das Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki) die von Herrn O. eingereichte Klage auf Aufhebung dieser Entscheidung ab. 24 Herr O. und Frau S. legten gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht) ein. Rechtssache C-357/11 25 Frau L., eine algerische Staatsangehörige, hält sich seit 2003 rechtmäßig in Finnland auf. Sie erhielt dort infolge ihrer Ehe mit einem finnischen Staatsangehörigen einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Aus dieser Ehe ist 2004 ein Kind hervorgegangen, das die finnische und die algerische Staatsangehörigkeit besitzt und sich immer in Finnland aufgehalten hat. Die Ehegatten wurden am 10. Dezember 2004 geschieden, und Frau L. erhielt das alleinige Sorgerecht für das Kind. Der Vater des Kindes lebt in Finnland. 26 Am 19. Oktober 2006 heiratete Frau L. Herrn M., einen algerischen Staatsangehörigen, der im März 2006 rechtmäßig nach Finnland eingereist war, wo er politisches Asyl beantragt und nach eigenen Angaben seit April 2006 mit Frau L. zusammengelebt hatte. Im Oktober 2006 wurde er in sein Herkunftsland abgeschoben. 27 Am 29. November 2006 beantragte Frau L. bei der Maahanmuuttovirasto, ihrem Ehegatten auf der Grundlage ihrer Ehe einen Aufenthaltstitel für Finnland zu erteilen. 28 Am 14. Januar 2007 ging aus dieser Ehe ein in Finnland geborenes Kind hervor, das die algerische Staatsangehörigkeit besitzt und für das die Eltern gemeinsam sorgeberechtigt sind. Es ist nicht bekannt, ob Herr M. sein Kind getroffen hat. 29 Der Vorlageentscheidung zufolge hat Frau L. während ihres Aufenthalts in Finnland keine Erwerbstätigkeit ausgeübt. Sie bestreitet ihren Lebensunterhalt mit Sozialhilfe und anderen Leistungen. Es ist nicht bekannt, dass ihr Ehegatte in Finnland eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hätte, auch wenn er erklärt hat, er sei überzeugt, aufgrund seiner Sprachkenntnisse in Finnland arbeiten zu können. 30 Mit Entscheidung vom 15. August 2008 lehnte die Maahanmuuttovirasto den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für Herrn M. mit der Begründung ab, dass sein Lebensunterhalt nicht gesichert sei. 31 Das Helsingin hallinto-oikeus gab der Klage von Frau L. auf Aufhebung dieser Entscheidung mit Urteil vom 21. April 2009 statt. Daraufhin legte die Maahanmuuttovirasto beim vorlegenden Gericht ein Rechtsmittel gegen dieses Urteil ein. 32 In seinen Vorabentscheidungsersuchen führt das Korkein hallinto-oikeus aus, dass, da Herrn O. und Herrn M. die Erteilung von Aufenthaltstiteln verweigert worden sei, ihre Ehefrauen und die Kinder, für die diese das Sorgerecht ausübten, also auch diejenigen, die die Unionsbürgerschaft besäßen, möglicherweise gezwungen seien, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen, um als Familie zusammenleben zu können. In diesem Zusammenhang stellt sich das Korkein hallinto-oikeus die Frage nach der Anwendbarkeit der Grundsätze, die der Gerichtshof im Urteil vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano (C-34/09, Slg. 2011, I-1177), aufgestellt hat. 33 Daher hat das Korkein hallinto-oikeus das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: Rechtssache C-356/11 1. Verstößt es gegen Art. 20 AEUV, einem Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel mangels gesicherten Lebensunterhalts zu verweigern, wenn sich die Familienverhältnisse so darstellen, dass sein Ehegatte das Sorgerecht für ein Kind hat, das die Unionsbürgerschaft besitzt, und der Drittstaatsangehörige weder der leibliche Vater noch Sorgeberechtigter dieses Kindes ist? 2. Wenn die erste Frage zu verneinen ist: Ist die Wirkung von Art. 20 AEUV anders zu beurteilen, wenn der Drittstaatsangehörige, der keinen Aufenthaltstitel besitzt, sein Ehegatte und das Kind, für das der Ehegatte das Sorgerecht hat und das die Unionsbürgerschaft besitzt, zusammenleben? Rechtssache C-357/11 1. Verstößt es gegen Art. 20 AEUV, einem Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel mangels gesicherten Lebensunterhalts zu verweigern, wenn sich die Familienverhältnisse so darstellen, dass sein Ehegatte das Sorgerecht für ein Kind hat, das die Unionsbürgerschaft besitzt, und der Drittstaatsangehörige weder der leibliche Vater noch Sorgeberechtigter dieses Kindes ist und auch nicht mit seinem Ehegatten oder dem betreffenden Kind zusammenlebt? 2. Wenn die erste Frage zu verneinen ist: Ist die Wirkung von Art. 20 AEUV anders zu beurteilen, wenn der Drittstaatsangehörige, der keinen Aufenthaltstitel besitzt und nicht in Finnland lebt, und sein Ehegatte ein gemeinsames Kind haben, für das sie gemeinsam das Sorgerecht ausüben, das in Finnland lebt und das Drittstaatsangehöriger ist? 34 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. September 2011 sind die Vorabentscheidungsersuchen in den Rechtssachen C-356/11 und C-357/11 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Dem Antrag des vorlegenden Gerichts, diese beiden Rechtssachen dem beschleunigten Verfahren nach Art. 23a der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 104a Abs. 1 seiner Verfahrensordnung in ihrer zum damaligen Zeitpunkt geltenden Fassung zu unterwerfen, ist nicht stattgegeben worden. Zu den Vorlagefragen 35 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Vorschriften des Unionsrechts über die Unionsbürgerschaft dahin auszulegen sind, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, einem Drittstaatsangehörigen die Erteilung eines auf der Grundlage der Familienzusammenführung beantragten Aufenthaltstitels zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige beabsichtigt, mit seiner Ehegattin, die ebenfalls Drittstaatsangehörige ist, sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält und Mutter eines Kindes aus einer ersten Ehe ist, das die Unionsbürgerschaft besitzt, und dem aus der Ehe des Drittstaatsangehörigen und seiner Ehegattin hervorgegangenen Kind, das ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist, zusammenzuleben. 36 In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich der Umstand, dass derjenige, der den Aufenthaltstitel beantragt, mit seiner Ehegattin in einem gemeinsamen Haushalt lebt, nicht der leibliche Vater des Kindes ist, das die Unionsbürgerschaft besitzt, und nicht das Sorgerecht für dieses Kind hat, darauf auswirken kann, wie die Vorschriften über die Unionsbürgerschaft auszulegen sind. 37 Die finnische, die dänische, die deutsche, die italienische, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission sind der Ansicht, dass Art. 20 AEUV es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen, der sich in einer Situation wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden befindet, das Aufenthaltsrecht zu verweigern. 38 Sie machen im Wesentlichen geltend, dass sich die Grundsätze, die der Gerichtshof im Urteil Ruiz Zambrano aufgestellt habe, auf ganz außergewöhnliche Fallkonstellationen bezögen, in denen die Anwendung einer innerstaatlichen Maßnahme zur Verwehrung des tatsächlichen Genusses des Kernbestands der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte führen würde. Die Sachverhalte in den vorliegenden Ausgangsverfahren unterschieden sich jedoch erheblich von dem Sachverhalt in der Rechtssache Ruiz Zambrano. Herr O. und Herr M. seien nämlich nicht die leiblichen Väter der minderjährigen Kinder, die die Unionsbürgerschaft besäßen und von denen sie ihren Anspruch auf einen Aufenthaltstitel abzuleiten versuchten. Sie übten nicht das Sorgerecht für diese Kinder aus. Da außerdem die Mütter dieser Kinder selbst über ein Daueraufenthaltsrecht in Finnland verfügten, seien ihre Kinder, die die Unionsbürgerschaft besäßen, anders als die Kinder in der Rechtssache, in der das Urteil Ruiz Zambrano ergangen sei, nicht gezwungen, das Gebiet der Union zu verlassen. Sollten sich die Mütter dieser Unionsbürger dafür entscheiden, das Gebiet der Union zu verlassen, um die Familiengemeinschaft zu erhalten, wäre dies keine unausweichliche Folge der Weigerung, ihren Ehegatten ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. 39 Die deutsche und die italienische Regierung weisen u. a. darauf hin, dass Herr O. und Herr M. nicht zur Kernfamilie der betroffenen Unionsbürger gehörten, da sie weder die leiblichen Väter dieser Kinder seien noch für deren Unterhalt aufkämen. 40 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass – unabhängig davon, wer nach Maßgabe der Bestimmungen des nationalen Rechts in den Ausgangsverfahren Antragsteller ist – aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, klar hervorgeht, dass in den Herrn O. und Herrn M. betreffenden, auf der Grundlage der Familienzusammenführung gestellten Anträgen auf Erteilung von Aufenthaltstiteln Frau S. und Frau L., die sich rechtmäßig in Finnland aufhalten, als Zusammenführende bezeichnet sind, d. h. als Personen, in Bezug auf die die Zusammenführung beantragt wurde. Zu den Vorschriften des Unionsrechts über die Unionsbürgerschaft 41 Was zunächst die Richtlinie 2004/38 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich aus dieser nicht für alle Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, das Recht ergibt, in einen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, sondern nur für diejenigen, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, der sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hat (Urteile vom 25. Juli 2008, Metock u. a., C-127/08, Slg. 2008, I-6241, Randnr. 73, und vom 15. November 2011, Dereci u. a., C-256/11, Slg. 2011, I-11315, Randnr. 56). 42 Da im vorliegenden Fall die betreffenden Unionsbürger, die beide minderjährige Kinder sind, nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht und sich stets in dem Mitgliedstaat aufgehalten haben, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, fallen sie nicht unter den Begriff „Berechtigter“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, so dass diese weder auf sie noch auf ihre Familienangehörigen anwendbar ist (Urteil Dereci u. a., Randnr. 57). 43 Was ferner Art. 20 AEUV anbelangt, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Lage eines Unionsbürgers, der – wie im Ausgangsverfahren die Kinder, die die finnische Staatsangehörigkeit besitzen – vom Recht auf Freizügigkeit keinen Gebrauch gemacht hat, nicht allein aus diesem Grund einer rein internen Situation gleichgestellt werden kann, d. h. einer Situation, die keine Anknüpfungspunkte an eine der vom Unionsrecht erfassten Situationen aufweist (vgl. Urteile Ruiz Zambrano, vom 5. Mai 2011, McCarthy, C-434/09, Slg. 2011, I-3375, Randnr. 46, und Dereci u. a., Randnr. 61). 44 Da der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, genießen die Kinder von Frau S. und Frau L. aus erster Ehe als Staatsangehörige eines Mitgliedstaats nämlich den Unionsbürgerstatus gemäß Art. 20 Abs. 1 AEUV und können sich daher auch gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, auf die mit diesem Status verbundenen Rechte berufen (vgl. Urteile McCarthy, Randnr. 48, und Dereci u. a., Randnr. 63). 45 Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen, d. h. auch Entscheidungen, mit denen Familienangehörigen eines Unionsbürgers der Aufenthalt verweigert wird, entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird (vgl. Urteil Ruiz Zambrano, Randnr. 42). 46 Was schließlich das Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen in dem Mitgliedstaat betrifft, in dem sich seine minderjährigen Kinder aufhalten, die diesem Mitgliedstaat angehören, denen er Unterhalt gewährt und für die er gemeinsam mit seiner Ehefrau das Sorgerecht ausübt, hätte die Aufenthaltsverweigerung nach Auffassung des Gerichtshofs zur Folge, dass sich diese Kinder, die Unionsbürger sind, gezwungen sähen, das Gebiet der Union zu verlassen, um ihre Eltern zu begleiten, und dass es diesen Unionsbürgern de facto unmöglich wäre, den Kernbestand der Rechte, die ihnen ihr Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen (vgl. Urteil Ruiz Zambrano, Randnrn. 43 und 44). 47 Das Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezog sich in den Rechtssachen, in denen die Urteile Ruiz Zambrano und Dereci u. a. ergangen sind, auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet waren, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sah, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehörte, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. 48 Diesem Kriterium kommt somit insofern ein ganz besonderer Charakter zu, als es Sachverhalte betrifft, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Staatsbürgers eines Mitgliedstaats ist, ein Aufenthaltsrecht ausnahmsweise nicht verweigert werden darf, da sonst die Unionsbürgerschaft der letztgenannten Person ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt würde (Urteil Dereci u. a., Randnr. 67). 49 Im vorliegenden Fall ist es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob den betroffenen Unionsbürgern unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren durch die Ablehnung der auf der Grundlage der Familienzusammenführung gestellten Aufenthaltsanträge der Kernbestand der Rechte, die ihnen der Unionsbürgerstatus verleiht, verwehrt wird. 50 Bei dieser Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass die Mütter der Unionsbürger über unbefristete Aufenthaltstitel in dem betreffenden Mitgliedstaat verfügen, so dass weder für sie noch für die Unionsbürger, denen sie Unterhalt gewähren, eine rechtliche Verpflichtung besteht, das Gebiet dieses Mitgliedstaats und das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. 51 Für die Prüfung, ob es den betroffenen Unionsbürgern de facto unmöglich wäre, den Kernbestand der Rechte, die ihnen ihr Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen, sind auch die Frage nach dem Sorgerecht für die Kinder der Zusammenführenden und der Umstand, dass diese Kinder Patchworkfamilien angehören, von Bedeutung. Da Frau S. und Frau L. das alleinige Sorgerecht für die betroffenen minderjährigen Unionsbürger ausüben, hätte einerseits eine von ihnen getroffene Entscheidung, mit dem Ziel, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten, das Gebiet des Mitgliedstaats zu verlassen, dem diese Kinder angehören, zur Folge, dass diesen Unionsbürgern jeglicher Kontakt zu ihren leiblichen Vätern – falls ein solcher Kontakt bisher bestanden hat – genommen würde. Andererseits würde eine Entscheidung, in diesem Mitgliedstaat zu bleiben, um die etwaige Beziehung der minderjährigen Unionsbürger zu ihren leiblichen Vätern zu erhalten, dazu führen, die Beziehung zwischen den anderen Kindern, die Drittstaatsangehörige sind, und deren leiblichen Vätern zu beeinträchtigen. 52 Insoweit rechtfertigt jedoch die bloße Tatsache, dass es aus wirtschaftlichen Gründen oder zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union wünschenswert erscheinen könnte, dass sich Angehörige einer Familie, die aus Drittstaatsangehörigen und einem minderjährigen Unionsbürger besteht, zusammen mit diesem im Gebiet der Union in dem Mitgliedstaat, dem der Unionsbürger angehört, aufhalten können, für sich genommen nicht die Annahme, dass der Unionsbürger gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, wenn ein solches Aufenthaltsrecht nicht gewährt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Dereci u. a., Randnr. 68). 53 Im Rahmen der in Randnr. 49 des vorliegenden Urteils genannten Beurteilung, die das vorlegende Gericht vorzunehmen hat, hat dieses nämlich alle Umstände des Einzelfalls zu prüfen, um festzustellen, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidungen, mit denen die Erteilung von Aufenthaltstiteln abgelehnt wurde, tatsächlich dazu führen können, die Unionsbürgerschaft der betroffenen Unionsbürger ihrer praktischen Wirksamkeit zu berauben. 54 Ob die Person, für die auf der Grundlage der Familienzusammenführung ein Aufenthaltsrecht beantragt wird, mit dem Zusammenführenden und den übrigen Familienangehörigen in einem Haushalt zusammenlebt, ist für diese Beurteilung nicht entscheidend, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass bestimmte Familienangehörige, für die die Zusammenführung beantragt wird, unabhängig vom Rest der Familie in den betreffenden Mitgliedstaat einreisen. 55 Entgegen dem Vorbringen der deutschen und der italienischen Regierung ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die im Urteil Ruiz Zambrano aufgestellten Grundsätze zwar nur unter außergewöhnlichen Umständen anwendbar sind, sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs jedoch nicht ergibt, dass ihre Anwendung auf Sachverhalte beschränkt wäre, in denen zwischen dem Drittstaatsangehörigen, für den ein Aufenthaltsrecht beantragt wird, und dem Unionsbürger, der ein minderjähriges Kind ist, eine biologische Beziehung besteht, aus der sich möglicherweise das Aufenthaltsrecht des Antragstellers ergäbe. 56 Dagegen sind sowohl das Daueraufenthaltsrecht der Mütter der betroffenen minderjährigen Unionsbürger als auch der Umstand, dass die Drittstaatsangehörigen, für die ein Aufenthaltsrecht beantragt wird, nicht die rechtliche, finanzielle oder affektive Sorge für diese Unionsbürger ausüben, bei der Prüfung zu berücksichtigen, ob die Verweigerung des Aufenthalts es diesen Unionsbürgern unmöglich macht, den Kernbestand der Rechte, die ihnen ihr Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen. Wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist es das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem minderjährigen Unionsbürger und dem Drittstaatsangehörigen, dem ein Aufenthaltsrecht verweigert wird, das die praktische Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft beeinträchtigen kann, da diese Abhängigkeit dazu führen würde, dass der Unionsbürger sich als Folge einer solchen Verweigerung de facto gezwungen sähe, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats zu verlassen, dessen Staatsangehöriger er ist, sondern auch das Gebiet der Union als Ganzes (vgl. Urteile Ruiz Zambrano, Randnrn. 43 und 45, und Dereci u. a., Randnrn. 65 bis 67). 57 Vorbehaltlich der Überprüfung, die das vorlegende Gericht vorzunehmen hat, scheint sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen zu ergeben, dass es in den Ausgangsverfahren an einer solchen Abhängigkeit fehlen könnte. 58 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist Art. 20 AEUV dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen die Erteilung eines auf der Grundlage der Familienzusammenführung beantragten Aufenthaltstitels zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige beabsichtigt, mit seiner Ehegattin, die ebenfalls Drittstaatsangehörige ist, sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält und Mutter eines Kindes aus einer ersten Ehe ist, das die Unionsbürgerschaft besitzt, und dem aus der Ehe des Drittstaatsangehörigen und seiner Ehegattin hervorgegangenen Kind, das ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist, zusammenzuleben, sofern eine solche Verweigerung nicht dazu führt, dass dem betroffenen Unionsbürger verwehrt wird, den Kernbestand der Rechte, die ihm sein Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. 59 Sollte das vorlegende Gericht zu der Ansicht gelangen, dass sich unter den in den bei ihm anhängigen Ausgangsverfahren gegebenen Umständen eine solche Verwehrung nicht aus den Entscheidungen ergibt, mit denen die Erteilung der dort in Rede stehenden Aufenthaltstitel abgelehnt wurden, bleibt noch offen, ob Herrn O. und Herrn M. auf anderen Grundlagen, insbesondere aufgrund des Rechts auf Schutz des Familienlebens, ein Aufenthaltsrecht nicht verweigert werden darf. Auf diese Frage ist im Rahmen der Bestimmungen über den Schutz der Grundrechte und nach Maßgabe ihrer jeweiligen Anwendbarkeit einzugehen (vgl. Urteil Dereci u. a., Randnr. 69). 60 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof nach seiner Rechtsprechung veranlasst sehen kann, Vorschriften des Unionsrechts zu berücksichtigen, auf die das vorlegende Gericht bei der Darlegung seiner Frage nicht Bezug genommen hat und die bei der Entscheidung des bei diesem anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können (vgl. u. a. Urteil vom 26. April 2007, Alevizos, C-392/05, Slg. 2007, I-3505, Randnr. 64). Zur Richtlinie 2003/86 61 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht in seinen Vorabentscheidungsersuchen auf die Richtlinie 2003/86 Bezug genommen, ohne jedoch eine Frage zu dieser Richtlinie zu stellen. 62 Ebenso haben die finnische, zum Teil die italienische, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission geltend gemacht, dass das Aufenthaltsrecht von Herrn O. und Herrn M. und die Situation ihrer Familien im Licht der Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 geprüft worden seien bzw. geprüft werden müssten. 63 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Ziel dieser Richtlinie gemäß ihrem Art. 1 die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige ist, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten. 64 Die in Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie enthaltene Definition der Familienangehörigen erfasst den Ehegatten des Zusammenführenden, die gemeinsamen Kinder des Zusammenführenden und seines Ehegatten sowie die minderjährigen Kinder des Zusammenführenden und die seines Ehegatten, wenn der Zusammenführende bzw. sein Ehegatte das Sorgerecht für seine Kinder besitzt und für deren Unterhalt aufkommt. 65 Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber den Kreis der Kernfamilie, auf die im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 Bezug genommen wird, weit gezogen hat. 66 Nach ihrem Art. 3 Abs. 3 findet diese Richtlinie jedoch auf die Familienangehörigen eines Unionsbürgers keine Anwendung. 67 In Randnr. 48 des Urteils Dereci u. a. hat der Gerichtshof entschieden, dass, da es im Rahmen der Ausgangsrechtsstreitigkeiten die Unionsbürger waren, die sich in einem Mitgliedstaat aufhielten, während ihre Familienangehörigen, die Drittstaatsangehörige waren, beabsichtigten, in diesen Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten, um die Familiengemeinschaft mit den Unionsbürgern aufrechtzuerhalten, die Richtlinie 2003/86 auf diese Drittstaatsangehörigen nicht anwendbar war. 68 Im Unterschied zu den Sachverhalten in den Rechtssachen, in denen das Urteil Dereci u. a. ergangen ist, sind Frau S. und Frau L. jedoch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten und die die Familienzusammenführung in Anspruch nehmen wollen. Sie sind daher als „Zusammenführende“ im Sinne des Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 anzusehen. Im Übrigen sind die gemeinsamen Kinder der Zusammenführenden und ihrer Ehegatten selbst Drittstaatsangehörige und genießen daher nicht den durch Art. 20 AEUV verliehenen Unionsbürgerstatus. 69 Unter Berücksichtigung des mit der Richtlinie 2003/86 verfolgten Ziels der Begünstigung der Familienzusammenführung (Urteil vom 4. März 2010, Chakroun, C-578/08, Slg. 2010, I-1839, Randnr. 43) und des Schutzes, der Drittstaatsangehörigen, insbesondere Minderjährigen, durch sie gewährt werden soll, kann ihre Anwendung nicht allein deshalb ausgeschlossen werden, weil ein Elternteil eines Minderjährigen, der Drittstaatsangehöriger ist, auch Elternteil eines aus einer ersten Ehe hervorgegangenen Unionsbürgers ist. 70 Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 gibt den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen. Er schreibt ihnen in den in dieser Richtlinie festgelegten Fällen vor, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei von ihrem Wertungsspielraum Gebrauch machen könnten (vgl. Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat, C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Randnr. 60). 71 Diese Bestimmung steht jedoch unter dem Vorbehalt der Einhaltung der u. a. in Kapitel IV der Richtlinie 2003/86 genannten Bedingungen. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie ist Teil dieser Bedingungen und gestattet den Mitgliedstaaten, den Nachweis zu verlangen, dass der Zusammenführende über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für seinen eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familienangehörigen ausreichen. In dieser Vorschrift heißt es weiter, dass die Mitgliedstaaten diese Einkünfte anhand ihrer Art und Regelmäßigkeit beurteilen und die Höhe der Mindestlöhne und -renten sowie die Anzahl der Familienangehörigen berücksichtigen können (Urteil Chakroun, Randnr. 42). 72 In Bezug auf Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Gegenstand der nach dieser Richtlinie geforderten Einzelfallprüfung der Anträge auf Familienzusammenführung grundsätzlich die Einkünfte des Zusammenführenden sind und nicht die Einkünfte des Drittstaatsangehörigen, für den auf der Grundlage der Familienzusammenführung ein Aufenthaltsrecht beantragt wird (vgl. Urteil Chakroun, Randnrn. 46 und 47). 73 Was diese Einkünfte anbelangt, erlaubt es die Wendung „Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen“ in Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 einem Mitgliedstaat außerdem nicht, einem Zusammenführenden die Familienzusammenführung zu verweigern, der nachweist, dass er über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um den Lebensunterhalt für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, jedoch wegen der Höhe seiner Einkünfte eine besondere Sozialhilfe zur Bestreitung besonderer, individuell bestimmter notwendiger Kosten des Lebensunterhalts oder einkommensunterstützende Maßnahmen in Anspruch nehmen kann (vgl. Urteil Chakroun, Randnr. 52). 74 Da die Genehmigung der Familienzusammenführung die Grundregel darstellt, hat der Gerichtshof ferner entschieden, dass die durch Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 verliehene Befugnis eng auszulegen ist. Der den Mitgliedstaaten eröffnete Handlungsspielraum darf daher von ihnen nicht in einer Weise genutzt werden, die das Ziel der Richtlinie und deren praktische Wirksamkeit beeinträchtigen würde (Urteil Chakroun, Randnr. 43). 75 Schließlich steht die Richtlinie 2003/86, wie sich aus ihrem zweiten Erwägungsgrund ergibt, im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die in der Charta niedergelegten Grundsätze. 76 In Art. 7 der Charta, der Rechte enthält, die den in Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, wird das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkannt. Diese Vorschrift der Charta ist zudem in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der Charta und unter Beachtung des in deren Art. 24 Abs. 3 niedergelegten Erfordernisses zu lesen, dass das Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu beiden Eltern unterhält (vgl. Urteile Parlament/Rat, Randnr. 58, und vom 23. Dezember 2009, Detiček, C-403/09 PPU, Slg. 2009, I-12193, Randnr. 54). 77 Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 darf nicht so ausgelegt und angewandt werden, dass damit gegen die in den genannten Bestimmungen der Charta niedergelegten Grundrechte verstoßen wird. 78 Die Mitgliedstaaten haben nämlich nicht nur ihr nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten kollidiert (vgl. Urteile Parlament/Rat, Randnr. 105, und Detiček, Randnr. 34). 79 Zwar lassen sich die Art. 7 und 24 der Charta, die die Bedeutung des Familienlebens für Kinder unterstreichen, nicht dahin auslegen, dass den Mitgliedstaaten der Ermessensspielraum genommen würde, über den sie bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil Parlament/Rat, Randnr. 59). 80 Jedoch müssen bei einer solchen Prüfung und bei der Feststellung, ob u. a. die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 aufgestellten Bedingungen erfüllt sind, die Bestimmungen dieser Richtlinie im Licht der Art. 7 und 24 Abs. 2 und 3 der Charta ausgelegt und angewandt werden, wie sich im Übrigen aus dem Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes und des Art. 5 Abs. 5 dieser Richtlinie ergibt, wonach die Mitgliedstaaten die fraglichen Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen. 81 Die zuständigen nationalen Behörden müssen bei der Umsetzung der Richtlinie 2003/86 und bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung alle zu berücksichtigenden Interessen, insbesondere die der betroffenen Kinder, ausgewogen und sachgerecht bewerten. 82 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen wie folgt zu antworten: — Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen die Erteilung eines auf der Grundlage der Familienzusammenführung beantragten Aufenthaltstitels zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige beabsichtigt, mit seiner Ehegattin, die ebenfalls Drittstaatsangehörige ist, sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält und Mutter eines Kindes aus einer ersten Ehe ist, das die Unionsbürgerschaft besitzt, und dem aus der Ehe des Drittstaatsangehörigen und seiner Ehegattin hervorgegangenen Kind, das ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist, zusammenzuleben, sofern eine solche Verweigerung nicht dazu führt, dass dem betroffenen Unionsbürger verwehrt wird, den Kernbestand der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. — Auf der Grundlage der Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden fallen unter die Richtlinie 2003/86. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten zwar befugt sind, den Nachweis zu verlangen, dass der Zusammenführende über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um den Lebensunterhalt für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, diese Befugnis aber im Licht der Art. 7 und 24 Abs. 2 und 3 der Charta ausgeübt werden muss, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, auch das Familienleben zu fördern, prüfen müssen und das Ziel dieser Richtlinie und deren praktische Wirksamkeit nicht beeinträchtigen dürfen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidungen, mit denen die Erteilung von Aufenthaltstiteln abgelehnt wurde, unter Beachtung dieser Anforderungen erlassen wurden. Kosten 83 Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen die Erteilung eines auf der Grundlage der Familienzusammenführung beantragten Aufenthaltstitels zu verweigern, wenn dieser Drittstaatsangehörige beabsichtigt, mit seiner Ehegattin, die ebenfalls Drittstaatsangehörige ist, sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhält und Mutter eines Kindes aus einer ersten Ehe ist, das die Unionsbürgerschaft besitzt, und dem aus der Ehe des Drittstaatsangehörigen und seiner Ehegattin hervorgegangenen Kind, das ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist, zusammenzuleben, sofern eine solche Verweigerung nicht dazu führt, dass dem betroffenen Unionsbürger verwehrt wird, den Kernbestand der Rechte, die ihm der Unionsbürgerstatus verleiht, in Anspruch zu nehmen, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat. Auf der Grundlage der Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden fallen unter die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung. Art. 7 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten zwar befugt sind, den Nachweis zu verlangen, dass der Zusammenführende über ausreichende feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, um den Lebensunterhalt für sich und seine Familienangehörigen zu bestreiten, diese Befugnis aber im Licht der Art. 7 und 24 Abs. 2 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgeübt werden muss, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohls der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, auch das Familienleben zu fördern, prüfen müssen und das Ziel dieser Richtlinie und deren praktische Wirksamkeit nicht beeinträchtigen dürfen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidungen, mit denen die Erteilung von Aufenthaltstiteln abgelehnt wurde, unter Beachtung dieser Anforderungen erlassen wurden. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Finnisch.
Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 12. Mai 2011.#Malgožata Runevič-Vardyn und Łukasz Paweł Wardyn gegen Vilniaus miesto savivaldybės administracija und andere.#Ersuchen um Vorabentscheidung: Vilniaus miesto 1 apylinkės teismas - Litauen.#Unionsbürgerschaft - Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit in den Mitgliedstaaten - Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit - Art. 18 AEUV und 21 AEUV - Grundsatz der Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft - Richtlinie 2000/43/EG - Nationale Rechtsvorschriften, die die Umschrift von Namen und Vornamen natürlicher Personen in Personenstandsurkunden in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form vorschreiben.#Rechtssache C-391/09.
62009CJ0391
ECLI:EU:C:2011:291
2011-05-12T00:00:00
Gerichtshof, Jääskinen
Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-03787
Rechtssache C‑391/09 Malgožata Runevič-Vardy und Łukasz Paweł Wardyn gegen Vilniaus miesto savivaldybės administracija u. a. (Vorabentscheidungsersuchen des Vilniaus miesto 1 apylinkės teismas) „Unionsbürgerschaft – Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit in den Mitgliedstaaten − Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit − Art. 18 AEUV und 21 AEUV − Grundsatz der Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft − Richtlinie 2000/43/EG − Nationale Rechtsvorschriften, die die Umschrift von Namen und Vornamen natürlicher Personen in Personenstandsurkunden in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form vorschreiben“ Leitsätze des Urteils 1.        Unionsrecht – Grundsätze – Gleichbehandlung – Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – Richtlinie 2000/43 – Geltungsbereich (Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 21; Richtlinie 2000/43 des Rates, Art. 3 Abs. 1) 2.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Für Personenstandsurkunden geltende Schreibregeln der offiziellen Landessprache eines Mitgliedstaats (Art. 21 AEUV) 3.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Für Personenstandsurkunden geltende Schreibregeln der offiziellen Landessprache eines Mitgliedstaats (Art. 21 AEUV) 4.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Für Personenstandsurkunden geltende Schreibregeln der offiziellen Landessprache eines Mitgliedstaats (Art. 21 AEUV) 1.        Eine nationale Regelung, nach der Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, betrifft einen Sachverhalt, der nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft fällt. Zwar darf der Geltungsbereich dieser Richtlinie in Anbetracht ihres Gegenstands und der Natur der Rechte, die sie schützen soll, sowie des Umstands, dass sie in dem jeweiligen Bereich nur der Ausdruck des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist, der einer der tragenden Grundsätze des Unionsrechts und in Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt ist, nicht eng definiert werden, doch lässt sich eine solche nationale Regelung nicht unter den Begriff der Dienstleistung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie subsumieren. (vgl. Randnrn. 43, 45, 48, Tenor 1) 2.        Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, es in Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, abzulehnen, in der Geburtsurkunde und der Heiratsurkunde eines seiner Staatsangehörigen dessen Nachnamen und Vornamen nach den Schreibregeln eines anderen Mitgliedstaats abzuändern. In dem Umstand, dass der Vor- und der Nachname einer Person in den Personenstandsurkunden seines Herkunftsmitgliedstaats nur in Buchstaben der Sprache dieses Mitgliedstaats geändert und umgeschrieben werden dürfen, liegt keine ungünstigere Behandlung als die, die ihr zuteil wurde, bevor sie von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die ihm die Freizügigkeitsbestimmungen des Vertrags eröffnen, so dass sie dadurch also nicht davon abgehalten werden kann, die durch Art. 21 AEUV zuerkannten Freizügigkeitsrechte wahrzunehmen. (vgl. Randnrn. 69-70, 94, Tenor 2) 3.        Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, es in Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, abzulehnen, den gemeinsamen Nachnamen eines aus Unionsbürgern bestehenden Ehepaars, wie er in den vom Herkunftsmitgliedstaat eines dieser Bürger ausgestellten Personenstandsurkunden angegeben ist, in eine den Schreibregeln dieses Mitgliedstaats entsprechende Form zu ändern, sofern diese Weigerung für diese Unionsbürger keine schwerwiegenden Nachteile administrativer, beruflicher und privater Art verursacht, was das vorlegende Gericht zu ermitteln hat. Sollte dies der Fall sein, hat dieses Gericht weiter zu prüfen, ob die Weigerung der Änderung zum Schutz der Belange erforderlich ist, die die nationale Regelung sichern soll, und in einem angemessenen Verhältnis zu dem legitimerweise verfolgten Ziel steht. Das mit einer solchen nationalen Regelung verfolgte Ziel, die offizielle Landessprache dadurch zu schützen, dass die für diese Sprache geltenden Schreibregeln vorgeschrieben werden, stellt grundsätzlich ein legitimes Ziel dar, das Beschränkungen der in Art. 21 AEUV vorgesehenen Rechte, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, rechtfertigen und bei der Abwägung legitimer Belange auf der einen Seite und diesen vom Unionsrecht gewährten Rechten auf der anderen berücksichtigt werden kann. (vgl. Randnrn. 87, 94, Tenor 2) 4.        Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, es in Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, abzulehnen, die Heiratsurkunde eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, zu ändern, damit seine Vornamen in dieser Urkunde mit diakritischen Zeichen so geschrieben werden, wie sie in den von seinem Herkunftsmitgliedstaat ausgestellten Personenstandsurkunden geschrieben sind und wie es den Schreibregeln der offiziellen Landessprache dieses Staates entspricht. (vgl. Randnr. 94, Tenor 2) URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer) 12. Mai 2011(*) „Unionsbürgerschaft – Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit in den Mitgliedstaaten − Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit − Art. 18 AEUV und 21 AEUV − Grundsatz der Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft − Richtlinie 2000/43/EG − Nationale Rechtsvorschriften, die die Umschrift von Namen und Vornamen natürlicher Personen in Personenstandsurkunden in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form vorschreiben“ In der Rechtssache C‑391/09 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Vilniaus miesto 1 apylinkės teismas (Litauen) mit Entscheidung vom 8. September 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Oktober 2009, in dem Verfahren Malgožata Runevič-Vardyn, Łukasz Paweł Wardyn gegen Vilniaus miesto savivaldybės administracija, Lietuvos Respublikos teisingumo ministerija, Valstybinė lietuvių kalbos komisija, Vilniaus miesto savivaldybės administracijos Teisės departamento Civilinės metrikacijos skyrius erlässt DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter A. Arabadjiev, A. Rosas, U. Lõhmus und A. Ó Caoimh (Berichterstatter), Generalanwalt: N. Jääskinen, Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. September 2010, unter Berücksichtigung der Erklärungen –        von Frau Runevič-Vardyn und Herrn Wardyn, vertreten durch E. Juchnevičius und Ł. Wardyn, advokatai, –        der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und V. Balčiūnaitė als Bevollmächtigte, –        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten, –        der estnischen Regierung, vertreten durch L. Uibo und M. Linntam als Bevollmächtigte, –        der lettischen Regierung, vertreten durch K. Drēviņa und Z. Rasnača als Bevollmächtigte, –        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar und M. Jarosz als Bevollmächtigte, –        der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Fernandes und P. M. Pinto als Bevollmächtigte, –        der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte, –        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani, A. Steiblytė und J. Enegren als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Dezember 2010 folgendes Urteil 1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 AEUV und 21 AEUV sowie des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (ABl. L 180, S. 22). 2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Malgožata Runevič‑Vardyn, einer litauischen Staatsangehörigen, und ihrem Ehemann, Herrn Łukasz Paweł Wardyn, einem polnischen Staatsangehörigen, einerseits und der Vilniaus miesto savivaldybės administracija (Stadtverwaltung Vilnius), dem Lietuvos Respublikos teisingumo ministerija (Justizministerium der Republik Litauen), der Valstybinė lietuvių kalbos komisija (nationale Kommission für die litauische Sprache) und der Vilniaus miesto savivaldybės administracijos Teisės departamento Civilinės metrikacijos skyrius (Personenstandsabteilung des Rechtsdezernats der Stadtverwaltung Vilnius, im Folgenden: Standesamt Vilnius) andererseits wegen der Weigerung Letzterer, die Vor- und Nachnamen der Kläger des Ausgangsverfahrens, wie sie in den von ihr ausgestellten Personenstandsurkunden angegeben sind, zu ändern. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3        Die Erwägungsgründe 12 und 16 der Richtlinie 2000/43 lauten: „(12) Um die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen – ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen, sollten spezifische Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft über die Gewährleistung des Zugangs zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit hinausgehen und auch Aspekte wie Bildung, Sozialschutz, einschließlich sozialer Sicherheit und der Gesundheitsdienste, soziale Vergünstigungen, Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, mit abdecken. … (16)      Es ist wichtig, alle natürlichen Personen gegen Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft zu schützen. …“ 4        Die Richtlinie 2000/43 bezweckt nach Art. 1 „die Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten“. 5        Art. 2 Abs. 1 und 2 Buchst. b der Richtlinie bestimmt: „(1)      Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft geben darf. (2)      Im Sinne von Absatz 1 … b)      liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer Rasse oder ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.“ 6        Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt ihren Geltungsbereich wie folgt: „Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf: a)      die Bedingungen – einschließlich Auswahlkriterien und Einstellungsbedingungen – für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit, unabhängig von Tätigkeitsfeld und beruflicher Position, sowie für den beruflichen Aufstieg; b)      den Zugang zu allen Formen und allen Ebenen der Berufsberatung, der Berufsausbildung, der beruflichen Weiterbildung und der Umschulung einschließlich der praktischen Berufserfahrung; c)      die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich Entlassungsbedingungen und Arbeitsentgelt; d)      die Mitgliedschaft und Mitwirkung in einer Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberorganisation oder einer Organisation, deren Mitglieder einer bestimmten Berufsgruppe angehören, einschließlich der Innanspruchnahme der Leistungen solcher Organisationen; e)      den Sozialschutz, einschließlich der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsdienste; f)      die sozialen Vergünstigungen; g)      die Bildung; h)      den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich von Wohnraum.“ Nationales Recht Verfassung 7        Art. 14 der litauischen Verfassung bestimmt, dass die Landessprache Litauisch ist. Zivilgesetzbuch 8        Nach Art. 2.20 Abs. 1 des litauischen Zivilgesetzbuchs (im Folgenden: Zivilgesetzbuch) hat „[j]eder … das Recht auf einen Namen. Dieses Recht umfasst das Recht auf einen Nachnamen, einen oder mehrere Vornamen und auf ein Pseudonym.“ 9        Art. 3.31 des Zivilgesetzbuchs bestimmt: „Jeder Ehegatte hat das Recht, nach der Eheschließung seinen Nachnamen beizubehalten, den Nachnamen des Ehegatten als gemeinsamen Nachnamen zu bestimmen oder einen Doppelnamen zu führen, der durch Hinzufügung des Namen des Ehegatten zu seinem eigenen Namen gebildet wird.“ 10      Art. 3.281 des Zivilgesetzbuchs sieht vor, dass die Registrierung, Verlängerung, Änderung, Ergänzung oder Berichtigung von Personenstandsurkunden nach den Vorschriften über die Personenstandsregister in der vom Justizministerium bestätigten Form vorzunehmen ist. 11      Art. 3.282 des Zivilgesetzbuchs bestimmt, dass „Einträge in Personenstandsurkunden … in litauischer Sprache vorzunehmen [sind]. Vornamen, Nachnamen und Ortsnamen müssen nach den Regeln der litauischen Sprache geschrieben werden.“ Vorschriften über die Personenstandsregister 12      Nr. 11 des Erlasses Nr. IR-294 des Justizministeriums vom 22. Juli 2008 zur Bestätigung der Vorschriften über die Personenstandsregister (Žin., 2008, Nr. 88-3541) bestimmt, dass Einträge in Personenstandsurkunden in litauischer Sprache vorzunehmen sind. Vorschriften über Personalausweise und Reisepässe 13      Nach dem Gesetz Nr. IX-577 vom 6. November 2001 über Personalausweise (Žin., 2001, n° 97-3417) in geänderter Fassung (Žin., 2008, Nr. 76-3007) und dem Gesetz Nr. IX-590 vom 8. November 2001 über Reisepässe (Žin., 2001, Nr. 99-3524) in geänderter Fassung (Žin., 2008, Nr. 87-3466) müssen die Angaben in Personalausweisen und Reisepässen unter Verwendung litauischer Buchstaben eingetragen werden. 14      Der Erlass Nr. I‑1031 des litauischen Obersten Rates vom 31. Januar 1991 über die Eintragung von Vor- und Nachnamen in Reisepässe der Bürger der Republik Litauen (Žin., 1991, n° 5-132) sieht in den Nrn. 1 bis 3 vor: „1.      In einen Reisepass eines Bürgers der Republik Litauen werden Vor- und Nachnamen in litauischen Buchstaben entsprechend den Angaben in litauischer Sprache in einem Reisepass oder einem anderen Ausweis im Besitz des Betroffenen, auf deren Grundlage ein Reisepass erteilt wird, eingetragen. 2.      In einen Reisepass eines Bürgers der Republik Litauen werden Vor- und Nachnamen von Personen nicht-litauischer Herkunft in litauischen Buchstaben eingetragen. Auf schriftlichen Antrag des Betroffenen und nach den festgelegten Modalitäten werden Vor- und Nachnamen umgeschrieben: a)       entweder phonetisch ohne Anwendung der grammatikalischen Regeln (d. h. ohne litauische Endungen); b)       oder phonetisch unter Anwendung der grammatikalischen Regeln (d. h. mit litauischen Endungen). 3.      Vor- und Nachnamen von Personen, die Staatsangehörige eines anderen Staates waren, können in Übereinstimmung mit den Angaben in einem von diesem anderen Staat ausgestellten Reisepass oder einem entsprechenden Dokument eingetragen werden.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 15      Die am 20. März 1977 in Vilnius geborene Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Malgožata Runevič-Vardyn, ist litauische Staatsangehörige. Nach den dem Gerichtshof vorliegenden Angaben gehört sie der polnischen Minderheit in der Republik Litauen an, besitzt jedoch nicht die polnische Staatsangehörigkeit. 16      Sie gibt an, von ihren Eltern den polnischen Vornamen „Małgorzata“ und den Nachnamen ihres Vaters „Runiewicz“ erhalten zu haben. 17      Der Vorlageentscheidung zufolge ist in der am 14. Juni 1977 ausgestellten Geburtsurkunde angegeben, dass der Vor- und der Nachname der Klägerin des Ausgangsverfahrens in ihrer litauischen Schreibform eingetragen sind, nämlich als „Malgožata Runevič“. Derselbe Vorname und derselbe Nachname finden sich auch in einer ihr am 9. September 2003 vom Standesamt Vilnius ausgestellten neuen Geburtsurkunde und im litauischen Reisepass, der ihr von den zuständigen Behörden am 7. August 2002 ausgestellt wurde. 18      Nach den Erklärungen der Kläger des Ausgangsverfahrens wurde die Geburtsurkunde vom 14. Juni 1977 in kyrillischer Schrift abgefasst, während die Geburtsurkunde vom 9. September 2003 unter Verwendung des lateinischen Alphabets erstellt wurde, so dass der Vor- und der Nachname der Klägerin des Ausgangsverfahrens dort in der Schreibweise „Malgožata Runevič“ erscheint. 19      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens macht außerdem geltend, dass ihr am 31. Juli 2006 vom Standesamt der Stadt Warschau (Polen) eine polnische Geburtsurkunde ausgestellt worden sei. In dieser polnischen Urkunde seien ihr Vor- und ihr Nachname nach den polnischen Schreibregeln als „Małgorzata Runiewicz“ angegeben. 20      Nachdem die Klägerin des Ausgangsverfahrens eine gewisse Zeit in Polen gewohnt und gearbeitet hatte, heiratete sie am 7. Juli 2007 den Kläger des Ausgangsverfahrens. In der vom Standesamt Vilnius ausgestellten Heiratsurkunde wurde „Łukasz Paweł Wardyn“ – unter Verwendung des lateinischen Alphabets ohne diakritische Zeichen – in „Lukasz Pawel Wardyn“ umgeschrieben, während der Name seiner Ehefrau als „Malgožata Runevič-Vardyn“ angegeben ist, was bedeutet, dass nur litauische Buchstaben, zu denen der Buchstabe „W“ nicht gehört, verwendet wurden, und zwar auch für den ihrem eigenen Nachnamen hinzugefügten Nachnamen ihres Ehemanns. 21      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens mit ihrem Sohn derzeit in Belgien wohnen. 22      Am 16. August 2007 beantragte die Klägerin des Ausgangsverfahrens beim Standesamt Vilnius zum einen die Änderung des in ihrer Geburtsurkunde angegebenen Namens „Malgožata Runevič“ in „Małgorzata Runiewicz“ und zum anderen die Änderung des in ihrer Heiratsurkunde eingetragenen Namens „Malgožata Runevič-Vardyn“ in „Małgorzata Runiewicz-Wardyn“. 23      Mit Bescheid vom 19. September 2007 teilte ihr das Standesamt Vilnius mit, dass eine Änderung der Einträge in diesen Personenstandsurkunden nach der geltenden nationalen Regelung nicht möglich sei. 24      Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben Klage beim vorlegenden Gericht. 25      In seiner Entscheidung nimmt das vorlegende Gericht auf verschiedene Argumente Bezug, auf die die Kläger des Ausgangsverfahrens ihre Klage gestützt haben. Zum Kläger stellt es fest, dass nach dessen Ansicht die Weigerung der litauischen Behörden, dessen Vornamen in der Heiratsurkunde in eine den polnischen Schreibregeln entsprechende Form umzuschreiben, einen Unionsbürger diskriminiere, der in einem anderen Staat als seinem Herkunftsstaat die Ehe geschlossen habe. Wäre die Ehe in Polen geschlossen worden, wären seine Vornamen in der Heiratsurkunde so geschrieben worden wie in seiner Geburtsurkunde. Da es den Buchstabe „W“ im litauischen Alphabet offiziell nicht gebe, stelle sich dem Kläger des Ausgangsverfahrens die Frage, warum die litauischen Behörden bei seinem Nachnamen die Originalschreibweise übernommen hätten, bei seinen Vornamen jedoch nicht. 26      Das vorlegende Gericht stellt weiter fest, dass das Standesamt Vilnius und die anderen Beteiligten dem Antrag der Kläger des Ausgangsverfahrens auf Änderung der Angaben in den Personenstandsurkunden entgegengetreten seien. 27      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der Verfassungsgerichtshof am 21. Oktober 1999 eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Beschlusses des Obersten Rates vom 31. Januar 1991 über die Schreibweise von Vor- und Nachnamen in Reisepässen der litauischen Bürger erlassen hat. Er hat erklärt, dass der Vor- und der Nachname einer Person in einem Reisepass nach den Regeln über die Schreibweise der offiziellen Landessprache anzugeben sei, um die verfassungsrechtliche Stellung dieser Sprache nicht in Frage zu stellen. 28      Da der Vilniaus miesto 1 apylinkės teismas meint, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit aufgeworfenen Fragen, insbesondere zu den Art. 18 AEUV und 21 AEUV sowie zu Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43, nicht eindeutig beantworten zu können, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1.      Ist im Licht der in der Richtlinie 2000/43 enthaltenen Regelung Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass den Mitgliedstaaten eine mittelbare Diskriminierung von Einzelnen aus Gründen ihrer ethnischen Herkunft verboten ist, soweit eine innerstaatliche Regelung vorsieht, dass Vor- und Nachnamen von Personen in Personenstandsurkunden nur unter Verwendung von Buchstaben der Landessprache eingetragen werden dürfen? 2.      Ist im Licht der in der Richtlinie 2000/43 enthaltenen Regelung Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass den Mitgliedstaaten eine mittelbare Diskriminierung von Einzelnen aus Gründen ihrer ethnischen Herkunft verboten ist, soweit eine innerstaatliche Regelung vorsieht, dass Vor- und Nachnamen von Personen anderer Herkunft oder Staatsangehörigkeit in Personenstandsurkunden unter Verwendung von lateinischen Buchstaben und ohne diakritische Zeichen, Ligaturen oder sonstige Veränderungen der Buchstaben des lateinischen Alphabets eingetragen werden müssen, die in anderen Sprachen verwendet werden? 3.      Sind Art. 21 Abs. 1 AEUV, wonach jeder Unionsbürger das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, und Art. 18 Abs. 1 AEUV, der die Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, dahin auszulegen, dass sie es den Mitgliedstaaten verwehren, in einer innerstaatlichen Regelung vorzusehen, dass Vor- und Nachnamen von Personen in Personenstandsurkunden nur unter Verwendung von Buchstaben der Landessprache eingetragen werden dürfen? 4.      Sind Art. 21 Abs. 1 AEUV, wonach jeder Unionsbürger das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, und Art. 18 Abs. 1 AEUV, der die Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet, dahin auszulegen, dass sie es den Mitgliedstaaten verwehren, in einer innerstaatlichen Regelung vorzusehen, dass Vor- und Nachnamen von Personen anderer Herkunft oder Staatsangehörigkeit in Personenstandsurkunden unter Verwendung von lateinischen Buchstaben und ohne diakritische Zeichen, Ligaturen oder sonstige Veränderungen der Buchstaben des lateinischen Alphabets eingetragen werden müssen, die in anderen Sprachen verwendet werden? Zur Zulässigkeit der zweiten und der vierten Vorlagefrage 29      Vorab ist festzustellen, dass die litauische Regierung dem Gerichtshof vorschlägt, die zweite und die vierte Vorlagefrage als unzulässig zurückzuweisen. Nach ihrer Ansicht ist das vorlegende Gericht mit einer Klage befasst, die zwei Anträge der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu ihrer Geburtsurkunde und Heiratsurkunde betreffe, und nicht mit einer Klage des Klägers des Ausgangsverfahrens bezüglich dessen Heiratsurkunde. Die Fragen zur Umschrift der Vornamen des Klägers des Ausgangsverfahrens stünden somit nicht mit einem vom vorlegenden Gericht zu lösenden konkreten Problem im Zusammenhang. Der Gerichtshof müsse daher die Beantwortung dieser Fragen ablehnen, da die mit ihnen erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stehe. 30      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, Slg. 1995, I‑4921, Randnr. 59, und vom 12. Oktober 2010, Rosenbladt, C‑45/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 32). 31      Außerdem führt Art. 267 AEUV nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein nichtstreitiges Verfahren ein, das den Charakter eines Zwischenstreits innerhalb eines beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits hat und jeder Initiative der Parteien entzogen ist, da diese nur die Möglichkeit haben, sich in dem von diesem Gericht abgesteckten rechtlichen Rahmen zu äußern. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Art. 23 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs mit dem Ausdruck „beteiligte Parteien“ nur diejenigen Personen meint, die in dem Verfahren vor dem nationalen Gericht Parteistellung haben (vgl. u. a. Urteil vom 1. März 1973, Bollmann, 62/72, Slg. 1973, 269, Randnr. 4, und Beschluss vom 12. September 2007, Satakunnan Markkinapörssi und Satamedia, C‑73/07, Slg. 2007, I‑7075, Randnr. 11). 32      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts wurde die bei ihm anhängige Klage von beiden Klägern des Ausgangsverfahrens und nicht nur von der Klägerin des Ausgangsverfahrens allein erhoben; die Kläger hätten angeregt, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Diese Fragen bezögen sich sowohl auf die Weigerung, den Nachnamen und den Vornamen der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu ändern, als auch auf die Änderung der Umschrift der Vornamen des Klägers des Ausgangsverfahrens, wie sie in den ihnen von den litauischen Behörden ausgestellten Personenstandsurkunden enthalten seien. Die von diesem Gericht in Ausübung seiner ihm durch Art. 267 AEUV gewährten ausschließlichen Zuständigkeit zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen betreffen ebenso wie die in seiner Vorlageentscheidung angeführten Erwägungen beide Kläger des Ausgangsverfahrens. 33      Zwar hat der Gerichtshof im Hinblick auf die ihm mit Art. 267 AEUV übertragene Aufgabe die Auffassung vertreten, dass er nicht über eine von einem nationalen Gericht zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage befinden kann, wenn offensichtlich ist, dass die Auslegung oder die Beurteilung der Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts, um die das vorlegende Gericht ersucht, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht (vgl. insbesondere Urteil vom 26. Oktober 1995, Furlanis costruzioni generali, C‑143/94, Slg. 1995, I‑3633, Randnr. 12). 34      Jedoch ist unter Berücksichtigung der in der Vorlageentscheidung enthaltenen, insbesondere der in Randnr. 26 des vorliegenden Urteils angeführten, Angaben und der Festlegung des Gegenstands und Umfangs des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits durch dieses Gericht nicht offensichtlich, dass die Auslegung der Vorschriften des Unionsrechts, um die es ersucht, in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht. 35      Demzufolge sind die zweite und die vierte Frage als zulässig anzusehen. Zu den Vorlagefragen Zur ersten und zur zweiten Frage 36      Mit der ersten und der zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/43 den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats verwehrt, es in Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, abzulehnen, die Umschrift des Vor- und des Nachnamens einer Person zu ändern, so dass diese Namen nur unter Verwendung von Buchstaben der Landessprache ohne diakritische Zeichen, Ligaturen oder sonstige Veränderungen der Buchstaben des lateinischen Alphabets, die in anderen Sprachen verwendet werden, umgeschrieben werden müssen. 37      Die litauische, die tschechische, die estnische, die polnische und die slowakische Regierung sowie die Europäische Kommission machen geltend, dass die nationalen Vorschriften über die Erstellung von Personenstandsurkunden nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43, wie er in deren Art. 3 Abs. 1 beschrieben sei, fielen. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens habe nicht dargetan, dass ihr wegen ihrer rassischen oder ethnischen Zugehörigkeit in einem in den sachlichen Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 fallenden Bereich ein konkreter Nachteil entstanden sei. 38      Die Kläger des Ausgangsverfahrens tragen dagegen vor, der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 sei sehr weit und umfasse einen großen Teil der Aspekte des gesellschaftlichen Lebens. So sei es notwendig, einen Ausweis und verschiedene Arten von Dokumenten, Bescheinigungen und Diplomen vorzulegen, um in den Genuss bestimmter in dieser Richtlinie vorgesehener Rechte zu kommen und die Möglichkeit zu haben, Güter und Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und die Öffentlichkeit mit von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie erfassten Gütern und Dienstleistungen zu versorgen. 39      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2000/43 nach ihrem Art. 1 die Schaffung eines Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung aufgrund der Rasse oder der ethnischen Herkunft im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten bezweckt. 40      Nach dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie ist es wichtig, alle natürlichen Personen gegen Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft zu schützen. 41      Zum sachlichen Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 heißt es im 12. Erwägungsgrund der Richtlinie, dass, um die Entwicklung demokratischer und toleranter Gesellschaften zu gewährleisten, die allen Menschen – ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft – eine Teilhabe ermöglichen, spezifische Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft über die Gewährleistung des Zugangs zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit hinausgehen und auch Aspekte wie die in Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten mit abdecken sollten. 42      Nach dieser Bestimmung gilt die Richtlinie im Rahmen der auf die Gemeinschaft, nunmehr die Europäische Union, übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, in Bezug auf die in dieser Bestimmung abschließend genannten und in Randnr. 6 des vorliegenden Urteils aufgeführten Aspekte. 43      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 in Anbetracht ihres Gegenstands und der Natur der Rechte, die sie schützen soll, sowie des Umstands, dass sie in dem jeweiligen Bereich nur der Ausdruck des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist, der einer der tragenden Grundsätze des Unionsrechts und in Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt ist, nicht eng definiert werden darf. 44      Daraus folgt jedoch nicht, dass eine nationale Regelung über die Umschrift von Vor- und Nachnamen in Personenstandsurkunden in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 fällt. 45      Zwar nimmt Art. 3 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2000/43 allgemein auf den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, Bezug, doch lässt sich eine solche Regelung, wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht unter den Begriff der „Dienstleistung“ im Sinne dieser Bestimmung subsumieren. 46      Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass den Vorarbeiten zur Richtlinie 2000/43, die vom Rat der Europäischen Union gemäß Art. 13 EG einstimmig angenommen wurde, zu entnehmen ist, dass der Rat einen Änderungsvorschlag des Europäischen Parlaments, wonach die „Ausübung der Funktionen öffentlicher Gremien einschließlich Polizei- und Einwanderungsbehörden sowie straf- und zivilrechtliche Justizbehörden“ in das Verzeichnis der in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie aufgeführten Tätigkeiten aufgenommen werden und damit in den Geltungsbereich der Richtlinie fallen sollte, nicht übernehmen wollte. 47      Daher umfasst der in ihrem Art. 3 Abs. 1 festgelegte Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43, auch wenn er, wie in Randnr. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nicht eng ausgelegt werden darf, eine nationale Regelung über die Umschrift von Vor- und Nachnamen in Personenstandsurkunden wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht. 48      Es ist daher festzustellen, dass eine nationale Regelung, nach der Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, einen Sachverhalt betrifft, der nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43 fällt. Zur dritten und zur vierten Frage 49      Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es die Art. 18 AEUV und 21 AEUV den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats verwehren, es in Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, abzulehnen, die Umschrift des Vor- und des Nachnamens einer Person zu ändern, so dass diese Namen nur unter Verwendung von Buchstaben der Landessprache ohne diakritische Zeichen, Ligaturen oder sonstige Veränderungen der Buchstaben des lateinischen Alphabets, die in anderen Sprachen verwendet werden, umgeschrieben werden müssen. 50      Diese Fragen beziehen sich auf drei unterschiedliche Aspekte des Ausgangsverfahrens: –        den Antrag der Klägerin des Ausgangsverfahrens, ihren Vor- und ihren Mädchennamen in ihrer Geburts- und ihrer Heiratsurkunde in eine den polnischen Schreibregeln entsprechende Form umzuschreiben, d. h. unter Verwendung der diakritischen Zeichen der polnischen Sprache, –        die Anträge der Kläger des Ausgangsverfahren, den Nachnamen des Klägers des Ausgangsverfahrens, der dem Mädchennamen der Klägerin des Ausgangsverfahrens hinzugefügt wurde und in der Heiratsurkunde angegeben ist, in eine den polnischen Schreibregeln entsprechende Form umzuschreiben, und –        den Antrag des Klägers des Ausgangsverfahrens, seine Vornamen in der Heiratsurkunde in eine den polnischen Schreibregeln entsprechende Form umzuschreiben. Vorbemerkungen zu den anwendbaren Vorschriften des Unionsrechts 51      Vorab ist zu prüfen, ob der Fall der Klägerin des Ausgangsverfahrens entgegen dem Vorbringen insbesondere der litauischen und der tschechischen Regierung im Hinblick auf die von den zuständigen litauischen Behörden ausgestellten Personenstandsurkunden, die Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits sind, unter das Unionsrecht, insbesondere die Vertragsbestimmungen über die Unionsbürgerschaft, fällt. 52      Zur Geburtsurkunde führt die litauische Regierung insbesondere aus, dass diese eine erstmals am 14. Juni 1977, d. h. lange vor dem Beitritt der Republik Litauen zur Union, ausgestellte Personenstandsurkunde sei. Überdies handele es sich um eine Urkunde, die einem litauischen Staatsbürger von den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats ausgestellt worden sei. Die Situation, in der sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens im Hinblick auf ihre Geburtsurkunde befinde, sei daher ein rein innerstaatlicher Sachverhalt. Demzufolge falle ihr Antrag auf Änderung der Urkunde weder in zeitlicher noch in sachlicher Hinsicht unter das Unionsrecht, insbesondere die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft. 53      Zur zeitlichen Anwendbarkeit dieser Bestimmungen auf den vorliegenden Fall ist festzustellen, dass es im Ausgangsverfahren nicht um die Anerkennung von Rechten aus dem Unionsrecht geht, die vor dem Beitritt der Republik Litauen und dem für diese maßgeblichen Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft erworben worden wären. In diesem Verfahren wird eine gegenwärtige Diskriminierung eines Unionsbürgers oder eine gegenwärtige Beschränkung in Bezug auf einen Unionsbürger geltend gemacht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2002, D’Hoop, C‑224/98, Slg. 2002, I‑6191, Randnr. 24). 54      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens verlangt nämlich nicht, dass ihre Geburtsurkunde rückwirkend geändert wird, sondern dass ihr die litauischen Behörden, um ihr die Freizügigkeit als Unionsbürgerin – sie hat nach ihrer Eheschließung mit einem polnischen Staatsbürger ihren Wohnsitz nach Belgien verlegt, wo sie einen Sohn geboren hat, der die litauische und die polnische Staatsangehörigkeit besitzt – zu erleichtern, eine Geburtsurkunde ausstellen, in der ihr Vorname und ihr Mädchenname in eine den polnischen Schreibregeln entsprechende Form umgeschrieben sind. 55      Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft seit ihrem Inkrafttreten anwendbar sind. Sie sind deshalb auf die gegenwärtigen Wirkungen von Sachverhalten anzuwenden, die vor diesem Zeitpunkt entstanden sind (vgl. Urteil D’Hoop, Randnr. 25). 56      Daraus folgt, dass die von der Klägerin des Ausgangsverfahrens behauptete Diskriminierung oder Beschränkung, die in der Ablehnung, in ihrer Geburtsurkunde die Umschrift ihres Vor- und ihres Mädchennamens zu ändern, grundsätzlich an den Art. 18 AEUV und 21 AEUV gemessen werden kann. 57      Die Frage der zeitlichen Anwendbarkeit der Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft stellt sich für den Antrag auf Änderung der am 7. Juli 2007 ausgestellten Heiratsurkunde der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht. 58      Zur Frage, ob es sich bei dem Antrag auf Änderung der Geburts- und der Heiratsurkunde der Klägerin des Ausgangsverfahrens um einen nicht unter das Unionsrecht fallenden rein innerstaatlichen Sachverhalt handelt, da es um Personenstandsurkunden geht, die ihr von den zuständigen Behörden ihres Herkunftsmitgliedstaats ausgestellt wurden, ist festzustellen, dass, wie aus Randnr. 54 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die von dem ihr unmittelbar durch Art. 21 AEUV eingeräumten Recht, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat, wünscht, dass diese Urkunden geändert werden, um ihr die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern. Sie stützt ihren Antrag u. a. auf Art. 21 AEUV und weist auf die Nachteile hin, die ihr dadurch entstünden, dass sie bei der Ausübung der durch diese Bestimmungen gewährten Rechte Personenstandsurkunden verwenden müsse, in denen ihr Vor- und ihr Nachname nicht in der polnischen Schreibweise angegeben seien und damit nicht die Art ihrer Beziehung zum Kläger des Ausgangsverfahrens oder gar zu ihrem Sohn widerspiegelten. 59      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 20 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht (vgl. insbesondere Urteile D’Hoop, Randnr. 27, und vom 8. März 2011, Ruiz Zambrano, C‑34/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 40). Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Union besitzt, genießt diesen Status. 60      In Anerkennung der Bedeutung, die das Primärrecht dem Unionsbürgerstatus beimisst, hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass dieser Status dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. Urteile vom 17. September 2002, Baumbast und R, C‑413/99, Slg. 2002, I‑7091, Randnr. 82, vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnrn. 43 und 56, sowie Ruiz Zambrano, Randnr. 41). 61      Dieser Status gibt nämlich denjenigen unter diesen Angehörigen, die sich in der gleichen Situation befinden, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen im sachlichen Anwendungsbereich des Vertrags, Anspruch auf die gleiche rechtliche Behandlung (vgl. u. a. Urteil vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, Slg. 2001, I‑6193, Randnr. 31). 62      In den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen u. a. Situationen, in denen es um die Ausübung der im Vertrag garantierten Grundfreiheiten, namentlich der in Art. 21 AEUV verliehenen Freiheit geht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (vgl. Urteile Grzelczyk, Randnr. 33, und D’Hoop, Randnr. 29). 63      Vorschriften über die Umschrift von Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden fallen zwar beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit gleichwohl das Unionsrecht beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello, C‑148/02, Slg. 2003, I‑11613, Randnrn. 25 und 26, vom 14. Oktober 2008, Grunkin und Paul, C‑353/06, Slg. 2008, I‑7639, Randnr. 16, und vom 22. Dezember 2010, Sayn-Wittgenstein, C‑208/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnrn. 38 und 39). 64      Im Ausgangsverfahren steht fest, dass beide Kläger in ihrer Eigenschaft als Unionsbürger von ihrer Freiheit, sich in anderen Mitgliedstaaten als ihrem Herkunftsmitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben. 65      Da Art. 21 AEUV nicht nur das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sondern auch, wie aus den Randnrn. 61 und 62 des vorliegenden Urteils hervorgeht und die Kommission in ihren Erklärungen geltend gemacht hat, das Verbot jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit beinhaltet, ist die Weigerung der Behörden eines Mitgliedstaats, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, Personenstandsurkunden zu ändern, an dieser Bestimmung zu messen. Zum Vorliegen einer Beschränkung der Freizügigkeit 66      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Vor- und Nachnamen einer Person Teil ihrer Identität und ihres Privatlebens sind, deren Schutz in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist. Auch wenn Vor- und Nachnamen einer Person in Art. 8 dieser Konvention nicht ausdrücklich erwähnt werden, betreffen sie dennoch als Mittel der persönlichen Identifizierung und der Zuordnung zu einer Familie das Privat- und Familienleben dieser Person (vgl. u. a. Urteil Sayn-Wittgenstein, Randnr. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). 67      Da ein Unionsbürger in allen Mitgliedstaaten Anspruch auf die gleiche rechtliche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats hat, die sich in der gleichen Situation befinden, wäre es mit dem Recht auf Freizügigkeit unvereinbar, wenn der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger er ist, ihn deshalb weniger günstig behandeln würde, weil er von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die ihm die Freizügigkeitsbestimmungen des Vertrags eröffnen (Urteil D’Hoop, Randnr. 30). 68      Der Gerichtshof hat nämlich bereits festgestellt, dass eine nationale Regelung, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligt, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und sich dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, eine Beschränkung der Freiheiten darstellt, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger verleiht (vgl. insbesondere Urteile Grunkin und Paul, Randnr. 21, sowie Sayn-Wittgenstein, Randnr. 53). 69      Was erstens den Antrag der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf Änderung ihres Vor- und ihres Mädchennamens in der Geburtsurkunde und in der Heiratsurkunde betrifft, die vom Standesamt Vilnius ausgestellt wurden, ist festzustellen, dass, wenn sich ein Unionsbürger in einen anderen Mitgliedstaat begibt und in der Folge mit einem Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats die Ehe schließt, in dem Umstand, dass sein Nachname, den er bis zu seiner Eheschließung getragen hat, und sein Vorname in den Personenstandsurkunden seines Herkunftsmitgliedstaats nur in Buchstaben der Sprache dieses Mitgliedstaats geändert und umgeschrieben werden dürfen, keine ungünstigere Behandlung liegt als die, die ihm zuteil wurde, bevor er von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die ihm die Freizügigkeitsbestimmungen des Vertrags eröffnen. 70      Dass ein entsprechendes Recht nicht besteht, kann den Unionsbürger also nicht davon abhalten, die durch Art. 21 AEUV zuerkannten Freizügigkeitsrechte wahrzunehmen, und stellt somit keine Beschränkung dar. In sämtlichen Dokumenten, die der Klägerin des Ausgangsverfahrens von den zuständigen litauischen Behörden ausgestellt wurden und Gegenstand des Ausgangsverfahrens sind, sind der Vor‑ und der Mädchenname, die bei der Geburt eingetragen worden waren, auf gleiche Weise umgeschrieben worden, so dass keine Beschränkung der Ausübung dieser Rechte vorliegt. 71      Daraus folgt, dass es Art. 21 AEUV den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, es in Anwendung einer nationalen Regelung, nach Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, abzulehnen, den Nachnamen eines seiner Staatsangehörigen, den dieser bis zu seiner Eheschließung getragen hat, und seinen Vornamen zu ändern, wenn diese Namen bei der Geburt entsprechend dieser nationalen Regelung eingetragen wurden. 72      Was zweitens die Änderungsanträge der Kläger der Ausgangsverfahren bezüglich der Hinzufügung des Nachnamens des Ehemanns zum Mädchennamen der Klägerin des Ausgangsverfahrens in der Heiratsurkunde betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Hinzufügung entsprechend der geltenden litauischen Regelung auf ausdrücklichen Antrag der Kläger des Ausgangsverfahrens vorgenommen wurde. 73      Viele alltägliche Handlungen im öffentlichen wie im privaten Bereich erfordern den Nachweis der eigenen Identität und überdies, wenn es sich um eine Familie handelt, den Nachweis der Art der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den verschiedenen Familienangehörigen. Ein aus Unionsbürgern bestehendes Paar wie das des Ausgangsverfahrens, das in einem anderen Mitgliedstaat als ihren Herkunftsmitgliedstaaten wohnt, muss nach der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, und Berichtigungen im ABl. 2004, L 229, S. 35, L 197, S. 34, und ABl. 2007, L 204, S. 28) in der Lage sein, die zwischen ihnen bestehende Beziehung nachzuweisen. 74      Zwar sind die unterschiedlichen Schreibweisen des Vor- und des Mädchennamens der Klägerin des Ausgangsverfahrens in den von den litauischen und den polnischen Behörden ausgestellten Personenstandsurkunden auf eine bewusste Entscheidung der Klägerin zurückzuführen und stellen als solche daher keine Beschränkung ihres Rechts dar, sich frei zu bewegen und aufzuhalten. Es lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass der Umstand, dass der Nachname ihres Ehemanns ihrem Mädchennamen in der Heiratsurkunde in einer Form hinzugefügt wurde, die weder dem in dessen Herkunftsmitgliedstaat eingetragenen Nachnamen noch im Übrigen dem Nachnamen entspricht, wie er für ihn in dieser Heiratsurkunde umgeschrieben worden ist, geeignet sein kann, für die Betroffenen Nachteile zu bewirken. 75      Solche Nachteile könnten sich nämlich aus der abweichenden Umschrift ein- und desselben Nachnamens ergeben, mit dem zwei ein Paar bildende Personen bezeichnet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile Garcia Avello, Randnr. 36, sowie Sayn-Wittgenstein, Randnrn. 55 und 66). 76      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt die auf die fragliche nationale Regelung gestützte Weigerung, den den Klägern des Ausgangsverfahrens gemeinsamen Nachnamen zu ändern, nur dann eine Beschränkung der durch Art. 21 AEUV verliehenen Freiheiten dar, wenn den Betroffenen daraus „schwerwiegende Nachteile“ administrativer, beruflicher und privater Art erwachsen können (vgl. in diesem Sinne Urteile Garcia Avello, Randnr. 36, Grunkin und Paul, Randnrn. 23 bis 28, sowie Sayn-Wittgenstein, Randnrn. 67, 69 und 70). 77      Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu ermitteln, ob eine Familie wie diejenige der Kläger des Ausgangsverfahren wegen der Weigerung der zuständigen Behörden, im Nachnamen eines der Familienmitglieder den Buchstaben „V“ in ein „W“ abzuändern, konkret Gefahr läuft, Zweifel an ihrer Identität sowie an der Echtheit der von ihnen vorgelegten Dokumente ausräumen zu müssen. Impliziert diese Weigerung unter den Umständen des Ausgangsverfahrens die Möglichkeit, dass die Wahrheitsgemäßheit der in diesen Unterlagen enthaltenen Angaben angezweifelt und die Identität dieser Familie und der zwischen den Familienangehörigen bestehenden Beziehung in Frage gestellt wird, könnte dies erhebliche Folgen für die Ausübung des unmittelbar durch Art. 21 AEUV eingeräumten Aufenthaltsrechts haben (vgl. in diesem Sinne auch Urteile Garcia Avello, Randnr. 36, und Sayn-Wittgenstein, Randnrn. 55 und 66 bis 70). 78      Es ist folglich Sache des vorlegenden Gericht, zu ermitteln, ob die Weigerung der zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats, in Anwendung der nationalen Regelung die Heiratsurkunde eines aus Unionsbürgern bestehenden Paares zu ändern, damit der den Ehegatten gemeinsame Nachname zum einen einheitlich und zum anderen in eine Form umgeschrieben wird, die den Schreibregeln des Herkunftsmitgliedstaats des Ehegatten, um dessen Nachnamen es geht, entspricht, schwerwiegende Nachteile administrativer, beruflicher und privater Art für die Betroffenen bewirken kann. Wenn dies der Fall ist, handelt es sich um eine Beschränkung der durch Art. 21 AEUV jedem Unionsbürger zuerkannten Freiheiten. 79      Was drittens den Antrag des Klägers des Ausgangsverfahrens betrifft, seine Vornamen in der vom Standesamt Vilnius ausgestellten Heiratsurkunde in eine den polnischen Schreibregeln entsprechende Form umzuschreiben, nämlich in „Łukasz Paweł“, ist darauf hinzuweisen, dass diese Vornamen dort in „Lukasz Pawel“ umgeschrieben wurden. Der Unterschied zwischen diesen Umschriften soll darin liegen, dass die nicht in der litauischen Sprache verwendeten diakritischen Zeichen weggelassen wurden. 80      In diesem Zusammenhang machen der Kläger des Ausgangsverfahrens und die polnische Regierung geltend, dass jede Änderung der Originalschreibweise des Vor- oder des Nachnamens einer Person in von den Behörden ihres Herkunftsmitgliedstaats ausgestellten Personenstandsurkunden durch die Behörden eines Mitgliedstaats nachteilige Folgen haben könne, gleichviel, ob die Änderung in einer neuen Umschrift des in Rede stehenden Vor- und/oder Nachnamens bestehe oder sich aus dem bloßen Weglassen der diakritischen Zeichen ergebe. Die Aussprache des Vor- und/oder des Nachnamens könne nämlich dadurch berührt werden, da durch das Weglassen eines diakritischen Zeichens in bestimmten Fällen ein anderer Namen entstehen könne. 81      Diakritische Zeichen werden jedoch oft, wie der Generalanwalt in Nr. 96 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bei vielen Handlungen des täglichen Lebens aus technischen Gründen, wie z. B. objektiven Zwängen bestimmter Informatiksysteme, weggelassen. Außerdem kennt eine Person, die keine Fremdsprache beherrscht, die Bedeutung diakritischer Zeichen oftmals nicht und bemerkt sie nicht einmal. Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass dem Betroffenen allein durch das Weglassen dieser Zeichen tatsächliche und schwerwiegende Nachteile im Sinne der in Randnr. 76 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung erwachsen können, die geeignet sind, Zweifel an seiner Identität und an der Echtheit der von ihm vorgelegten Dokumente oder an der Wahrheitsgemäßheit der darin enthaltenen Angaben zu wecken. 82      Daraus folgt, dass die auf die geltende nationale Regelung gestützte Weigerung der zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats, die Heiratsurkunde eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, zu ändern, damit seine Vornamen in dieser Urkunde mit diakritischen Zeichen so geschrieben werden, wie sie in den von seinem Herkunftsmitgliedstaat ausgestellten Personenstandsurkunden geschrieben sind und wie es den Schreibregeln der offiziellen Landessprache dieses Staates entspricht, in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden keine Beschränkung der durch Art. 21 AEUV jedem Unionsbürger zuerkannten Freiheiten darstellt. Zum Bestehen einer Rechtfertigung für eine Beschränkung der Freizügigkeit und der Aufenthaltsfreiheit der Unionsbürger 83      Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass die Weigerung der Änderung des den Klägern des Ausgangsverfahrens gemeinsamen Nachnamens eine Einschränkung des Art. 21 AEUV darstellt, ist darauf hinzuweisen, dass sich nach ständiger Rechtsprechung eine Beschränkung der Freizügigkeit von Personen nur rechtfertigen lässt, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck steht (vgl. u. a. Urteile Grunkin und Paul, Randnr. 29, sowie Sayn-Wittgenstein, Randnr. 81). 84      Nach Auffassung der Regierungen, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, darf ein Mitgliedstaat über den Schutz der Amtssprache wachen, um die nationale Einheit zu gewährleisten und den sozialen Zusammenhalt zu wahren. Die litauische Regierung hebt insbesondere hervor, dass die litauische Sprache einen Verfassungswert darstelle, der die Identität der Nation bewahre, zur Integration der Bürger beitrage und den Ausdruck der nationalen Souveränität, die Unteilbarkeit des Staates und das ordnungsgemäße Funktionieren der Dienststellen des Staates und der Gebietskörperschaften sicherstelle. 85      Hierzu ist festzustellen, dass es das Unionsrecht einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, eine Politik zum Schutz und zur Förderung seiner National- und ersten Amtssprache zu betreiben (vgl. Urteil vom 28. November 1989, Groener, C‑379/87, Slg. 1989, 3967, Randnr. 19). 86      Nach Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV und Art. 22 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wahrt die Union den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Nach Art. 4 Abs. 2 EUV achtet die Union auch die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, zu der auch der Schutz der offiziellen Landessprache des Staates gehört. 87      Daraus folgt, dass das mit einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens verfolgte Ziel, die offizielle Landessprache dadurch zu schützen, dass die für diese Sprache geltenden Schreibregeln vorgeschrieben werden, grundsätzlich ein legitimes Ziel darstellt, das Beschränkungen der in Art. 21 AEUV vorgesehenen Rechte, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, rechtfertigen und bei der Abwägung legitimer Belange auf der einen Seite und diesen vom Unionsrecht gewährten Rechten auf der anderen berücksichtigt werden kann. 88      Maßnahmen, durch die eine Grundfreiheit eingeschränkt wird, können nur dann durch objektive Erwägungen gerechtfertigt werden, wenn sie zum Schutz der Belange, die sie gewährleisten sollen, erforderlich sind, und auch nur insoweit, als diese Ziele nicht mit weniger einschränkenden Maßnahmen erreicht werden können (vgl. Urteil Sayn-Wittgenstein, Randnr. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung). 89      Wie sich aus Randnr. 66 des vorliegenden Urteils ergibt, ist der Nachname einer Person Teil ihrer Identität und ihres Privatlebens, dessen Schutz in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist. 90      Überdies wird im Unionsrecht die Bedeutung anerkannt, die der Gewährleistung des Schutzes des Familienlebens der Unionsbürger für die Beseitigung der Hindernisse bei der Ausübung der vom Vertrag garantierten Grundfreiheiten zukommt (vgl. Urteil vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C‑482/01 und C‑493/01, Slg. 2004, I‑5257, Randnr. 98). 91      Wenn festgestellt wird, dass die Weigerung, den gemeinsamen Nachnamen des im Ausgangsverfahren betroffenen aus Unionsbürgern bestehenden Paares zu ändern, schwerwiegende Nachteile administrativer, beruflicher und privater Art für dieses Paar oder seine Familie verursacht, hat das vorlegende Gericht zu ermitteln, ob diese Weigerung ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den zu berücksichtigenden Belangen wahrt, nämlich zum einen dem Recht der Kläger des Ausgangsverfahrens auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens und zum anderen dem legitimen Schutz, den der betroffene Mitgliedstaat seiner offiziellen Landessprache und seinen Traditionen zukommen lässt. 92      Was die Umwandlung des polnischen Nachnamens „Wardyn“ in „Vardyn“ in der Heiratsurkunde betrifft, könnte sich die Unverhältnismäßigkeit der Weigerung des Standesamts Vilnius, den entsprechenden Anträgen der Kläger des Ausgangsverfahrens stattzugeben, möglicherweise daraus ergeben, dass das Amt diesen Namen in der Heiratsurkunde für den Kläger des Ausgangsverfahrens den fraglichen polnischen Schreibregeln entsprechend geschrieben hat. 93      Es ist außerdem festzustellen, dass nach den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen Nachnamen von Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten in Litauen unter Verwendung von Buchstaben des lateinischen Alphabets, die es im litauischen Alphabet nicht gibt, umgeschrieben werden können. Dies wird im Übrigen dadurch belegt, dass der Nachname des Klägers des Ausgangsverfahrens in der Heiratsurkunde mit dem Buchstaben „W“ beginnt, der im litauischen Alphabet nicht existiert. 94      Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 21 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es –        den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, es in Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, abzulehnen, in der Geburtsurkunde und der Heiratsurkunde eines seiner Staatsangehörigen dessen Nachnamen und Vornamen nach den Schreibregeln eines anderen Mitgliedstaats abzuändern; –        den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens und in Anwendung der genannten Regelung abzulehnen, den gemeinsamen Nachnamen eines aus Unionsbürgern bestehenden Ehepaars, wie er in den vom Herkunftsmitgliedstaat eines dieser Bürger ausgestellten Personenstandsurkunden angegeben ist, in eine den Schreibregeln dieses Mitgliedstaats entsprechende Form zu ändern, sofern diese Weigerung für diese Unionsbürger keine schwerwiegenden Nachteile administrativer, beruflicher und privater Art verursacht, was das vorlegende Gericht zu ermitteln hat; sollte dies der Fall sein, hat dieses Gericht weiter zu prüfen, ob die Weigerung der Änderung zum Schutz der Belange erforderlich ist, die die nationale Regelung sichern soll, und in einem angemessenen Verhältnis zu dem legitimerweise verfolgten Ziel steht; –        den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens und in Anwendung der genannten Regelung abzulehnen, die Heiratsurkunde eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, zu ändern, damit seine Vornamen in dieser Urkunde mit diakritischen Zeichen so geschrieben werden, wie sie in den von seinem Herkunftsmitgliedstaat ausgestellten Personenstandsurkunden geschrieben sind und wie es den Schreibregeln der offiziellen Landessprache dieses Staates entspricht. Kosten 95      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt: 1.      Eine nationale Regelung, nach der Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, betrifft einen Sachverhalt, der nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft fällt. 2.      Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es –        den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, es in Anwendung einer nationalen Regelung, nach der Vor- und Nachnamen einer Person in Personenstandsurkunden dieses Staates nur in eine den Schreibregeln der offiziellen Landessprache entsprechende Form umgeschrieben werden dürfen, abzulehnen, in der Geburtsurkunde und der Heiratsurkunde eines seiner Staatsangehörigen dessen Nachnamen und Vornamen nach den Schreibregeln eines anderen Mitgliedstaats abzuändern; –        den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens und in Anwendung der genannten Regelung abzulehnen, den gemeinsamen Nachnamen eines aus Unionsbürgern bestehenden Ehepaars, wie er in den vom Herkunftsmitgliedstaat eines dieser Bürger ausgestellten Personenstandsurkunden angegeben ist, in eine den Schreibregeln dieses Mitgliedstaats entsprechende Form zu ändern, sofern diese Weigerung für diese Unionsbürger keine schwerwiegenden Nachteile administrativer, beruflicher und privater Art verursacht, was das vorlegende Gericht zu ermitteln hat; sollte dies der Fall sein, hat dieses Gericht weiter zu prüfen, ob die Weigerung der Änderung zum Schutz der Belange erforderlich ist, die die nationale Regelung sichern soll, und in einem angemessenen Verhältnis zu dem legitimerweise verfolgten Ziel steht; –        den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens und in Anwendung der genannten Regelung abzulehnen, die Heiratsurkunde eines Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, zu ändern, damit seine Vornamen in dieser Urkunde mit diakritischen Zeichen so geschrieben werden, wie sie in den von seinem Herkunftsmitgliedstaat ausgestellten Personenstandsurkunden geschrieben sind und wie es den Schreibregeln der offiziellen Landessprache dieses Staates entspricht. Unterschriften * Verfahrenssprache: Litauisch.
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 4. September 2024.#Igor Albertovich Kesaev gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen – Einfrieren von Geldern – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden – Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste und Belassung auf der Liste – Begriff ‚führende Geschäftsleute‘ – Begriff ‚Geschäftsleute, die in Wirtschaftssektoren tätig sind, die eine wesentliche Einnahmequelle für die Regierung der Russischen Föderation darstellen‘ – Art. 2 Abs. 1 Buchst. g des Beschlusses 2014/145/GASP – Art. 3 Abs. 1 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 – Einrede der Rechtswidrigkeit – Beurteilungsfehler – Recht auf Anhörung – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit – Rechtssicherheit – Gleichbehandlung.#Rechtssachen T-290/22 und T-763/22.
62022TJ0290
ECLI:EU:T:2024:575
2024-09-04T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62022TJ0290 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62022TJ0290 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62022TJ0290 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 7. März 2018.#Bruno Gollnisch gegen Europäisches Parlament.#Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Zulage für parlamentarische Assistenz – Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge – Zuständigkeit des Generalsekretärs – Electa una via – Verteidigungsrechte – Beweislast – Begründungspflicht – Berechtigtes Vertrauen – Politische Rechte – Gleichbehandlung – Ermessensmissbrauch – Unabhängigkeit der Abgeordneten – Tatsachenirrtum – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T-624/16.
62016TJ0624
ECLI:EU:T:2018:121
2018-03-07T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62016TJ0624 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62016TJ0624 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62016TJ0624 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 6. März 2025.#Obshtina Veliko Tarnovo und Obshtina Belovo gegen Rakovoditel na Upravlyavashtia organ na Operativna programa „Regioni v rastezh“ 2014-2020 und Rakovoditel na Upravlyavashtia organ na Operativna programa „Оkolna sreda“ 2014-2020.#Vorabentscheidungsersuchen des Varhoven administrativen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt – Eigenmittel der Europäischen Union – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 – Art. 2 Nr. 10 – Begriff ‚Begünstigter‘ – Finanzielle Berichtigung wegen Verstoßes gegen nationale Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge – Adressat einer Entscheidung über eine finanzielle Berichtigung – Bestimmung der Haftung für diese Berichtigung und vertragliche Aufteilung dieser Haftung zwischen dem Empfänger einer staatlichen Beihilfe und dem Verwalter dieser Beihilfe – Beteiligung am Verwaltungsverfahren und am Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dieser Entscheidung – Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.#Verbundene Rechtssachen C-471/23 und C-477/23.
62023CJ0471
ECLI:EU:C:2025:155
2025-03-06T00:00:00
Ćapeta, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62023CJ0471 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer) 6. März 2025 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt – Eigenmittel der Europäischen Union – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 – Art. 2 Nr. 10 – Begriff ‚Begünstigter‘ – Finanzielle Berichtigung wegen Verstoßes gegen nationale Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge – Adressat einer Entscheidung über eine finanzielle Berichtigung – Bestimmung der Haftung für diese Berichtigung und vertragliche Aufteilung dieser Haftung zwischen dem Empfänger einer staatlichen Beihilfe und dem Verwalter dieser Beihilfe – Beteiligung am Verwaltungsverfahren und am Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dieser Entscheidung – Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ In den verbundenen Rechtssachen C‑471/23 und C‑477/23 betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) mit Entscheidungen vom 13. Juli 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Juli 2023, in den Verfahren Obshtina Veliko Tarnovo (C‑471/23), Obshtina Belovo (C‑477/23) gegen Rakovoditel na Upravlyavashtia organ na Operativna programa „Regioni v rastezh“ 2014-2020 (C‑471/23), Rakovoditel na Upravlyavashtia organ na Operativna programa „Okolna sreda“ 2014-2020 (C‑477/23), Beteiligte: Varhovna administrativna prokuratura, erlässt DER GERICHTSHOF (Achte Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten der Neunten Kammer N. Jääskinen in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer, der Richter M. Gavalec (Berichterstatter) und J. Passer, Generalanwältin: T. Ćapeta, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Obshtina Belovo, vertreten durch A. A. Kecheva, – des Rakovoditel na Upravlyavashtia organ na Operativna programa „Оkolna sreda“ 2014-2020, vertreten durch G. Simeonova, – der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Drambozova, C. Ehrbar und J. Hradil als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2 Nrn. 10, 36 und 37 der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 320, berichtigt in ABl. 2016, L 200, S. 140) in der durch die Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 (ABl. 2018, L 193, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1303/2013) sowie der Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten, in denen sich erstens die Obshtina Veliko Tarnovo (Gemeinde Veliko Tarnovo, Bulgarien) und der Rakovoditel na Upravlyavashtia organ na Operativna programa „Regioni v rastezh“ 2014‑2020 (Leiter der Verwaltungsbehörde für das Operationelle Programm „Regionen im Wachstum“ 2014‑2020) (C‑471/23) sowie zweitens die Obshtina Belovo (Gemeinde Belovo, Bulgarien) und der Rakovoditel na Upravlyavashtia organ na Operativna programa „okolna sreda“ 2014‑2020 (Leiter der Verwaltungsbehörde für das Operationelle Programm „Umwelt“ 2014‑2020) (C‑477/23) einander gegenüberstehen, und die die Modalitäten für den Erlass von Entscheidungen über finanzielle Berichtigungen infolge von Unregelmäßigkeiten zum Gegenstand haben, die bei der Durchführung von aus Mitteln der Europäischen Union kofinanzierten Projekten festgestellt wurden. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 3 In den Erwägungsgründen 5, 33 und 36 der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG) Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates (ABl. 2007, L 315, S. 1) heißt es: „(5) … Entscheidet ein Mitgliedstaat sich im Einklang mit dieser Verordnung dafür, bestimmte allgemeine Regeln aus ihrem Anwendungsbereich herauszunehmen, so sollte die allgemeine Regelung für staatliche Beihilfen zur Anwendung kommen. … (33) In seinem Urteil [vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (C‑280/00, EU:C:2003:415)] hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in den Randnummern 87 bis 95 festgestellt, dass Ausgleichsleistungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen keine Begünstigung im Sinne von Artikel [107 AEUV] darstellen, sofern vier kumulative Voraussetzungen erfüllt sind. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, jedoch die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel [107 Absatz 1 AEUV], stellen die Ausgleichsleistungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen staatliche Beihilfen dar, und es gelten die Artikel [93, 106, 107 und 108 AEUV]. … (36) … Alle anderen durch diese Verordnung nicht erfassten Ausgleichsleistungen für die Erbringung öffentlicher Personenverkehrsdienste, die staatliche Beihilfen im Sinne des Artikels [107 Abs. 1 AEUV] beinhalten könnten, sollten den Bestimmungen der Artikel [93, 106, 107 und 108 AEUV] entsprechen, einschließlich aller Auslegungen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und insbesondere dessen [Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (C‑280/00, EU:C:2003:415)]. …“ Verordnung Nr. 1303/2013 4 In den Erwägungsgründen 65 und 66 der Verordnung Nr. 1303/2013 wird ausgeführt: „(65) Die Mitgliedstaaten sollten geeignete Vorkehrungen treffen, um eine ordnungsgemäße Struktur und Funktion ihrer Verwaltungs- und Kontrollsysteme zu gewährleisten, so dass eine rechtmäßige und ordnungsgemäße Nutzung der [Europäischen Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds)] gewährleistet ist. … (66) Im Einklang mit dem Grundsatz der geteilten Verwaltung sollte die Verantwortung für die Verwaltung und Kontrolle der Programme bei den Mitgliedstaaten und der Kommission liegen. In erster Linie sollten die Mitgliedstaaten über ihre Verwaltungs- und Kontrollsysteme für die Durchführung und Kontrolle der Vorhaben im Rahmen der Programme verantwortlich sein. …“ 5 In Art. 1 („Gegenstand“) der Verordnung Nr. 1303/2013 heißt es: „In dieser Verordnung werden die gemeinsamen Regelungen für den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), den Europäischen Sozialfonds (ESF), den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes (ELER) und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds (EMFF), für die ein gemeinsamer Rahmen (im Folgenden ‚europäische Struktur- und Investitionsfonds‘ – ‚ESI-Fonds‘) gilt, festgelegt. … …“ 6 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung Nr. 1303/2013 sieht vor: „Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck … 10. ‚Begünstigter‘ eine Einrichtung des öffentlichen oder privaten Rechts oder eine natürliche Person, die mit der Einleitung oder mit der Einleitung und Durchführung von Vorhaben betraut ist, und a) im Zusammenhang mit staatlichen Beihilfen die Stelle, die die Beihilfe erhält, es sei denn, die Beihilfe je Unternehmen beträgt weniger als 200000 [Euro], wobei der betreffende Mitgliedstaat in diesem Fall beschließen kann, dass der Begünstigte die Stelle ist, die die Beihilfe gewährt, unbeschadet der Verordnungen (EU) Nr. 1407/2013 [der Kommission vom 18. Dezember 2013 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 (AEUV) auf De-minimis-Beihilfen (ABl. 2013, L 352, S. 1)], (EU) Nr. 1408/2013 [der Kommission vom 18. Dezember 2013 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 (AEUV) auf De-minimis-Beihilfen im Agrarsektor (ABl. 2013, L 352, S. 9)] und (EU) Nr. 717/2014 der Kommission [vom 27. Juni 2014 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 AEUV auf De-minimis-Beihilfen im Fischerei- und Aquakultursektor (ABl. 2014, L 190, S. 45)]; und b) im Zusammenhang mit den in Teil Zwei Titel IV dieser Verordnung genannten Finanzinstrumenten bezeichnet der Ausdruck die Stelle, die das Finanzinstrument oder gegebenenfalls den Dachfonds einsetzt; … 36. ‚Unregelmäßigkeit‘ jeden Verstoß gegen Unionsrecht oder gegen nationale Vorschriften zu dessen Anwendung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines an der Inanspruchnahme von Mitteln aus den ESI-Fonds beteiligten Wirtschaftsteilnehmers, die einen Schaden für den Haushalt der Union in Form einer ungerechtfertigten Ausgabe bewirkt oder bewirken würde; 37. ‚Wirtschaftsteilnehmer‘ jede natürliche oder juristische Person oder jede andere Einrichtung, die an der Durchführung der Unterstützung aus den ESI-Fonds beteiligt ist; hiervon ausgenommen ist ein Mitgliedstaat, der seine Befugnisse als Behörde ausübt; …“ 7 In Art. 143 („Finanzielle Berichtigungen durch die Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 1303/2013 heißt es: „(1)   Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen, die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen und die Wiedereinziehungen zu betreiben. Im Falle einer systembedingten Unregelmäßigkeit umfassen die Untersuchungen des Mitgliedstaats alle möglicherweise betroffenen Vorhaben. (2)   Die Mitgliedstaaten nehmen die finanziellen Berichtigungen vor, die aufgrund der im Rahmen von Vorhaben oder operationellen Programmen festgestellten vereinzelten oder systembedingten Unregelmäßigkeiten notwendig sind. Finanzielle Berichtigungen bestehen in der vollständigen oder teilweisen Streichung des öffentlichen Beitrags zu einem Vorhaben oder operationellen Programm. Der Mitgliedstaat berücksichtigt Art und Schweregrad der Unregelmäßigkeiten sowie den den Fonds oder dem EMFF entstandenen finanziellen Verlust und nimmt angemessene Korrekturen vor. Finanzielle Berichtigungen werden im Abschluss für das Geschäftsjahr verbucht, in dem die Streichung beschlossen wurde. …“ Bulgarisches Recht ZUSEFSU 8 In Art. 70 des Zakon za upravlenie na sredstvata ot evropeyskite fondove pri spodeleno upravlenie (Gesetz über die Verwaltung der Mittel aus den Europäischen Fonds unter geteilter Mittelverwaltung, DV Nr. 101 vom 22. Dezember 2015, dessen Titel vor der in DV Nr. 51 aus dem Jahr 2022 erschienenen und am 1. Juli 2022 in Kraft getretenen Änderung lautete: Zakon za upravlenie na sredstvata ot evropeyskite strukturni i investitsionni fondove [Gesetz über die Verwaltung der Mittel aus den Europäischen Struktur- und Investitionsfonds]) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZUSEFSU) heißt es: „(1)   Die finanzielle Unterstützung aus Mitteln aus den ESI-Fonds kann durch Vornahme einer finanziellen Berichtigung aus folgenden Gründen ganz oder teilweise gestrichen werden: … 9. aufgrund einer Unregelmäßigkeit, die einen Verstoß gegen die Vorschriften über die Benennung eines Auftragnehmers gemäß Kapitel 4 durch eine Handlung oder Unterlassung des Begünstigten darstellt und einen Schaden für die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds bewirkt oder bewirken würde; … (2)   Die Fälle von Unregelmäßigkeiten, die zu finanziellen Berichtigungen im Sinne von Abs. 1 Nr. 9 führen, werden in einem Rechtsakt des Ministerrats aufgeführt.“ 9 Art. 73 Abs. 1 ZUSEFSU lautet: „Die Grundlage und die Höhe der finanziellen Berichtigung legt der Leiter der Verwaltungsbehörde, die das Projekt genehmigt hat, in einer mit Gründen versehenen Entscheidung fest.“ Gesetz über das öffentliche Auftragswesen 10 Nach Art. 2 Abs. 2 des Zakon za obshtestvenite porachki (Gesetz über das öffentliche Auftragswesen, DV Nr. 13 vom 16. Februar 2016) dürfen öffentliche Auftraggeber bei der Vergabe öffentlicher Aufträge den Wettbewerb nicht durch Bedingungen oder Anforderungen beschränken, die einen ungerechtfertigten Vorteil verschaffen oder die Teilhabe von Wirtschaftsteilnehmern an öffentlichen Aufträgen ungerechtfertigt beschränken und mit dem Gegenstand, dem Wert, der Komplexität, der Menge oder dem Umfang des öffentlichen Auftrags nicht im Einklang stehen. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen Rechtssache C‑471/23 11 Infolge eines Auswahlverfahrens im Rahmen des Operationellen Programms „Regionen im Wachstum“ 2014‑2020, das Teil der Partnerschaftsvereinbarung der Republik Bulgarien für den Programmplanungszeitraum 2014‑2020 ist, wurde der Gemeinde Veliko Tarnovo der Zuschuss „Umsetzung integrierter Städtebau- und Stadtentwicklungskonzepte 2014‑2020“ unmittelbar gewährt. 12 Am 24. August 2018 schloss diese Gemeinde mit der „Organizatsia na dvizhenieto, parkingi i garazhi“ EOOD (Betrieb für Verkehrswesen, Parkplatz- und Parkhausbewirtschaftung, im Folgenden: kommunale Gesellschaft) einen Partnerschaftsvertrag. Dieser Partnerschaftsvertrag sieht vor, dass die Gemeinde als „federführender Partner“ und die kommunale Gesellschaft als „Partner“ im Projekt „Integrierter städtischer Verkehr der Stadt Veliko Tarnovo“ im Rahmen dieses operationellen Programms benannt werden. 13 Nach dem Partnerschaftsvertrag obliegt es dem federführenden Partner im Fall der Bewilligung des Projekts, einen Verwaltungsvertrag zu schließen. Der Partner, d. h. im vorliegenden Fall die kommunale Gesellschaft, ist in seiner Eigenschaft als öffentlicher Auftraggeber verpflichtet, nach dem Gesetz über das öffentliche Auftragswesen ein Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags über die Lieferung von Schienenfahrzeugen durchzuführen. Im Partnerschaftsvertrag ist ferner geregelt, dass, falls im Rahmen dieses Verfahrens Verstöße begangen werden, die eine finanzielle Berichtigung rechtfertigen, die von dieser Berichtigung betroffenen Mittel in Höhe der Berichtigung von dem öffentlichen Auftraggeber zu tragen sind, der Partei des zu der Berichtigung Anlass gebenden Vertrags ist. 14 Am 19. Juli 2019 schloss die Gemeinde Veliko Tarnovo als Begünstigte des Zuschusses „Umsetzung integrierter Städtebau- und Stadtentwicklungskonzepte 2014‑2020“ mit der Verwaltungsbehörde des Operationellen Programms „Regionen im Wachstum“ 2014‑2020 einen Verwaltungsvertrag über einen Gesamtwert von 11133732,51 Lewa (BGN) (etwa 5700000 Euro), wovon ein Betrag von 10409573,31 BGN (etwa 5300000 Euro) auf den Zuschuss entfiel und ein Betrag von 724159,20 BGN (etwa 370000 Euro) als Eigenbeitrag des Begünstigten vorgesehen war. 15 Nach diesem Verwaltungsvertrag stellt ein Teil des in Rede stehenden Zuschussbetrags eine staatliche Beihilfe zugunsten des Betreibers eines öffentlichen Personenverkehrsdiensts in Form einer Ausgleichsleistung für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen gemäß der Verordnung Nr. 1370/2007 dar. Verwalter dieser Beihilfe ist die Gemeinde Veliko Tarnovo, die die Einhaltung der anwendbaren Regelungen im Einklang mit den sich aus dieser Verordnung ergebenden Anforderungen, einschließlich der Einführung und Anwendung angemessener Mechanismen zur Kontrolle von deren Einhaltung, zu gewährleisten hat. 16 Der Begünstigte haftet gemäß den allgemeinen Bedingungen dieses Verwaltungsvertrags gegenüber der Verwaltungsbehörde des Operationellen Programms „Regionen im Wachstum“ 2014‑2020 für Handlungen von Partnern und externen Auftragnehmern bei der Durchführung des betreffenden Projekts und trägt „auf eigene Kosten alle Risiken, einschließlich nicht förderfähiger Ausgaben und finanzieller Berichtigungen, die zulasten des Zuschusses für den Haushalt des Projekts gehen“. 17 Nachdem die kommunale Gesellschaft in ihrer Eigenschaft als Erbringer einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse und als benannter Empfänger einer staatlichen Beihilfe aus Mitteln der ESI-Fonds ein Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags eingeleitet hatte, schloss sie am 31. März 2020 mit dem Auftragnehmer „Excelor-Alfa“ DZZD einen Vertrag über einen öffentlichen Auftrag, der die Lieferung von drei Elektrobussen zum Gegenstand hatte. 18 Infolge einer Unregelmäßigkeitsmeldung erließ die Verwaltungsbehörde des Operationellen Programms „Regionen im Wachstum“ 2014‑2020 wegen einer von der kommunalen Gesellschaft begangenen Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 70 Abs. 1 Nr. 9 ZUSEFSU am 11. Mai 2022 gegenüber der Gemeinde Veliko Tarnovo eine Entscheidung über eine finanzielle Berichtigung (im Folgenden: Entscheidung vom 11. Mai 2022 über die finanzielle Berichtigung). Die finanzielle Berichtigung belief sich auf 25 % der im Rahmen dieses öffentlichen Auftrags aus den ESI-Fonds förderfähigen Mittel. 19 Gegen diese Entscheidung erhob die Gemeinde Veliko Tarnovo Klage beim Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo, Bulgarien). 20 Mit Urteil vom 1. November 2022 wies dieses Gericht die Klage mit der Begründung ab, die Gemeinde Veliko Tarnovo sei alleiniger Begünstigter des in Rede stehenden Zuschusses, da sie Partei des in Rn. 14 des vorliegenden Urteils genannten Verwaltungsvertrags sei, und könne als Partei dieses Vertrags berechtigterweise als Adressat der Entscheidung, mit der die betreffende finanzielle Berichtigung festgesetzt worden sei, angesehen werden. Ferner befreie der Umstand, dass die Gemeinde als Begünstigter dieses Zuschusses für bestimmte Tätigkeiten Partnerschaftsverträge abgeschlossen habe, sie nicht von ihrer Haftung als Partei dieses Vertrags, der ein unmittelbares Rechtsverhältnis mit der Verwaltungsbehörde des Operationellen Programms „Regionen im Wachstum“ 2014‑2020 begründe. Schließlich stellte das Gericht fest, dass die Klausel über die Haftung für Verstöße und Risiken, einschließlich finanzieller Berichtigungen, insofern Regresscharakter habe, als sie darauf abziele, im Innenverhältnis zwischen den Partnern zu bestimmen, wer für solche Berichtigungen hafte. 21 Gegen dieses Urteil legte die Gemeinde Veliko Tarnovo beim Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde ein. 22 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass zunächst für die Antwort auf die Frage, ob die Gemeinde Veliko Tarnovo die alleinige Begünstigte des in Rede stehenden Zuschusses sei und ob sie in dieser Eigenschaft einen Verstoß gegen bulgarisches Recht begangen habe, der zu einer finanziellen Berichtigung geführt habe, der Begriff „Begünstigter“ im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 auszulegen sei. 23 Sodann stelle sich die Frage, ob die Gemeinde Veliko Tarnovo aufgrund einer von der kommunalen Gesellschaft begangenen Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013 als Adressat der Entscheidung vom 11. Mai 2022 über eine finanzielle Berichtigung angesehen werden könne und somit für Verstöße haften müsse, die in dem von dieser Gesellschaft eingeleiteten Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags begangen worden seien, wenn es nicht diese Gemeinde sei, die die Mittel aus den ESI-Fonds für den infolge dieses Verfahrens geschlossenen Vertrag über einen öffentlichen Auftrag verwende. 24 Sofern feststehe, dass die kommunale Gesellschaft als Empfängerin des Zuschusses und als die öffentliche Einrichtung, die für die Einleitung und Durchführung des spezifischen Vorgangs der Beschaffung von Fahrzeugen verantwortlich sei, Begünstigte dieses von der finanziellen Berichtigung betroffenen Zuschusses sei, stelle sich schließlich auch die Frage, warum ihr kein Recht auf Beteiligung an dem Verfahren zur Festsetzung dieser finanziellen Berichtigung gewährt worden sei und ob sie sich als Partei im Verfahren zu deren Anfechtung vor dem Administrativen sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo) hätte beteiligen können müssen. 25 Vor diesem Hintergrund hat der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Fällt der Verwalter einer staatlichen Beihilfe in Form von Mitteln aus den ESI-Fonds, der nicht Empfänger der Beihilfe ist, im Zusammenhang mit staatlichen Beihilfen unter den Begriff „Begünstigter“ der Beihilfe im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013? 2. Kann der Verwalter einer staatlichen Beihilfe in Form von Mitteln aus den ESI-Fonds, der nicht die Person ist, die die Beihilfe auf der Grundlage eines öffentlichen Auftrags verwendet, richtiger Adressat einer Entscheidung sein, mit der eine finanzielle Berichtigung wegen eines bei der Vergabe des öffentlichen Auftrags begangenen Verstoßes gegen nationales Recht bzw. Unionsrecht festgesetzt wird? 3. Müssen in Bezug auf die Person, die Adressat der Verwaltungsmaßnahme „finanzielle Berichtigung“ wegen einer Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013 ist, im Fall einer staatlichen Beihilfe in Form von Mitteln aus den ESI-Fonds zwei kumulative Voraussetzungen vorliegen: dass sie Empfänger des Zuschusses aus den von der Unregelmäßigkeit betroffenen Mitteln ist und dass sie diejenige Person ist, die die betroffenen Mittel verwendet hat? 4. Kann die Haftung für Gesetzesverstöße bei der Verwendung einer staatlichen Beihilfe in Form von Mitteln aus den ESI-Fonds durch einen Vertrag zwischen dem Empfänger und dem Verwalter der Beihilfe geregelt oder umverteilt werden oder haftet der Empfänger der Beihilfe, der sie rechtswidrig verwendet? 5. Besteht eine gesamtschuldnerische Haftung des Empfängers der Beihilfe und des Verwalters der Beihilfe und muss eine derartige Haftung im Vertrag über die Gewährung der Beihilfe vorgeschrieben werden? 6. Stehen Art. 41 und Art. 47 der Charta einer nationalen Verwaltungspraxis und Rechtsprechung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens entgegen, wonach einem „Betreiber eines Dienstes von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“, wie der kommunalen Gesellschaft, von der behauptet wird, es sei in dem von ihr durchgeführten Verfahren ein Verstoß gegen das Gesetz über das öffentliche Auftragswesen bei der Vergabe eines öffentlichen Auftrags im Verfahren der Verwendung von Mitteln aus den ESI-Fonds (die eine staatliche Beihilfe darstellen) festgestellt worden, weder das Recht auf Beteiligung im Verfahren zur Festsetzung einer finanziellen Berichtigung in Bezug auf einen von diesem Betreiber geschlossenen Vertrag, noch das Recht auf Beteiligung am Gerichtsverfahren zur Anfechtung dieses Verwaltungsakts gewährt wird, mit der Begründung, dass dieser Betreiber als Partner der Gemeinde aus dem Partnerschaftsvertrag für den Regress zivilrechtlich hafte? Rechtssache C‑477/23 26 Die Rechtssache C‑477/23 betrifft die Verwendung von Mitteln aus den ESI-Fonds für den Zeitraum 2014‑2020 im Rahmen eines „Kombinierten Verfahrens für die Planung und den Bau von Kompostierungsanlagen und Anlagen zur Vorbehandlung von Haushaltsabfällen“ mit dem Ziel, die Menge der deponierten Abfälle zu verringern, indem zusätzliche Kapazitäten für die Vorbehandlung unsortierter Abfälle sowie für das getrennte Sammeln und das Recycling durch Kompostierung von Grün- und/oder biologisch abbaubaren Abfällen bereitgestellt werden. 27 Im Rahmen des Verfahrens zur Gewährung eines direkten Zuschusses an die Region Pazardzhik (Bulgarien) erarbeiteten mehrere Gemeinden, darunter die Gemeinden Pazardzhik und Belovo, einen gemeinsamen Projektantrag im Hinblick auf die Gewährung eines solchen Zuschusses. Die betreffenden Gemeinden mussten einen Verwaltungsvertrag über die Gewährung eines Zuschusses im Rahmen des Operationellen Programms „Umwelt“ 2014‑2020 unterzeichnen. Dieser Vertrag sieht vor, dass die Gemeinden, die Parteien des Vertrags sind, die Gemeinde Pazardzhik als „federführende Gemeinde“ benennen. Obwohl neben dem Namen jeder dieser Gemeinden auch ihre „Partner“-Eigenschaft angeführt wird, sieht der Vertrag ferner vor, dass alle von ihm erfassten Gemeinden Begünstigte sind. 28 Aus den Durchführungsbestimmungen zu dem im Rahmen dieses Verfahrens genehmigten Projekts, die Bestandteil des in der vorstehenden Randnummer genannten Verwaltungsvertrags sind, geht hervor, dass die Gemeinde Pazardzhik als „federführende Gemeinde“ für die Verwaltung dieses Projekts verantwortlich und befugt ist, die betreffenden Mittel auf ihrem Bankkonto zu empfangen und an die Partnergemeinden zu verteilen. Die Partnergemeinden beteiligen sich ihrerseits gemeinsam mit der federführenden Gemeinde an der Konzeption sowie an der technischen und finanziellen Durchführung des Projekts. In diesem Zusammenhang war es Sache der Gemeinde Belovo, das Verfahren über die Vergabe des öffentlichen Auftrags für die Planung, die Bauaufsicht, den Bau, die Lieferung und die Errichtung einer Kompostierungsanlage für getrennt gesammelte Grün- und/oder biologisch abbaubare Abfälle mit einer Kapazität von 2000 t pro Jahr durchzuführen und diesen öffentlichen Auftrag zu vergeben. 29 Im Rahmen des Verfahrens zur Vergabe dieses öffentlichen Auftrags schloss die Gemeinde Belovo in ihrer Eigenschaft als öffentliche Auftraggeberin mit der „Delchev Engineering“ EOOD einen Vertrag über einen öffentlichen Auftrag. 30 Mit Entscheidung vom 21. März 2022 nahm die Verwaltungsbehörde des Operationellen Programms „Umwelt“ 2014‑2020 gegenüber der Gemeinde Pazardzhik eine finanzielle Berichtigung in Höhe von 10 % der im Rahmen dieses öffentlichen Auftrags aus den ESI-Fonds finanzierten förderfähigen Ausgaben vor (im Folgenden: Entscheidung vom 21. März 2022 über eine finanzielle Berichtigung). Anlass für die Vornahme dieser finanziellen Berichtigung war eine von der Gemeinde Belovo begangene Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 70 Abs. 1 Nr. 9 ZUSEFSU. 31 Die Gemeinde Belovo, die nicht Adressat der Entscheidung vom 21. März 2022 über eine finanzielle Berichtigung ist, erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Administrativen sad Pazardzhik (Verwaltungsgericht Pazardzhik, Bulgarien). Mit Urteil vom 26. Oktober 2022 wies dieses Gericht die Klage ab und stellte fest, dass in dieser Entscheidung zwar nur die Gemeinde Pazardzhik als deren Adressat angegeben worden sei, aber die Gemeinde Belovo als öffentlicher Auftraggeber den Vertrag über den öffentlichen Auftrag unterzeichnet habe und ein rechtliches Interesse an der Erhebung der Klage habe. Das Gericht befand jedoch, dass die Entscheidung im Einklang mit dem bulgarischen Recht erlassen worden sei. 32 Gegen dieses Urteil legte die Gemeinde Belovo beim Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde ein. 33 Diesem Gericht zufolge besteht eine Divergenz in der nationalen Rechtsprechung zu Sachverhalten, die dem im vorliegenden Fall in Rede stehenden ähnlich seien und das gleiche Finanzierungsverfahren mit Mitteln der ESI-Fonds beträfen. 34 Zum einen gehe nämlich aus bestimmten nationalen Entscheidungen hervor, dass nur die federführende Gemeinde des betreffenden Projekts den Status eines „Begünstigten“ im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 habe und Adressat der Entscheidung über eine finanzielle Berichtigung sei, während dies auf die anderen Partnergemeinden nicht zutreffe. So seien in den Fällen, in denen diese nationalen Entscheidungen ergangen seien, die Partnergemeinden, ausgenommen die federführende Gemeinde, weder an dem Verfahren zur Festsetzung der in Rede stehenden finanziellen Berichtigung noch am gerichtlichen Verfahren zur Anfechtung des Rechtsakts, mit dem diese vorgenommen worden sei, als Beteiligte zugelassen worden, selbst wenn die Unregelmäßigkeit, die zu dieser finanziellen Berichtigung geführt habe, auf diese Partnergemeinden zurückzuführen gewesen sei. 35 Zum anderen seien einige nationale Gerichte der Ansicht, dass im Fall eines Verstoßes gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge durch eine Gemeinde, die Mittel aus den ESI-Fonds verwende, davon auszugehen sei, dass diese Gemeinde Adressat des in Rede stehenden Rechtsakts über die finanzielle Berichtigung sei und berechtigt sei, sich an dem Verfahren zur Festsetzung der betreffenden finanziellen Berichtigung zu beteiligen und sich vor einem Gericht zu verteidigen. 36 Darüber hinaus äußert das vorlegende Gericht Zweifel, wie über die Haftung für finanzielle Berichtigungen aufgrund von Verstößen gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge im Rahmen der Verwendung von Mitteln aus den ESI-Fonds zu entscheiden sei. 37 Vor diesem Hintergrund hat der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Steht die Auslegung von Art. 2 Nr. 10, Nr. 36 und Nr. 37 der Verordnung Nr. 1303/2013 einer nationalen Regelung oder einer Auslegungs- und Anwendungspraxis dieser Regelung entgegen, wonach in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens allein eine der Partnergemeinden (Parteien des Verwaltungsvertrags über den Zuschuss), die den Verwaltungsvertrag über den finanziellen Zuschuss als federführender Partner unterschrieben hat, als Begünstigter des Zuschusses aus Mitteln der ESI-Fonds anzusehen ist? Welche Voraussetzungen muss eine Organisation erfüllen, um in einem Fall wie dem vorliegenden als „Begünstigter“ im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 eingestuft zu werden? 2. Steht die Auslegung von Art. 2 Nr. 10, Nr. 36 und Nr. 37 der Verordnung Nr. 1303/2013 einer nationalen Regelung oder einer Auslegungs- und Anwendungspraxis dieser Regelung entgegen, wonach in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens die finanzielle Berichtigung wegen eines von einem Wirtschaftsteilnehmer begangenen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge mit einer Entscheidung festgesetzt wird, deren Adressat ein anderer Wirtschaftsteilnehmer ist, der keinen Verstoß begangen hat, aber als federführender Partner im Vertrag über den finanziellen Zuschuss aufgeführt wird? 3. Steht die Verordnung Nr. 1303/2013 einer nationalen Regelung oder einer Auslegungs- und Anwendungspraxis dieser Regelung entgegen, wonach die Haftung für eine finanzielle Berichtigung zwischen den Projektpartnern vertraglich umverteilt werden kann oder muss jeder Wirtschaftsteilnehmer die Haftung für die finanziellen Berichtigungen im Zusammenhang mit von ihm bei der Verwendung von Mitteln aus den ESI-Fonds begangenen Unregelmäßigkeiten nach den Verträgen, deren Vertragspartei er ist, tragen? 4. Stehen Art. 41 und Art. 47 der Charta einer nationalen Verwaltungspraxis und Rechtsprechung in einem Fall wie dem Fall des Ausgangsverfahrens entgegen, wonach der Gemeinde, von der behauptet wird, sie habe bei der Vergabe des öffentlichen Auftrags im Verfahren der Verwendung von Mitteln aus den ESI-Fonds gegen das Gesetz über das öffentliche Auftragswesen verstoßen, weder das Recht auf Beteiligung im Verfahren zur Festsetzung einer finanziellen Berichtigung, die einen von ihr geschlossenen Vertrag betrifft, noch das Recht auf Beteiligung am Gerichtsverfahren zur Anfechtung dieses Verwaltungsakts gewährt wird, mit der Begründung, dass ihr als Partner aufgrund des Partnerschaftsvertrags mit dem federführenden Partner der Zivilrechtsweg offen stehe? Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑471/23 und zur ersten Frage in der Rechtssache C‑477/23 38 Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑471/23 und seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑477/23, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff „Begünstigter“ im Sinne dieser Bestimmung eine Einrichtung fallen kann, die mit der Einleitung oder mit der Einleitung und Durchführung der betreffenden Vorhaben betraut ist, aber keine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 2 Nr. 10 Buchst. a der Verordnung Nr. 1303/2013 erhält, sowie eine Einrichtung, die einen Verwaltungsvertrag über einen Zuschuss nicht „federführend“ unterzeichnet hat. 39 Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 definiert in einem ersten Schritt den Begriff „Begünstigter“ als eine Einrichtung des öffentlichen oder privaten Rechts oder eine natürliche Person, die mit der Einleitung oder mit der Einleitung und Durchführung von Vorhaben betraut ist. In einem zweiten Schritt stellt Art. 2 Nr. 10 Buchst. a und b dieser Verordnung klar, dass im Rahmen staatlicher Beihilfen „Begünstigter“ die Stelle ist, die die Beihilfe erhält, es sei denn, die Beihilfe je Unternehmen beträgt weniger als 200000 Euro, wobei der betreffende Mitgliedstaat in diesem Fall beschließen kann, dass der Begünstigte die Stelle ist, die die Beihilfe gewährt, unbeschadet der Verordnungen Nr. 1407/2013, Nr. 1408/2013 und Nr. 717/2014, und im Zusammenhang mit den in Teil Zwei Titel IV dieser Verordnung genannten Finanzierungsinstrumenten die Stelle, die das Finanzinstrument oder gegebenenfalls den Dachfonds einsetzt. 40 Aus dem Wortlaut des Einleitungssatzes der Definition des Begriffs „Begünstigter“ in Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 geht hervor, dass die Mitgliedstaaten über ein gewisses Ermessen verfügen, um zu bestimmen, ob der Begünstigte in seiner Eigenschaft als Einrichtung des öffentlichen oder privaten Rechts oder natürliche Person nur mit der Einleitung der betreffenden Vorhaben oder sowohl mit deren Einleitung als auch mit deren Durchführung betraut ist. 41 Der zweite Teil dieser Bestimmung enthält Regelungen, um den Begünstigten in Fällen zu bestimmen, die staatliche Beihilfen und unter Teil Zwei Titel IV der Verordnung Nr. 1303/2013 fallende Finanzinstrumente betreffen. 42 Hierzu ist festzustellen, dass die im Einleitungssatz von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 und die in Art. 2 Nr. 10 Buchst. a und b dieser Verordnung vorgesehenen Voraussetzungen durch die Konjunktion „und“ voneinander getrennt werden. Die Verwendung dieser Konjunktion bedeutet jedoch nicht, dass diese Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen. Vielmehr sehen die Bestimmungen des Einleitungssatzes eine allgemeine Regelung vor, wohingegen die Bestimmungen von Art. 2 Nr. 10 Buchst. a und b der Verordnung ergänzende Vorschriften für besondere Sachverhalte darstellen. 43 Somit ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 keineswegs ausschließt, dass es für ein Vorhaben mehrere Begünstigte gibt. 44 Wie sich aus dem 66. Erwägungsgrund dieser Verordnung ergibt, liegt die Verantwortung für die Durchführung der Vorhaben im Rahmen der Programme in erster Linie bei den Mitgliedstaaten, denen es somit freisteht, u. a. zu bestimmen, welche Einrichtung mit der Einleitung der betreffenden Vorhaben oder mit deren Einleitung und Durchführung betraut wird, ebenso wie die Stelle, die die in Rede stehende Beihilfe erhält. 45 Eine gegenteilige Auslegung könnte zu Situationen führen, in denen keine Einrichtung als Begünstigte im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 eingestuft werden könnte, da sie nicht in der Lage wäre, die beiden Voraussetzungen zu erfüllen, die im Einleitungssatz von Art. 2 Nr. 10 und in Nr. 10 Buchst. a oder b dieser Verordnung vorgesehen sind. 46 Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen ausgeführt hat, würde ferner, was die in Art. 2 Nr. 10 Buchst. a der Verordnung Nr. 1303/2013 vorgesehene besondere Situation anbelangt, da ein Zuschuss unterschiedliche Zuschussformen umfassen kann – davon einige, die staatliche Beihilfen darstellen – eine solche Auslegung in Bezug auf die Teile eines Vorhabens, die von der Beihilfe betroffen sind, erfordern, dass die Stelle, die diese Beihilfe erhält, Begünstigter im Sinne von Art. 2 Nr. 10 Buchst. a dieser Verordnung ist, während in Bezug auf die anderen Teile desselben Vorhabens die mit der Einleitung oder mit der Einleitung und Durchführung des Vorhabens betraute Einrichtung der Begünstigte im Sinne des Einleitungssatzes von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung ist. Diese Auslegung dürfte aber auf praktische Schwierigkeiten stoßen, die damit zusammenhängen, dass Zuschüsse häufig in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit stehen und es einer Festlegung bedarf, welche dieser Zuschüsse in Form staatlicher Beihilfen erfolgen können. 47 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass in der Rechtssache C‑471/23 die Gemeinde Veliko Tarnovo aufgrund des Verwaltungsvertrags, der mit der Verwaltungsbehörde des Operationellen Programms „Regionen im Wachstum“ 2014‑2020 zur Durchführung des Projektantrags für das in dieser Rechtssache in Rede stehende Projekt geschlossen wurde, als für die Durchführung dieses Projekts verantwortlich benannt wurde, während die kommunale Gesellschaft als Empfänger der staatlichen Beihilfe benannt wurde. Insoweit würde ein Teil des Zuschusses für dieses Projekt eine staatliche Beihilfe darstellen; ob die Höhe dieser Beihilfe weniger als 200000 Euro beträgt, wird vom vorlegenden Gericht jedoch nicht ausgeführt. In der Rechtssache C‑477/23 ist die Gemeinde Pazardzhik als „federführende“ Gemeinde, die für die Verwaltung des in dieser Rechtssache in Rede stehenden Projekts verantwortlich ist, gemeinsam mit weiteren Gemeinden, darunter der Gemeinde Belovo, an der Vorbereitung sowie der technischen und finanziellen Durchführung des betreffenden Projekts beteiligt. 48 Insoweit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits und die Auslegung der betreffenden nationalen Rechtsvorschriften zuständig ist, festzustellen, ob in der Rechtssache C‑471/23 die Gemeinde Veliko Tarnovo sowie in der Rechtssache C‑477/23 die Gemeinden Pazardzhik und Belovo mit der Einleitung oder mit der Einleitung und Durchführung der betreffenden Vorhaben im Sinne des Einleitungssatzes von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 betraut sind, ob die Beihilfe, die die kommunale Gesellschaft in der Rechtssache C‑471/23 erhalten hat, unter den Begriff „staatliche Beihilfen“ im Sinne von Art. 2 Nr. 10 Buchst. a dieser Verordnung fällt und gegebenenfalls auf welchen Betrag sich diese Beihilfe beläuft. 49 Hierzu ist mit der Kommission darauf hinzuweisen, dass sich aus den Erwägungsgründen 5, 33 und 36 der Verordnung Nr. 1370/2007 sowie aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, dass Ausgleichsleistungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen, die unter Einhaltung aller in dieser Verordnung festgelegten Voraussetzungen gewährt werden, keine staatliche Beihilfe darstellen. 50 Wie sich im Übrigen aus Rn. 43 des vorliegenden Urteils ergibt, ist zwar nach Art. 2 Nr. 10 Buchst. a der Verordnung Nr. 1303/2013 im Rahmen staatlicher Beihilfen die Stelle, die die Beihilfe erhält, als Begünstigter im Sinne dieser Bestimmung anzusehen, doch ist nicht ausgeschlossen, dass auch eine Einrichtung, die die im Einleitungssatz von Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt, als Begünstigter im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann. 51 Was die Frage des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache C‑477/23 betrifft, ob nur eine öffentliche Einrichtung, die „federführend“ einen Verwaltungsvertrag über einen Zuschuss unterzeichnet hat, als Begünstigter des betreffenden Zuschusses anzusehen ist, ist festzustellen, dass Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 keine spezifischen Kategorien potenzieller Begünstigter vorsieht. 52 Sofern eine Einrichtung mit der Einleitung oder mit der Einleitung und Durchführung von Vorhaben betraut ist, kann sie daher als „Begünstigter“ im Sinne von Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 angesehen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie als „federführend“ benannt wurde. 53 Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑471/23 und auf die erste Frage in der Rechtssache C‑477/23 zu antworten, dass Art. 2 Nr. 10 der Verordnung Nr. 1303/2013 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff „Begünstigter“ im Sinne dieser Bestimmung eine Einrichtung fallen kann, die mit der Einleitung oder mit der Einleitung und Durchführung der betreffenden Vorhaben betraut ist, aber keine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 2 Nr. 10 Buchst. a der Verordnung Nr. 1303/2013 erhält, sowie eine Einrichtung, die einen Verwaltungsvertrag über einen Zuschuss nicht „federführend“ unterzeichnet hat. Zur zweiten bis fünften Frage in der Rechtssache C‑471/23 sowie zur zweiten und zur dritten Frage in der Rechtssache C‑477/23 54 Mit seiner zweiten bis fünften Frage in der Rechtssache C‑471/23 sowie seiner zweiten und seiner dritten Frage in der Rechtssache C‑477/23, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Nrn. 36 und 37 der Verordnung Nr. 1303/2013 dahin auszulegen ist, dass er zum einen einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Entscheidung über eine finanzielle Berichtigung wegen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge an einen anderen Wirtschaftsteilnehmer als denjenigen gerichtet werden kann, der diesen Verstoß begangen hat, und zum anderen, ob für diese finanzielle Berichtigung eine gesamtschuldnerische Haftung erfolgt, diese Haftung vertraglich zwischen diesem anderen Wirtschaftsteilnehmer und dem Wirtschaftsteilnehmer, der den Verstoß begangen hat, aufgeteilt werden kann oder der Wirtschaftsteilnehmer haftet, der den Verstoß begangen hat. 55 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013 jeder Verstoß gegen das Unionsrecht oder gegen nationale Vorschriften zu dessen Anwendung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines an der Inanspruchnahme von Mitteln aus den ESI-Fonds beteiligten Wirtschaftsteilnehmers, die einen Schaden für den Haushalt der Union in Form einer ungerechtfertigten Ausgabe bewirkt oder bewirken würde, eine Unregelmäßigkeit darstellt. 56 Außerdem sieht Art. 143 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1303/2013 u. a. vor, dass es in erster Linie den Mitgliedstaaten obliegt, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen, die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen und die Wiedereinziehungen zu betreiben. Zu diesem Zweck nehmen die Mitgliedstaaten, wie es in Art. 143 Abs. 2 dieser Verordnung heißt, die finanziellen Berichtigungen vor, die aufgrund der im Rahmen von Vorhaben oder operationellen Programmen festgestellten vereinzelten oder systembedingten Unregelmäßigkeiten notwendig sind. 57 Die Verordnung enthält jedoch keine Bestimmung über die Definition der Adressaten eines Rechtsakts über eine finanzielle Berichtigung. 58 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Pflicht, einen durch eine Unregelmäßigkeit unrechtmäßig erhaltenen Vorteil zurück zu gewähren, keine Sanktion ist, sondern lediglich die Folge der Feststellung, dass die Voraussetzungen für den Erhalt des unionsrechtlich vorgesehenen Vorteils nicht beachtet worden sind und der erlangte Vorteil rechtsgrundlos gewährt wurde (Urteil vom 1. Oktober 2020, Elme Messer Metalurgs, C‑743/18, EU:C:2020:767, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 59 Daraus folgt, dass für die Rückgewähr eines durch eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013 rechtsgrundlos erlangten Vorteils nicht zwangsläufig die Stelle in Anspruch zu nehmen ist, die eine solche Unregelmäßigkeit begangen hat. 60 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass in der Rechtssache C‑471/23 die Gemeinde Veliko Tarnovo den betreffenden Verwaltungsvertrag über einen Zuschuss mit der Verwaltungsbehörde des Operationellen Programms „Regionen im Wachstum“ 2014‑2020 unterzeichnet hat und Adressat der Entscheidung vom 11. Mai 2022 über eine finanzielle Berichtigung war, und zwar ungeachtet dessen, dass die kommunale Gesellschaft die in Rede stehende Unregelmäßigkeit begangen haben soll. In der Rechtssache C‑477/23 unterzeichneten sämtliche betroffenen Gemeinden, einschließlich der Gemeinde Belovo, die die in Rede stehende Unregelmäßigkeit begangen haben soll, und die Gemeinde Pazardzhik als „federführende Gemeinde“ den betreffenden Verwaltungsvertrag über einen Zuschuss, wobei die Gemeinde Pazardzhik Adressat der Entscheidung vom 21. März 2022 über eine finanzielle Berichtigung war. 61 Es ist jedoch festzustellen, dass, wie sich aus Rn. 59 des vorliegenden Urteils ergibt, Einrichtungen des öffentlichen Rechts wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Gemeinden Adressaten einer finanziellen Berichtigung sein können, und zwar ungeachtet dessen, dass sie keine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013 begangen haben. 62 Zur Frage der Haftung für finanzielle Berichtigungen, die sich aus Verstößen gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge im Rahmen der Inanspruchnahme von Mitteln aus den ESI-Fonds ergeben, ist darauf hinzuweisen, dass die nationalen Gerichte Rechtsstreitigkeiten über die Wiedereinziehung von aufgrund des Unionsrechts rechtsgrundlos geleisteten Zahlungen in Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften nach ihrem nationalen Recht entscheiden müssen, vorbehaltlich der durch das Unionsrecht gezogenen Grenzen (Urteil vom 17. November 2022, Avicarvil Farms, C‑443/21, EU:C:2022:899, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). 63 Da die Verordnung Nr. 1303/2013 keine Bestimmung über diese Haftung enthält, bestimmt sich diese daher nach dem nationalen Recht und den vertraglichen Verpflichtungen der an einem konkreten Vorhaben Beteiligten. 64 Folglich und je nach dem Inhalt dieser vertraglichen Verpflichtungen kann, obwohl jeder betroffene Wirtschaftsteilnehmer gegenüber der zuständigen nationalen Behörde für ein Vorhaben gesamtschuldnerisch haftbar gemacht werden kann, eine solche finanzielle Haftung auch unter den betroffenen Wirtschaftsteilnehmer aufgeteilt werden oder allein von dem Wirtschaftsteilnehmer getragen werden, der die in Rede stehende Unregelmäßigkeit begangen hat. 65 Allerdings gebietet nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Dieser Grundsatz verlangt insbesondere, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 4. Oktober 2024, Litauen u. a./Parlament und Rat [Mobilitätspaket], C‑541/20 bis C‑555/20, EU:C:2024:818, Rn. 158 und die dort angeführte Rechtsprechung). 66 Außerdem gilt der Grundsatz der Rechtssicherheit in besonderem Maß bei einer Regelung, die finanzielle Konsequenzen haben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Banco de Portugal u. a., C‑504/19, EU:C:2021:335, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). 67 Im vorliegenden Fall geht aus den Vorlageentscheidungen hervor, dass die Gemeinde Veliko Tarnovo in der Rechtssache C‑471/23 auf eigene Kosten alle Risiken trägt, einschließlich u. a. finanzieller Berichtigungen, die zulasten des Zuschusses für den Haushalt des in Rede stehenden Projekts gehen, während die kommunale Gesellschaft gegenüber der Verwaltungsbehörde des Operationellen Programms „Regionen im Wachstum“ 2014‑2020 keine solche finanzielle Verantwortung zu haben scheint. Dagegen beteiligen sich in der Rechtssache C‑477/23 die betroffenen Gemeinden gemeinsam u. a. an der finanziellen Durchführung des in Rede stehenden Projekts, und die Gemeinde Pazardzhik ist als „federführende Gemeinde“ befugt, die betreffenden Mittel auf ihrem Bankkonto zu empfangen und an die Partnergemeinden zu verteilen. 68 Insoweit wird das vorlegende Gericht zum einen zu prüfen haben, welche Wirtschaftsteilnehmer die finanzielle Verantwortung gegenüber den betreffenden Verwaltungsbehörden nach dem nationalen Recht und den Bestimmungen der in Rede stehenden Verträge tragen, und zum anderen, ob diese finanziell verantwortlichen Wirtschaftsteilnehmer wissen konnten, dass sie im Fall einer Unregelmäßigkeit bei der Durchführung des betreffenden Projekts allein, gesamtschuldnerisch oder nach anderen Modalitäten gegenüber den Verwaltungsbehörden für die finanzielle Berichtigung haften würden. 69 Nach alledem ist auf die zweite bis fünfte Frage in der Rechtssache C‑471/23 sowie auf die zweite und die dritte Frage in der Rechtssache C‑477/23 zu antworten, dass Art. 2 Nrn. 36 und 37 der Verordnung Nr. 1303/2013 dahin auszulegen ist, dass er weder einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Entscheidung über eine finanzielle Berichtigung wegen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge an einen anderen Wirtschaftsteilnehmer als denjenigen gerichtet werden kann, der diesen Verstoß begangen hat, noch dem entgegensteht, dass für diese finanzielle Berichtigung eine gesamtschuldnerische Haftung erfolgt, diese Haftung vertraglich zwischen diesem anderen Wirtschaftsteilnehmer und dem Wirtschaftsteilnehmer, der den Verstoß begangen hat, aufgeteilt werden kann oder der Wirtschaftsteilnehmer haftet, der den Verstoß begangen hat, sofern die finanziell verantwortlichen Wirtschaftsteilnehmer wissen können, dass sie im Fall einer Unregelmäßigkeit bei der Durchführung des in Rede stehenden Vorhabens insoweit gegenüber der betreffenden Verwaltungsbehörde für diese finanzielle Berichtigung haften. Zur sechsten Frage in der Rechtssache C‑471/23 und zur vierten Frage in der Rechtssache C‑477/23 70 Mit seiner sechsten Frage in der Rechtssache C‑471/23 und seiner vierten Frage in der Rechtssache C‑477/23, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 41 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, nach der ein Wirtschaftsteilnehmer, der eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013 begangen hat, die zu einer finanziellen Berichtigung geführt hat, deshalb nicht berechtigt ist, sich an dem Verfahren zur Festsetzung dieser finanziellen Berichtigung oder an dem auf deren Anfechtung gerichteten gerichtlichen Verfahren zu beteiligen, weil diesem Wirtschaftsteilnehmer aufgrund eines Partnerschaftsvertrags ein zivilrechtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung steht. 71 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, wie sich aus dem 65. Erwägungsgrund dieser Verordnung ergibt, geeignete Vorkehrungen treffen sollten, um eine ordnungsgemäße Struktur und Funktion ihrer Verwaltungs- und Kontrollsysteme zu gewährleisten, so dass eine rechtmäßige und ordnungsgemäße Nutzung der ESI-Fonds gewährleistet ist, und dass es nach Art. 143 Abs. 1 der Verordnung in erster Linie den Mitgliedstaaten obliegt, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen und die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen. 72 Beim Erlass solcher Maßnahmen zur Durchführung des Unionsrechts haben die Mitgliedstaaten dessen allgemeinen Grundsätze sowie die Bestimmungen der Charta zu beachten (Urteil vom 30. Januar 2024, Agentsia Patna infrastruktura [Europäische Finanzierung der Straßeninfrastruktur], C‑471/22, EU:C:2024:99, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 73 Da sich das vorlegende Gericht in diesem Zusammenhang insbesondere auf Art. 41 der Charta über das Recht auf eine gute Verwaltung bezieht, ist hervorzuheben, dass sich dieser Artikel an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union und nicht an die Einrichtungen oder Stellen der Mitgliedstaaten richtet, so dass sich eine Privatperson gegenüber nationalen Behörden nicht auf diesen Artikel berufen kann. Wenn ein Mitgliedstaat Unionsrecht durchführt, sind jedoch die aus dem Grundsatz der guten Verwaltung als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts folgenden Anforderungen, insbesondere das Recht jeder Person darauf, dass ihre Angelegenheiten unparteiisch und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden, im Rahmen des von der zuständigen nationalen Behörde durchgeführten Verfahrens anzuwenden (Urteil vom 30. Januar 2024, AgentsiaPatna infrastruktura [Europäische Finanzierung der Straßeninfrastruktur], C‑471/22, EU:C:2024:99, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 74 Soweit sich dieses Gericht auch auf das Recht auf Beteiligung am Verfahren bezieht, ist klarzustellen, dass dieses Recht die Ausübung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ermöglicht und deshalb ein integraler Bestandteil der Verteidigungsrechte ist, deren Achtung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt. Das Recht auf Anhörung garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen, auch wenn solche Verfahrensrechte in der anwendbaren Regelung nicht vorgesehen sind. Die Regel, wonach der Adressat einer beschwerenden Entscheidung in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor die Entscheidung getroffen wird, soll es der zuständigen Behörde erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen (Urteil vom 30. Januar 2024, AgentsiaPatna infrastruktura [Europäische Finanzierung der Straßeninfrastruktur], C‑471/22, EU:C:2024:99, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 75 Auf ein Verwaltungsverfahren zur Festsetzung einer finanziellen Berichtigung, das von den nationalen Behörden aufgrund einer Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013 betrieben wird, findet diese Regel Anwendung. 76 Ferner umfasst das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz mehrere Elemente, zu denen die Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Waffengleichheit, das Recht auf Zugang zu den Gerichten sowie das Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, gehören (Urteil vom 30. Januar 2024, AgentsiaPatna infrastruktura [Europäische Finanzierung der Straßeninfrastruktur], C‑471/22, EU:C:2024:99, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). 77 Vorliegend bestand, wie in Rn. 67 des vorliegenden Urteils ausgeführt und vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, in der Rechtssache C‑471/23 keine Vertragsbeziehung zwischen der kommunalen Gesellschaft, die die Unregelmäßigkeit begangen haben soll, und der Verwaltungsbehörde des Operationellen Programms „Regionen im Wachstum“ 2014‑2020 und war diese Gesellschaft gegenüber dieser Behörde für die Durchführung des in Rede stehenden Projekts offenbar nicht finanziell verantwortlich. In der Rechtssache C‑477/23 gibt das vorlegende Gericht nicht an, welche der betroffenen Gemeinden eine solche finanzielle Verantwortung trägt. 78 Sollte das vorlegende Gericht insoweit zu dem Ergebnis gelangen, dass der Wirtschaftsteilnehmer, der die Unregelmäßigkeit begangen hat, gegenüber der betreffenden Verwaltungsbehörde nicht finanziell für die Durchführung des in Rede stehenden Projekts verantwortlich ist, stehen die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts der guten Verwaltung und der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 47 der Charta dem nicht entgegen, dass dieser Wirtschaftsteilnehmer weder das Recht hat, sich an dem Verfahren zur Festsetzung der finanziellen Berichtigung noch am gerichtlichen Verfahren zur Anfechtung dieser Berichtigung zu beteiligen. 79 In einem solchen Fall, in dem eine Entscheidung über eine finanzielle Berichtigung sich nicht auf die Interessen dieses Wirtschaftsteilnehmers, sondern vielmehr auf die Interessen desjenigen unmittelbar auswirken würde, der gegenüber der betreffenden Verwaltungsbehörde für die Durchführung dieses Vorhabens finanziell verantwortlich ist, ist es der letztgenannte Wirtschaftsteilnehmer, dem das Recht auf Beteiligung am Verfahren zur Festsetzung dieser finanziellen Berichtigung und am gerichtlichen Verfahren zur Anfechtung dieser Berichtigung zuzuerkennen ist. 80 Sollte das vorlegende Gericht hingegen feststellen, dass der Wirtschaftsteilnehmer, der die Unregelmäßigkeit begangen hat, gegenüber der betreffenden Verwaltungsbehörde finanziell für die Durchführung des in Rede stehenden Projekts verantwortlich ist und dass sich die Entscheidung über die finanzielle Berichtigung, die sich aus der Feststellung dieser Unregelmäßigkeit ergibt, unmittelbar auf seine Interessen auswirkt, stehen die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts der guten Verwaltung und der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 47 der Charta dem entgegen, dass dieser Wirtschaftsteilnehmer weder seinen Standpunkt im Verfahren zur Festsetzung dieser finanziellen Berichtigung vortragen kann noch Zugang zu einem Gericht zwecks Anfechtung dieser Berichtigung hat. 81 Keine Bedeutung kommt insoweit dem vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand zu, dass dieser Wirtschaftsteilnehmer zivilrechtlich auf Regress haftet und gemäß dem Partnerschaftsvertrag in einem gesonderten Zivilverfahren gegen den federführenden Begünstigten Ansprüche geltend machen kann, da ein solcher zivilrechtlicher Rechtsbehelf es diesem Wirtschaftsteilnehmer nicht ermöglicht, den Erlass einer derartigen ihn beschwerenden Entscheidung über eine finanzielle Berichtigung selbst anzufechten. 82 Nach alledem ist auf die sechste Frage in der Rechtssache C‑471/23 und auf die vierte Frage in der Rechtssache C‑477/23 zu antworten, dass die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts der guten Verwaltung und der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, nach der ein Wirtschaftsteilnehmer, der eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013 begangen hat, die zu einer finanziellen Berichtigung geführt hat, deshalb nicht berechtigt ist, sich an dem Verfahren zur Festsetzung dieser finanziellen Berichtigung oder an dem auf deren Anfechtung gerichteten gerichtlichen Verfahren zu beteiligen, weil diesem Wirtschaftsteilnehmer aufgrund eines Partnerschaftsvertrags ein zivilrechtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung steht, soweit der Wirtschaftsteilnehmer gegenüber der betreffenden Verwaltungsbehörde für die Durchführung des in Rede stehenden Vorhabens finanziell verantwortlich ist. Kosten 83 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 2 Nr. 10 der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates in der durch die Verordnung (EU, Euratom) 2018/1046 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juli 2018 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff „Begünstigter“ im Sinne dieser Bestimmung eine Einrichtung fallen kann, die mit der Einleitung oder mit der Einleitung und Durchführung der betreffenden Vorhaben betraut ist, aber keine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 2 Nr. 10 Buchst. a der Verordnung Nr. 1303/2013 erhält, sowie eine Einrichtung, die einen Verwaltungsvertrag über einen Zuschuss nicht „federführend“ unterzeichnet hat. 2. Art. 2 Nrn. 36 und 37 der Verordnung Nr. 1303/2013 in der durch die Verordnung 2018/1046 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er weder einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Entscheidung über eine finanzielle Berichtigung wegen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge an einen anderen Wirtschaftsteilnehmer als denjenigen gerichtet werden kann, der diesen Verstoß begangen hat, noch dem entgegensteht, dass für diese finanzielle Berichtigung eine gesamtschuldnerische Haftung erfolgt, diese Haftung vertraglich zwischen diesem anderen Wirtschaftsteilnehmer und dem Wirtschaftsteilnehmer, der den Verstoß begangen hat, aufgeteilt werden kann oder der Wirtschaftsteilnehmer haftet, der den Verstoß begangen hat, sofern die finanziell verantwortlichen Wirtschaftsteilnehmer wissen können, dass sie im Fall einer Unregelmäßigkeit bei der Durchführung des in Rede stehenden Vorhabens insoweit gegenüber der betreffenden Verwaltungsbehörde für diese finanzielle Berichtigung haften. 3. Die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts der guten Verwaltung und der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, nach der ein Wirtschaftsteilnehmer, der eine Unregelmäßigkeit im Sinne von Art. 2 Nr. 36 der Verordnung Nr. 1303/2013 begangen hat, die zu einer finanziellen Berichtigung geführt hat, deshalb nicht berechtigt ist, sich an dem Verfahren zur Festsetzung dieser finanziellen Berichtigung oder an dem auf deren Anfechtung gerichteten gerichtlichen Verfahren zu beteiligen, weil diesem Wirtschaftsteilnehmer aufgrund eines Partnerschaftsvertrags ein zivilrechtlicher Rechtsbehelf zur Verfügung steht, soweit der Wirtschaftsteilnehmer gegenüber der betreffenden Verwaltungsbehörde für die Durchführung des in Rede stehenden Vorhabens finanziell verantwortlich ist. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 11. Dezember 2024.#Carmeuse Holding SRL gegen Europäische Kommission.#Umwelt – Richtlinie 2003/87/EG – System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten für den Zeitraum 2021-2030 – Änderung der nationalen Zuteilungstabelle Rumäniens für den Zeitraum 2021-2025 – Übergangsweise kostenlose Zuteilung von Treibhausgasemissionszertifikaten für Anlagen, die gebrannten Kalk herstellen – Begründungspflicht – Recht auf Anhörung – Grundsatz der guten Verwaltungspraxis – Rechtsfehler – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Gleichbehandlung – Rechtssicherheit – Berechtigtes Vertrauen.#Rechtssache T-385/22.
62022TJ0385
ECLI:EU:T:2024:893
2024-12-11T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62022TJ0385 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62022TJ0385 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62022TJ0385 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 4. Oktober 2024.#C. G. gegen Bezirkshauptmannschaft Landeck.#Vorabentscheidungsersuchen des Landesverwaltungsgerichts Tirol.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten – Richtlinie (EU) 2016/680 – Art. 3 Nr. 2 – Begriff ‚Verarbeitung‘ – Art. 4 – Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten – Art. 4 Abs. 1 Buchst. c – Grundsatz der ‚Datenminimierung‘ – Art. 7, 8 und 47 sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Erfordernis, dass eine Einschränkung der Ausübung eines Grundrechts ‚gesetzlich vorgesehen‘ sein muss – Verhältnismäßigkeit – Beurteilung der Verhältnismäßigkeit anhand aller relevanten Gesichtspunkte – Vorherige Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde – Art. 13 – Der betroffenen Person zur Verfügung zu stellende oder zu erteilende Informationen – Grenzen – Art. 54 – Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter – Polizeiliche Ermittlungen im Bereich des Handels mit Suchtmitteln – Versuch der Polizeibehörden, ein Mobiltelefon zu entsperren, um für die Zwecke dieser Ermittlungen Zugang zu den darauf gespeicherten Daten zu erlangen.#Rechtssache C-548/21.
62021CJ0548
ECLI:EU:C:2024:830
2024-10-04T00:00:00
Gerichtshof, Campos Sánchez-Bordona
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62021CJ0548 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 4. Oktober 2024 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten – Richtlinie (EU) 2016/680 – Art. 3 Nr. 2 – Begriff ‚Verarbeitung‘ – Art. 4 – Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten – Art. 4 Abs. 1 Buchst. c – Grundsatz der ‚Datenminimierung‘ – Art. 7, 8 und 47 sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Erfordernis, dass eine Einschränkung der Ausübung eines Grundrechts ‚gesetzlich vorgesehen‘ sein muss – Verhältnismäßigkeit – Beurteilung der Verhältnismäßigkeit anhand aller relevanten Gesichtspunkte – Vorherige Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde – Art. 13 – Der betroffenen Person zur Verfügung zu stellende oder zu erteilende Informationen – Grenzen – Art. 54 – Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter – Polizeiliche Ermittlungen im Bereich des Handels mit Suchtmitteln – Versuch der Polizeibehörden, ein Mobiltelefon zu entsperren, um für die Zwecke dieser Ermittlungen Zugang zu den darauf gespeicherten Daten zu erlangen“ In der Rechtssache C‑548/21 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Tirol (Österreich) mit Entscheidung vom 1. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 6. September 2021, in dem Verfahren CG gegen Bezirkshauptmannschaft Landeck erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, T. von Danwitz und Z. Csehi, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei sowie der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter), I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und M. Gavalec, Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona, Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Januar 2023, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll, K. Ibili und E. Riedl als Bevollmächtigte, – der dänischen Regierung, vertreten durch M. P. B. Jespersen, V. Pasternak Jørgensen, M. Søndahl Wolff und Y. T. Thyregod Kollberg als Bevollmächtigte, – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und M. Hellmann als Bevollmächtigte, – der estnischen Regierung, vertreten durch M. Kriisa als Bevollmächtigte, – Irlands, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, A. Joyce und M. Lane als Bevollmächtigte im Beistand von R. Farrell, SC, D. Fennelly, BL, und D. O’Reilly, Solicitor, – der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A. Daniel, A.‑L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte, – der zyprischen Regierung, vertreten durch I. Neophytou als Bevollmächtigte, – der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. Hanje und J. Langer als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der finnischen Regierung, vertreten durch A. Laine als Bevollmächtigte, – der schwedischen Regierung, vertreten durch J. Lundberg, H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, A. M. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, R. Shahsavan Eriksson, H. Shev und O. Simonsson als Bevollmächtigte, – der norwegischen Regierung, vertreten durch F. Bergsjø, H. Busch, K. Moe Winther und P. Wennerås als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, S. L. Kalėda, H. Kranenborg und F. Wilman als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. April 2023 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 und Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl. 2009, L 337, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2002/58) im Licht der Art. 7, 8, 11, 41 und 47 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen CG und der Bezirkshauptmannschaft Landeck (Österreich) über die Sicherstellung des Mobiltelefons von CG durch die Polizeibehörden und deren Versuche, im Rahmen von Ermittlungen im Bereich des Handels mit Suchtmitteln dieses Telefon zu entsperren, um Zugang zu den darauf gespeicherten Daten zu erlangen. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2002/58 3 Art. 1 („Geltungsbereich und Zielsetzung“) der Richtlinie 2002/58 bestimmt: „(1)   Diese Richtlinie sieht die Harmonisierung der Vorschriften der Mitgliedstaaten vor, die erforderlich sind, um einen gleichwertigen Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten, insbesondere des Rechts auf Privatsphäre und Vertraulichkeit, in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der elektronischen Kommunikation sowie den freien Verkehr dieser Daten und von elektronischen Kommunikationsgeräten und ‑diensten in der Gemeinschaft zu gewährleisten. … (3)   Diese Richtlinie gilt nicht für Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich des [AEU-Vertrags] fallen, beispielsweise Tätigkeiten gemäß den Titeln V und VI des [EU-Vertrags], und auf keinen Fall für Tätigkeiten betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates (einschließlich seines wirtschaftlichen Wohls, wenn die Tätigkeit die Sicherheit des Staates berührt) und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich.“ 4 Art. 3 („Betroffene Dienste“) der Richtlinie 2002/58 lautet: „Diese Richtlinie gilt für die Verarbeitung personenbezogener Daten in Verbindung mit der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste in öffentlichen Kommunikationsnetzen in der Gemeinschaft, einschließlich öffentlicher Kommunikationsnetze, die Datenerfassungs- und Identifizierungsgeräte unterstützen.“ 5 Art. 5 („Vertraulichkeit der Kommunikation“) der Richtlinie 2002/58 bestimmt in Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten stellen die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicher. Insbesondere untersagen sie das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch andere Personen als die Nutzer, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, es sei denn, dass diese Personen gemäß Artikel 15 Absatz 1 gesetzlich dazu ermächtigt sind. Diese Bestimmung steht – unbeschadet des Grundsatzes der Vertraulichkeit – der für die Weiterleitung einer Nachricht erforderlichen technischen Speicherung nicht entgegen.“ 6 Art. 15 („Anwendung einzelner Bestimmungen der Richtlinie 95/46/EG“) der Richtlinie 2002/58 sieht in Abs. 1 vor: „Die Mitgliedstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie 95/46/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31)] für die nationale Sicherheit (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten unter anderem durch Rechtsvorschriften vorsehen, dass Daten aus den in diesem Absatz aufgeführten Gründen während einer begrenzten Zeit aufbewahrt werden. Alle in diesem Absatz genannten Maßnahmen müssen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einschließlich den in Artikel 6 Absätze 1 und 2 [EUV] niedergelegten Grundsätzen entsprechen.“ Richtlinie (EU) 2016/680 7 In den Erwägungsgründen 2, 4, 7, 10, 11, 15, 26, 37, 44, 46 und 104 der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (ABl. 2016, L 119, S. 89, berichtigt in ABl. 2021, L 74, S. 36) heißt es: „(2) Die Grundsätze und Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten sollten gewährleisten, dass ihre Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere ihr Recht auf Schutz personenbezogener Daten ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Aufenthaltsorts gewahrt bleiben. Diese Richtlinie soll zur Vollendung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beitragen. … (4) Der freie Verkehr personenbezogener Daten zwischen den zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit innerhalb der [Europäischen] Union und die Übermittlung solcher personenbezogener Daten an Drittländer und internationale Organisationen, sollte erleichtert und dabei gleichzeitig ein hohes Schutzniveau für personenbezogene Daten gewährleistet werden. Angesichts dieser Entwicklungen bedarf es des Aufbaus eines soliden und kohärenteren Rechtsrahmens für den Schutz personenbezogener Daten in der Union, [der] konsequent durchgesetzt [wird]. … (7) Für den Zweck der wirksamen justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit ist es entscheidend, ein einheitliches und hohes Schutzniveau für die personenbezogenen Daten natürlicher Personen zu gewährleisten und den Austausch personenbezogener Daten zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zu erleichtern. Im Hinblick darauf sollte dafür gesorgt werden, dass die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch zuständige Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, in allen Mitgliedstaaten gleichwertig geschützt werden. Ein unionsweiter wirksamer Schutz personenbezogener Daten erfordert die Stärkung der Rechte der betroffenen Personen und eine Verschärfung der Verpflichtungen für diejenigen, die personenbezogene Daten verarbeiten, und auch gleichwertige Befugnisse der Mitgliedstaaten bei der Überwachung und Gewährleistung der Einhaltung der Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten. … (10) In der Erklärung Nr. 21 zum Schutz personenbezogener Daten im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit im Anhang zur Schlussakte der Regierungskonferenz, die den Vertrag von Lissabon annahm, erkannte die Regierungskonferenz an, dass es sich aufgrund der Besonderheiten dieser Bereiche als erforderlich erweisen könnte, auf Artikel 16 AEUV gestützte spezifische Vorschriften über den Schutz personenbezogener Daten und den freien Verkehr personenbezogener Daten im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und der polizeilichen Zusammenarbeit zu erlassen. (11) Daher sollte diesen Bereichen durch eine Richtlinie Rechnung getragen werden, die spezifische Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, enthält, wobei den Besonderheiten dieser Tätigkeiten Rechnung getragen wird. Diese zuständigen Behörden können nicht nur staatliche Stellen wie die Justizbehörden, die Polizei oder andere Strafverfolgungsbehörden einschließen, sondern auch alle anderen Stellen oder Einrichtungen, denen durch das Recht der Mitgliedstaaten die Ausübung öffentlicher Gewalt und hoheitlicher Befugnisse für die Zwecke dieser Richtlinie übertragen wurde. Wenn solche Stellen oder Einrichtungen jedoch personenbezogene Daten zu anderen Zwecken als denen dieser Richtlinie verarbeiten, gilt die Verordnung (EU) 2016/679 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1)]. Daher gilt die [Verordnung 2016/679] in Fällen, in denen eine Stelle oder Einrichtung personenbezogene Daten zu anderen Zwecken erhebt und diese personenbezogenen Daten zur Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung, der sie unterliegt, weiterverarbeitet. … … (15) Um zu gewährleisten, dass natürliche Personen in der Union auf der Grundlage unionsweit durchsetzbarer Rechte das gleiche Maß an Schutz genießen und Unterschiede, die den Austausch personenbezogener Daten zwischen den zuständigen Behörden behindern könnten, beseitigt werden, sollte diese Richtlinie harmonisierte Vorschriften für den Schutz und den freien Verkehr personenbezogener Daten festlegen, die zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, verarbeitet werden. Die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten sollte nicht zu einer Lockerung des Schutzes personenbezogener Daten in diesen Ländern führen, sondern vielmehr auf ein hohes Schutzniveau in der gesamten Union abstellen. Die Mitgliedstaaten sollten nicht daran gehindert werden, zum Schutz der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden Garantien festzulegen, die strenger sind als die Garantien dieser Richtlinie. … (26) … Die personenbezogenen Daten sollten für die Zwecke, zu denen sie verarbeitet werden, angemessen und erheblich sein. Es sollte insbesondere sichergestellt werden, dass nicht übermäßige personenbezogene Daten erhoben werden und sie nicht länger aufbewahrt werden, als dies für den Zweck, zu dem sie verarbeitet werden, erforderlich ist. Personenbezogene Daten sollten nur verarbeitet werden dürfen, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann. … … (37) Personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, verdienen einen besonderen Schutz, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten können. Diese personenbezogenen Daten sollten personenbezogene Daten umfassen, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft hervorgeht, wobei die Verwendung des Begriffs ‚rassische Herkunft‘ in dieser Richtlinie nicht bedeutet, dass die Union Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, gutheißt. Solche personenbezogenen Daten sollten nur dann verarbeitet werden, wenn die Verarbeitung vorbehaltlich geeigneter Garantien für die durch Rechtsvorschriften festgelegten Rechte und Freiheiten der betroffenen Person erfolgt und in durch Rechtsvorschriften geregelten Fällen erlaubt ist oder anderenfalls zur Wahrung lebenswichtiger Interessen der betroffenen Person oder einer anderen Person erforderlich ist oder aber sich auf Daten bezieht, die die betroffene Person offensichtlich öffentlich gemacht hat. Zu den geeigneten Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person kann beispielsweise zählen, dass diese Daten nur in Verbindung mit anderen Daten über die betroffene natürliche Person erhoben werden dürfen, die erhobenen Daten hinreichend gesichert werden müssen, der Zugang der Mitarbeiter der zuständigen Behörde zu den Daten strenger geregelt und die Übermittlung dieser Daten verboten wird. Die Verarbeitung solcher Daten sollte ebenfalls durch Rechtsvorschriften erlaubt sein, wenn die betroffene Person der Datenverarbeitung, die besonders stark in ihre Privatsphäre eingreift, ausdrücklich zugestimmt hat. Die Einwilligung der betroffenen Person allein sollte jedoch noch keine rechtliche Grundlage für die Verarbeitung solch sensibler personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden liefern. … (44) Die Mitgliedstaaten sollten Gesetzgebungsmaßnahmen erlassen können, mit denen die Unterrichtung der betroffenen Person aufgeschoben, eingeschränkt oder unterlassen oder die Auskunft über ihre personenbezogenen Daten ganz oder teilweise in dem Umfang und so lange eingeschränkt wird, wie dies in einer demokratischen Gesellschaft unter gebührender Berücksichtigung der Grundrechte und der berechtigten Interessen der betroffenen natürlichen Person eine erforderliche und verhältnismäßige Maßnahme darstellt, um behördliche oder gerichtliche Untersuchungen, Ermittlungen und Verfahren nicht zu behindern, die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung nicht zu gefährden und um die öffentliche und die nationale Sicherheit oder die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen. Der Verantwortliche sollte im Wege einer konkreten Einzelfallprüfung feststellen, ob das Auskunftsrecht teilweise oder vollständig eingeschränkt werden sollte. … (46) Jede Einschränkung der Rechte der betroffenen Person muss mit der Charta und mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs [der Europäischen Union] bzw. des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vereinbar sein und insbesondere den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. … (104) Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden und im [AEU-Vertrag] verankert sind, insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten sowie dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren. Die Einschränkungen dieser Rechte stehen im Einklang mit Artikel 52 Absatz 1 der Charta, da sie erforderlich sind, um den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und der Freiheiten anderer zu entsprechen.“ 8 Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) der Richtlinie 2016/680 sieht in den Abs. 1 und 2 vor: „(1)   Diese Richtlinie enthält Bestimmungen zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit. (2)   Gemäß dieser Richtlinie haben die Mitgliedstaaten a) die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen, insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten, zu schützen und b) sicherzustellen, dass der Austausch personenbezogener Daten zwischen den zuständigen Behörden in der Union – sofern er nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen ist – nicht aus Gründen, die mit dem Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten verbunden sind, eingeschränkt oder verboten wird.“ 9 Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt in den Abs. 1 und 3: „(1)   Diese Richtlinie gilt für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken. … (3)   Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten a) im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, …“ 10 In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2016/680 heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck: 1. ‚personenbezogene Daten‘ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden ‚betroffene Person‘) beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten, zu einer Online-Kennung oder zu einem oder mehreren besonderen Merkmalen, die Ausdruck der physischen, physiologischen, genetischen, psychischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Identität dieser natürlichen Person sind, identifiziert werden kann; 2. ‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung; … 7. ‚zuständige Behörde‘ a) eine staatliche Stelle, die für die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, zuständig ist, oder b) eine andere Stelle oder Einrichtung, der durch das Recht der Mitgliedstaaten die Ausübung öffentlicher Gewalt und hoheitlicher Befugnisse zur Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder zur Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, übertragen wurde; …“ 11 Art. 4 („Grundsätze in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt in Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten a) auf rechtmäßige Weise und nach Treu und Glauben verarbeitet werden, b) für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden, c) dem Verarbeitungszweck entsprechen, maßgeblich und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, nicht übermäßig sind, …“ 12 Art. 6 („Unterscheidung verschiedener Kategorien betroffener Personen“) der Richtlinie 2016/680 lautet: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass der Verantwortliche gegebenenfalls und so weit wie möglich zwischen den personenbezogenen Daten verschiedener Kategorien betroffener Personen klar unterscheidet, darunter: a) Personen, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen haben oder in naher Zukunft begehen werden, b) verurteilte Straftäter, c) Opfer einer Straftat oder Personen, bei denen bestimmte Fakten darauf hindeuten, dass sie Opfer einer Straftat sein könnten, und d) andere Parteien im Zusammenhang mit einer Straftat, wie Personen, die bei Ermittlungen in Verbindung mit der betreffenden Straftat oder beim anschließenden Strafverfahren als Zeugen in Betracht kommen, Personen, die Hinweise zur Straftat geben können, oder Personen, die mit den unter den Buchstaben a und b genannten Personen in Kontakt oder in Verbindung stehen.“ 13 Art. 10 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) der Richtlinie 2016/680 lautet: „Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder [zur] sexuellen Orientierung ist nur dann erlaubt, wenn sie unbedingt erforderlich ist und vorbehaltlich geeigneter Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person erfolgt und a) wenn sie nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten zulässig ist, b) der Wahrung lebenswichtiger Interessen der betroffenen oder einer anderen natürlichen Person dient oder c) wenn sie sich auf Daten bezieht, die die betroffene Person offensichtlich öffentlich gemacht hat.“ 14 Art. 13 („Der betroffenen Person zur Verfügung zu stellende oder zu erteilende Informationen“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass der Verantwortliche der betroffenen Person zumindest die folgenden Informationen zur Verfügung stellt: a) den Namen und die Kontaktdaten des Verantwortlichen, b) gegebenenfalls die Kontaktdaten des Datenschutzbeauftragten, c) die Zwecke, für die die personenbezogenen Daten verarbeitet werden, d) das Bestehen eines Beschwerderechts bei der Aufsichtsbehörde sowie deren Kontaktdaten, e) das Bestehen eines Rechts auf Auskunft und Berichtigung oder Löschung personenbezogener Daten und Einschränkung der Verarbeitung der personenbezogenen Daten der betroffenen Person durch den Verantwortlichen. (2)   Zusätzlich zu den in Absatz 1 genannten Informationen sehen die Mitgliedstaaten durch Rechtsvorschriften vor, dass der Verantwortliche der betroffenen Person in besonderen Fällen die folgenden zusätzlichen Informationen erteilt, um die Ausübung der Rechte der betroffenen Person zu ermöglichen: a) die Rechtsgrundlage der Verarbeitung, b) die Dauer, für die die personenbezogenen Daten gespeichert werden, oder, falls dies nicht möglich ist, die Kriterien für die Festlegung dieser Dauer, c) gegebenenfalls die Kategorien von Empfängern der personenbezogenen Daten, auch der Empfänger in Drittländern oder in internationalen Organisationen, d) erforderlichenfalls weitere Informationen, insbesondere wenn die personenbezogenen Daten ohne Wissen der betroffenen Person erhoben werden. (3)   Die Mitgliedstaaten können Gesetzgebungsmaßnahmen erlassen, nach denen die Unterrichtung der betroffenen Person gemäß Absatz 2 soweit und so lange aufgeschoben, eingeschränkt oder unterlassen werden kann, wie diese Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich und verhältnismäßig ist und sofern den Grundrechten und den berechtigten Interessen der betroffenen natürlichen Person Rechnung getragen wird: a) zur Gewährleistung, dass behördliche oder gerichtliche Untersuchungen, Ermittlungen oder Verfahren nicht behindert werden, b) zur Gewährleistung, dass die Verhütung, Aufdeckung, Ermittlung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung nicht beeinträchtigt werden, c) zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, d) zum Schutz der nationalen Sicherheit, e) zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. …“ 15 Art. 54 („Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter“) der Richtlinie 2016/680 lautet: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass jede betroffene Person unbeschadet eines verfügbaren verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs einschließlich des Rechts auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde gemäß Artikel 52 das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf hat, wenn sie der Ansicht ist, dass die Rechte, die ihr aufgrund von nach dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften zustehen, infolge einer nicht mit diesen Vorschriften im Einklang stehenden Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verletzt wurden.“ Österreichisches Recht 16 § 27 Abs. 1 des Suchtmittelgesetzes vom 5. September 1997 (BGBl. I 112/1997) bestimmt in seiner im Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung: „Wer vorschriftswidrig 1. Suchtgift erwirbt, besitzt, erzeugt, befördert, einführt, ausführt oder einem anderen anbietet, überlässt oder verschafft, … ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen. …“ 17 § 17 des Strafgesetzbuchs vom 1. Januar 1975 (BGBl. 60/1974) in seiner im Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: StGB) bestimmt: „(1)   Verbrechen sind vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind. (2)   Alle anderen strafbaren Handlungen sind Vergehen.“ 18 § 18 der Strafprozessordnung vom 30. Dezember 1975 (BGBl. 631/1975) in seiner im Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: StPO) sieht vor: „(1)   Kriminalpolizei besteht in der Wahrnehmung von Aufgaben im Dienste der Strafrechtspflege (Art. 10 Abs. 1 Z 6 [Bundes-Verfassungsgesetz]). (2)   Kriminalpolizei obliegt den Sicherheitsbehörden, deren Organisation und örtliche Zuständigkeit sich nach den Vorschriften des Sicherheitspolizeigesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung richten. (3)   Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (§ 5 Abs. 2 [Sicherheitspolizeigesetz]) versehen den kriminalpolizeilichen Exekutivdienst, der in der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten nach den Bestimmungen dieses Gesetzes besteht. …“ 19 § 99 Abs. 1 StPO lautet: „Die Kriminalpolizei ermittelt von Amts wegen oder auf Grund einer Anzeige; Anordnungen der Staatsanwaltschaft und des Gerichts (§ 105 Abs. 2) hat sie zu befolgen.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 20 Am 23. Februar 2021 beschlagnahmten Beamte des Zollamts Innsbruck (Österreich) im Zuge einer Suchtmittelkontrolle ein an CG adressiertes Paket, in dem sich 85 g Cannabiskraut befanden. Das Paket wurde sodann der Polizeiinspektion St. Anton am Arlberg (Österreich) zur Prüfung übermittelt. 21 Am 6. März 2021 nahmen zwei Polizeibeamte dieser Dienststelle eine Durchsuchung der Wohnung von CG vor, in deren Verlauf sie ihn zum Absender des Pakets befragten und seinen Wohnbereich durchsuchten. Im Zuge dieser Durchsuchung verlangten die Polizeibeamten, ihnen Einsicht in die Verbindungsdaten des Mobiltelefons von CG zu gewähren. Da CG dies ablehnte, stellten die Polizeibeamten das Mobiltelefon, das eine SIM‑Karte und eine SD‑Karte enthielt, sicher und übergaben CG ein Sicherstellungsprotokoll. 22 In der Folge wurde das Mobiltelefon einem sachkundigen Beamten des Bezirkspolizeikommandos Landeck (Österreich) zur Entsperrung übergeben. Da es diesem nicht gelang, das Mobiltelefon zu entsperren, wurde es an das Bundeskriminalamt in Wien (Österreich) übermittelt, wo abermals versucht wurde, es zu entsperren. 23 Die Sicherstellung des Mobiltelefons von CG sowie die späteren Versuche seiner Auswertung erfolgten aus eigener Initiative der betreffenden Polizeibeamten, ohne dass sie von der Staatsanwaltschaft oder einem Richter dazu ermächtigt worden waren. 24 Am 31. März 2021 erhob CG beim Landesverwaltungsgericht Tirol (Österreich), dem vorlegenden Gericht, Beschwerde gegen die Sicherstellung seines Mobiltelefons. Dieses wurde CG am 20. April 2021 zurückgegeben. 25 CG wurde nicht unverzüglich über die Versuche der Auswertung seines Mobiltelefons informiert. Er erlangte davon erst Kenntnis, als der Polizeibeamte, der das Mobiltelefon sichergestellt und in der Folge Schritte zur Auswertung der digitalen Daten unternommen hatte, im Rahmen des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens als Zeuge vernommen wurde. Die Versuche wurden auch nicht im kriminalpolizeilichen Akt dokumentiert. 26 In Anbetracht dessen möchte das vorlegende Gericht erstens wissen, ob angesichts der Rn. 52 bis 61 des Urteils vom 2. Oktober 2018, Ministerio Fiscal (C‑207/16, EU:C:2018:788), und der in diesen Randnummern angeführten Rechtsprechung Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7 und 8 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein umfassender und unkontrollierter Zugang zu allen auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten (Verbindungsdaten, Kommunikationsinhalte, Fotos und Browserverläufe), die ein sehr detailliertes und tiefgehendes Bild fast aller Bereiche des Privatlebens der betroffenen Person liefern können, einen Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte darstellt, der so schwer ist, dass dieser Zugang im Bereich der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten auf die Bekämpfung schwerer Straftaten beschränkt werden muss. 27 Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, das CG im Rahmen des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden strafgerichtlichen Ermittlungsverfahrens zur Last gelegte Delikt sei durch § 27 Abs. 1 des Suchtmittelgesetzes mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht und stelle nach der Unterteilung in § 17 StGB nur ein Vergehen dar. 28 Zweitens wirft das vorlegende Gericht nach einem Hinweis auf die Ausführungen in den Rn. 48 bis 54 des Urteils vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2021:152), und der in diesen Randnummern angeführten Rechtsprechung die Frage auf, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 einer nationalen Regelung wie § 18 in Verbindung mit § 99 Abs. 1 StPO entgegensteht, wonach sich die Kriminalpolizei im Zuge eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ohne Genehmigung eines Gerichts oder einer unabhängigen Verwaltungsstelle einen umfassenden und unkontrollierten Zugang zu allen auf einem Mobiltelefon gespeicherten digitalen Daten verschaffen kann. 29 Drittens schließlich hebt das vorlegende Gericht hervor, dass § 18 in Verbindung mit § 99 Abs. 1 StPO keine Verpflichtung der Polizeibehörden vorsehe, Maßnahmen zur digitalen Auswertung eines Mobiltelefons zu dokumentieren oder dessen Eigentümer über solche Maßnahmen zu informieren, damit dieser ihnen gegebenenfalls mittels eines vorbeugenden oder nachträglichen gerichtlichen Rechtsbehelfs entgegentreten könne, und wirft die Frage der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen der StPO mit dem Grundsatz der Waffengleichheit und dem Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta auf. 30 Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Tirol beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist Art. 15 Abs. 1 (allenfalls in Verbindung mit Art. 5) der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7 und 8 der Charta dahin auszulegen, dass der Zugang öffentlicher Stellen zu den auf Mobiltelefonen gespeicherten Daten einen Eingriff in deren in diesen Artikeln der Charta verankerte Grundrechte darstellt, der so schwer ist, dass dieser Zugang im Bereich der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten auf die Bekämpfung der schweren Kriminalität beschränkt werden müsste? 2. Ist Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie § 18 in Verbindung mit § 99 Abs. 1 StPO entgegensteht, der zufolge Sicherheitsbehörden im Zuge eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ohne Genehmigung eines Gerichts oder einer unabhängigen Verwaltungsstelle sich selbst einen umfassenden und unkontrollierten Zugang zu allen auf einem Mobiltelefon gespeicherten digitalen Daten verschaffen? 3. Ist Art. 47 der Charta, allenfalls in Verbindung mit Art. 41 und Art. 52 der Charta, unter dem Aspekt der Waffengleichheit und dem Aspekt eines wirksamen Rechtsbehelfs so zu verstehen, dass er einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegensteht, die wie § 18 in Verbindung mit § 99 Abs. 1 StPO es ermöglicht, dass ein Mobiltelefon digital ausgewertet wird, ohne dass der Betroffene vorher oder aber zumindest nach Setzung der Maßnahme davon in Kenntnis gesetzt wird? Verfahren vor dem Gerichtshof 31 Am 20. Oktober 2021 hat der Gerichtshof an das vorlegende Gericht ein Informationsersuchen gerichtet, mit dem er es aufgefordert hat, ihm mitzuteilen, ob es die Richtlinie 2016/680 im Ausgangsrechtsstreit für möglicherweise einschlägig hält, sowie bejahendenfalls den Inhalt der nationalen Bestimmungen zur Umsetzung dieser Richtlinie in österreichisches Recht darzulegen, die im vorliegenden Fall Anwendung finden könnten. 32 Am 11. November 2021 hat das vorlegende Gericht auf dieses Ersuchen u. a. geantwortet, dass die Vorgaben der Richtlinie 2016/680 in dieser Rechtssache beachtlich seien. Seine Antwort ist den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten mit der Vorlageentscheidung zugestellt worden. 33 Am 8. November 2022 hat der Gerichtshof gemäß Art. 61 seiner Verfahrensordnung die Teilnehmer an der mündlichen Verhandlung aufgefordert, ihre mündlichen Ausführungen auf die Richtlinie 2016/680 zu konzentrieren und in der mündlichen Verhandlung bestimmte diese Richtlinie betreffende Fragen zu beantworten. Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens 34 Nach der Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts hat die österreichische Regierung mit Schriftsatz, der am 17. Mai 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die Berichtigung der Schlussanträge beantragt, weil darin die von ihr in ihren schriftlichen und mündlichen Ausführungen zum Ausdruck gebrachte Position nicht korrekt wiedergegeben werde und weil sie sachliche Fehler enthielten. 35 Zum einen lege nämlich Nr. 50 der Schlussanträge des Generalanwalts in Verbindung mit deren Fn. 14 den Schluss nahe, dass die österreichische Regierung den Standpunkt vertreten habe, dass ein versuchter Zugriff auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 darstellen könne. Sie habe sich aber in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ausdrücklich dem von der Europäischen Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen vertretenen Standpunkt angeschlossen, wonach sich aus einer systematischen Auslegung dieser Richtlinie im Licht ihrer Ziele ergebe, dass sie nicht nur die eigentlichen Verarbeitungen regele, sondern auch Vorgänge in ihrem Vorfeld wie den Versuch einer Verarbeitung, ohne dass die Anwendung der Richtlinie davon abhänge, ob dieser Versuch erfolgreich gewesen sei. 36 Zum anderen beruhe Nr. 27 der Schlussanträge des Generalanwalts auf einem falschen Sachverhalt, da sie den Schluss nahelege, dass die oben in Rn. 22 erwähnten Verarbeitungsversuche in den Akten der Kriminalpolizei nicht dokumentiert worden seien. Entgegen den Angaben in Nr. 27 und im Vorabentscheidungsersuchen habe die österreichische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt, dass die Verarbeitungsversuche in zwei Berichten der im Ausgangsverfahren mit den Ermittlungen betrauten Polizeibeamten dokumentiert worden seien und dass diese Berichte in der Folge in den Ermittlungsakt der Staatsanwaltschaft aufgenommen worden seien. 37 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. Mai 2023 ist der Antrag der österreichischen Regierung auf Berichtigung der Schlussanträge des Generalanwalts in einen Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens im Sinne von Art. 83 der Verfahrensordnung umgedeutet worden. 38 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen. Der Generalanwalt stellt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den Fragen, die dieser in seinen Schlussanträgen prüft, für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 14. März 2024, f6 Cigarettenfabrik, C‑336/22, EU:C:2024:226, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof zwar jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist. 40 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof jedoch der Auffassung, dass er am Ende des schriftlichen Verfahrens und der mündlichen Verhandlung, die vor ihm stattgefunden hat, über alle Gesichtspunkte verfügt, die für die Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen erforderlich sind. Außerdem stellen die Gesichtspunkte, auf die die österreichische Regierung ihren Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens stützt, keine neuen Tatsachen von entscheidender Bedeutung für die vom Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zu treffende Entscheidung dar. 41 Speziell zu den oben in Rn. 36 angeführten Sachverhaltselementen ist darauf hinzuweisen, dass es dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nicht obliegt, festzustellen, ob die behaupteten Tatsachen erwiesen sind, sondern nur, die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 36). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt das nationale Gericht die Fragen zur Auslegung des Unionsrechts nämlich in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2024, Bundesrepublik Deutschland [Wirkung einer Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑753/22, EU:C:2024:524, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Der Gerichtshof hält deshalb nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens nicht für geboten. Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens 43 Mehrere Beteiligte, die im vorliegenden Verfahren schriftliche Erklärungen eingereicht haben, haben die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens insgesamt oder bestimmter Fragen des vorlegenden Gerichts in Zweifel gezogen. 44 Erstens machen die österreichische, die französische und die schwedische Regierung geltend, die Vorlageentscheidung genüge nicht den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung, da sie nicht die tatsächlichen und rechtlichen Angaben enthalte, die erforderlich seien, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben. 45 Zweitens trägt die österreichische Regierung zum einen vor, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten und seiner dritten Vorlagefrage im Wesentlichen wissen möchte, ob § 18 in Verbindung mit § 99 StPO mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Da diese Bestimmungen jedoch nicht festlegten, unter welchen Voraussetzungen eine Auswertung sichergestellter Datenträger erfolgen dürfe, stünden diese Fragen in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits. Zum anderen sei nach österreichischem Recht eine Anordnung der Staatsanwaltschaft erforderlich, um ein Mobiltelefon sicherzustellen oder um zu versuchen, Zugang zu auf diesem Telefon gespeicherten Daten zu erlangen. Das vorlegende Gericht müsse daher einen Verstoß gegen österreichisches Recht feststellen, so dass die von ihm vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht erforderlich seien und somit über das Vorabentscheidungsersuchen nicht zu entscheiden sei. 46 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung). 48 Erstens ist hinsichtlich des Arguments, dass die in Art. 94 der Verfahrensordnung vorgesehenen Anforderungen nicht erfüllt worden seien, darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung, die nunmehr in Art. 94 Buchst. a und b zum Ausdruck kommt, die Notwendigkeit, zu einer dem nationalen Gericht dienlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen, es erforderlich macht, dass dieses Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in dem sich seine Fragen stellen, darlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen die Fragen beruhen. Zudem ist es nach Art. 94 Buchst. c unerlässlich, dass das Vorabentscheidungsersuchen eine Darstellung der Gründe enthält, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang angibt, den es zwischen diesen Vorschriften und der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Regelung herstellt (Urteil vom 21. Dezember 2023, European Superleague Company, C‑333/21, EU:C:2023:1011, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen zum tatsächlichen Rahmen ausgeführt, dass die österreichischen Polizeibehörden, nachdem sie das Mobiltelefon von CG im Rahmen polizeilicher Ermittlungen im Bereich des Handels mit Suchtmitteln sichergestellt hätten, zweimal versucht hätten, aus eigener Initiative Zugang zu den auf diesem Telefon gespeicherten Daten zu erlangen, ohne hierfür über eine vorherige Genehmigung der Staatsanwaltschaft oder eines Gerichts zu verfügen. Es hat hinzugefügt, CG habe von den Versuchen, Zugang zu den auf seinem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen, erst durch die Zeugenaussage eines Polizeibeamten Kenntnis erlangt. Schließlich seien diese Zugangsversuche auch nicht im Akt der Kriminalpolizei dokumentiert worden. 50 Zum rechtlichen Rahmen hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass die von ihm in der Vorlageentscheidung angeführten nationalen Vorschriften einen Versuch des Zugangs zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten gestatteten, ohne diese Möglichkeit allein auf die Zwecke der Bekämpfung schwerer Kriminalität zu beschränken, ohne diesen Zugangsversuch einer vorherigen Kontrolle durch einen Richter oder eine unabhängige Verwaltungsstelle zu unterwerfen und ohne vorzusehen, dass die Betroffenen über diesen Versuch informiert würden, damit sie sich ihm insbesondere durch Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs widersetzen könnten. 51 Außerdem hat das vorlegende Gericht, wie sich aus den Rn. 26 bis 29 des vorliegenden Urteils ergibt, die Gründe erläutert, aus denen es dem Gerichtshof sein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hat, und den Zusammenhang angegeben, der seiner Ansicht nach zwischen den Bestimmungen des Unionsrechts und der Charta, auf die sich sein Ersuchen bezieht, und den seines Erachtens auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Bestimmungen des österreichischen Rechts besteht. 52 Die in den Rn. 49 bis 51 genannten Gesichtspunkte lassen somit den Schluss zu, dass das Vorabentscheidungsersuchen den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung genügt. 53 Zweitens ist hinsichtlich des Vorbringens, die in der zweiten und der dritten Vorlagefrage genannten Bestimmungen des österreichischen Rechts seien nicht einschlägig, und das vorlegende Gericht hätte einen Verstoß gegen österreichisches Recht feststellen müssen, darauf hinzuweisen, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, sich zur Auslegung nationaler Vorschriften zu äußern und zu entscheiden, ob ihre Auslegung oder Anwendung durch das nationale Gericht richtig ist, da eine solche Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt (Urteil vom 15. Juni 2023, Getin Noble Bank [Aussetzung der Durchführung eines Darlehensvertrags], C‑287/22, EU:C:2023:491, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). 54 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen und insbesondere aus dem Wortlaut der Vorlagefragen hervor, dass nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zum einen diese Bestimmungen des österreichischen Rechts auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar sind und zum anderen der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Versuch, ohne vorherige Genehmigung der Staatsanwaltschaft oder eines Richters Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen, nach österreichischem Recht zulässig ist. Nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung ist es nicht Sache des Gerichtshofs, sich zu einer solchen Auslegung dieser Bestimmungen zu äußern. 55 Folglich sind die Fragen des vorlegenden Gerichts zulässig. Zur Beantwortung der Vorlagefragen 56 Die österreichische Regierung macht in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, der Gerichtshof sei nicht für die Beantwortung der ersten und der zweiten Vorlagefrage zuständig, da diese Fragen die Auslegung von Art. 5 und Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 beträfen, obwohl diese Richtlinie im Ausgangsrechtsstreit offensichtlich nicht anwendbar sei. In der mündlichen Verhandlung haben mehrere Regierungen vorgetragen, dass eine Umformulierung der Vorlagefragen unter Bezugnahme auf die Richtlinie 2016/680 nicht möglich sei. Die österreichische Regierung hat insbesondere hervorgehoben, dass der Umstand, dass die Richtlinie 2016/680 keine Art. 5 und Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 entsprechenden Bestimmungen enthalte, dieser Umformulierung entgegenstehe. Die französische Regierung hat vorgetragen, die Befugnis zur Umformulierung der Vorlagefragen finde eine ihrer Grenzen im Recht der Mitgliedstaaten zur Abgabe schriftlicher Erklärungen. Diesem Recht würde nämlich jede Wirksamkeit genommen, wenn der rechtliche Rahmen des Verfahrens bei der Umformulierung der Vorlagefragen durch den Gerichtshof grundlegend geändert werden könnte. 57 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, gestützt insbesondere auf Art. 1 Abs. 1 und 3 und Art. 3 der Richtlinie 2002/58, entschieden hat, dass dann, wenn die Mitgliedstaaten unmittelbar Maßnahmen umsetzen, mit denen von der Vertraulichkeit elektronischer Kommunikationen abgewichen wird, ohne den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste Verarbeitungspflichten aufzuerlegen, der Schutz der Daten der betroffenen Personen nicht unter die Richtlinie 2002/58 fällt, sondern allein unter das nationale Recht, vorbehaltlich der Anwendung der Richtlinie 2016/680 (Urteile vom 6. Oktober 2020, Privacy International, C‑623/17, EU:C:2020:790, Rn. 48, und vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 103). 58 Der Ausgangsrechtsstreit betrifft jedoch unstreitig den unmittelbar von den Polizeibehörden unternommenen Versuch, Zugang zu auf einem Mobiltelefon gespeicherten personenbezogenen Daten zu erlangen, ohne dass ein Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste ersucht worden wäre, tätig zu werden. 59 Dieser Rechtsstreit fällt daher offensichtlich nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2002/58, auf die sich die erste und die zweite Vorlagefrage beziehen. 60 Nach ständiger Rechtsprechung ist es jedoch im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geregelten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof auf unionsrechtliche Vorschriften eingehen, die das nationale Gericht in seinen Fragen nicht angeführt hat (Urteile vom 15. Juli 2021, Ministrstvo za obrambo, C‑742/19, EU:C:2021:597, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 18. Juni 2024, Generalstaatsanwaltschaft Hamm [Ersuchen um Auslieferung eines Flüchtlings an die Türkei], C‑352/22, EU:C:2024:521, Rn. 47). 61 Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus allem, was das nationale Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Zwar müssen die Angaben in der Vorlageentscheidung nach ständiger Rechtsprechung nicht nur dem Gerichtshof zweckdienliche Antworten ermöglichen, sondern auch den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten die Möglichkeit geben, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Erklärungen abzugeben (Urteil vom 21. Dezember 2023, Royal Antwerp Football Club, C‑680/21, EU:C:2023:1010, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). 63 Wie sich jedoch aus den Rn. 31 bis 33 des vorliegenden Urteils ergibt, hat das vorlegende Gericht auf das Informationsersuchen des Gerichtshofs geantwortet, dass die Richtlinie 2016/680 im Ausgangsrechtsstreit anwendbar sei. Die Beteiligten konnten in ihren schriftlichen Erklärungen zur Auslegung dieser Richtlinie und zu ihrer Relevanz für das Ausgangsverfahren Stellung nehmen. Außerdem hat der Gerichtshof die Teilnehmer an der mündlichen Verhandlung aufgefordert, in der Verhandlung bestimmte Fragen zu dieser Richtlinie zu beantworten. Er hat sie insbesondere aufgefordert, zur Relevanz ihres Art. 4 für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage sowie zur Relevanz ihrer Art. 13 und 54 für die Beantwortung der dritten Vorlagefrage Stellung zu nehmen. 64 Folglich steht der Umstand, dass die erste und die zweite Vorlagefrage die Auslegung von Art. 5 und Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 und nicht die Richtlinie 2016/680 betreffen, einer Umformulierung der Fragen des vorlegenden Gerichts im Hinblick auf die für die vorliegende Rechtssache relevanten Bestimmungen der letztgenannten Richtlinie und damit der Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung dieser Fragen nicht entgegen. 65 Diese Schlussfolgerung wird nicht durch das Vorbringen Irlands sowie der französischen und der norwegischen Regierung in Frage gestellt, wonach ein Versuch des Zugriffs auf personenbezogene Daten nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680 falle, da sie nur für tatsächlich erfolgte Verarbeitungen gelte. 66 Die genannten Regierungen machen insoweit geltend, dass die Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinie für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht zweckdienlich sei; dies gelte auch für die Bestimmungen der Charta, da sie nur Anwendung finde, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführten. 67 Der Einwand der Unanwendbarkeit eines Unionsrechtsakts auf das Ausgangsverfahren betrifft jedoch, sofern – wie hier bei der Richtlinie 2016/680 – nicht offensichtlich ist, dass seine Auslegung in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, die inhaltliche Beantwortung der Fragen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). 68 Daher ist vorab zu prüfen, ob ein Versuch der Polizeibehörden, Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen, in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt. Zur Anwendung der Richtlinie 2016/680 auf einen Versuch, Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen 69 In Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 wird ihr sachlicher Anwendungsbereich festgelegt. Nach dieser Bestimmung gilt sie „für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zu den in [ihrem] Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken“, u. a. zum Zwecke „der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung“. 70 Nach Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 bezeichnet der Ausdruck „Verarbeitung“„jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie … das Auslesen, das Abfragen“ oder die „Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung“. 71 Somit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 und insbesondere aus der Verwendung der Begriffe „jeder … Vorgang“, „jede … Vorgangsreihe“ und „eine andere Form der Bereitstellung“, dass der Unionsgesetzgeber den Ausdruck „Verarbeitung“ und damit den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie weit fassen wollte. Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass die Aufzählung der in dieser Bestimmung genannten Vorgänge nicht abschließend ist, was durch die Konjunktion „wie“ zum Ausdruck gebracht wird (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Valsts ieņēmumu dienests [Verarbeitung personenbezogener Daten für steuerliche Zwecke], C‑175/20, EU:C:2022:124, Rn. 35). 72 Diese den Wortlaut betreffenden Gesichtspunkte sprechen somit für eine Auslegung, wonach Polizeibehörden, wenn sie ein Telefon sicherstellen und versuchen, auf diesem Telefon gespeicherte personenbezogene Daten auszulesen oder abzufragen, eine Verarbeitung im Sinne von Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 vornehmen, auch wenn es ihnen aus technischen Gründen nicht gelingen sollte, auf diese Daten zuzugreifen. 73 Diese Auslegung wird durch den Kontext bestätigt, in den sich Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 einfügt. Nach ihrem Art. 4 Abs. 1 Buchst. b sehen die Mitgliedstaaten nämlich vor, dass personenbezogene Daten für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden. In der letztgenannten Bestimmung ist der Grundsatz der Zweckbindung verankert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 122). Die Wirksamkeit dieses Grundsatzes setzt zwingend voraus, dass der Zweck der Datenerhebung schon dann ermittelt wird, wenn die zuständigen Behörden versuchen, auf personenbezogene Daten zuzugreifen, da ein solcher Versuch, wenn er erfolgreich ist, es ihnen u. a. ermöglichen kann, die fraglichen Daten unverzüglich zu erheben, auszulesen oder abzufragen. 74 Zu den Zielen der Richtlinie 2016/680 gehört u. a., wie aus ihren Erwägungsgründen 4, 7 und 15 hervorgeht, die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für personenbezogene Daten natürlicher Personen. 75 Dieses Ziel würde in Frage gestellt, wenn ein Versuch, Zugang zu auf einem Mobiltelefon gespeicherten personenbezogenen Daten zu erlangen, nicht als „Verarbeitung“ dieser Daten eingestuft werden könnte. Eine dahin gehende Auslegung der Richtlinie 2016/680 würde die von einem solchen Zugriffsversuch betroffenen Personen nämlich einer erheblichen Gefahr aussetzen, dass ein Verstoß gegen die in dieser Richtlinie aufgestellten Grundsätze nicht mehr verhindert werden kann. 76 Hinzuzufügen ist, dass eine solche Auslegung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang steht, der nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gebietet, dass die Anwendung von Rechtsvorschriften für den Einzelnen vorhersehbar ist, vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen haben können (Urteil vom 27. Juni 2024, Gestore dei Servizi Energetici, C‑148/23, EU:C:2024:555, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Eine Auslegung, wonach die Anwendbarkeit der Richtlinie 2016/680 vom Erfolg des Zugriffsversuchs auf personenbezogene Daten, die auf einem Mobiltelefon gespeichert sind, abhinge, würde nämlich sowohl für die zuständigen nationalen Behörden als auch für die Rechtsunterworfenen eine mit diesem Grundsatz unvereinbare Unsicherheit schaffen. 77 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass ein Versuch von Polizeibehörden, für die Zwecke strafrechtlicher Ermittlungen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680 fällt, wie auch der Generalanwalt in Nr. 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat. Zur ersten und zur zweiten Frage 78 Das vorlegende Gericht hat in seiner ersten und seiner zweiten Frage ausdrücklich zum einen auf Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 Bezug genommen, wonach der etwaige Erlass von Rechtsvorschriften, die die in mehreren Bestimmungen dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte und Pflichten beschränken, durch die Mitgliedstaaten u. a. eine Maßnahme darstellen muss, die für die nationale Sicherheit (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist, und zum anderen auf Art. 52 Abs. 1 der Charta, in dem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Kontext einer Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten verankert ist. 79 Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2016/680 müssen die Mitgliedstaaten vorsehen, dass personenbezogene Daten dem Verarbeitungszweck entsprechen, maßgeblich und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, nicht übermäßig sind. Diese Bestimmung verlangt somit von den Mitgliedstaaten die Einhaltung des Grundsatzes der „Datenminimierung“, in dem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck gebracht wird (Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 80 Daher muss u. a. bei der Erhebung personenbezogener Daten im Rahmen eines Strafverfahrens und bei deren Speicherung durch die Polizeibehörden zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Zwecken – wie bei jeder Verarbeitung, die in ihren Anwendungsbereich fällt – der letztgenannte Grundsatz beachtet werden (Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). 81 Somit ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2016/680 im Licht der Art. 7 und 8 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta einer nationalen Regelung entgegensteht, die den zuständigen Behörden die Möglichkeit gibt, zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten im Allgemeinen auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen, und die Ausübung dieser Möglichkeit keiner vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterwirft. 82 Zunächst ist festzustellen, dass die Richtlinie 2016/680, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 2 und 4 ergibt, zur Vollendung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Union beitragen soll, indem durch den Aufbau eines soliden und kohärenten Rechtsrahmens für den Schutz personenbezogener Daten die Wahrung des in Art. 8 Abs. 1 der Charta und in Art. 16 Abs. 1 AEUV anerkannten Grundrechts auf den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten sichergestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien [Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich], C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 75). 83 Zu diesem Zweck zielt die Richtlinie 2016/680, wie oben in Rn. 74 ausgeführt, u. a. auf die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für personenbezogene Daten natürlicher Personen ab. 84 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die nach der Richtlinie 2016/680 zulässigen Einschränkungen des in Art. 8 der Charta vorgesehenen Rechts auf Schutz personenbezogener Daten und des durch Art. 7 der Charta geschützten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wie im 104. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgehoben wird, im Einklang mit den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta auszulegen sind, zu denen die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 33). 85 Diese Grundrechte gelten nämlich nicht uneingeschränkt, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen und gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Jegliche Einschränkung ihrer Ausübung muss gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sein, ihren Wesensgehalt achten sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Nach diesem Grundsatz dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Sie müssen sich auf das absolut Notwendige beschränken, und die Regelung, die die fraglichen Einschränkungen enthält, muss klare und präzise Regeln für ihre Tragweite und ihre Anwendung vorsehen (Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 86 Erstens ist in Bezug auf die dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung, die eine Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte, wie sie sich aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung ergibt, rechtfertigen kann, hervorzuheben, dass bei einer Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen polizeilicher Ermittlungen zur Ahndung einer Straftat – wie einem Versuch, auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen – grundsätzlich davon auszugehen ist, dass sie einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta tatsächlich entspricht. 87 Zweitens ist, wie im 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 im Wesentlichen hervorgehoben wird, die Voraussetzung, dass eine solche Einschränkung erforderlich sein muss, nicht erfüllt, wenn die angestrebte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in zumutbarer Weise ebenso wirksam durch andere Mittel erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen eingreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 88 Dagegen ist die Voraussetzung der Erforderlichkeit erfüllt, wenn das mit der betreffenden Datenverarbeitung verfolgte Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam durch andere Mittel erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen, insbesondere die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, eingreifen (Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung). 89 Drittens impliziert die Verhältnismäßigkeit einer Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte, die sich aus solchen Verarbeitungen ergibt, eine Gewichtung aller relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 62 und 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 90 Zu diesen Gesichtspunkten gehören u. a. die Schwere der damit verbundenen Einschränkung der Ausübung der in Rede stehenden Grundrechte, die von der Natur und der Sensibilität der Daten abhängt, zu denen die zuständigen Polizeibehörden Zugang erlangen können, die Bedeutung des mit dieser Einschränkung verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziels, die Verbindung zwischen dem Eigentümer des Mobiltelefons und der in Rede stehenden Straftat oder die Relevanz der fraglichen Daten für die Feststellung des Sachverhalts. 91 Zum ersten, die Schwere der Grundrechtseinschränkung, die sich aus einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ergibt, betreffenden Gesichtspunkt geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass diese Regelung es den zuständigen Polizeibehörden ermöglicht, ohne vorherige Genehmigung auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen. 92 Je nachdem, welche Inhalte sich auf dem in Rede stehenden Mobiltelefon befinden und welche Entscheidungen die Polizeibehörden treffen, kann sich ein solcher Zugang nicht nur auf Verkehrs- und Standortdaten erstrecken, sondern auch auf Fotos und den Verlauf der Navigation im Internet mit diesem Telefon oder sogar auf einen Teil des Inhalts der mit diesem Telefon geführten Kommunikationen, insbesondere durch die Abfrage der darauf gespeicherten Nachrichten. 93 Der Zugang zu einem solchen Datensatz kann sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Person zulassen, etwa auf ihre Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ausgeübte Tätigkeiten, soziale Beziehungen dieser Person und das soziale Umfeld, in dem sie verkehrt. 94 Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten besonders sensible Daten – wie personenbezogene Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen und religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen hervorgehen – gehören können, deren Sensibilität den besonderen Schutz rechtfertigt, den sie nach Art. 10 der Richtlinie 2016/680 genießen und der sich auch auf Daten erstreckt, aus denen sich mittels eines Denkvorgangs der Ableitung oder des Abgleichs indirekt derartige Informationen ergeben (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 344). 95 Der Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte, zu dem die Anwendung einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden führen kann, ist daher als schwerwiegend oder sogar besonders schwerwiegend einzustufen. 96 Zum zweiten, die Bedeutung des verfolgten Ziels betreffenden Gesichtspunkt ist hervorzuheben, dass die Schwere der Straftat, die Gegenstand der Ermittlungen ist, einen der zentralen Parameter bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des schwerwiegenden Eingriffs darstellt, um den es sich beim Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten personenbezogenen Daten handelt, die es erlauben, genaue Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Person zu ziehen. 97 Falls nur die Bekämpfung schwerer Kriminalität den Zugang zu auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten rechtfertigen könnte, würden jedoch die Ermittlungsbefugnisse der zuständigen Behörden im Sinne der Richtlinie 2016/680 in Bezug auf Straftaten im Allgemeinen eingeschränkt. Daraus würde sich in Anbetracht der Bedeutung, die solche Daten für strafrechtliche Ermittlungen haben können, eine erhöhte Gefahr der Straflosigkeit solcher Taten ergeben. Eine derartige Einschränkung würde somit den Besonderheiten der Aufgaben, die von diesen Behörden zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie genannten, in ihren Erwägungsgründen 10 und 11 hervorgehobenen Zwecken wahrgenommen werden, nicht gerecht und wäre dem mit ihr verfolgten Ziel der Vollendung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Union abträglich. 98 Diese Erwägungen lassen allerdings das in Art. 52 Abs. 1 der Charta aufgestellte Erfordernis unberührt, wonach jede Einschränkung der Ausübung eines Grundrechts „gesetzlich vorgesehen“ sein muss; dies bedeutet, dass die Rechtsgrundlage, die eine solche Einschränkung gestattet, deren Tragweite hinreichend klar und präzise definieren muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). 99 Um diesem Erfordernis zu genügen, muss der nationale Gesetzgeber die zu berücksichtigenden Gesichtspunkte, insbesondere die Art oder die Kategorien der betreffenden Straftaten, hinreichend präzise definieren. 100 Zum dritten, die Verbindung zwischen dem Eigentümer des Mobiltelefons und der in Rede stehenden Straftat sowie die Relevanz der in Rede stehenden Daten für die Feststellung des Sachverhalts betreffenden Gesichtspunkt ergibt sich aus Art. 6 der Richtlinie 2016/680, dass der Begriff „betroffene Person“ verschiedene Kategorien von Personen umfasst, und zwar im Wesentlichen Personen, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen haben oder in naher Zukunft begehen werden, verurteilte Straftäter, Opfer oder potenzielle Opfer solcher Straftaten sowie andere Parteien im Zusammenhang mit einer Straftat, die bei Ermittlungen in Verbindung mit der betreffenden Straftat oder beim anschließenden Strafverfahren als Zeugen in Betracht kommen. Nach diesem Artikel müssen die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der für die Verarbeitung Verantwortliche gegebenenfalls und so weit wie möglich zwischen den personenbezogenen Daten dieser verschiedenen Kategorien betroffener Personen klar unterscheidet. 101 Insoweit muss insbesondere in Bezug auf den Zugang zu Daten, die wie im Ausgangsverfahren auf dem Mobiltelefon der Person, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, gespeichert sind, der begründete Verdacht, dass diese Person eine Straftat begangen hat, begeht oder zu begehen plant oder dass sie in irgendeiner Weise in eine solche Straftat involviert ist, durch hinreichende objektive Anhaltspunkte untermauert werden. 102 Um namentlich sicherzustellen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in jedem Einzelfall durch eine Gewichtung aller relevanten Gesichtspunkte gewahrt wird, ist es von wesentlicher Bedeutung, dass der Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu personenbezogenen Daten, wenn er die Gefahr eines schwerwiegenden oder sogar besonders schwerwiegenden Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Person mit sich bringt, von einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle abhängig gemacht wird. 103 Diese vorherige Kontrolle setzt voraus, dass das mit ihr betraute Gericht oder die mit ihr betraute unabhängige Verwaltungsstelle über alle Befugnisse verfügt und alle Garantien bietet, die erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass die verschiedenen einander gegenüberstehenden berechtigten Interessen und Rechte in Einklang gebracht werden. Speziell im Fall strafrechtlicher Ermittlungen verlangt eine solche Kontrolle, dass das Gericht oder die Stelle in der Lage ist, für einen gerechten Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen, die sich aus den Erfordernissen der Ermittlungen im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung ergeben, und den Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten der Personen, auf deren Daten zugegriffen wird, zu sorgen. 104 Diese unabhängige Kontrolle muss in einer Situation wie der oben in Rn. 102 beschriebenen vor jedem Versuch, Zugang zu den betreffenden Daten zu erlangen, erfolgen, außer in hinreichend begründeten Eilfällen, in denen die Kontrolle kurzfristig erfolgen muss. Eine spätere Kontrolle würde es nämlich nicht ermöglichen, dem Ziel der vorherigen Kontrolle zu entsprechen, das darin besteht, zu verhindern, dass ein über das absolut Notwendige hinausgehender Zugang zu den fraglichen Daten gewährt wird. 105 Insbesondere müssen Gerichte oder unabhängige Verwaltungsstellen, die im Rahmen einer vorherigen Kontrolle im Anschluss an einen mit Gründen versehenen Zugangsantrag tätig werden, der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680 fällt, befugt sein, diesen Zugang zu verweigern oder einzuschränken, wenn sie feststellen, dass der mit ihm verbundene Eingriff in die Grundrechte unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte unverhältnismäßig wäre. 106 Der Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten durch die zuständigen Polizeibehörden muss daher verweigert oder eingeschränkt werden, wenn unter Berücksichtigung der Schwere der Straftat und der Erfordernisse der Untersuchung ein Zugang zum Inhalt der Kommunikationen oder zu sensiblen Daten nicht gerechtfertigt erscheint. 107 Insbesondere sind bei der Verarbeitung sensibler Daten die Anforderungen zu berücksichtigen, die in Art. 10 der Richtlinie 2016/680 aufgestellt werden, dessen Zweck darin besteht, einen erhöhten Schutz vor solchen Verarbeitungen zu gewährleisten, die, wie sich aus dem 37. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, erhebliche Risiken für die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte und Grundfreiheiten wie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten mit sich bringen können. Zu diesem Zweck ist, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 10 der Richtlinie ergibt, die Einschränkung, dass die Verarbeitung solcher Daten „nur dann erlaubt [ist], wenn sie unbedingt erforderlich ist“, dahin auszulegen, dass sie verschärfte Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung sensibler Daten festlegt, verglichen mit denjenigen, die sich aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. b und c sowie aus Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie ergeben, in denen lediglich von der „Erforderlichkeit“ einer allgemein in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallenden Verarbeitung von Daten die Rede ist (Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49‚ Rn. 116 und 117 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 108 So wird zum einen durch die Verwendung des Adverbs „nur“ vor dem Ausdruck „wenn sie unbedingt erforderlich ist“ hervorgehoben, dass die Verarbeitung besonderer Kategorien von Daten im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 nur in einer begrenzten Zahl von Fällen als erforderlich angesehen werden kann. Zum anderen bedeutet der Umstand, dass die Verarbeitung solcher Daten „unbedingt“ erforderlich sein muss, dass ihre Erforderlichkeit besonders streng zu beurteilen ist (Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 118). 109 Im vorliegenden Fall gibt das vorlegende Gericht an, dass die österreichischen Polizeibehörden während eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens befugt seien, auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen. Zudem setze dieser Zugang grundsätzlich keine vorherige Genehmigung eines Gerichts oder einer unabhängigen Verwaltungsbehörde voraus. Es ist jedoch allein Sache dieses Gerichts, im Ausgangsrechtsstreit die Konsequenzen aus den insbesondere oben in den Rn. 102 bis 108 vorgenommenen Klarstellungen zu ziehen. 110 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2016/680 im Licht der Art. 7 und 8 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die den zuständigen Behörden die Möglichkeit gibt, zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten im Allgemeinen auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen, nicht entgegensteht, wenn diese Regelung – die Art oder die Kategorien der betreffenden Straftaten hinreichend präzise definiert, – die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gewährleistet und – die Ausübung dieser Möglichkeit, außer in hinreichend begründeten Eilfällen, einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterwirft. Zur dritten Frage 111 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass mit der dritten Frage des vorlegenden Gerichts im Wesentlichen geklärt werden soll, ob CG von den Zugriffsversuchen auf die auf seinem Mobiltelefon gespeicherten Daten hätte in Kenntnis gesetzt werden müssen, damit er sein in Art. 47 der Charta garantiertes Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf hätte ausüben können. 112 Insoweit handelt es sich bei den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2016/680 zum einen um ihren Art. 13 („Der betroffenen Person zur Verfügung zu stellende oder zu erteilende Informationen“) und zum anderen um ihren Art. 54 („Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter“). 113 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die mit dieser Richtlinie vorgenommenen Einschränkungen des durch Art. 47 der Charta geschützten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren, wie im 104. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 hervorgehoben wird, im Einklang mit den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta auszulegen sind, zu denen die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gehört. 114 Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 13 und 54 der Richtlinie 2016/680 im Licht von Art. 47 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den für die Strafverfolgung zuständigen Behörden gestattet, zu versuchen, auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen, ohne die betroffene Person davon in Kenntnis zu setzen. 115 Wie sich aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2016/680 ergibt, sehen die Mitgliedstaaten neben den Informationen, die der betroffenen Person nach Art. 13 Abs. 1 zur Verfügung zu stellen sind und zu denen der Name des für die Verarbeitung Verantwortlichen, der Zweck dieser Verarbeitung und das Bestehen eines Beschwerderechts bei der Aufsichtsbehörde gehören, gesetzlich vor, dass der Verantwortliche der betroffenen Person, um ihr die Ausübung ihrer Rechte zu ermöglichen, erforderlichenfalls weitere Informationen zur Verfügung stellt, insbesondere wenn die personenbezogenen Daten ohne Wissen dieser Person erhoben werden. 116 Art. 13 Abs. 3 Buchst. a und b der Richtlinie 2016/680 gestattet dem nationalen Gesetzgeber jedoch, die Unterrichtung der betroffenen Person gemäß Abs. 2 soweit und so lange einzuschränken oder zu unterlassen, „wie diese Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich und verhältnismäßig ist und sofern den Grundrechten und den berechtigten Interessen der betroffenen natürlichen Person Rechnung getragen wird“, u. a. „zur Gewährleistung, dass behördliche oder gerichtliche Untersuchungen, Ermittlungen oder Verfahren nicht behindert werden“, oder „zur Gewährleistung, dass die Verhütung, Aufdeckung, Ermittlung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung nicht beeinträchtigt werden“. 117 Schließlich müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 54 der Richtlinie 2016/680, der Art. 47 der Charta Ausdruck verleiht, vorsehen, dass jede Person, die der Ansicht ist, dass die Rechte, die ihr aufgrund nach dieser Richtlinie erlassener Vorschriften zustehen, infolge einer nicht mit diesen Vorschriften im Einklang stehenden Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verletzt wurden, das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf hat. 118 Nach der Rechtsprechung verlangt das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf grundsätzlich, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann, um es ihm zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, das zuständige Gericht anzurufen, und um dieses Gericht vollständig in die Lage zu versetzen, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu überprüfen (Urteil vom 16. November 2023, Ligue des droits humains [Prüfung der Datenverarbeitung durch die Aufsichtsbehörde], C‑333/22, EU:C:2023:874, Rn. 58). 119 Dieses Recht kann allerdings keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen und kann gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta eingeschränkt werden, sofern diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt der in Rede stehenden Rechte und Freiheiten achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Urteil vom 16. November 2023, Ligue des droits humains [Prüfung der Datenverarbeitung durch die Aufsichtsbehörde], C‑333/22, EU:C:2023:874, Rn. 59). 120 Somit ergibt sich aus den oben in den Rn. 115 bis 119 angeführten Bestimmungen, dass die zuständigen nationalen Behörden, denen von einem Gericht oder einer unabhängigen Verwaltungsstelle der Zugang zu gespeicherten Daten gestattet wurde, die betroffenen Personen im Rahmen der einschlägigen nationalen Verfahren über die Gründe, auf denen die Gestattung beruht, informieren müssen, sobald dies die von diesen Behörden durchgeführten Ermittlungen nicht mehr beeinträchtigen kann, und ihnen sämtliche in Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Informationen zur Verfügung stellen müssen. Diese Informationen sind nämlich erforderlich, damit die betroffenen Personen u. a. das in Art. 54 der Richtlinie 2016/680 ausdrücklich vorgesehene Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs ausüben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Spetsializirana prokuratura [Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten], C‑350/21, EU:C:2022:896, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung). 121 Dagegen wäre eine nationale Regelung, die generell jeden Anspruch auf Erlangung solcher Informationen ausschlösse, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Spetsializirana prokuratura [Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten], C‑350/21, EU:C:2022:896, Rn. 71). 122 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass CG von der Sicherstellung seines Mobiltelefons wusste, als die österreichischen Polizeibehörden vergeblich versuchten, es zu entsperren, um auf die darauf gespeicherten Daten zuzugreifen. Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, dass die Unterrichtung von CG darüber, dass die Polizeibehörden versuchen würden, auf diese Daten zuzugreifen, geeignet gewesen wäre, die Ermittlungen zu beeinträchtigen, so dass er davon vorab in Kenntnis hätte gesetzt werden müssen. 123 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Art. 13 und 54 der Richtlinie 2016/680 im Licht von Art. 47 und von Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den zuständigen Behörden gestattet, zu versuchen, auf Daten zuzugreifen, die auf einem Mobiltelefon gespeichert sind, ohne die betroffene Person im Rahmen der einschlägigen nationalen Verfahren über die Gründe, auf denen die von einem Gericht oder einer unabhängigen Verwaltungsstelle erteilte Gestattung des Zugriffs auf die Daten beruht, zu informieren, sobald die Übermittlung dieser Informationen die den Behörden nach der Richtlinie obliegenden Aufgaben nicht mehr beeinträchtigen kann. Kosten 124 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates ist im Licht der Art. 7 und 8 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die den zuständigen Behörden die Möglichkeit gibt, zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten im Allgemeinen auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen, nicht entgegensteht, wenn diese Regelung – die Art oder die Kategorien der betreffenden Straftaten hinreichend präzise definiert, – die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gewährleistet und – die Ausübung dieser Möglichkeit, außer in hinreichend begründeten Eilfällen, einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterwirft. 2. Die Art. 13 und 54 der Richtlinie 2016/680 sind im Licht von Art. 47 und von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den zuständigen Behörden gestattet, zu versuchen, auf Daten zuzugreifen, die auf einem Mobiltelefon gespeichert sind, ohne die betroffene Person im Rahmen der einschlägigen nationalen Verfahren über die Gründe, auf denen die von einem Gericht oder einer unabhängigen Verwaltungsstelle erteilte Gestattung des Zugriffs auf die Daten beruht, zu informieren, sobald die Übermittlung dieser Informationen die den Behörden nach der Richtlinie obliegenden Aufgaben nicht mehr beeinträchtigen kann. Lenaerts Bay Larsen Jürimäe Lycourgos Regan von Danwitz Csehi Spineanu-Matei Xuereb Jarukaitis Kumin Jääskinen Gavalec Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 4. Oktober 2024. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 19. September 2024.#Maria Teresa Coppo Gavazzi u. a. gegen Europäisches Parlament.#Rechtsmittel – Institutionelles Recht – Einheitliches Statut des Europaabgeordneten – In italienischen Wahlkreisen gewählte Europaabgeordnete – Erlass eines Ruhegehälter betreffenden Beschlusses durch die italienische Abgeordnetenkammer – Änderung der Höhe der Ruhegehälter der nationalen italienischen Abgeordneten – Entsprechende Änderung der Höhe der Ruhegehälter bestimmter ehemaliger, in Italien gewählter Europaabgeordneter durch das Europäische Parlament – Austausch der Beschlüsse des Parlaments – Fortbestand des Rechtsschutzinteresses an der Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union.#Rechtssache C-725/20 P.
62020CJ0725
ECLI:EU:C:2024:766
2024-09-19T00:00:00
Gerichtshof, Kokott
62020CJ0725 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 19. September 2024 (*1) „Rechtsmittel – Institutionelles Recht – Einheitliches Statut des Europaabgeordneten – In italienischen Wahlkreisen gewählte Europaabgeordnete – Erlass eines Ruhegehälter betreffenden Beschlusses durch die italienische Abgeordnetenkammer – Änderung der Höhe der Ruhegehälter der nationalen italienischen Abgeordneten – Entsprechende Änderung der Höhe der Ruhegehälter bestimmter ehemaliger, in Italien gewählter Europaabgeordneter durch das Europäische Parlament – Austausch der Beschlüsse des Parlaments – Fortbestand des Rechtsschutzinteresses an der Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union“ In der Rechtssache C‑725/20 P betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 28. Dezember 2020, Maria Teresa Coppo Gavazzi, wohnhaft in Mailand (Italien), Cristiana Muscardini, wohnhaft in Mailand, Luigi Vinci, wohnhaft in Mailand, Agostino Mantovani, wohnhaft in Brescia (Italien), Anna Catasta, wohnhaft in Mailand, Vanda Novati, wohnhaft in Varese (Italien), Francesco Enrico Speroni, wohnhaft in Busto Arsizio (Italien), Maria Di Meo, wohnhaft in Cellole (Italien), Giuseppe Di Lello Finuoli, wohnhaft in Palermo (Italien), Raffaele Lombardo, wohnhaft in Catania (Italien), Olivier Dupuis, wohnhaft in Saint-Gilles (Belgien), Leda Frittelli, wohnhaft in Frosinone (Italien), Livio Filippi, wohnhaft in Carpi (Italien), Vincenzo Viola, wohnhaft in Palermo, Antonio Mussa, wohnhaft in Turin (Italien), Mauro Nobilia, wohnhaft in Rom (Italien), Clara di Prinzio als Erbin von Sergio Camillo Segre, wohnhaft in Rom, Stefano De Luca, wohnhaft in Palermo, Riccardo Ventre, wohnhaft in Formicola (Italien), Mirella Musoni, wohnhaft in Rom, Francesco Iacono, wohnhaft in Forio (Italien), Vito Bonsignore, wohnhaft in Turin, Claudio Azzolini, wohnhaft in Neapel (Italien), Vincenzo Aita, wohnhaft in Campagna (Italien), Mario Mantovani, wohnhaft in Arconate (Italien), Vincenzo Mattina, wohnhaft in Buonabitacolo (Italien), Romano Maria La Russa, wohnhaft in Mailand, Giorgio Carollo, wohnhaft in Torri di Quartesolo (Italien), Fiammetta Cucurnia als Erbin von Giulietto Chiesa, wohnhaft in Rom, Roberto Costanzo, wohnhaft in Benevento (Italien), Giorgio Gallenzi als Erbe von Giulio Cesare Gallenzi, wohnhaft in Rom, Vitaliano Gemelli, wohnhaft in Rom, Pasqualina Napoletano, wohnhaft in Anzio (Italien), Ida Panusa, wohnhaft in Latina (Italien), vertreten durch M. Merola, Avvocato, Rechtsmittelführer, andere Partei des Verfahrens: Europäisches Parlament, vertreten durch S. Alves und S. Seyr als Bevollmächtigte, Beklagter im ersten Rechtszug, erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin (Berichterstatter) sowie der Richterin L. S. Rossi, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 11. Januar 2024 folgendes Urteil 1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen Frau Maria Teresa Coppo Gavazzi, Frau Cristiana Muscardini, Herr Luigi Vinci, Herr Agostino Mantovani, Frau Anna Catasta, Frau Vanda Novati, Herr Francesco Enrico Speroni, Frau Maria Di Meo, Herr Giuseppe Di Lello Finuoli, Herr Raffaele Lombardo, Herr Olivier Dupuis, Frau Leda Frittelli, Herr Livio Filippi, Herr Vincenzo Viola, Herr Antonio Mussa, Herr Mauro Nobilia, Frau Clara di Prinzio als Erbin von Herrn Sergio Camillo Segre, Herr Stefano De Luca, Herr Riccardo Ventre, Frau Mirella Musoni, Herr Francesco Iacono, Herr Vito Bonsignore, Herr Claudio Azzolini, Herr Vincenzo Aita, Herr Mario Mantovani, Herr Vincenzo Mattina, Herr Romano Maria La Russa, Herr Giorgio Carollo, Frau Fiammetta Cucurnia als Erbin von Herrn Giulietto Chiesa, Herr Roberto Costanzo, Herr Giorgio Gallenzi als Erbe von Herrn Giulio Cesare Gallenzi, Herr Vitaliano Gemelli, Frau Pasqualina Napoletano und Frau Ida Panusa die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 15. Oktober 2020, Coppo Gavazzi u. a./Parlament (T‑389/19 bis T‑394/19, T‑397/19, T‑398/19, T‑403/19, T‑404/19, T‑406/19, T‑407/19, T‑409/19 bis T‑414/19, T‑416/19 bis T‑418/19, T‑420/19 bis T‑422/19, T‑425/19 bis T‑427/19, T‑429/19 bis T‑432/19, T‑435/19, T‑436/19, T‑438/19 bis T‑442/19, T‑444/19 bis T‑446/19, T‑448/19, T‑450/19 bis T‑454/19, T‑463/19 und T‑465/19, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2020:494), mit dem das Gericht ihre Klagen auf Nichtigerklärung der Mitteilungen vom 11. April 2019, die das Europäische Parlament für jeden einzelnen Rechtsmittelführer erstellt hat (im Folgenden zusammen: streitige Beschlüsse) und die die Anpassung der Höhe der Ruhegehälter betreffen, die sie nach dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 14/2018 vom 12. Juli 2018 des Ufficio di Presidenza della Camera dei deputati (Präsidium der Abgeordnetenkammer, Italien) (im Folgenden: Beschluss Nr. 14/2018) am 1. Januar 2019 beziehen, abgewiesen hat. I. Rechtlicher Rahmen A. Unionsrecht 1. Geschäftsordnung des Parlaments 2 Art. 25 („Aufgaben des Präsidiums“) der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments in der während der achten Wahlperiode (2014–2019) geltenden Fassung (im Folgenden: Geschäftsordnung des Parlaments) bestimmte in Abs. 3: „Das Präsidium trifft auf Vorschlag des Generalsekretärs oder einer Fraktion finanzielle, organisatorische und administrative Entscheidungen in Angelegenheiten der Mitglieder.“ 3 Diese Bestimmung der Geschäftsordnung des Parlaments blieb in der während der neunten Wahlperiode (2019–2024) geltenden Fassung unverändert. 2. KVR 4 Art. 1 der Anlage III der Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments sah in seiner bis zum 14. Juli 2009 geltenden Fassung (im Folgenden: KVR) vor: „1.   Alle Mitglieder des Parlaments haben Anspruch auf ein Altersruhegehalt. 2.   Bis zur Einführung eines endgültigen gemeinschaftlichen Altersversorgungssystems für alle Mitglieder des Europäischen Parlaments wird – sofern das nationale System keine Altersversorgung vorsieht oder die Höhe und/oder die Modalitäten der vorgesehenen Versorgung nicht mit denen übereinstimmen, die für die Mitglieder des nationalen Parlaments des Mitgliedstaates gelten, in dem das betreffende Mitglied des Parlaments gewählt wurde – aus dem Haushaltsplan der Europäischen Union, Einzelplan Parlament, auf Antrag des betreffenden Mitglieds ein vorläufiges Altersruhegehalt gezahlt.“ 5 Art. 2 der Anlage III der KVR bestimmte: „1.   Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts sind identisch mit Höhe und Bedingungen des Altersruhegehalts für Mitglieder der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaates, in dem das Mitglied des Parlaments gewählt wurde. 2.   Ein gemäß Artikel 1 Absatz 2 anspruchsberechtigtes Mitglied hat beim Beitritt zu dieser Regelung einen Beitrag zugunsten des Haushalts der Europäischen Union zu leisten, der so berechnet ist, dass seine Zahlungen insgesamt dem Beitrag entsprechen, den ein Mitglied der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaates, in dem das Mitglied gewählt wurde, nach den nationalen Bestimmungen zu entrichten hat.“ 6 In Art. 3 Abs. 1 und 2 der Anlage III der KVR hieß es: „1.   Der Antrag auf Beitritt zu dieser vorläufigen Ruhegehaltsregelung muss binnen zwölf Monaten nach Beginn des Mandats des Betroffenen gestellt werden. Nach Ablauf dieser Frist wird der Beitritt zur Ruhegehaltsregelung am ersten Kalendertag des Monats wirksam, in dem der Antrag eingegangen ist. 2.   Der Antrag auf Auszahlung des Ruhegehalts muss binnen sechs Monaten nach Entstehen des Anspruchs gestellt werden. Nach Ablauf dieser Frist wird der Ruhegehaltsanspruch am ersten Kalendertag des Monats wirksam, in dem der Antrag eingegangen ist.“ 3. Abgeordnetenstatut 7 In Art. 25 Abs. 1 und 2 des Beschlusses 2005/684/EG, Euratom des Europäischen Parlaments vom 28. September 2005 zur Annahme des Abgeordnetenstatuts des Europäischen Parlaments (ABl. 2005, L 262, S. 1, im Folgenden: Abgeordnetenstatut), das am 14. Juli 2009 in Kraft getreten ist, heißt es: „(1)   Die Abgeordneten, die vor Inkrafttreten des Statuts dem Parlament bereits angehörten und wiedergewählt wurden, können sich hinsichtlich der Entschädigung, des Übergangsgeldes, des Ruhegehaltes und der Hinterbliebenenversorgung für die gesamte Dauer ihrer Tätigkeit für das bisherige nationale System entscheiden. (2)   Diese Zahlungen werden aus dem Haushalt des Mitgliedstaates geleistet.“ 8 Art. 28 Abs. 1 des Abgeordnetenstatuts sieht vor: „Ein Anspruch auf Ruhegehalt, den ein Abgeordneter zum Zeitpunkt der Anwendung dieses Statuts nach einzelstaatlichen Regelungen erworben hat, bleibt in vollem Umfang erhalten.“ 4. Durchführungsbestimmungen 9 Im siebten Erwägungsgrund des Beschlusses 2009/C 159/01 des Präsidiums des Europäischen Parlaments vom 19. Mai und 9. Juli 2008 mit Durchführungsbestimmungen zum Abgeordnetenstatut des Europäischen Parlaments (ABl. 2009, C 159, S. 1) in der durch den Beschluss 2010/C 340/06 des Präsidiums des Europäischen Parlaments vom 13. Dezember 2010 (ABl. 2010, C 340, S. 6) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsbestimmungen) heißt es: „[I]n den Übergangsbestimmungen [soll] gewährleistet werden, dass die Personen, die auf der Grundlage der KVR bestimmte Leistungen erhalten, diese auch nach der Aufhebung dieser Regelung gemäß dem Grundsatz des Vertrauensschutzes weiterhin in Anspruch nehmen können. Ferner soll die Einhaltung der Ruhegehaltsansprüche gewährleistet sein, die auf der Grundlage der KVR vor Inkrafttreten des [Abgeordnetens]tatuts erworben wurden.“ 10 Art. 49 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen bestimmt: „Die Abgeordneten, die ihr Mandat mindestens ein volles Jahr ausgeübt haben, haben nach Ende des Mandats Anspruch auf ein lebenslanges Ruhegehalt, das ab dem ersten Tag des Monats zahlbar ist, nach dem sie das 63. Lebensjahr vollenden. Außer in Fällen höherer Gewalt stellt der ehemalige Abgeordnete oder sein gesetzlicher Vertreter den Antrag auf Auszahlung des Ruhegehalts innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt der Anspruchsberechtigung. Nach Ablauf dieser Frist wird der Ruhegehaltsanspruch am ersten Tag des Monats wirksam, in dem der Antrag eingegangen ist.“ 11 Gemäß ihrem Art. 73 sind die Durchführungsbestimmungen am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts, nämlich am 14. Juli 2009, in Kraft getreten. 12 Art. 74 der Durchführungsbestimmungen sieht vor, dass die KVR vorbehaltlich der in Titel IV der Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Übergangsbestimmungen, zu denen Art. 75 der Durchführungsbestimmungen gehört, am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts ungültig wird. 13 Art. 75 der Durchführungsbestimmungen lautet: „(1)   Die Hinterbliebenenversorgung, das Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit, das für die unterhaltsberechtigten Kinder gewährte zusätzliche Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit und das Ruhegehalt gemäß den Anlagen I, II und III der KVR für die Mitglieder werden gemäß diesen Anlagen auch weiterhin den Personen gezahlt, die diese Leistungen bereits vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des [Abgeordnetens]tatuts erhalten haben. Falls ein ehemaliger Abgeordneter, der das Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit bezieht, nach dem 14. Juli 2009 verstirbt, werden die Hinterbliebenenbezüge nach den Bedingungen gemäß Anlage I der KVR an seinen Ehegatten, seinen festen Lebenspartner oder seine unterhaltsberechtigten Kinder gezahlt. (2)   Die bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des [Abgeordnetens]tatuts gemäß Anlage III erworbenen Ruhegehaltsansprüche bleiben bestehen. Die Personen, die im Rahmen dieser Ruhegehaltsregelung Ansprüche erworben haben, erhalten ein Ruhegehalt, das auf der Grundlage ihrer gemäß der oben genannten Anlage III erworbenen Ansprüche berechnet wird, sofern sie die in den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates vorgesehenen Bedingungen erfüllen und den Antrag im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 der genannten Anlage III gestellt haben.“ B. Italienisches Recht 14 Art. 1 Abs. 1 bis 3 des Beschlusses Nr. 14/2018 sieht vor: „(1)   Mit Wirkung vom 1. Januar 2019 wird die Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen) sowie des den Versorgungsbezügen entsprechenden Teils der Vorsorgeleistungen (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen), deren Ansprüche auf der Grundlage der am 31. Dezember 2011 geltenden Regelung erworben worden sind, nach den in diesem Beschluss vorgesehenen Modalitäten neu berechnet. (2)   Die Neuberechnung im Sinne des vorstehenden Absatzes erfolgt durch Multiplikation der Höhe des individuellen Beitrags mit dem Verarbeitungskoeffizienten, der sich auf das Alter des Abgeordneten zum Zeitpunkt des Erwerbs des Anspruchs auf lebenslange Versorgungsbezüge oder auf die anteilige Vorsorgeleistung bezieht. (3)   es gelten die Verarbeitungskoeffizienten in der dem vorliegenden Beschluss als Anhang beigefügten Tabelle 1.“ II. Vorgeschichte des Rechtsstreits 15 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wird in den Rn. 14 bis 23 des angefochtenen Urteils geschildert. Sie lässt sich für die Zwecke des vorliegenden Urteils wie folgt zusammenfassen. 16 Jeder der Rechtsmittelführer ist entweder ein in Italien gewähltes ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments oder ein Hinterbliebener eines solchen ehemaligen Europaabgeordneten, der ein Altersruhegehalt oder eine Hinterbliebenenrente bezieht (im Folgenden: Ruhegehalt). 17 Durch Hinzufügung einer Anmerkung zu den Ruhegehaltsabrechnungen für den Monat Januar 2019 teilte das Parlament den Rechtsmittelführern mit, dass die Höhe ihres Ruhegehalts gemäß dem Beschluss Nr. 14/2018 überprüft werden und diese Neuberechnung gegebenenfalls zu einer Rückforderung der zu Unrecht geleisteten Zahlungen führen könnte. 18 Ab dem 1. Januar 2019 kürzte das Parlament die Ruhegehälter der Rechtsmittelführer, indem es diesen Beschluss gemäß Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR anwandte. 19 Mit undatierter Mitteilung des Leiters des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der Generaldirektion (GD) Finanzen des Parlaments (im Folgenden: Referatsleiter), die den Ruhegehaltsabrechnungen der Rechtsmittelführer für den Monat Februar 2019 als Anhang beigefügt war, setzte das Parlament die Rechtsmittelführer darüber in Kenntnis, dass sein Juristischer Dienst die automatische Anwendbarkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 auf ihre Situation mit seinem Gutachten Nr. SJ-0836/18 vom 11. Januar 2019 (im Folgenden: Gutachten des Juristischen Dienstes) bestätigt habe. Sobald es die erforderlichen Informationen seitens der Camera dei deputati (Abgeordnetenkammer, Italien) erhalten habe, werde es den Rechtsmittelführern den neuen Betrag ihres Ruhegehalts mitteilen und eine etwaige Differenz in den folgenden zwölf Monaten zurückfordern. Ferner informierte es die Rechtsmittelführer darüber, dass der endgültige Betrag ihres Ruhegehalts durch einen formalen Rechtsakt festgesetzt werde, gegen den Beschwerde eingelegt oder Nichtigkeitsklage erhoben werden könne. 20 Mit den streitigen Beschlüssen informierte der Referatsleiter die Rechtsmittelführer erstens darüber, dass die Höhe ihrer Ruhegehälter in Anwendung von Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR angepasst werde, und zwar in Höhe der Kürzung der entsprechenden Ruhegehälter, die die Abgeordnetenkammer ehemaligen nationalen Abgeordneten gemäß dem Beschluss Nr. 14/2018 zahle. Zweitens werde die Höhe der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer nach Maßgabe der im Anhang dieser Beschlüsse übermittelten Entwürfe zur Festsetzung der neuen Höhe der Ruhegehälter ab April 2019 rückwirkend zum 1. Januar 2019 angepasst. Drittens wurde den Rechtsmittelführern in den streitigen Mitteilungen eine Frist zur Stellungnahme von 30 Tagen ab Eingang gewährt. In Ermangelung einer solchen Stellungnahme würden die Wirkungen dieser Mitteilungen als endgültig betrachtet und u. a. zur Rückforderung der für die Monate Januar bis März 2019 rechtsgrundlos gezahlten Beträge führen. 21 Da keiner der Rechtsmittelführer des vorliegenden Rechtsmittelverfahrens eine solche Stellungnahme abgegeben hatte, wurden die streitigen Beschlüsse nach Ablauf dieser Frist ihnen gegenüber bestandskräftig. III. Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil 22 Mit Klageschriften, die am 27. Juni (Rechtssachen T‑389/19 bis T‑393/19), 28. Juni (Rechtssachen T‑397/19, T‑407/19, T‑409/19 bis T‑411/19, T‑413/19, T‑414/19, T‑416/19 und T‑417/19), 1. Juli (Rechtssachen T‑436/19, T‑439/19 bis T‑442/19 und T‑445/19), 2. Juli (Rechtssachen T‑421/19, T‑422/19, T‑425/19, T‑426/19 und T‑429/19 bis T‑431/19) und 3. Juli 2019 (Rechtssachen T‑418/19, T‑420/19, T‑448/19 und T‑450/19 bis T‑453/19) bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, erhoben die Rechtsmittelführer Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Beschlüsse. 23 Die Rechtsmittelführer stützten ihre Klagen auf vier Gründe. Mit dem ersten Klagegrund wurde geltend gemacht, der Referatsleiter sei für den Erlass der streitigen Beschlüsse nicht zuständig gewesen, und es sei gegen die Pflicht, diese Beschlüsse zu begründen, verstoßen worden. Mit dem zweiten Klagegrund wurden das Fehlen einer Rechtsgrundlage und die fehlerhafte Anwendung von Art. 75 der Durchführungsbestimmungen gerügt. Mit dem dritten Klagegrund wurde ein Rechtsfehler bei der Einordnung des Beschlusses Nr. 14/2018 und die fehlerhafte Anwendung von Art. 75 Abs. 2 der Durchführungsbestimmungen geltend gemacht. Mit dem vierten Klagegrund machten die Rechtsmittelführer einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichheit sowie einen Verstoß gegen das Eigentumsrecht geltend. 24 Mit dem angefochtenen Urteil wies das Gericht die Klage in der Rechtssache T‑453/19 als unzulässig ab. In den anderen Rechtssachen wies es sämtliche Klagegründe zurück und damit die Klagen ab. IV. Verfahren und Anträge der Parteien vor dem Gerichtshof 25 Die Rechtsmittelführer beantragen, – das angefochtene Urteil aufzuheben; – die Rechtssache Panusa/Parlament (T‑453/19) an das Gericht zurückzuverweisen; – die streitigen Beschlüsse hinsichtlich der anderen Rechtsmittelführer für nichtig zu erklären; – dem Parlament die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und des Verfahrens vor dem Gericht aufzuerlegen. 26 Das Parlament beantragt, – das Rechtsmittel zurückzuweisen und – den Rechtsmittelführern die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und des Verfahrens vor dem Gericht aufzuerlegen. 27 Am 12. Januar 2022 hat Herr Enrico Falqui im Rahmen des Verfahrens in der ihn betreffenden Rechtssache C‑391/21 P bei der Kanzlei des Gerichtshofs eine Kopie des Urteils Nr. 4/2021 des Consiglio di giurisdizione della Camera dei deputati (Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammer, Italien) vom 23. Dezember 2021 (im Folgenden: Urteil Nr. 4/2021) vorgelegt, mit dem der Beschluss Nr. 14/2018 aufgehoben wurde. Dieses Dokument wurde bislang nicht zu den Akten gereicht. 28 Am 9. März 2022 haben die Rechtsmittelführer in der Rechtssache Santini u. a./Parlament (C‑198/21 P) dieses Urteil ebenfalls bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereicht. 29 In der vorliegenden Rechtssache sowie in den Rechtssachen Falqui/Parlament (C‑391/21 P) und Santini u. a./Parlament (C‑198/21 P) hat die Kanzlei den Parteien in diesen Rechtssachen am 16. März 2022 eine vom Berichterstatter und der Generalanwältin gemäß Art. 62 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beschlossene prozessleitende Maßnahme übermittelt, mit der diese aufgefordert wurden, alle Dokumente vorzulegen, die eine Auswirkung auf den Gegenstand der sie betreffenden Rechtssache haben könnten, namentlich das Urteil Nr. 4/2021. 30 Am 25. März 2022 haben die Rechtsmittelführer in der vorliegenden Rechtssache mehrere Dokumente, u. a. das Urteil Nr. 4/2021, vorgelegt. Am 29. März 2022 hat auch das Parlament mehrere Dokumente, u. a. das Urteil Nr. 4/2021, und ein Dokument mit dem Titel „Von der italienischen Abgeordnetenkammer verabschiedete neue Regeln für die Berechnung der Ruhegehälter“ vorgelegt. Das Parlament hat den Gerichtshof auch darüber informiert, dass es ab Erhalt der zusätzlichen Klarstellungen zur konkreten Anwendung dieser Regeln, die es von der Abgeordnetenkammer angefordert habe, eine Neuberechnung der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer vornehmen werde und diesen einen neuen Beschlussentwurf über die Berechnung ihrer Ruhegehaltsansprüche zusenden werde, zu dem sie vor Erlass eines endgültigen Beschlusses Stellung nehmen könnten. 31 Am 14. Oktober und 29. November 2022 hat das Parlament bei der Kanzlei des Gerichtshofs die endgültigen Beschlüsse eingereicht, mit denen die Höhe der Ruhegehälter, die den Rechtsmittelführern ab November 2022 gezahlt werden sollten, neu festgesetzt und die geschuldeten Nachzahlungen festgelegt wurden (im Folgenden: neue Beschlüsse des Parlaments). 32 Mit Entscheidung vom 25. Oktober 2022 hat der Präsident des Gerichtshofs die Parteien aufgefordert, mitzuteilen, ob sie zum einen davon ausgingen, dass die neuen Beschlüsse des Parlaments die streitigen Beschlüsse ex tunc ersetzt hätten, und zum anderen davon, dass das Rechtsmittel nach dem Erlass dieser neuen Beschlüsse seinen Gegenstand behalten habe. 33 Am 29. November 2022 hat das Parlament erklärt, dass es davon ausgehe, dass die neuen Beschlüsse des Parlaments die streitigen Beschlüsse mit Ex-tunc-Wirkung ersetzt hätten, das Rechtsmittel seinen Gegenstand aber behalte. Es sei nämlich im Interesse der Parteien und der Rechtspflege, dass der Gerichtshof über die Begründetheit des Rechtsmittels entscheide, um die Frage zu klären, ob das angefochtene Urteil rechtsfehlerhaft sei und ob das Parlament im Fall einer Änderung der anwendbaren nationalen Vorschriften auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR eine Neuberechnung der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer vornehmen könne. 34 Mit am 30. November 2022 eingereichtem Schreiben haben die Rechtsmittelführer erklärt, dass sie davon ausgingen, dass die neuen Beschlüsse des Parlaments eine einfache Änderung der streitigen Beschlüsse darstellten. 35 Das Parlament habe nämlich für diese Neuberechnung weiterhin die nationalen Vorschriften unabhängig von ihrem Inhalt herangezogen, indem es auf der Grundlage seiner Auslegung von Art. 75 der Durchführungsbestimmungen in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR (im Folgenden: interne Vorschriften des Parlaments) die nationalen Entscheidungen automatisch angewandt habe. 36 Die Rechtsmittelführer haben daraus geschlossen, dass die neuen Beschlüsse des Parlaments mit den streitigen Beschlüssen – zumindest größtenteils – grundsätzlich identisch seien. Zum anderen ergebe sich aus dem Erlass der neuen Beschlüsse des Parlaments ein fortdauernder Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, den Grundsatz des Vertrauensschutzes und der erworbenen Rechte sowie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie sie vor dem Gericht und im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels geltend gemacht worden seien. Mit anderen Worten: Obwohl die neuen Beschlüsse des Parlaments für manche Rechtsmittelführer die Wirkung gehabt hätten, dass sie ihr Ruhegehalt wieder in der Höhe bezögen, wie sie es vor dem Inkrafttreten der streitigen Beschlüsse erhalten hätten, bestehe der vom Parlament begangene Rechtsfehler in Form eines Untersuchungsmangels und einer fehlerhaften Anwendung der allgemeinen Rechtsgrundsätze der Union fort, was in bestimmten Fällen zum Fortbestehen einer rechtswidrigen Kürzung der Ruhegehälter führe. 37 Des Weiteren sind die Rechtsmittelführer der Auffassung, dass die neuen Beschlüsse des Parlaments die streitigen Beschlüsse nicht ex tunc ersetzen könnten, außer was die ab dem 1. Januar 2019 geltende Höhe der Ruhegehälter betreffe. Die Neuberechnungen basierten weiterhin auf einer rechtswidrigen Grundlage. Ferner tragen die Rechtsmittelführer vor, dass der Referatsleiter nicht für den Erlass der neuen Beschlüsse des Parlaments zuständig gewesen sei, da er nicht das Organ sei, das für den Erlass von Rechtsakten zuständig sei, die über die Verwaltung in laufenden Angelegenheiten hinausgingen. V. Zum Rechtsmittel 38 Zur Stützung ihres Rechtsmittels machen die Rechtsmittelführer drei Rechtsmittelgründe geltend, mit denen sie im Wesentlichen die Bestätigung des Gerichts rügen, dass die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments zutreffend sei, die es dazu veranlasst habe, den Beschluss Nr. 14/2018 anzuwenden, um die Höhe ihrer Ruhegehälter zu ändern. Mit dem ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes wird eine fehlerhafte Auslegung von Art. 75 der Durchführungsbestimmungen und mit dem zweiten Teil ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie gegen das in Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verbürgte Eigentumsrecht geltend gemacht. Mit dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes wird eine fehlerhafte Auslegung der Art. 74 und 75 der Durchführungsbestimmungen in dem Sinn geltend gemacht, dass die Bestimmungen der Anlage III der KVR als Rechtsgrundlage für die streitigen Beschlüsse dienen könnten; mit dem zweiten Teil wird ein Verstoß gegen Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments durch das Gericht geltend gemacht, da es zu Unrecht entschieden habe, dass der Referatsleiter für den Erlass dieser Beschlüsse zuständig gewesen sei, und mit dem dritten Teil ein Verstoß gegen Art. 296 AEUV, da das Gericht zu Unrecht entschieden habe, dass diese Beschlüsse hinreichend begründet seien. Der dritte Rechtsmittelgrund betrifft nur Frau Panusa und einen Rechtsfehler, den das Gericht bei der Prüfung ihres Rechtsschutzinteresses begangen habe. A. Vorbemerkungen zum Fortbestand des Rechtsschutzinteresses der Rechtsmittelführer 39 Aus Rn. 31 des vorliegenden Urteils geht hervor, dass mit den neuen Beschlüssen des Parlaments, die im Lauf des Verfahrens vor dem Gerichtshof erlassen wurden, die Höhe der Ruhegehälter, die den Rechtsmittelführern ab November 2022 gezahlt werden, neu festgesetzt und die geschuldeten Nachzahlungen festgelegt werden sollen. 40 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ebenso wie das Rechtsschutzinteresse auch der Streitgegenstand bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen muss – andernfalls der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist –, was voraussetzt, dass das Rechtsmittel der Partei, die es eingelegt hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann (Urteil vom 4. September 2018, ClientEarth/Kommission, C‑57/16 P, EU:C:2018:660, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Allerdings entfällt das Rechtsschutzinteresse eines Klägers nicht zwangsläufig deshalb, weil der von ihm angefochtene Rechtsakt im Lauf des Verfahrens aufgehört hat, Wirkungen zu zeitigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Mai 2013, Abdulrahim/Rat und Kommission, C‑239/12 P, EU:C:2013:331, Rn. 62). 42 Ein Kläger kann unter bestimmten Umständen ein Interesse an der Aufhebung einer im Lauf des Verfahrens aufgehobenen Handlung behalten, um den Urheber der angefochtenen Handlung zu veranlassen, diese für die Zukunft in geeigneter Weise zu ändern, und um somit das Risiko zu vermeiden, dass sich die Rechtswidrigkeit, die der angefochtenen Handlung anhaften soll, wiederholt (Urteil vom 6. September 2018, Bank Mellat/Rat, C‑430/16 P, EU:C:2018:668, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Im vorliegenden Fall geht aus der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Antwort des Parlaments vom 29. November 2022 eindeutig hervor, dass dieses auch für die Zukunft die Ruhegehälter ehemaliger Europaabgeordneter im Fall einer Änderung der in Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR genannten nationalen Regelung neu berechnen will (im Folgenden: dynamische Regelung). 44 Zwar hat das Parlament die streitigen Beschlüsse durch die neuen Beschlüsse ersetzt, alle diese Beschlüsse sind jedoch weiterhin auf eine Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments gestützt, nach der dieses verpflichtet ist, die dynamische Regelung auf ehemalige Europaabgeordnete, die ein Ruhegehalt beziehen, und auf Personen, die eine Hinterbliebenenversorgung beziehen, anzuwenden, die, wie die Rechtsmittelführer, in den Anwendungsbereich der Anlagen der KVR fallen (im Folgenden: betroffene ehemalige Europaabgeordnete). 45 Genau diese Auslegung wird von den Rechtsmittelführern im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels in Frage gestellt. Daraus folgt, dass die Rechtsmittelführer trotz der Ersetzung der streitigen Beschlüsse ex tunc weiterhin ein Interesse an der Feststellung haben, dass das Gericht dadurch einen Rechtsfehler begangen hat, dass es bestätigt hat, dass diese Auslegung zutreffend sei, denn sie könnte vom Parlament beim zukünftigen Erlass von Beschlüssen, die den streitigen Beschlüssen oder den neuen Beschlüssen des Parlaments ähnlich sind, angewandt werden, so dass nicht nur die Gefahr einer Wiederholung der behaupteten Rechtswidrigkeit im Sinne der in Rn. 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung besteht, sondern auch die Gefahr, dass das Gericht im Fall einer Nichtigkeitsklage gegen solche ähnlichen Beschlüsse erneut die angeblichen Rechtsfehler begeht, die es zu der Bestätigung veranlasst haben, dass diese Auslegung zutreffend sei. 46 Außerdem geht aus den neuen Beschlüssen hervor, dass das Parlament weiterhin der Ansicht ist, dass der Referatsleiter dazu befugt sei, im Fall einer Änderung der nationalen Vorschriften Beschlüsse über die Änderung der Höhe der Ruhegehälter zu erlassen, und dass diese Beschlüsse keine Begründung zu ihrer Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht enthalten müssten. 47 Infolgedessen ist davon auszugehen, dass die Rechtsmittelführer insofern ein Rechtsschutzinteresse vor dem Gerichtshof behalten, als das vorliegende Rechtsmittel gegen die Gründe des angefochtenen Urteils gerichtet ist, die die notwendige Stütze der Beurteilungen des Gerichts bilden, wonach sich erstens aus den internen Vorschriften des Parlaments ergebe, dass dieses verpflichtet sei, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden, zweitens der Referatsleiter für den Erlass der Beschlüsse über die Änderung der Höhe der Ruhegehälter dieser ehemaligen Abgeordneten zuständig sei und drittens das Parlament nicht verpflichtet sei, in solchen Beschlüssen die Gründe für ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht darzulegen. B. Zum ersten Rechtsmittelgrund 1. Vorbringen der Parteien 48 Der erste Rechtsmittelgrund gliedert sich in zwei Teile. 49 Mit dem ersten Teil werfen die Rechtsmittelführer dem Gericht vor, in den Rn. 142 bis 145, 147 und 156, 159, 160 und 162 des angefochtenen Urteils festgestellt zu haben, dass die streitigen Beschlüsse nicht gegen ihre erworbenen Ruhegehaltsansprüche verstoßen hätten, und sich dabei u. a. auf die fehlgehende Unterscheidung zwischen einer Kürzung des Ruhegehalts und einer Beeinträchtigung solcher erworbener Rechte gestützt zu haben. 50 Eine solche Feststellung erfordere eine Klarstellung der Umstände, unter denen eine Kürzung des nach dem Unionsrecht ehemaligen Europaabgeordneten zustehenden Ruhegehalts den erworbenen Anspruch, dieses zu beziehen, nicht beeinträchtige. In Ermangelung einer solchen Klarstellung sei diese Feststellung willkürlich, da das Gericht zum einen davon abgesehen habe, zu überprüfen, ob dies in Anbetracht der konkreten Situationen der Fall gewesen sei, und zum anderen keine objektiven, zuvor definierten und nicht diskriminierenden Kriterien genannt habe, die die Feststellung ermöglichten, in welchen Kürzungsfällen der Anspruch der ehemaligen Europaabgeordneten auf ein Ruhegehalt nicht verletzt worden sei. 51 Des Weiteren habe das Gericht nicht zwischen den Abs. 1 und 2 von Art. 75 der Durchführungsbestimmungen unterschieden. Vielmehr habe es die These, dass die erworbene Ruhegehaltsleistung zum Zeitpunkt der Aufhebung der KVR bereits endgültig festgestanden habe, sowohl für die in Art. 75 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen als auch für die in deren Art. 75 Abs. 2 genannten Situationen zurückgewiesen. 52 Der Anspruch auf Ruhegehalt eines ehemaligen Europaabgeordneten entstehe mit dem Ausscheiden aus dem Amt, vorausgesetzt, er habe mindestens fünf Jahre lang Beiträge gezahlt. Damit dieser Anspruch fällig werde, müsse der Betroffene das von den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem er gewählt worden sei, vorgesehene Renteneintrittsalter erreicht haben, und der Antrag auf Auszahlung des Ruhegehalts müsse gemäß Art. 3 Abs. 2 der Anlage III der KVR gestellt worden sein. Somit habe die Verletzung der Ruhegehaltsansprüche, die sich aus den streitigen Beschlüssen ergebe, die die fälligen Ansprüche verletzt hätten, beide in Art. 75 der Durchführungsbestimmungen genannten Situationen betroffen, insbesondere die in Abs. 1 genannte. 53 Im vorliegenden Fall hätten die streitigen Beschlüsse nicht nur die Höhe der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer geändert, sondern auch die Methode für die Berechnung der Höhe. Die Berechnungsmethode, die auf die während des Mandats des betreffenden Europaabgeordneten erhaltene Entschädigung gestützt sei, sei rückwirkend durch die auf die von ihm gezahlten Beiträge gestützte Methode ersetzt worden. Die neue Berechnung der Höhe des Ruhegehalts der Rechtsmittelführer habe nicht die ab dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 14/2018 geschuldeten Beträge betroffen, sondern diejenigen, die ab initio geschuldet würden, d. h. das Ruhegehalt, das dem betreffenden in Italien gewählten ehemaligen Abgeordneten ab dem Zeitpunkt seines Eintritts in den Ruhestand geschuldet worden sei. Darüber hinaus sei die neue Berechnung vorgenommen worden, als ob alle ehemaligen Europaabgeordneten während ihres Mandats Beiträge auf der Grundlage desselben mit dem Beschluss Nr. 14/2018 festgesetzten Satzes gezahlt hätten, wodurch die Rechtsmittelführer benachteiligt würden, die über diesem Satz liegende Beiträge gezahlt hätten. 54 Hilfsweise, d. h. für den Fall, dass die Unterscheidung zwischen Anspruch auf Ruhegehalt und Anspruch auf Ruhegehaltsleistung anwendbar sein sollte, machen die Rechtsmittelführer geltend, dass entgegen dem, was das Gericht in Rn. 143 des angefochtenen Urteils festgestellt habe, aus Art. 75 der Durchführungsbestimmungen hervorgehe, dass sie nicht nur Inhaber eines Ruhegehaltsanspruchs seien, sondern auch eines Anspruchs auf ein festes Ruhegehalt in der Höhe, die sie hätten erwarten können, als sie sich dazu entschlossen hätten, an die mit der KVR eingerichtete Ruhegehaltsregelung Beiträge zu leisten, oder zumindest ab dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts. 55 Die streitigen Beschlüsse führten zu einem Ungleichgewicht zulasten der Rechtsmittelführer, da die gezahlten Beiträge damals keinen Einfluss auf den Erwerb des Ruhegehaltsanspruchs gehabt hätten. Dieses Ungleichgewicht sei umso offensichtlicher im Fall der Rechtsmittelführer, die, da sie nur einen Teil eines kompletten Europaabgeordnetenmandats absolviert hätten, weil sie es abgebrochen oder im Lauf der Wahlperiode aufgenommen hätten, zusätzliche Beiträge gezahlt hätten, um auch die Jahre abzudecken, in denen sie keine Beiträge gezahlt hätten, um einen Ruhegehaltsanspruch aus der KVR zu erlangen. 56 Mit dem zweiten Teil ihres ersten Rechtsmittelgrundes machen die Rechtsmittelführer geltend, dass die Zurückweisung ihres Vorbringens, es sei gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie gegen ihr in Art. 17 der Charta verbürgtes Eigentumsrecht verstoßen worden, in den Rn. 204, 211 und 236 des angefochtenen Urteils auf einer Argumentation beruhe, die diese allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts und das durch die Charta anerkannte Grundrecht verkenne. 57 Erstens verstoße die Festsetzung der Ruhegehaltsansprüche auf der Grundlage der neuen Vorschriften gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, der gemäß der Ratio von Art. 28 des Abgeordnetenstatuts und von Art. 75 der Durchführungsbestimmungen einem Eingriff in erworbene Rechte entgegenstehe. 58 Zweitens verstoße diese Berechnung gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, da es danach unzulässig sei, die Regeln zur Berechnung von Ruhegehältern zu ändern, mit denen sich die Rechtsmittelführer einverstanden erklärt hätten. 59 Des Weiteren habe das Gericht in Rn. 202 des angefochtenen Urteils nicht berücksichtigt, dass das Parlament die Rechtsmittelführer über die mögliche Anwendung des Beschlusses Nr. 14/2018 auf sie erst im Januar 2019 informiert habe, d. h. nach dem Zeitpunkt, zu dem die durch diesen Beschluss bewirkte Kürzung ihres Ruhegehalts habe anwendbar sein sollen, nämlich dem 1. Januar 2019. 60 Drittens habe das Gericht gegen das in Art. 17 der Charta verbürgte Eigentumsrecht verstoßen. 61 Als Erstes habe das Gericht in Rn. 222 des angefochtenen Urteils zwischen einem Eingriff in den Anspruch auf Ruhegehalt und einer bloßen Anpassung der Höhe des Ruhegehalts unterschieden. Das Gericht habe jedoch nicht erläutert, wo sich die Grenze befinde, oberhalb deren die Änderung der Höhe des Ruhegehalts nicht mehr den Wesensgehalt des Eigentumsrechts beachte und zu einem Verstoß gegen den Ruhegehaltsanspruch als solchen führe. 62 Als Zweites habe das Gericht in Rn. 228 des angefochtenen Urteils unter Bezugnahme auf den Inhalt des Beschlusses Nr. 14/2018 fehlerhaft festgestellt, dass die Kürzung der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer zum Ziel gehabt habe, die Höhe der allen ehemaligen Europaabgeordneten gezahlten Ruhegehälter an die beitragsabhängige Berechnungsmethode anzupassen. 63 Diese Argumentation des Gerichts sei ein Zirkelschluss. Sie stütze sich nämlich auf die Bestimmungen des italienischen Rechts und nicht auf eine von der Unionsrechtsordnung anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung. Das Gericht hätte prüfen müssen, ob das Parlament ordnungsgemäß überprüft hat, ob die Anpassung des Ruhegehalts der in Italien gewählten ehemaligen Europaabgeordneten insbesondere im Hinblick auf eine von der Unionsrechtsordnung anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. 64 Außerdem habe diese Argumentation die vom Beschluss Nr. 14/2018 vorgesehene Methode für die Berechnung der Höhe der Ruhegehälter verkannt, die nicht als beitragsabhängig angesehen werden könne, da sie sich nicht auf einen individuell festgelegten Satz von an den Unionshaushalt geleisteten Beiträgen stütze, sondern auf einen Satz, der für alle betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten gleich sei. Ein ehemaliger Abgeordneter, der während seines Mandats Beiträge gezahlt habe, die zu einem über diesem identischen Satz liegenden Satz berechnet worden seien, verliere somit den Mehrwert des Teils der Beiträge, der über diesen Satz hinausgehe. Die mit dem Beschluss Nr. 14/2018 eingeführte Methode für die Berechnung der Höhe der Ruhegehälter stelle daher nicht nur einen Eingriff in das Eigentumsrecht dar, sondern auch einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da sie sich auf einen nicht individualisierten Beitragssatz stütze. 65 Dieser Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gegenüber der vorgetragenen Rechtfertigung sei umso offensichtlicher, wenn man bedenke, dass die Regelung über den Beitrag zu den Ruhegehältern in Italien erstmals am 1. Januar 1996 eingeführt worden sei und auf die Mehrheit der Arbeitnehmer ab dem 1. Januar 2012 ausgedehnt worden sei. Mit den streitigen Beschlüssen werde den Rechtsmittelführern hingegen das Beitragssystem für einen Beitragszeitraum aufgezwungen, der weit vor dem Jahr 1995 liege, als dieses Beitragssystem für niemanden in Italien existiert habe. 66 Nach Ansicht des Parlaments ist der erste Rechtsmittelgrund als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet zurückzuweisen. 2. Würdigung durch den Gerichtshof a) Einleitende Bemerkungen 67 Mit dem ersten Teil ihres ersten Rechtsmittelgrundes tragen die Rechtsmittelführer vor, die dynamische Regelung stelle einen Eingriff in ihre erworbenen Ansprüche auf Bezug eines Ruhegehalts dar. Sie stützen sich dabei auf Art. 75 der Durchführungsbestimmungen. 68 Mit dieser Rüge stellen die Rechtsmittelführer daher im Wesentlichen in Frage, dass die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments zutreffend sei, wonach dieses verpflichtet sei, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. 69 Gleiches gilt für den zweiten Teil dieses Rechtsmittelgrundes, soweit die Rechtsmittelführer mit diesem geltend machen, dass die Anwendung der neuen Regeln für die Berechnung der Höhe ihres Ruhegehalts weder mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar sei, da diese neuen Regeln einen Eingriff in ihre erworbenen Ansprüche auf Bezug eines Ruhegehalts darstellten, noch mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, da dieser jeder Kürzung des Ruhegehalts entgegenstehe, das die Rechtsmittelführer hätten erwarten können, als sie freiwillig der mit Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR eingeführten Ruhegehaltsregelung beigetreten seien. 70 Soweit die Rechtsmittelführer mit diesem zweiten Teil jedoch dem Gericht vorwerfen, nicht berücksichtigt zu haben, dass das Parlament sie verspätet über eine mögliche Anwendung des Beschlusses Nr. 14/2018 informiert habe, beanstanden sie hingegen keine Gründe des angefochtenen Urteils, die die notwendige Stütze für eine der in Rn. 47 des vorliegenden Urteils genannten Beurteilungen des Gerichts darstellen. Dieses Vorbringen betrifft nämlich einen speziellen Umstand bezüglich des Erlasses der streitigen Beschlüsse. 71 Immer noch zum zweiten Teil bezweifeln die Rechtsmittelführer, soweit sie damit dem Gericht vorwerfen, die Vereinbarkeit der streitigen Beschlüsse mit dem von der Charta gewährleisteten Eigentumsrecht nicht im Hinblick auf ein vom Unionsrecht anerkanntes Ziel, sondern das mit dem Beschluss Nr. 14/2018 verfolgte Ziel geprüft zu haben, im Wesentlichen, dass die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wonach dieses verpflichtet sei, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden, mit dem Unionsrecht vereinbar sei. 72 Die Rechtsmittelführer rügen hingegen nicht die Stichhaltigkeit der Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wenn sie dem Gericht erstens vorwerfen, nicht die Grenze präzisiert zu haben, oberhalb deren eine Änderung der Höhe des Ruhegehalts nicht mehr den Wesensgehalt des Eigentumsrechts wahre und zu einem Verstoß gegen den Ruhegehaltsanspruch als solchem führe, und zweitens, die vom Beschluss Nr. 14/2018 vorgesehene Methode zur Berechnung der Ruhegehälter verfälscht zu haben. Da die Rechtsmittelführer mit diesem Vorbringen keine Gründe des angefochtenen Urteils beanstanden, die die notwendige Stütze für eine der in Rn. 47 des vorliegenden Urteils genannten Beurteilungen bilden, sind sie nicht zu prüfen. 73 Gleiches gilt für das Vorbringen in Bezug auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, mit dem die Rechtsmittelführer geltend machen, dass der Beschluss Nr. 14/2018 zum einen wegen der darin vorgesehenen Methode für die Berechnung der Ruhegehälter und zum anderen wegen des historischen Kontexts, in den er sich einfüge, nicht mit diesem Grundsatz vereinbar sei. b) Zur Begründetheit 1) Zum behaupteten Verstoß gegen die internen Vorschriften des Parlaments 74 Die Rechtsmittelführer werfen dem Gericht im Wesentlichen vor, in Rn. 163 des angefochtenen Urteils auf der Grundlage der in den Rn. 142 bis 145, 147 und 156, 159, 160 und 162 dieses Urteils dargestellten Gründe entschieden zu haben, dass sich das Parlament bei der Anwendung der dynamischen Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten auf seine internen Vorschriften habe stützen dürfen. 75 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR „Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts … identisch mit Höhe und Bedingungen des Altersruhegehalts für Mitglieder der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaates [sind], in dem das Mitglied des Parlaments gewählt wurde“. 76 Wie das Gericht in Rn. 139 des angefochtenen Urteils im Wesentlichen ausgeführt hat, geht aus der Wendung „Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts sind identisch“ hervor, dass das Parlament verpflichtet ist, auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten die Vorschriften für die Berechnung der Ruhegehälter anzuwenden, wie sie auf die Mitglieder des Parlaments des Mitgliedstaats angewandt werden, in dem diese ehemaligen Europaabgeordneten gewählt wurden. Mit anderen Worten ist das Parlament verpflichtet, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. 77 Diese Auslegung von Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR stimmt mit dem von dieser Bestimmung verfolgten Ziel überein, wie es sich aus Art. 1 Abs. 2 dieser Anlage ergibt. 78 Diese letztgenannte Bestimmung sieht nämlich vor, dass nur diejenigen ehemaligen Europaabgeordneten das in Art. 2 Abs. 1 dieser Anlage vorgesehene Ruhegehalt beanspruchen können, bei denen die Ruhegehaltsregelung des Mitgliedstaats, in dem sie gewählt wurden, kein Ruhegehalt vorsieht oder einen Anspruch auf Ruhegehalt, dessen Höhe und/oder Methoden für seine Berechnung nicht identisch sind mit denjenigen, die für die Mitglieder des nationalen Parlaments gelten. 79 Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR hat damit im Wesentlichen zum Ziel, den ehemaligen Europaabgeordneten, die sich in der in Art. 1 Abs. 2 dieser Anlage genannten Situation befinden, zu ermöglichen, genauso behandelt zu werden wie die Europaabgeordneten, deren nationale Ruhegehaltsregelung einen Anspruch auf Ruhegehalt vorsah, dessen Höhe und/oder Berechnungsmethoden identisch waren mit denjenigen, die für die Mitglieder ihrer nationalen Parlamente galten. 80 Die Auslegung dieser Bestimmung dahin, dass sie dem Parlament aufgibt, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden, hat somit zur Folge, diese wie die anderen ehemaligen Europaabgeordneten den Änderungen zu unterwerfen, die an den Regeln für die Berechnung der Höhe der Ruhegehälter der Mitglieder ihres nationalen Parlaments vorgenommen wurden. 81 Diese auf die Anlage III der KVR gestützte Regelung wurde gemäß Art. 75 der Durchführungsbestimmungen nach dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts beibehalten, was u. a. die Ruhegehälter ehemaliger Europaabgeordneter betrifft. 82 Art. 74 der Durchführungsbestimmungen sieht zwar vor, dass die KVR am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts außer Kraft tritt. Hierzu hat das Gericht in Rn. 153 des angefochtenen Urteils zutreffend festgestellt, dass das Abgeordnetenstatut und die Durchführungsbestimmungen zwei aufeinanderfolgende Ruhegehaltsregelungen eingeführt haben, die zu zwei Arten von Ruhegehaltsansprüchen führen, und zwar zum einen den bis zum 14. Juli 2009, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Statuts, auf der Grundlage der internen Vorschriften des Parlaments erworbenen Ruhegehaltsansprüchen und zum anderen den ab diesem Zeitpunkt auf der Grundlage von Art. 49 der Durchführungsbestimmungen erworbenen Ruhegehaltsansprüchen. 83 Wie es in Art. 74 der Durchführungsbestimmungen ausdrücklich heißt, wird die KVR aber vorbehaltlich der in Titel IV dieser Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Übergangsbestimmungen ungültig. Zu diesen Übergangsbestimmungen gehört Art. 75 der Durchführungsbestimmungen. 84 Wie das Gericht in den Rn. 145 und 153 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, gilt Art. 75 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen für diejenigen ehemaligen Europaabgeordneten, darunter manche Rechtsmittelführer, die Beiträge an den Haushalt der Union gemäß Art. 2 Abs. 2 der Anlage III der KVR gezahlt haben und bereits vor dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts begonnen ein Ruhegehalt im Sinne dieser Anlage bezogen, wohingegen Art. 75 Abs. 2 der Durchführungsbestimmungen für diejenigen ehemaligen Europaabgeordneten, darunter andere Rechtsmittelführer, gilt, die zwar auch solche Beiträge gezahlt haben, aber am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts noch kein Ruhegehalt bezogen. 85 Art. 75 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen sieht nämlich zum einen vor, dass die Ruhegehälter gemäß Anlage III der KVR gemäß dieser Anlage weiterhin den Personen gezahlt werden, die diese Leistungen bereits vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Statuts erhalten haben. 86 Wie das Gericht in Rn. 140 des angefochtenen Urteils zutreffend festgestellt hat, ist dem Wortlaut dieser Bestimmung und genauer gesagt dem imperativen Charakter der Formulierung „werden gemäß [Anlage III der KVR] auch weiterhin … gezahlt“ sowie der Verwendung des Indikativ Präsens in dieser Formulierung zu entnehmen, dass die dynamische Regelung nach dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts weiterhin auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anwendbar ist. 87 Zum anderen geht aus Art. 75 Abs. 2 Satz 1 der Durchführungsbestimmungen hervor, dass „[d]ie bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des [Abgeordnetens]tatuts gemäß Anlage III [der KVR] erworbenen Ruhegehaltsansprüche … bestehen bleiben“, und aus Satz 2 dieser Bestimmung, dass „[d]ie Personen, die im Rahmen [der Anlage III der KVR] Ansprüche erworben haben, … ein Ruhegehalt [erhalten], das auf der Grundlage ihrer gemäß [dieser] Anlage III erworbenen Ansprüche berechnet wird, sofern sie die in den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates vorgesehenen Bedingungen erfüllen und den Antrag im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 der genannten Anlage III gestellt haben“. 88 Da Art. 75 Abs. 2 Satz 2 der Durchführungsbestimmungen Voraussetzungen vorsieht, die ehemalige Europaabgeordnete erfüllen müssen, um ein Ruhegehalt zu beziehen, das auf der Grundlage ihrer in Anwendung der Anlage III der KVR erworbenen Ansprüche berechnet wird, ist diese Bestimmung nicht auf ehemalige Europaabgeordnete anzuwenden, die bereits vor dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts in Anwendung dieser Anlage III ein Ruhegehalt bezogen. 89 Des Weiteren ist, da Art. 75 Abs. 2 Satz 2 der Durchführungsbestimmungen vorsieht, dass die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten auf der Grundlage der erworbenen Ansprüche ein Ruhegehalt gemäß Anlage III der KVR erhalten, der Begriff „erworbene Ruhegehaltsansprüche“ im Sinne dieses Art. 75 Abs. 2, wie das Gericht in den Rn. 143 und 151 des angefochtenen Urteils im Wesentlichen – zutreffend – hervorgehoben hat, so zu verstehen, dass damit die Ruhegehaltsansprüche gemeint sind, die sich aus den individuell von jedem der betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten gezahlten Beiträgen ergeben und die die Berechnungsgrundlage für das Ruhegehalt bilden, das ihnen gemäß Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR ausgezahlt wird. Dieser Begriff kann daher nicht so verstanden werden, dass er auf einen angeblichen Anspruch auf ein festes und unveränderliches Ruhegehalt Bezug nähme, das auf der Grundlage der nationalen Vorschriften berechnet wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts oder beim Beitritt zu dem mit dieser Bestimmung eingeführten System in Kraft waren. 90 Entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführer hat das Gericht in Rn. 142 des angefochtenen Urteils somit ebenfalls rechtsfehlerfrei entschieden, dass eine Kürzung des Ruhegehalts der betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten keine Verletzung ihrer „erworbenen Ruhegehaltsansprüche“ im Sinne der internen Vorschriften des Parlaments darstellt, da diese ihnen nur das Recht garantieren, dass die Höhe ihres Ruhegehalts gemäß der dynamischen Regelung ermittelt wird. 91 Daher geht sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Kontext und dem Zweck der internen Vorschriften des Parlaments hervor, dass das Gericht in Rn. 163 des angefochtenen Urteils keinen Rechtsfehler begangen hat, als es entschieden hat, dass sich das Parlament bei der Anwendung der dynamischen Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten auf seine internen Vorschriften stützen durfte. 2) Zum angeblichen Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sowie gegen das in Art. 17 der Charta verbürgte Eigentumsrecht 92 Die Rechtsmittelführer tragen vor, dass die vom Gericht zugrunde gelegte Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sowie gegen das in Art. 17 der Charta verbürgte Eigentumsrecht verstoße. 93 Nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ist ein Rechtsakt der Union so weit wie möglich in einer seine Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht und insbesondere mit den Bestimmungen der Charta auszulegen. Lässt eine Vorschrift des abgeleiteten Unionsrechts mehr als eine Auslegung zu, ist daher die Auslegung, bei der die Bestimmung mit dem Primärrecht vereinbar ist, derjenigen vorzuziehen, die zur Feststellung ihrer Unvereinbarkeit mit dem Primärrecht führt (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung). 94 Was zunächst den Grundsatz des Vertrauensschutzes anbelangt, machen die Rechtsmittelführer geltend, dass die Tatsache, dass sie freiwillig der mit Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR eingerichteten Ruhegehaltsregelung beigetreten seien, ihnen gemäß diesem Grundsatz garantiere, dass die Höhe ihres Ruhegehalts gemäß den Modalitäten berechnet werde, die zum Zeitpunkt ihres Beitritts zu dieser Regelung gegolten hätten. 95 Nach ständiger Rechtsprechung kann niemand eine Verletzung dieses Grundsatzes geltend machen, dem die Verwaltung keine konkreten Zusicherungen gegeben hat. Die Möglichkeit, sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu berufen, steht jedem offen, bei dem ein Organ begründete Erwartungen geweckt hat. Zusicherungen, die solche Erwartungen wecken können, sind präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte von zuständiger und zuverlässiger Seite, unabhängig von der Form ihrer Mitteilung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Januar 2019, Deza/ECHA, C‑419/17 P, EU:C:2019:52, Rn. 69 und 70 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 96 Ist dagegen eine umsichtige und besonnene Person in der Lage, den Erlass einer Unionsmaßnahme, die ihre Interessen berühren kann, vorherzusehen, so kann sie sich im Fall ihres Erlasses nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Januar 2019, Deza/ECHA, C‑419/17 P, EU:C:2019:52, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). 97 Die Tatsache, dass ein ehemaliger Europaabgeordneter freiwillig der mit Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR eingerichteten Ruhegehaltsregelung beigetreten ist, hat ihm jedoch nicht den Anspruch verschafft, ein Ruhegehalt in einer vorhersehbaren, festen und unveränderlichen Höhe zu beziehen, als er dieser Regelung beitrat. Wie das Gericht in den Rn. 208 und 209 des angefochtenen Urteils, die von den Rechtsmittelführern im Rahmen ihres Rechtsmittels nicht beanstandet wurden, zutreffend entschieden hat, war die einzige konkrete und nicht an Bedingungen geknüpfte Zusicherung, die das Parlament geben konnte, nämlich die, dass die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten nach seinen internen Vorschriften ein Altersruhegehalt beziehen würden, dessen Höhe und Bedingungen gemäß der dynamischen Regelung mit denjenigen identisch sein würden, die für die Mitglieder des Parlaments des Mitgliedstaats gelten, in dem sie gewählt wurden. 98 Daraus folgt, dass die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wonach dieses verpflichtet ist, diese Regelung anzuwenden, mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes in Einklang steht. 99 Was sodann das Eigentumsrecht anbelangt, machen die Rechtsmittelführer geltend, dass das Gericht in Rn. 228 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen habe, als es die Vereinbarkeit der streitigen Beschlüsse mit dem Eigentumsrecht im Hinblick auf das Ziel des Beschlusses Nr. 14/2018 und nicht im Hinblick auf ein vom Unionsrecht anerkanntes Ziel geprüft habe. 100 In Rn. 219 des angefochtenen Urteils hat das Gericht entschieden, dass die Ruhegehälter der Rechtsmittelführer, auch wenn sie ihnen durch die streitigen Beschlüsse nicht schlechthin vorenthalten würden, aufgrund dieser Beschlüsse gleichwohl niedriger ausfielen, wodurch ihr Eigentumsrecht beschränkt werde. 101 Des Weiteren hat das Gericht in den Rn. 220 bis 235 des angefochtenen Urteils geprüft, ob diese Beschränkung den in Rn. 213 dieses Urteils wiedergegebenen Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta genügt. In Rn. 227 dieses Urteils hat das Gericht hierzu entschieden, dass bei der Würdigung der mit den streitigen Beschlüssen verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung nicht die Ziele außer Acht gelassen werden dürften, die dem Erlass des Beschlusses Nr. 14/2018 zugrunde gelegen hätten. Insofern hat das Gericht am Ende der in den Rn. 228 bis 234 dieses Urteils vorgenommenen Prüfung der Vereinbarkeit dieser Beschlüsse mit dem Eigentumsrecht unter Berücksichtigung dieser Ziele in Rn. 236 dieses Urteils entschieden, dass die Rüge einer Verletzung des Eigentumsrechts zurückzuweisen sei. 102 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Umfang dieses Rechts gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta unter Berücksichtigung von Art. 1 des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten Zusatzprotokolls Nr. 1 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu bestimmen, in dem dieses Recht verankert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 49). 103 Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist zu entnehmen, dass die Rechte, die sich aus der Entrichtung von Beiträgen an ein Sozialversicherungssystem ergeben, Vermögensrechte im Sinne dieses Art. 1 darstellen (Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 50). 104 Außerdem stellt eine Kürzung eines Ruhegehalts, die sich auf die Lebensqualität des Betroffenen auswirken kann, eine Beschränkung seines Eigentumsrechts dar (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 1. September 2015, Da Silva Carvalho Rico/Portugal, CE:ECHR:2015:0901DEC001334114, § 33). 105 Da die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wonach dieses verpflichtet ist, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden, zu einer solchen Kürzung des Ruhegehalts führen kann, kann diese Auslegung zu einer Beschränkung des in Art. 17 der Charta verankerten Eigentumsrechts führen. 106 Das Eigentumsrecht gilt jedoch nicht uneingeschränkt, und seine Ausübung kann daher Beschränkungen unterworfen werden, insbesondere sofern diese durch dem Gemeinwohl dienende Ziele der Union gerechtfertigt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 107 Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta ist nämlich jede Einschränkung des in Art. 17 der Charta verbürgten Eigentumsrechts mit dieser letztgenannten Bestimmung vereinbar, sofern sie gesetzlich vorgesehen ist, den Wesensgehalt des Eigentumsrechts achtet und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielen oder dem Erfordernis des Schutzes der Rechte und der Freiheiten anderer tatsächlich entspricht. 108 In diesem Zusammenhang ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Einschränkung der Ausübung der Grundrechte bedeutet, dass der Rechtsakt, der den Eingriff in die Grundrechte ermöglicht, den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegen muss. Dieses Erfordernis schließt zum einen aber nicht aus, dass die fragliche Einschränkung hinreichend offen formuliert ist, um Anpassungen an verschiedene Fallgruppen und an Änderungen der Lage zu erlauben. Zum anderen kann der Gerichtshof gegebenenfalls die konkrete Tragweite der Einschränkung im Wege der Auslegung präzisieren, und zwar anhand sowohl des Wortlauts als auch der Systematik und der Ziele der fraglichen Unionsregelung, wie sie im Licht der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen sind (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 114). 109 Wie in Rn. 91 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, geht sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Kontext und dem Ziel der internen Vorschriften des Parlaments, die für Europaabgeordnete allgemein gelten und daher auf der internen Ebene des Parlaments als Äquivalent eines „Gesetzes“ im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta angesehen werden können (vgl. entsprechend Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 145 und 146), hervor, dass das Parlament verpflichtet ist, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. 110 Als Zweites hat das Gericht in seiner Eigenschaft als Tatsachengericht in den Rn. 216 und 235 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei feststellen können, dass die Rechtsmittelführer keine konkreten Gesichtspunkte vorgetragen hätten, mit denen dargetan werden könne, dass die Kürzung ihrer Ruhegehälter den Wesensgehalt ihres Eigentumsrechts beeinträchtige oder als unverhältnismäßig eingestuft werden müsse. 111 Was Als Drittes die Frage anbelangt, ob die dynamische Regelung und die Kürzungen der Ruhegehälter, die sich daraus ergeben können, erforderlich sind und einem oder mehreren von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielen tatsächlich entsprechen, ist festzustellen, dass das Gericht in Rn. 227 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen hat, als es entschieden hat, dass der Erlass der angefochtenen Beschlüsse unter Berücksichtigung von Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR zwangsläufig von den Vorgaben der zuständigen italienischen Behörden abhängig gewesen sei, so dass „bei der Würdigung der [mit den streitigen Beschlüssen verfolgten,] dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung nicht die Ziele außer Acht gelassen werden [können], die dem Erlass des Beschlusses Nr. 14/2018 zugrunde gelegen haben“. 112 Die Ziele, die mit dem auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten gemäß der dynamischen Regelung anwendbaren Beschluss Nr. 14/2018 verfolgt werden, sind nämlich rein nationaler Natur. Als solche können sie daher keine Kürzung der Ruhegehälter rechtfertigen, da diese aufgrund einer Ruhegehaltsregelung gezahlt werden, die nicht auf der Grundlage des nationalen Rechts, sondern des Unionsrechts eingerichtet wurde und zulasten des Unionshaushalts geht. 113 Deshalb hat das Gericht ebenfalls unzutreffend in den Rn. 228 bis 234 des angefochtenen Urteils die von diesem nationalen Beschluss verfolgten Ziele berücksichtigt, um zu prüfen, ob der durch die streitigen Beschlüsse herbeigeführte Eingriff in das Eigentumsrecht der Rechtsmittelführer gerechtfertigt war. 114 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass, wenn die Gründe des Urteils des Gerichts zwar eine Verletzung des Unionsrechts erkennen lassen, der Tenor des Urteils sich aber aus anderen Rechtsgründen als richtig erweist, ein solcher Verstoß nicht die Aufhebung des angefochtenen Urteils nach sich ziehen kann und eine Ersetzung von Gründen vorzunehmen sowie das Rechtsmittel zurückzuweisen ist (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Amazon.com u. a., C‑457/21 P, EU:C:2023:985, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 115 Es ist also zu prüfen, ob sich die Zurückweisung der Rüge einer Verletzung des in Art. 17 der Charta verbürgten Eigentumsrechts aus anderen Gründen als denjenigen richtig erweist, die mit dem in den Rn. 111 und 113 des vorliegenden Urteils festgestellten Fehler behaftet sind. 116 Hierzu ist festzustellen, dass die Anwendung der dynamischen Regelung auf die ehemaligen Europaabgeordneten, die sich in der in Art. 1 Abs. 2 der Anlage III der KVR genannten Situation befinden, ein von der Union anerkanntes, dem Gemeinwohl dienendes Ziel verfolgt, da sie, wie aus Rn. 79 des vorliegenden Urteils hervorgeht, darauf abzielt, die Europaabgeordneten, die entweder in dem Mitgliedstaat, in dem sie gewählt worden waren, über keine Ruhegehaltsregelung verfügten oder unter eine Regelung fielen, bei der die Höhe des Ruhegehalts und/oder die Methoden für seine Berechnung nicht identisch waren mit denjenigen, die für die Mitglieder des nationalen Parlaments galten, und die Europaabgeordneten, deren nationale Ruhegehaltsregelung eine Höhe des Ruhegehalts und/oder Methoden für seine Berechnung vorsah, die mit denen vergleichbar waren, die für die Mitglieder des nationalen Parlaments galten, gleich zu behandeln. 117 Die Anwendung der dynamischen Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten entspricht tatsächlich diesem Ziel der Gleichbehandlung, da sie die Wirkung hat, dass die beiden in der vorstehenden Randnummer genannten Kategorien von Europaabgeordneten jederzeit den nationalen Vorschriften über die Berechnung der Ruhegehälter der Mitglieder des Parlaments des betreffenden Mitgliedstaats unterliegen. 118 Diese Anwendung war zudem erforderlich, um dieses Ziel zu erreichen, da nur eine Angleichung der Höhe und/oder der Methoden für die Berechnung des Ruhegehalts, wie sie in Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 dieser Anlage vorgesehen ist, zur Gleichbehandlung zwischen diesen Kategorien von Europaabgeordneten führen konnte. 119 Es erweist sich damit, dass trotz des in den Rn. 111 und 113 des vorliegenden Urteils festgestellten Fehlers die Zurückweisung der Rüge einer Verletzung des in Art. 17 der Charta verbürgten Eigentumsrechts zutreffend ist, da die in Rede stehende Beschränkung des Eigentumsrechts sämtlichen in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Voraussetzungen entspricht. 120 Was schließlich den Grundsatz der Rechtssicherheit anbelangt, machen die Rechtsmittelführer geltend, dass dieser einem Eingriff in ihre erworbenen Rechte entgegenstehe, zu dem die Anwendung der dynamischen Regelung führe. 121 Im Rahmen seiner Prüfung der Vereinbarkeit der streitigen Beschlüsse mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit hat das Gericht in Rn. 191 des angefochtenen Urteils darauf hingewiesen, dass bereits aus den Rn. 126 bis 161 dieses Urteils hervorgehe, dass die „erworbenen Ruhegehaltsansprüche“ von der „Höhe der Ruhegehälter“ zu unterscheiden seien. Das Gericht hat dazu ausgeführt, dass auch wenn die „Ruhegehaltsansprüche“ endgültig erworben worden seien und nicht abgeändert werden könnten und auch wenn die Ruhegehälter weiterhin gezahlt würden, nichts einer Anpassung der Höhe der Ruhegehälter nach oben oder unten entgegenstehe; hierzu sei das Parlament im vorliegenden Fall in Anbetracht seiner Pflicht zur Anwendung der dynamischen Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten verpflichtet gewesen. 122 In Rn. 202 des angefochtenen Urteils beendete das Gericht seine Prüfung mit der Entscheidung, dass die Rechtsmittelführer nicht dargetan hätten, dass im vorliegenden Fall gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen worden wäre. Gemäß den internen Vorschriften des Parlaments würden die neuen Beträge der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer nämlich seit dem 1. Januar 2019 gelten. Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass diese internen Vorschriften weit vor dem 1. Januar 2019 und nicht danach erlassen worden seien. Außerdem hätten die Rechtsmittelführer weder dargetan noch vorgetragen, dass das Parlament diese neuen Beträge vor dem 1. Januar 2019, d. h. vor dem im Beschluss Nr. 14/2018 genannten Zeitpunkt, angewandt hätte. Ferner habe das Parlament ab Januar 2019 die Rechtsmittelführer über die mögliche Anwendung der im Beschluss Nr. 14/2018 enthaltenen Regeln auf sie informiert, was das Parlament ihnen im Februar 2019 bestätigt habe. Das Gericht hat daraus geschlossen, dass die Rechtsmittelführer über die Änderung der für die Berechnung der Höhe ihres Ruhegehalts geltenden Regeln unterrichtet worden seien, bevor die streitigen Beschlüsse erlassen worden seien. 123 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt, dass eine unionsrechtliche Regelung den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 9. November 2023, Global Silicones Council u. a./Kommission, C‑558/21 P, EU:C:2023:839, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung). 124 Somit gelten neue Gesetze, mit denen das alte Gesetz geändert wird, von Ausnahmen abgesehen für die zukünftigen Wirkungen von Sachverhalten, die unter der Geltung des älteren Gesetzes entstanden sind. Etwas anderes gilt nur für unter der Geltung des älteren Gesetzes entstandene und abgeschlossene Sachverhalte, die wohlerworbene Rechte begründen. Ein Recht gilt als wohlerworben, wenn der Tatbestand, der dieses Recht begründet, vor der Gesetzesänderung erfüllt ist. Dies ist nicht der Fall bei einem Recht, dessen begründender Tatbestand sich nicht unter der Geltung der Rechtsvorschriften vor ihrer Änderung verwirklicht hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Grossetête/Parlament, C‑714/21 P, EU:C:2023:187, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung). 125 Was insbesondere das Recht auf Bezug eines Ruhegehalts betrifft, wird dieses grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erworben, zu dem der begründende Tatbestand eintritt, d. h. zu dem Zeitpunkt, zu dem das Ruhegehalt fällig wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Grossetête/Parlament, C‑714/21 P, EU:C:2023:187, Rn. 85 bis 87). 126 Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede Änderung der Methoden für die Berechnung eines Ruhegehalts, die zu seiner Kürzung führt und auf der Grundlage einer Regelung angewandt wird, die erlassen wurde, nachdem dieses Ruhegehalt fällig geworden ist, einen Eingriff in diese wohlerworbenen Rechte darstellt. 127 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es keinen unionsrechtlichen Grundsatz gibt, nach dem wohlerworbene Rechte unter keinen Umständen geändert oder gekürzt werden könnten. Unter bestimmten Voraussetzungen ist es möglich, solche Rechte zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Grossetête/Parlament, C‑714/21 P, EU:C:2023:187, Rn. 88 und 89). 128 Im vorliegenden Fall konnte das Gericht auf der Grundlage der insbesondere in Rn. 202 des angefochtenen Urteils genannten Gesichtspunkte zutreffend zu dem Ergebnis kommen, dass die Anwendung der dynamischen Regelung, wie sie in der Anlage III der KVR und in Art. 75 der Durchführungsbestimmungen vorgesehen ist, mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar ist. 129 Nach alledem ist der erste Rechtsmittelgrund zurückzuweisen, soweit die Rechtsmittelführer damit die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments beanstanden, wonach dieses verpflichtet ist, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. C. Zum zweiten Rechtsmittelgrund 1. Vorbringen der Parteien 130 Der zweite Rechtsmittelgrund besteht aus drei Teilen. 131 Mit dem ersten Teil machen die Rechtsmittelführer geltend, das Gericht habe in Rn. 126 des angefochtenen Urteils dadurch einen Rechtsfehler begangen, dass es die Art. 74 und 75 der Durchführungsbestimmungen dahin ausgelegt habe, dass die Bestimmungen der Anlage III der KVR eine gültige Rechtsgrundlage für den Erlass der streitigen Beschlüsse hätten darstellen können. 132 Das Gericht habe nämlich gemäß dem Verweis in Art. 74 der Durchführungsbestimmungen in Verbindung mit deren Art. 75 nicht den Inhalt dieser Anlage zum Zeitpunkt des Erlasses des Abgeordnetenstatuts für anwendbar gehalten, sondern die Rechtsvorschrift als solche, obwohl sie aufgehoben worden sei. Somit müsste diese Anlage nach Ansicht des Gerichts nicht nur unter Verweis auf den Zeitpunkt der Aufhebung der ehemaligen Ruhegehaltsregelung, sondern auch für die Zukunft angewandt werden, indem Änderungen der italienischen Ruhegehaltsleistung, die beschlossen worden seien, als die Anlage III nicht mehr in Kraft gewesen sei, rückwirkend angewandt würden. 133 Nach Ansicht der Rechtsmittelführer geht aus dem Wortlaut von Art. 74 der Durchführungsbestimmungen in Verbindung mit deren siebtem Erwägungsgrund hervor, dass die Anlage III der KVR am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts vollständig aufgehoben worden sei. 134 Mit dem zweiten Teil machen die Rechtsmittelführer geltend, dass das Gericht in den Rn. 90 bis 92 des angefochtenen Urteils dadurch einen Rechtsfehler begangen habe, dass es Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments dahin ausgelegt habe, dass der Referatsleiter dafür zuständig gewesen sei, die streitigen Beschlüsse zu erlassen, da die entsprechende Befugnis ordnungsgemäß an ihn weiterübertragen worden sei. 135 Die streitigen Beschlüsse hätten vom Präsidium des Parlaments erlassen werden müssen, da sie nicht im Rahmen der laufenden Verwaltung erlassen worden seien. Diese Beschlüsse gehörten zu einem neuen, komplexen und unvorhergesehenen Sachverhalt, wovon im Übrigen das Tätigwerden des Juristischen Dienstes des Parlaments zeuge, so dass vor ihrem Erlass ihre Vereinbarkeit mit den höherrangigen Vorschriften und Grundsätzen der Union hätte geprüft werden müssen. Es handele sich daher nicht um rein technische Beschlüsse, die einem Referatsleiter übertragen werden könnten. 136 Mit dem dritten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes machen die Rechtsmittelführer geltend, dass das Gericht in den Rn. 110 bis 114 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler bei der Beurteilung der Begründung der streitigen Beschlüsse gemacht habe. 137 In diesen Beschlüssen werde lediglich indirekt auf die Begründung im Gutachten des Juristischen Dienstes verwiesen. Dieses Gutachten werde in den streitigen Beschlüssen jedoch weder erwähnt, noch sei es ihnen als Anhang beigefügt. Es habe sich auch nicht im Anhang der Mitteilung befunden, die den an die Rechtsmittelführer adressierten Ruhegehaltsabrechnungen des Monats Februar 2019 beigefügt gewesen sei. Es sei darin nur in Form einer einfachen Erwähnung, wonach der Juristische Dienst des Parlaments die automatische Anwendbarkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 bestätigt habe, zitiert worden. 138 Außerdem habe das Gericht unzutreffend festgestellt, dass in dem vom Referatsleiter am 11. Juni 2019 an Herrn Florio, den Kläger in der Rechtssache T‑465/19, gerichteten Schreiben ein direkter Link auf die Website des Europäischen Parlaments erwähnt worden sei, auf der das Gutachten des Juristischen Dienstes habe eingesehen werden können. Dieses Schreiben sei nämlich die Antwort auf die Stellungnahme, die von dem Betroffenen infolge der Bekanntgabe der ihn betreffenden Mitteilung vom 11. April 2019 abgegeben worden sei. Die anderen Rechtsmittelführer hätten diese Information somit nicht erhalten, und in den streitigen Beschlüssen sei kein Link auf die Website enthalten, auf der das Gutachten des Juristischen Dienstes für die Öffentlichkeit zugänglich sei. 139 Die Tatsache, dass die Rechtsmittelführer es vermocht hätten, dieses Gutachten zu erhalten, lasse nicht den Schluss zu, dass die von Art. 296 AEUV vorgesehenen formalen Anforderungen eingehalten worden seien. 140 Das Gutachten des Juristischen Dienstes habe ferner nur eine sehr partielle und summarische Prüfung der Einhaltung höherrangiger Vorschriften und der tragenden Grundsätze des Unionsrechts enthalten, was das Gericht vernachlässigt habe. 141 Das Parlament trägt vor, der zweite Rechtsmittelgrund sei als unbegründet zurückzuweisen. 2. Würdigung durch den Gerichtshof a) Einleitende Bemerkungen 142 Der erste Teil, mit dem die Rechtsmittelführer einen Verstoß gegen die Art. 74 und 75 der Durchführungsbestimmungen rügen, betrifft die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wonach dieses verpflichtet sei, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. In Anbetracht der in Rn. 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die Stichhaltigkeit dieser Rüge insofern zu prüfen, als die Rechtsmittelführer mit ihr eine Rechtswidrigkeit geltend machen, die sich in Zukunft wiederholen könnte. 143 Gleiches gilt für den zweiten Teil, mit dem die Rechtsmittelführer geltend machen, dass der Referatsleiter nach Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung nicht für den Erlass der streitigen Beschlüsse zuständig gewesen. 144 Mit dem dritten Teil machen die Rechtsmittelführer im Wesentlichen geltend, das Gericht habe gegen Art. 296 AEUV verstoßen. Zum einen habe es in den Rn. 112 und 116 des angefochtenen Urteils unzutreffend entschieden, dass das Parlament nicht gegen seine Begründungspflicht verstoßen habe, da die Rechtsmittelführer freien Zugang zu und eine perfekte Kenntnis vom Inhalt des Gutachtens des Juristischen Dienstes vor Erhebung ihrer Klage gehabt hätten. Zum anderen habe das Gericht die Tatsache vernachlässigt, dass das Gutachten des Juristischen Dienstes nur eine sehr partielle und summarische Prüfung der Einhaltung höherrangiger Vorschriften und der tragenden Grundsätze des Unionsrechts enthalten habe. 145 Insoweit ist festzustellen, dass dieser Teil unzulässig ist. 146 Gemäß Art. 256 Abs. 1 AEUV und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Rechtsmittel auf Rechtsfragen beschränkt. Das Gericht ist ausschließlich zuständig, die relevanten Tatsachen festzustellen, einzuschätzen und die Beweise zu beurteilen. Somit ist die Würdigung der Tatsachen und Beweise, vorbehaltlich ihrer Verfälschung, keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs im Rahmen eines Rechtsmittels unterliegt (Urteil vom 28. September 2023, Changmao Biochemical Engineering/Kommission, C‑123/21 P, EU:C:2023:708, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung). 147 Erstens versuchen die Rechtsmittelführer, soweit sie bestreiten, vor der Erhebung ihrer Klage freien Zugang zu und perfekte Kenntnis vom Inhalt des Gutachtens des Juristischen Dienstes gehabt zu haben, in Wirklichkeit, eine neue Würdigung der Tatsachen und Beweise durch den Gerichtshof zu erreichen, ohne jedoch ihre Verfälschung durch das Gericht geltend zu machen. 148 Zweitens ist das Vorbringen der Rechtsmittelführer, das Gericht habe den partiellen und summarischen Charakter der Prüfung der Einhaltung der höherrangigen Vorschriften und der tragenden Grundsätze des Unionsrechts ignoriert, die das Gutachten des Juristischen Dienstes enthalten habe, unzulässig, da es auf einer angeblich vom Parlament begangen Rechtswidrigkeit beruht, die vor dem Gericht nicht geltend gemacht und folglich auch nicht erörtert wurde. 149 Aus Art. 58 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union geht nämlich hervor, dass die Rechtsmittelgründe auf Argumente gestützt sein müssen, die im Verfahren vor dem Gericht vorgebracht wurden. Zudem kann das Rechtsmittel gemäß Art. 170 Abs. 1 der Verfahrensordnung den vor dem Gericht verhandelten Streitgegenstand nicht verändern. Im Rahmen eines Rechtsmittels sind die Befugnisse des Gerichtshofs daher auf die Beurteilung der rechtlichen Entscheidung über die im ersten Rechtszug erörterten Rechtsgründe und Argumente beschränkt (Urteil vom 21. Dezember 2021, Aeris Invest/SRB, C‑874/19 P, EU:C:2021:1040, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). 150 Die Rechtsmittelführer haben dem Parlament vor dem Gericht zwar vorgeworfen, wie aus Rn. 99 des angefochtenen Urteils hervorgeht, nicht geprüft zu haben, inwiefern die rückwirkende Anwendung einer weniger günstigen Ruhegehaltsregelung mit dem Unionsrecht vereinbar sein könnte. Allerdings weicht dieses Argument von dem in Rn. 140 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Vorbringen insbesondere insofern ab, als es nicht die Begründungspflicht betrifft, wie das Gericht in Rn. 120 des angefochtenen Urteils zutreffend entschieden hat. 151 Daraus folgt, dass nur die Begründetheit des ersten und des zweiten Teils des zweiten Rechtsmittelgrundes zu prüfen ist. b) Zur Begründetheit 152 In Bezug auf den ersten Teil ist festzustellen, dass Art. 74 der Durchführungsbestimmungen vorsieht, dass die KVR vorbehaltlich der in Titel IV der Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Übergangsbestimmungen am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts ungültig wird. 153 Aus dieser Vorschrift kann nicht abgeleitet werden, dass die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten unantastbar den Vorschriften über die Berechnung der Ruhegehälter unterworfen sein müssten, die zum Zeitpunkt der Aufhebung der KVR für die Mitglieder des Parlaments des Mitgliedstaats galten, in dem diese ehemaligen Abgeordneten gewählt worden waren. 154 Wie den Rn. 81 bis 83 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, bleibt die dynamische Regelung auf diese Abgeordneten gemäß Art. 75 der Durchführungsbestimmungen nach dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts anwendbar. 155 Diese Auslegung von Art. 75 der Durchführungsbestimmungen wird entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführer nicht durch deren siebten Erwägungsgrund entkräftet. 156 Im siebten Erwägungsgrund der Durchführungsbestimmungen heißt es zum einen, dass „die Personen, die auf der Grundlage der KVR bestimmte Leistungen erhalten, diese auch nach der Aufhebung dieser Regelung gemäß dem Grundsatz des Vertrauensschutzes weiterhin in Anspruch nehmen können [sollen]“, und zum anderen, dass „die Einhaltung der Ruhegehaltsansprüche gewährleistet sein [soll], die auf der Grundlage der KVR vor Inkrafttreten des Statuts erworben wurden“. 157 Dieser Erwägungsgrund stellt klar, dass die nach dieser Regelung gewährten Leistungen weiterhin gezahlt werden, ohne dass daraus entnommen werden kann, dass diese Regelung nach diesem Zeitpunkt nicht mehr anwendbar wäre. 158 Der Begriff „erworbene Ruhegehaltsansprüche“ hat somit in diesem Erwägungsgrund dieselbe Tragweite wie in Art. 75 Abs. 2 der Durchführungsbestimmungen, wie sie in Rn. 89 des vorliegenden Urteils präzisiert wurde. 159 Das Gericht hat somit keinen Rechtsfehler begangen, als es in Rn. 126 des angefochtenen Urteils im Wesentlichen festgestellt hat, dass Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR, der die Anwendung der dynamischen Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten vorsieht, nicht aufgehoben wurde und nach dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts auf die Rechtsmittelführer anwendbar bleibt. 160 Der erste Teil ist daher als unbegründet zurückzuweisen. 161 In Bezug auf den zweiten Teil ist festzustellen, dass das Gericht in Rn. 90 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, dass der Referatsleiter durch die Entscheidung FINS/2019‑01 des Generaldirektors für Finanzen des Parlaments vom 23. November 2018 zum nachgeordnet bevollmächtigten Anweisungsbefugten für die Haushaltslinie 1030, die sich auf die in Anlage III der KVR aufgeführten Ruhegehälter bezieht, ernannt worden sei und dass in dieser Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen werde, dass der Referatsleiter u. a. berechtigt sei, rechtliche Verpflichtungen einzugehen, Mittelbindungen vorzunehmen, Ausgaben abzurechnen und Zahlungen anzuordnen, aber auch Forderungsvorausschätzungen zu erstellen, Forderungen festzustellen und Einziehungsanordnungen zu erteilen. 162 In Rn. 91 des angefochtenen Urteils hat das Gericht u. a. festgestellt, dass die in den Durchführungsbestimmungen und der KVR festgelegten Regeln, wie sie vom Präsidium des Parlaments erlassen worden seien, vom Referatsleiter nicht geändert, sondern lediglich umgesetzt worden seien. 163 Unter diesen Umständen hat das Gericht in Rn. 92 des angefochtenen Urteils entschieden, dass der Referatsleiter für den Erlass der streitigen Beschlüsse zuständig gewesen sei. 164 Soweit dem Referatsleiter mit der Entscheidung FINS/2019‑01 des Generaldirektors für Finanzen des Parlaments vom 23. November 2018 u. a. gestattet wird, rechtliche Verpflichtungen einzugehen, Mittelbindungen vorzunehmen, Ausgaben abzurechnen und Zahlungen anzuordnen, aber auch Forderungsvorausschätzungen zu erstellen, Forderungen festzustellen und Einziehungsanordnungen zu erteilen, ist sie hinreichend weit formuliert, um auch die von den Rechtsmittelführern geltend gemachten Sachverhalte zu erfassen, und zwar neue, komplexe und unvorhergesehene Sachverhalte in den delegierten Bereichen. 165 Außerdem tragen die Rechtsmittelführer nicht vor, dass diese Entscheidung einen Vorbehalt hinsichtlich der Zuständigkeit für die Anwendung des Primärrechts der Union und insbesondere der Bestimmungen der Charta im Rahmen des Erlasses von in diese Bereiche fallenden Beschlüssen enthalte. 166 Ferner enthält Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführer keinen Befugnisvorbehalt in diesem Bereich zugunsten des Präsidiums des Parlaments. Nach dieser Vorschrift trifft nämlich „das Präsidium … auf Vorschlag des Generalsekretärs oder einer Fraktion finanzielle, organisatorische und administrative Entscheidungen in Angelegenheiten der Mitglieder“. Eine angebliche Unterscheidung zwischen Maßnahmen, die nicht im Rahmen der laufenden Verwaltung getroffen würden und deren Erlass dem Präsidium des Parlaments vorbehalten sei, und solchen, die im Rahmen der laufenden Verwaltung getroffen würden und an den Referatsleiter delegiert seien, kann dieser Bestimmung auch nicht entnommen werden. 167 Folglich ist der zweite Teil als unbegründet zurückzuweisen. 168 Daraus folgt, dass der zweite Rechtsmittelgrund als teils unzulässig und teils unbegründet zurückzuweisen ist. D. Zum dritten Rechtsmittelgrund 1. Vorbringen der Parteien 169 Der dritte Rechtsmittelgrund richtet sich gegen Rn. 70 des angefochtenen Urteils, mit dem das Gericht die Klage von Frau Panusa in der Rechtssache T‑453/19 für unzulässig erklärt hat, da die sie betreffende Mitteilung des Referatsleiters vom 11. April 2019 zu keiner Kürzung ihrer Hinterbliebenenversorgung geführt habe. 170 Diese Schlussfolgerung sei rechtsfehlerhaft, und zwar im Wesentlichen, weil die Hinterbliebenenversorgung, die Frau Panusa erhalte, auf der Grundlage der Anlage III der KVR berechnet worden sei, obwohl die Festlegung einer solchen Hinterbliebenenversorgung unter Anlage I der KVR falle, weshalb sie Anspruch auf einen höheren Versorgungsbetrag habe. 171 Das Parlament macht geltend, dass der dritte Rechtsmittelgrund als unzulässig und, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen sei. 2. Würdigung durch den Gerichtshof 172 Es ist festzustellen, dass die Gründe des angefochtenen Urteils, auf die mit dem dritten Rechtsmittelgrund abgezielt wird, nicht die in Rn. 47 des vorliegenden Urteils genannten Erwägungen des Gerichts tragen. 173 Infolgedessen ist dieser Rechtsmittelgrund nicht zu prüfen. 174 Da alle von den Rechtsmittelführern zur Stützung ihres Rechtsmittels geltend gemachten Gründe zurückgewiesen werden, ist das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen. VI. Kosten 175 Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist. Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. 176 Da die Rechtsmittelführer mit ihrem Vorbringen unterlegen sind und das Parlament ihre Verurteilung zur Tragung der Kosten beantragt hat, sind ihnen neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Parlaments aufzuerlegen. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen. 2. Frau Maria Teresa Coppo Gavazzi, Frau Cristiana Muscardini, Herr Luigi Vinci, Herr Agostino Mantovani, Frau Anna Catasta, Frau Vanda Novati, Herr Francesco Enrico Speroni, Frau Maria Di Meo, Herr Giuseppe Di Lello Finuoli, Herr Raffaele Lombardo, Herr Olivier Dupuis, Frau Leda Frittelli, Herr Livio Filippi, Herr Vincenzo Viola, Herr Antonio Mussa, Herr Mauro Nobilia, Frau Clara di Prinzio als Erbin von Herrn Sergio Camillo Segre, Herr Stefano De Luca, Herr Riccardo Ventre, Frau Mirella Musoni, Herr Francesco Iacono, Herr Vito Bonsignore, Herr Claudio Azzolini, Herr Vincenzo Aita, Herr Mario Mantovani, Herr Vincenzo Mattina, Herr Romano Maria La Russa, Herr Giorgio Carollo, Frau Fiammetta Cucurnia als Erbin von Herrn Giulietto Chiesa, Herr Roberto Costanzo, Herr Giorgio Gallenzi als Erbe von Herrn Giulio Cesare Gallenzi, Herr Vitaliano Gemelli, Frau Pasqualina Napoletano und Frau Ida Panusa tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Europäischen Parlaments. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
Urteil des Gerichtshofs (Neunte Kammer) vom 12. September 2024.#LF gegen Zamestnik-predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite.#Vorabentscheidungsersuchen des Administrativen sad Sofia-grad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Asyl- und Einwanderungspolitik – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anwendungsbereich – Art. 1, 4 und 7 – Richtlinie 2011/95/EU – Anwendungsbereich – Art. 2 und 3 – Nationaler Schutz aus humanitären Gründen – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 14 – Unmöglichkeit, die Abschiebung durchzuführen – Bestätigung – Rechte des illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen im Fall des Aufschubs der Abschiebung – Richtlinie 2013/33/EU – Anwendungsbereich – Im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen.#Rechtssache C-352/23.
62023CJ0352
ECLI:EU:C:2024:748
2024-09-12T00:00:00
Gerichtshof, Richard de la Tour
62023CJ0352 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer) 12. September 2024 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Asyl- und Einwanderungspolitik – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Anwendungsbereich – Art. 1, 4 und 7 – Richtlinie 2011/95/EU – Anwendungsbereich – Art. 2 und 3 – Nationaler Schutz aus humanitären Gründen – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 14 – Unmöglichkeit, die Abschiebung durchzuführen – Bestätigung – Rechte des illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen im Fall des Aufschubs der Abschiebung – Richtlinie 2013/33/EU – Anwendungsbereich – Im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen“ In der Rechtssache C‑352/23 [Changu] (i ) betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien) mit Entscheidung vom 29. Mai 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juni 2023, in dem Verfahren LF gegen Zamestnik-predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite erlässt DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer) unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei, des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Neunten Kammer sowie des Richters S. Rodin, Generalanwalt: J. Richard de la Tour, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von LF, vertreten durch V. B. Ilareva und K. Stoyanov, Advokati, – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, J. Hottiaux, A. Katsimerou und E. Rousseva als Bevollmächtigte, aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden, folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 1, 4 und 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 2 Buchst. h und Art. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) sowie von Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LF und der Darzhavna agentsia za bezhantsite (Staatliche Agentur für Flüchtlinge, Bulgarien, im Folgenden DAB) betreffend einen Bescheid, mit dem LF die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des „humanitären Status“ verweigert wurde. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2008/115 3 Der zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 lautet: „Die Situation von Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, sollte geregelt werden. Die Festlegungen hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums dieser Personen sollten nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften getroffen werden. Die betreffenden Personen sollten eine schriftliche Bestätigung erhalten, damit sie im Falle administrativer Kontrollen oder Überprüfungen ihre besondere Situation nachweisen können. Die Mitgliedstaaten sollten hinsichtlich der Gestaltung und des Formats der schriftlichen Bestätigung über einen breiten Ermessensspielraum verfügen und auch die Möglichkeit haben, sie in aufgrund dieser Richtlinie getroffene Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr aufzunehmen.“ 4 Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 sieht vor: „Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden: a) die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten; b) die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.“ 5 Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten können jederzeit beschließen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegen eines Härtefalls oder aus humanitären oder sonstigen Gründen einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen. In diesem Fall wird keine Rückkehrentscheidung erlassen. Ist bereits eine Rückkehrentscheidung ergangen, so ist diese zurückzunehmen oder für die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels oder der sonstigen Aufenthaltsberechtigung auszusetzen.“ 6 In Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 heißt es: „(1)   Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist. (2)   Hat ein Mitgliedstaat eine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß Artikel 7 eingeräumt, so kann die Rückkehrentscheidung erst nach Ablauf dieser Frist vollstreckt werden, es sei denn, innerhalb dieser Frist entsteht eine der Gefahren im Sinne von Artikel 7 Absatz 4.“ 7 Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten schieben die Abschiebung auf, a) wenn diese gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstoßen würde oder b) solange nach Artikel 13 Absatz 2 aufschiebende Wirkung besteht. (2)   Die Mitgliedstaaten können die Abschiebung unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls um einen angemessenen Zeitraum aufschieben. Die Mitgliedstaaten berücksichtigen insbesondere a) die körperliche oder psychische Verfassung der betreffenden Drittstaatsangehörigen; b) technische Gründe wie fehlende Beförderungskapazitäten oder Scheitern der Abschiebung aufgrund von Unklarheit über die Identität.“ 8 Art. 14 der Richtlinie 2008/115 bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen außer in Fällen nach Artikel 16 und 17 sicher, dass innerhalb der nach Artikel 7 für die freiwillige Ausreise gewährten Frist und der Fristen, während derer die Vollstreckung einer Abschiebung nach Artikel 9 aufgeschoben ist, die folgenden Grundsätze in Bezug auf Drittstaatsangehörige soweit wie möglich beachtet werden: a) Aufrechterhaltung der Familieneinheit mit den in demselben Hoheitsgebiet aufhältigen Familienangehörigen; b) Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten; c) Gewährleistung des Zugangs zum Grundbildungssystem für Minderjährige je nach Länge ihres Aufenthalts; d) Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen den in Absatz 1 genannten Personen eine schriftliche Bestätigung gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften zur Verfügung, der zufolge die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß Artikel 7 Absatz 2 verlängert worden ist oder die Rückkehrentscheidung vorläufig nicht vollstreckt wird.“ Richtlinie 2011/95 9 In den Erwägungsgründen 14 und 15 der Richtlinie 2011/95 heißt es: „(14) Die Mitgliedstaaten sollten die Befugnis haben, günstigere Regelungen als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Normen für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die um internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat ersuchen, einzuführen oder beizubehalten, wenn ein solcher Antrag als mit der Begründung gestellt verstanden wird, dass der Betreffende entweder ein Flüchtling im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A [des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967 geänderten Fassung] oder eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz ist. (15) Diejenigen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen, nicht weil sie internationalen Schutz benötigen, sondern aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, fallen nicht unter diese Richtlinie.“ 10 Gemäß Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 bezeichnet im Sinne dieser Richtlinie der Ausdruck „Antrag auf internationalen Schutz“„das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht“. 11 Art. 3 der Richtlinie 2011/95 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“ Richtlinie 2013/32/EU 12 In Art. 2 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … f) ‚Asylbehörde‘ jede gerichtsähnliche Behörde beziehungsweise jede Verwaltungsstelle eines Mitgliedstaats, die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständig und befugt ist, erstinstanzliche Entscheidungen über diese Anträge zu erlassen; … q) ‚Folgeantrag‘ einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Artikel 28 Absatz 1 abgelehnt hat.“ 13 Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sieht vor: „Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat. Aus dieser Berechtigung zum Verbleib ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.“ 14 Art. 41 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 bestimmt: „Die Mitgliedstaaten können Ausnahmen vom Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet machen, wenn eine Person a) nur zur Verzögerung oder Behinderung der Durchsetzung einer Entscheidung, die zu ihrer unverzüglichen Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat führen würde, förmlich einen ersten Folgeantrag gestellt hat, der gemäß Artikel 40 Absatz 5 nicht weiter geprüft wird, oder b) nach einer bestandskräftigen Entscheidung, einen ersten Folgeantrag gemäß Artikel 40 Absatz 5 als unzulässig zu betrachten, oder nach einer bestandskräftigen Entscheidung, einen ersten Folgeantrag als unbegründet abzulehnen, in demselben Mitgliedstaat einen weiteren Folgeantrag stellt. Die Mitgliedstaaten können eine solche Ausnahme nur dann machen, wenn die Asylbehörde die Auffassung vertritt, dass eine Rückkehrentscheidung keine direkte oder indirekte Zurückweisung zur Folge hat, die einen Verstoß gegen die völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Pflichten dieses Mitgliedstaats darstellt.“ 15 In Art. 46 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/32 heißt es: „(5)   Unbeschadet des Absatzes 6 gestatten die Mitgliedstaaten den Antragstellern den Verbleib im Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf. (6)   Im Fall einer Entscheidung, a) einen Antrag im Einklang mit Artikel 32 Absatz 2 als offensichtlich unbegründet oder nach Prüfung gemäß Artikel 31 Absatz 8 als unbegründet zu betrachten, es sei denn, diese Entscheidungen sind auf die in Artikel 31 Absatz 8 Buchstabe h aufgeführten Umstände gestützt, … ist das Gericht befugt, entweder auf Antrag des Antragstellers oder von Amts wegen darüber zu entscheiden, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, wenn die Entscheidung zur Folge hat, das Recht des Antragstellers auf Verbleib in dem Mitgliedstaat zu beenden und wenn in diesen Fällen das Recht auf Verbleib in dem betreffenden Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im nationalen Recht nicht vorgesehen ist.“ Richtlinie 2013/33 16 Art. 20 Abs. 1 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96), bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller … c) einen Folgeantrag nach Artikel 2 Buchstabe q der Richtlinie [2013/32] gestellt hat. … (5)   Entscheidungen über die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder über Sanktionen nach den Absätzen 1, 2, 3 und 4 dieses Artikels werden jeweils für den Einzelfall, objektiv und unparteiisch getroffen und begründet. Die Entscheidungen sind aufgrund der besonderen Situation der betreffenden Personen, insbesondere im Hinblick auf die in Artikel 21 genannten Personen, unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu treffen. Die Mitgliedstaaten gewährleisten im Einklang mit Artikel 19 in jedem Fall Zugang zur medizinischen Versorgung und gewährleisten einen würdigen Lebensstandard für alle Antragsteller.“ Bulgarisches Recht ZUB 17 Art. 8 Abs. 1 des Zakon za ubezhichteto i bezhantsite (Asyl- und Flüchtlingsgesetz, im Folgenden: ZUB) sieht vor: „Die Flüchtlingseigenschaft wird in der Republik Bulgarien einem Ausländer zuerkannt, der sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslands befindet und den Schutz dieses Landes aus diesen Gründen nicht in Anspruch nehmen kann oder will oder nicht dorthin zurückkehren kann oder will.“ 18 Art. 9 dieses Gesetzes bestimmt: „(1)   Der humanitäre Status wird einem Ausländer zuerkannt, der die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht erfüllt und der den Schutz seines Herkunftslands nicht in Anspruch nehmen kann oder will, weil er tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, wie z. B.: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. … (8)   Ein humanitärer Status kann auch aus anderen humanitären Gründen sowie aus den in den Schlussfolgerungen des Exekutivausschusses des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge genannten Gründen gewährt werden.“ ZChRB 19 In Art. 44b des Zakon za chuzhdentsite v Republika Balgaria (Gesetz über die Ausländer in der Republik Bulgarien, im Folgenden: ZChRB) heißt es: „(1)   Ist die sofortige Ausweisung oder Rückführung des Ausländers unmöglich oder muss die Vollstreckung dieser Maßnahmen aus rechtlichen oder technischen Gründen aufgeschoben werden, so setzt die Behörde, die die Verwaltungszwangsmaßnahme erlassen hat, ihre Vollstreckung aus, bis die Hindernisse für ihre Vollstreckung beseitigt sind. (2)   Ist nach Ablauf der Dauer des vorübergehenden Schutzes nach dem [ZUB] die Ausweisung oder Rückführung des Ausländers unmöglich oder muss die Vollstreckung dieser Maßnahmen aus gesundheitlichen oder humanitären Gründen aufgeschoben werden, so setzt die Behörde, die die Verwaltungszwangsmaßnahme erlassen hat, ihre Vollstreckung aus, bis die Hindernisse für ihre Vollstreckung beseitigt sind.“ 20 Nach Nr. 16 Abs. 1 der Zusatzbestimmungen zum ZChRB liegen humanitäre Gründe vor, wenn das Einreiseverbot in das Hoheitsgebiet der Republik Bulgarien oder die Ausreise eines Ausländers aufgrund objektiver Umstände eine schwerwiegende Gefahr für seine Gesundheit oder sein Leben oder die Einheit seiner Familie darstellen würde oder wenn es das übergeordnete Interesse des Familien- oder Kindeswohls erfordert, dass er in das Hoheitsgebiet des Landes einreisen oder dort verbleiben darf. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 21 LF ist ein volljähriger Drittstaatsangehöriger, der sich seit 1996 in Bulgarien aufhält. Er stellte erfolglos mehrere Anträge auf internationalen Schutz, und es wurden mehrere Rückkehrentscheidungen gegen ihn erlassen, die nie vollstreckt wurden. 22 Am 13. April 2021 stellte LF einen elften Antrag auf internationalen Schutz und machte u. a. geltend, dass er einen großen Teil seines Lebens in Bulgarien verbracht habe und aufgrund des rechtlichen Vakuums, in dem sein Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat verlaufen sei, weder Zugang zu einer Krankenversicherung noch zu medizinischer Versorgung gehabt habe. Außerdem habe sein Gesundheitszustand, der sich sehr verschlechtert habe, ihn daran gehindert, normal zu reisen, und lange Reisen könnten sein Leben gefährden. 23 Mit Bescheid vom 29. April 2021 lehnte die DAB, die Asylbehörde in Bulgarien, den Antrag von LF ab. Es wurde entschieden, dass seine Rückkehr in sein Herkunftsland über die für die Rückführung zuständige nationale Behörde oder über die Internationale Organisation für Migration sichergestellt werden solle. 24 Dieser Bescheid wurde mit einem in Rechtskraft erwachsenen Urteil vom 25. November 2021 mit der Begründung aufgehoben, dass sich LF zum einen auf den Grundsatz der Nichtzurückweisung berufen habe, der im Hinblick auf sein Vorbringen, dass lange Reisen sein Leben gefährdeten, auf ihn anwendbar sei, und zum anderen, dass der Verstoß gegen diesen Grundsatz einen Grund für die Zuerkennung des in Art. 9 Abs. 1 Nr. 2 ZUB vorgesehenen humanitären Status darstelle. 25 Nach dieser Aufhebung wurde der Antrag von LF auf internationalen Schutz am 30. Dezember 2021 registriert. LF äußerte seinen Wunsch, in einem Hotspot (Registrierungszentrum) der DAB untergebracht zu werden, da er nicht in der Lage sei, sich eine Unterkunft und Verpflegung zu beschaffen. 26 Am 10. August 2022 erließ die DAB den streitigen Bescheid, mit dem sie LF die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des humanitären Status verweigerte. 27 Diese Behörde vertrat die Auffassung, dass die von LF angeführten Gründe zum einen keine Grundlage für eine begründete Furcht vor Verfolgung oder eine tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 ZUB böten und zum anderen keine Gründe für die Erlangung des humanitären Status im Sinne von Art. 9 Abs. 8 dieses Gesetzes darstellen könnten. Außerdem sei auf mehrere strafrechtliche Verurteilungen von LF zu verweisen, die seine fehlende Integration in die bulgarische Gesellschaft und sein wiederholtes Fehlverhalten deutlich machten. Schließlich stellten der Aufenthalt von LF in Bulgarien über einen längeren Zeitraum und die Unmöglichkeit der Rückkehr in sein Herkunftsland keinen Schutzgrund nach dem ZUB dar, sondern könnten nur einen Antrag auf einen verwaltungsrechtlichen Status nach dem ZChRB rechtfertigen. 28 Gegen diesen Bescheid erhob LF Klage beim Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht. 29 Dieses Gericht ist erstens der Ansicht, dass LF nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 8 Abs. 1 ZUB oder für die Zuerkennung des humanitären Status nach Art. 9 Abs. 1 ZUB erfülle. Unter Berücksichtigung der beträchtlichen Dauer des Aufenthalts von LF in Bulgarien, nämlich mehr als 26 Jahre, während deren er über kein Ausweisdokument verfügt habe und ihm unter Verstoß gegen Art. 14 der Richtlinie 2008/115 häufig die erforderlichen Garantien vorenthalten worden seien, um ihm einen menschenwürdigen Lebensstandard zu gewährleisten, sei seine Situation mit den Situationen vergleichbar, um die es in den Urteilen vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218), und vom 19. März 2019, Ibrahim u. a. (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219), sowie im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609), gegangen sei. 30 Das vorlegende Gericht weist insbesondere darauf hin, dass die bulgarischen Behörden ihrer Verpflichtung aus Art. 8 der Richtlinie 2008/115, LF so bald wie möglich abzuschieben, nicht nachgekommen seien. 31 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob in Ermangelung einer Bestimmung des ZChRB, die es erlaube, LF aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, und mangels einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten, eine solche Bestimmung nach Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 einzuführen, der Umstand, dass die bulgarischen Behörden die besondere Situation von LF nicht anerkannt hätten, sofern er einen Verstoß gegen die Art. 1, 4 und 7 der Charta darstelle, unter die „zwingenden humanitären Gründen“ falle, die eine Auslegung von Art. 9 Abs. 8 ZUB im Einklang mit dem 15. Erwägungsgrund und Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 rechtfertigen würden. 32 Für den Fall, dass diese Frage bejaht werde, möchte das vorlegende Gericht zudem wissen, ob subsidiärer Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95 auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 8 ZUB oder ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen im Sinne von Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 zu gewähren sei. 33 Zweitens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass entgegen dem Wortlaut des zwölften Erwägungsgrundes der Richtlinie 2008/115 und von Art. 14 Abs. 2 dieser Richtlinie keine Bestimmung des ZChRB einen Anspruch von LF auf eine schriftliche Bestätigung seiner Situation vorsehe. 34 Im vorliegenden Fall habe sich die Anwendung des ZChRB und der Richtlinie 2008/115 auf LF darauf beschränkt, dass zwei Rückkehrentscheidungen, datiert vom 26. September 2005 und vom 9. August 2017, gegen ihn ergangen seien, die nicht vollstreckt worden seien. Nichts deute darauf hin, dass diese unterbliebene Vollstreckung auf Vollstreckungshindernisse oder auf gesundheitliche oder humanitäre Gründe zurückzuführen sei. 35 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts legt die Richtlinie 2008/115 nicht fest, welche Folgen sich daraus ergäben, dass die Vollstreckung der Abschiebung das Recht des Drittstaatsangehörigen auf Achtung seines Privatlebens verletzen würde. Mangels einer im Einklang mit Art. 6 Abs. 4 dieser Richtlinie erlassenen nationalen humanitären Klausel könne daher ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 2 dieser Richtlinie im Licht ihres zwölften Erwägungsgrundes nicht dazu führen, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet sei, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. 36 Drittens ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass nur Art. 9 Abs. 8 ZUB die Erteilung eines Aufenthaltstitels an einen Drittstaatsangehörigen aus humanitären Gründen regele. Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel an der Auslegung dieser Bestimmung im Hinblick auf das Unionsrecht, da der bulgarische Gesetzgeber zu Unrecht angenommen habe, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus „humanitären Gründen“ durch den ZUB geregelt werden müsse, dessen Hauptzweck darin bestehe, die Richtlinie 2011/95 in bulgarisches Recht umzusetzen. 37 Das vorlegende Gericht ist nämlich zum einen der Auffassung, dass der subsidiäre Schutz im bulgarischen Recht zwar ebenfalls mit dem Ausdruck „humanitärer Status“ bezeichnet werde, die „humanitären Gründe“ im Sinne von Art. 9 Abs. 8 ZUB für die Beurteilung, ob subsidiärer Schutz im Sinne von Art. 15 der Richtlinie 2011/95 und Art. 9 Abs. 1 ZUB zu gewähren sei, aber nicht relevant seien. Zum anderen sei nach dem zwölften Erwägungsgrund und Art. 2 Buchst. h dieser Richtlinie die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus solchen humanitären Gründen von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen. 38 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die Situation von LF eine weite Auslegung der einzigen Möglichkeit erfordere, im nationalen Recht eine „humanitäre Bestimmung“ anzuwenden, die mit den Grundrechten aus den Art. 1, 4 und 7 der Charta im Einklang stehe. 39 Würde Art. 9 Abs. 8 ZUB dahin ausgelegt, dass er nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011/95 falle, könnte die Rechtsstellung von LF nicht im Licht seiner etwaigen Rückkehr in sein Herkunftsland, sondern im Licht seiner Situation in Bulgarien beurteilt werden, auch unter Berücksichtigung der Dauer seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat und der Wahrung seiner Grundrechte. 40 Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob es Art. 2 Abs. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 ungeachtet des in Art. 3 der Richtlinie 2011/95 enthaltenen Vorbehalts, dass Mitgliedstaaten günstigere Normen erlassen können, erlaubt, einem Drittstaatsangehörigen, der sich – wie LF – ohne schriftliche Bestätigung seiner Rechtsstellung und ohne die Möglichkeit, einen Aufenthaltstitel „aus humanitären Gründen“ zu erhalten, mehr als 26 Jahre lang in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat, „aus zwingenden humanitären Gründen“, die keinen Zusammenhang mit dem Charakter und den Gründen dieser Richtlinie aufweisen, Schutz zu gewähren. 41 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stehen die in den Art. 1, 2, 3 und 35 der Charta verankerten Rechte auf Achtung der Menschenwürde, auf Leben, Unversehrtheit und Gesundheit sowie das in Art. 4 der Charta enthaltene Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Widerspruch dazu, in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens einem illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, dessen Abschiebung de facto ausgesetzt worden sei, während der Prüfung seines Rechtsbehelfs die Deckung seiner Grundbedürfnisse zu verwehren. 42 Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind der 15. Erwägungsgrund, Art. 2 Buchst. h und Art. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat erlauben, eine nationale Regelung zur Gewährung von internationalem Schutz in Härtefällen oder aus humanitären Gründen einzuführen, die keinen Zusammenhang mit der Logik und dem Geist der Richtlinie 2011/95 entsprechend dem 15. Erwägungsgrund und Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 (andere Form des Schutzes) aufweist, oder muss auch in einem solchen Fall die im nationalen Recht vorgesehene Möglichkeit der Gewährung von Schutz aus „humanitären Gründen“ gemäß Art. 3 der Richtlinie 2011/95 im Einklang mit den Normen des internationalen Schutzes stehen? 2. Verpflichten der zwölfte Erwägungsgrund und Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit den Art. 1 und 4 der Charta einen Mitgliedstaat zwingend dazu, Drittstaatsangehörigen eine schriftliche Bestätigung auszustellen, die bescheinigt, dass sie sich illegal aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können? 3. Ist bei einem nationalen Rechtsrahmen, dessen einzige Bestimmung zur Regelung des Status eines Drittstaatsangehörigen aus „humanitären Gründen“ in Art. 9 Abs. 8 ZUB enthalten ist, eine Auslegung dieser nationalen Bestimmung, die keinen Zusammenhang mit dem Charakter und den Gründen der Richtlinie 2011/95 aufweist, mit dem 15. Erwägungsgrund sowie mit Art. 2 Buchst. h und Art. 3 dieser Richtlinie vereinbar? 4. Erfordern die Art. 1, 4 und 7 der Charta für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2011/95 eine Prüfung, ob der lange Verbleib eines Drittstaatsangehörigen ohne geregelten Status in einem Mitgliedstaat einen eigenständigen Grund für die Gewährung von internationalem Schutz aus „zwingenden humanitären Erwägungen“ darstellt? 5. Lässt die positive Verpflichtung eines Mitgliedstaats, die Wahrung der Art. 1 und 4 der Charta zu gewährleisten, eine weite Auslegung von Art. 9 Abs. 8 ZUB zu, die über die Logik und die Standards des internationalen Schutzes nach der Richtlinie 2011/95 hinausgeht, und erfordert sie eine Auslegung, die ausschließlich auf die Wahrung der absoluten Grundrechte nach den Art. 1 und 4 der Charta bezogen ist? 6. Kann der Umstand, dass der Schutz nach Art. 9 Abs. 8 ZUB einem Drittstaatsangehörigen in einer Situation wie der des Klägers des Ausgangsverfahrens nicht gewährt wird, dazu führen, dass der Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen aus den Art. 1, 4 und 7 der Charta nicht nachkommt? Zu den Vorlagefragen Zur ersten, zur dritten und zur fünften Frage 43 Mit seiner ersten, seiner dritten und seiner fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit dem 15. Erwägungsgrund und Art. 3 dieser Richtlinie sowie mit den Art. 1 und 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen zu gewähren, die keinen Zusammenhang mit dem Charakter, den Gründen und den Zielen des internationalen Schutzes im Sinne dieser Richtlinie aufweisen. 44 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 3 in Verbindung mit dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 Normen erlassen oder beibehalten können, mit denen die Voraussetzungen gelockert oder aufrechterhalten werden, unter denen ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus erhalten kann, sofern diese Normen mit dieser Richtlinie vereinbar sind. Daher dürfen solche Normen die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährden. Insbesondere sind Normen verboten, die die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkennen sollen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2021, Bundesrepublik Deutschland [Wahrung des Familienverbands], C‑91/20, EU:C:2021:898, Rn. 39 und 40). 45 So hat der Gerichtshof zu Art. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12), dessen Wortlaut mit dem von Art. 3 der Richtlinie 2011/95 übereinstimmte, bereits entschieden, dass es diese Vorschrift einem Mitgliedstaat verwehrte, einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen aufgrund einer im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats stattfindenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigten anzuerkennen, da eine solche Situation keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj, C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 33, 43 und 44). 46 Folglich kann die Gewährung eines Aufenthaltsrechts an einen Drittstaatsangehörigen nicht auf die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 gestützt werden, wenn ein solches Aufenthaltsrecht durch die Situation materieller Not gerechtfertigt ist, in der sich der Drittstaatsangehörige im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats befindet, selbst wenn diese Situation so schwerwiegend wäre, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta gleichgestellt werden könnte. 47 Zweitens ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 den „Antrag auf internationalen Schutz“ definiert als das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht. Diese Bestimmung ist in Verbindung mit dem 15. Erwägungsgrund dieser Richtlinie zu lesen, wonach diejenigen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen, nicht weil sie internationalen Schutz benötigen, sondern aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, nicht unter diese Richtlinie fallen. 48 Daher hindert die Richtlinie 2011/95 ungeachtet ihres Art. 3 einen Mitgliedstaat nicht daran, einen nationalen Schutz zu gewähren, der mit Rechten verbunden ist, die Personen, die nicht die Flüchtlingseigenschaft oder den Status des subsidiär Schutzberechtigten innehaben, den Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet gestatten, wobei die Gewährung eines solchen Schutzes nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 116 bis 118, sowie vom 23. Mai 2019, Bilali, C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 61). Es steht einem Mitgliedstaat somit frei, Drittstaatsangehörigen, die sich in einem Zustand extremer materieller Not in seinem Hoheitsgebiet befinden, allein aufgrund seines nationalen Rechts ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen zu gewähren. 49 Dieser nationale Schutz darf jedoch nicht mit der Rechtsstellung des Flüchtlings oder des subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der Richtlinie 2011/95 verwechselbar sein, andernfalls beeinträchtigt er das von dieser Richtlinie geschaffene System. Die Rechtsvorschriften, die diesen nationalen Schutz gewähren, sollten daher eine klare Unterscheidung dieses Schutzes von dem gemäß der Richtlinie gewährten Schutz erlauben (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 119 und 120). 50 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die nationalen Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage einem Drittstaatsangehörigen, der sich in einer Situation wie jener des Klägers des Ausgangsverfahrens befindet, gegebenenfalls ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen gewährt werden könnte, eine klare Unterscheidung zwischen dem Status, der sich aus einem solchen Aufenthaltsrecht ergibt, und dem nach der Richtlinie 2011/95 zuerkannten Status ermöglichen. 51 Insoweit lässt der Umstand, dass das nationale Recht die Regelung, die sich aus der Gewährung des subsidiären Schutzes ergibt, und die Regelung, die sich aus diesem nationalen Schutz ergibt, gleich einstuft, für sich allein nicht die Annahme zu, dass sich diese beiden Regelungen nicht hinreichend voneinander unterscheiden lassen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 119 und 120). Ebenso wenig lässt der Umstand, dass die Rechtsvorschriften über einen solchen nationalen Schutz zu den Bestimmungen des nationalen Rechts gehören, die grundsätzlich den sich aus der Richtlinie 2011/95 ergebenden Schutz betreffen, den Schluss zu, dass sich diese Regelungen nicht hinreichend voneinander unterscheiden lassen. 52 Wenn jedoch, wie es hier der Fall zu sein scheint, die sich aus dem nationalen Schutz ergebende Regelung in denselben Rechtsvorschriften wie denen vorgesehen ist, mit denen die Richtlinie 2011/95 umgesetzt wird, und diese Regelung überdies vom nationalen Gesetzgeber gleich eingestuft wird wie die Regelung des subsidiären Schutzes, können die Normen, mit denen ein solcher nationaler Schutz gewährt wird, nicht so verstanden werden, dass sie es erlauben, diesen Schutz klar von dem nach der Richtlinie 2011/95 gewährten Schutz zu unterscheiden, wenn der sich aus dieser nationalen Regelung ergebende Status außerdem im Wesentlichen der gleiche ist wie der Status des subsidiär Schutzberechtigten, wie er in der Richtlinie 2011/95 festgelegt ist. 53 Schließlich ist hervorzuheben, dass Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 lediglich vorsieht, dass ein Antrag, mit dem ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ausdrücklich um eine andere Form des Schutzes ersucht, keinen Antrag auf internationalen Schutz darstellt, wenn das nationale Recht es zulässt, diese andere Form des Schutzes durch einen gesonderten Antrag zu beantragen. Dagegen hindert diese Bestimmung entgegen dem Vorbringen der Europäischen Kommission eine nationale Behörde keineswegs daran, nach der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage eines Schutzes zu gewähren, der sich ausschließlich aus dem nationalen Recht ergibt. 54 Nach alledem ist auf die erste, die dritte und die fünfte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen aus Gründen, die keinen Zusammenhang mit der allgemeinen Systematik und den Zielen dieser Richtlinie aufweisen, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, sofern sich dieses Aufenthaltsrecht klar von dem nach dieser Richtlinie gewährten internationalen Schutz unterscheidet. Zur zweiten Frage 55 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit ihrem zwölften Erwägungsgrund und den Art. 1 und 4 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der nicht in der Lage ist, einen Drittstaatsangehörigen innerhalb der gemäß Art. 8 dieser Richtlinie festgelegten Fristen abzuschieben, diesem Drittstaatsangehörigen eine schriftliche Bestätigung darüber ausstellen muss, dass die ihn betreffende Rückkehrentscheidung, obwohl er sich illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält, vorläufig nicht vollstreckt wird. 56 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 vorbehaltlich der in ihrem Art. 2 Abs. 2 vorgesehenen Ausnahmen auf alle illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen Anwendung findet. Wenn ein Drittstaatsangehöriger in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, ist er im Übrigen grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Rückführung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). 57 Sofern eine Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen unter Beachtung der durch die Richtlinie 2008/115 eingeführten materiellen und prozessualen Garantien erlassen wurde, ist der betreffende Mitgliedstaat somit nach Art. 8 dieser Richtlinie verpflichtet, den Drittstaatsangehörigen abzuschieben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen], C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 79 und 80, sowie vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Zweitens ermächtigt bzw. zwingt Art. 9 der Richtlinie 2008/115 abweichend von der Verpflichtung, einen Drittstaatsangehörigen, gegen den eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, innerhalb der gemäß Art. 8 dieser Richtlinie festgelegten Fristen abzuschieben, den betreffenden Mitgliedstaat sogar, die Abschiebung in bestimmten Fällen aufzuschieben. 59 Wie der zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 bestätigt, fällt ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, dessen Abschiebung aufgeschoben wird, daher weiterhin in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie. Außerdem ergibt sich aus Art. 14 der Richtlinie, dass dieser Drittstaatsangehörige bis zu seiner Abschiebung über bestimmte Ansprüche verfügt. 60 Insoweit verpflichtet Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Drittstaatsangehörige illegal aufhält, ihm im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften eine schriftliche Bestätigung darüber auszustellen, dass die gegen ihn ergangene Rückkehrentscheidung vorläufig nicht vollstreckt wird. 61 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der nicht in der Lage ist, einen Drittstaatsangehörigen innerhalb der gemäß Art. 8 dieser Richtlinie festgelegten Fristen abzuschieben, diesem Drittstaatsangehörigen eine schriftliche Bestätigung darüber ausstellen muss, dass die ihn betreffende Rückkehrentscheidung, obwohl er sich illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält, vorläufig nicht vollstreckt wird. Zur vierten und zur sechsten Frage 62 Mit seiner vierten und seiner sechsten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 1, 4 und 7 der Charta in Verbindung mit der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der sich über einen längeren Zeitraum in seinem Hoheitsgebiet ohne anerkannten Status aufgehalten hat und sich derzeit dort illegal aufhält, aus zwingenden humanitären Gründen – gegebenenfalls aufgrund internationalen Schutzes – ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. 63 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der Charta, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert ist. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Wird dagegen eine rechtliche Situation nicht vom Unionsrecht erfasst, ist der Gerichtshof nicht zuständig, um über sie zu entscheiden, und die möglicherweise angeführten Bestimmungen der Charta können als solche keine neue Zuständigkeit begründen (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78, sowie vom 25. Januar 2024, Parchetul de pe lângă Curtea de Apel Craiova u. a., C‑58/22, EU:C:2024:70, Rn. 40). 64 Daher ist zunächst zu prüfen, inwieweit die Situation eines Drittstaatsangehörigen wie die des Klägers des Ausgangsverfahrens unter das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta fallen kann, und sodann festzustellen, ob eine solche Situation nach den Art. 1, 4 oder 7 der Charta impliziert, dass diesem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht zu gewähren ist. 65 Insoweit geht erstens aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes im Sinne der Richtlinie 2011/95 erfüllt, so dass diese Richtlinie auf seine Situation keine Anwendung findet. 66 Zweitens fällt der Kläger des Ausgangsverfahrens – sofern er sich nicht auf einen anderen Aufenthaltstitel für das bulgarische Hoheitsgebiet berufen kann – hingegen in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115, da er sich seit Erlass der Entscheidung, mit der sein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wurde und gegen die er einen Rechtsbehelf beim vorlegenden Gericht eingereicht hat, illegal in diesem Hoheitsgebiet aufhält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 209 und 210). Daraus folgt, dass die Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens dem Unionsrecht unterliegt. 67 Gleichwohl kann keine Bestimmung der Richtlinie 2008/115 dahin ausgelegt werden, dass sie verlangen würde, dass ein Mitgliedstaat einem illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel gewährt. Was insbesondere Art. 6 Abs. 4 dieser Richtlinie anbelangt, so beschränkt sich diese Bestimmung darauf, den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen wegen Vorliegens eines Härtefalls oder aus humanitären Gründen ein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage ihres nationalen Rechts und nicht des Unionsrechts zu gewähren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 85 und 86). 68 Nach Art. 51 Abs. 2 der Charta erweitern deren Bestimmungen jedoch nicht den Geltungsbereich des Unionsrechts. Daher kann nicht angenommen werden, dass ein Mitgliedstaat nach den Art. 1, 4 oder 7 der Charta verpflichtet sein könnte, einem Drittstaatsangehörigen, der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fällt, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 87). Die mehr oder weniger lange Dauer des Aufenthalts dieses Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ist insoweit unerheblich. 69 Drittens fällt ein Drittstaatsangehöriger, der sich in einer Situation wie der des Klägers des Ausgangsverfahrens befindet, selbst wenn er sich illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält, auch in den Anwendungsbereich der Richtlinien 2013/32 und 2013/33, solange das vorlegende Gericht noch nicht über die Klage entschieden hat, die er gegen die Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz erhoben hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 207 und 208). 70 Nach Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 wird den Personen, die internationalen Schutz beantragen, vorbehaltlich der in Art. 41 Abs. 1 und in Art. 46 Abs. 6 dieser Richtlinie vorgesehenen Fälle, bis zur Entscheidung über den von ihnen gegen die Ablehnung des Antrags eingelegten Rechtsbehelf gestattet, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verbleiben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 282). 71 Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens, obwohl sein Antrag auf internationalen Schutz einen Folgeantrag darstellt, im vorliegenden Fall über das Recht verfügt, bis zur Entscheidung über den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsbehelf im bulgarischen Hoheitsgebiet zu verbleiben. 72 Wie in Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 ausdrücklich klargestellt wird, stellt ein solches Recht auf Verbleib im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats indes kein Recht auf einen Aufenthaltstitel dar. Daher kann aus Gründen, die den in Rn. 68 des vorliegenden Urteils dargelegten entsprechen, keine Bestimmung der Charta einen Mitgliedstaat verpflichten, einer Person, die internationalen Schutz beantragt, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, das über den Umfang der sich aus Art. 46 Abs. 5 dieser Richtlinie ableitenden Erlaubnis zum Verbleib im Hoheitsgebiet hinausgeht. 73 Als Zweites ist jedoch zum einen hinzuzufügen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. b und d der Richtlinie 2008/115 so weit wie möglich sicherstellen müssen, dass, solange die Abschiebung des betreffenden Drittstaatsangehörigen aufgeschoben ist, die medizinische Notfallversorgung sowie die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten gewährleistet und die spezifischen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen berücksichtigt werden. 74 Darüber hinaus sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Umsetzung der Richtlinie 2008/115 das Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung, wie es sich aus Art. 4 der Charta ergibt, zu beachten. Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten auch dafür Sorge tragen müssen, dass sich ein illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger, solange er nicht aus diesem Hoheitsgebiet abgeschoben wurde, nicht in einer Situation befindet, die Art. 4 der Charta verbietet. 75 Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass dieser Art. 4 missachtet würde, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 92, sowie vom 16. Juli 2020, Addis, C‑517/17, EU:C:2020:579, Rn. 51). 76 Zum anderen kommt eine Person, die internationalen Schutz beantragt und in dieser Eigenschaft im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verbleiben darf, in den Genuss der in der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Aufnahmebedingungen, solange über ihren Antrag noch nicht endgültig entschieden wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 284 bis 286). 77 Sollte LF im vorliegenden Fall über ein solches Recht verfügen, sich bis zur Entscheidung über den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsbehelf im bulgarischen Hoheitsgebiet aufzuhalten, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, müsste er daher auch in den Genuss der in der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Aufnahmebedingungen kommen, solange über diesen Rechtsbehelf noch nicht endgültig entschieden wurde. 78 Selbst wenn die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen auf der Grundlage von Art. 20 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie eingeschränkt oder entzogen werden sollten, weil es sich bei dem Antrag auf internationalen Schutz, der dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegt, um einen Folgeantrag handelt, würde Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie diesem Antragsteller in jedem Fall im Rahmen der Aufnahme gewährte Mindestleistungen gewährleisten, die es ihm ermöglichen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. 79 Nach alledem ist auf die vierte und die sechste Frage zu antworten, dass die Art. 1, 4 und 7 der Charta in Verbindung mit der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, einem Drittstaatsangehörigen, der sich derzeit illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhält, aus zwingenden humanitären Gründen – unabhängig von der Dauer des Aufenthalts dieses Drittstaatsangehörigen in diesem Hoheitsgebiet – ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Solange er nicht abgeschoben worden ist, kann sich der Drittstaatsangehörige jedoch auf die ihm sowohl in der Charta als auch in Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie garantierten Rechte berufen. Zudem kann sich der Drittstaatsangehörige, wenn er auch über die Eigenschaft einer Person verfügt, die internationalen Schutz beantragt und im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verbleiben darf, auch auf die in der Richtlinie 2013/33 verankerten Rechte berufen. Kosten 80 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Drittstaatsangehörigen aus Gründen, die keinen Zusammenhang mit der allgemeinen Systematik und den Zielen dieser Richtlinie aufweisen, ein Aufenthaltsrecht zu gewähren, sofern sich dieses Aufenthaltsrecht klar von dem nach dieser Richtlinie gewährten internationalen Schutz unterscheidet. 2. Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der nicht in der Lage ist, einen Drittstaatsangehörigen innerhalb der gemäß Art. 8 dieser Richtlinie festgelegten Fristen abzuschieben, diesem Drittstaatsangehörigen eine schriftliche Bestätigung darüber ausstellen muss, dass die ihn betreffende Rückkehrentscheidung, obwohl er sich illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält, vorläufig nicht vollstreckt wird. 3. Die Art. 1, 4 und 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit der Richtlinie 2008/115 sind dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, einem Drittstaatsangehörigen, der sich derzeit illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhält, aus zwingenden humanitären Gründen – unabhängig von der Dauer des Aufenthalts dieses Drittstaatsangehörigen in diesem Hoheitsgebiet – ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Solange er nicht abgeschoben worden ist, kann sich der Drittstaatsangehörige jedoch auf die ihm sowohl in der Charta der Grundrechte als auch in Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie garantierten Rechte berufen. Zudem kann sich der Drittstaatsangehörige, wenn er auch über die Eigenschaft einer Person verfügt, die internationalen Schutz beantragt und im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verbleiben darf, auch auf die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, verankerten Rechte berufen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Bulgarisch. (i ) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.
Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 24. Mai 2023.#Siarhei Gusachenka gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Belarus – Einfrieren von Geldern – Beschränkung der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – Aufnahme des Namens des Klägers in die Listen der betroffenen Personen, Organisationen und Einrichtungen – Beurteilungsfehler – Verhältnismäßigkeit – Freiheit der Meinungsäußerung.#Rechtssache T-579/21.
62021TJ0579
ECLI:EU:T:2023:285
2023-05-24T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62021TJ0579 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62021TJ0579 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62021TJ0579 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 9. Juni 2022.#EP gegen Préfet du Gers und Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE).#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal judiciaire d’Auch.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – In einem Mitgliedstaat wohnhafter Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland – Art. 9 EUV – Art. 20 und 22 AEUV – Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen im Wohnmitgliedstaat – Art. 50 EUV – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft – Folgen des Austritts eines Mitgliedstaats aus der Union – Streichung in den Wahlverzeichnissen im Wohnmitgliedstaat – Art. 39 und 40 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gültigkeit des Beschlusses (EU) 2020/135.#Rechtssache C-673/20.
62020CJ0673
ECLI:EU:C:2022:449
2022-06-09T00:00:00
Gerichtshof, Collins
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62020CJ0673 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 9. Juni 2022 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – In einem Mitgliedstaat wohnhafter Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland – Art. 9 EUV – Art. 20 und 22 AEUV – Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen im Wohnmitgliedstaat – Art. 50 EUV – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft – Folgen des Austritts eines Mitgliedstaats aus der Union – Streichung in den Wahlverzeichnissen im Wohnmitgliedstaat – Art. 39 und 40 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Gültigkeit des Beschlusses (EU) 2020/135“ In der Rechtssache C‑673/20 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal judiciaire d’Auch (Ordentliches Gericht Auch, Frankreich) mit Entscheidung vom 17. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Dezember 2020, in dem Verfahren EP gegen Préfet du Gers, Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE), Beteiligter: Maire de Thoux, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, S. Rodin und N. Jääskinen (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin I. Ziemele und des Kammerpräsidenten J. Passer, der Richter F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi und der Richter N. Wahl und D. Gratsias, Generalanwalt: A. M. Collins, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von EP, vertreten durch J. Fouchet und J.‑N. Caubet-Hilloutou, Avocats, – der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères, D. Dubois und T. Stéhelin als Bevollmächtigte, – der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und A. Wellman als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch J. Ciantar, R. Meyer und M. Bauer als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti, H. Krämer, C. Giolito und A. Spina als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Februar 2022 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 EUV, der Art. 18, 20 und 21 AEUV, der Art. 39 und 40 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Art. 2, 3, 10, 12 und 127 des am 17. Oktober 2019 angenommenen und am 1. Februar 2020 in Kraft getretenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7) (im Folgenden: Austrittsabkommen oder Abkommen) sowie die Gültigkeit dieses Abkommens. 2 Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen EP, einer Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die seit 1984 in Frankreich wohnt, auf der einen Seite und dem Préfet du Gers (Präfekt des Departement Gers, Frankreich) und dem Institut national de la statistique et des études économique (Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsplanung, INSEE, Frankreich) auf der anderen Seite über die Streichung von EP in den Wählerverzeichnissen in Frankreich und die Ablehnung ihrer erneuten Eintragung in das betreffende zusätzliche Wählerverzeichnis. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht EU-Vertrag und AEU-Vertrag 3 Art. 9 EUV bestimmt: „… Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.“ 4 Art. 50 EUV sieht vor: „(1)   Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten. (2)   Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 [AEUV] ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. (3)   Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern. …“ 5 Art. 18 Abs. 1 AEUV lautet: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“ 6 In Art. 20 AEUV heißt es: „(1)   Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht. (2)   Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem … b) in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats“. 7 Art. 21 Abs. 1 AEUV bestimmt: „Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.“ 8 In Art. 22 AEUV heißt es: „(1)   Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. … (2)   … [J]eder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, [besitzt] in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. …“ Charta 9 Art. 39 („Aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament“) der Charta bestimmt in Abs. 1: „Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besitzen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.“ 10 Art. 40 („Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen“) der Charta lautet: „Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger besitzen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.“ Austrittsabkommen 11 Das Austrittsabkommen wurde durch den Beschluss (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 (ABl. 2020, L 29, S. 1) im Namen der Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) genehmigt. 12 Der vierte, der sechste und der achte Absatz der Präambel dieses Abkommens lauten: „eingedenk dessen, dass nach Artikel 50 [EUV] in Verbindung mit Artikel 106a [EA] und vorbehaltlich der Regelungen in diesem Abkommen das Recht der Union und der Euratom in seiner Gesamtheit ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens auf das Vereinigte Königreich keine Anwendung mehr findet, … in der Erkenntnis, dass es notwendig ist, einen beiderseitigen Schutz für Unionsbürger und britische Staatsangehörige sowie ihre jeweiligen Familienangehörigen vorzusehen, wenn sie vor einem in diesem Abkommen festgesetzten Tag ihre Freizügigkeitsrechte ausgeübt haben, und zu gewährleisten, dass ihre Rechte nach diesem Abkommen durchsetzbar sind und auf dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung beruhen; ferner in der Erkenntnis, dass Rechte, die sich aus Sozialversicherungszeiten ergeben, geschützt werden sollten, … in der Erwägung, dass es sowohl im Interesse der Union als auch im Interesse des Vereinigten Königreichs liegt, einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum festzulegen, in dem – ungeachtet aller Folgen des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union für die Beteiligung des Vereinigten Königreichs an den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, insbesondere des Endes der Amtszeit der im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Union benannten, ernannten oder gewählten Mitglieder der Organe, Einrichtungen und Agenturen der Union am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens – das Unionsrecht, einschließlich der internationalen Übereinkünfte, auf das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich und in der Regel mit gleicher Wirkung wie in Bezug auf die Mitgliedstaaten Anwendung finden sollte, um Störungen in dem Zeitraum zu vermeiden, in dem das oder die Abkommen über die künftigen Beziehungen ausgehandelt werden“. 13 Teil Eins („Gemeinsame Bestimmungen“) dieses Abkommens umfasst dessen Art. 1 bis 8. In Art. 2 Buchst. c bis e des Abkommens heißt es: „Für die Zwecke dieses Abkommens bezeichnet der Ausdruck … c) ‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt; d) ‚britischer Staatsangehöriger‘ einen Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs im Sinne der Neuen Erklärung der Regierung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland vom 31. Dezember 1982 über die Bestimmung des Begriffs ‚Staatsangehörige‘ … in Verbindung mit der Erklärung Nr. 63 … im Anhang der Schlussakte der Regierungskonferenz, auf der der Vertrag von Lissabon angenommen wurde; e) ‚Übergangszeitraum‘ den in Artikel 126 vorgesehenen Zeitraum“. 14 Teil Zwei („Rechte der Bürger“) des Austrittsabkommens umfasst dessen Art. 9 bis 39. In Art. 9 Buchst. c und d des Abkommens heißt es: „Für die Zwecke dieses Teils und unbeschadet des Titels III bezeichnet der Ausdruck … c) ‚Aufnahmestaat‘: i) im Falle von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Vereinigte Königreich, wenn sie dort vor Ende des Übergangszeitraums ihr Aufenthaltsrecht im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und danach weiter dort wohnen; ii) im Falle von britischen Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen den Mitgliedstaat, in dem sie vor Ende des Übergangszeitraums ihr Aufenthaltsrecht im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und in dem sie danach weiter wohnen; d) ‚Arbeitsstaat‘: i) im Falle von Unionsbürgern das Vereinigte Königreich, wenn sie dort vor Ende des Übergangszeitraums eine wirtschaftliche Tätigkeit als Grenzgänger ausgeübt haben und danach weiter ausüben; ii) im Falle von britischen Staatsangehörigen einen Mitgliedstaat, in dem sie vor Ende des Übergangszeitraums eine wirtschaftliche Tätigkeit als Grenzgänger ausgeübt haben und danach weiter ausüben“. 15 Art. 10 („Persönlicher Anwendungsbereich“) des Abkommens sieht vor: „(1)   Dieser Teil gilt unbeschadet des Titels III für die folgenden Personen: a) Unionsbürger, die ihr Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und danach weiter dort wohnen; b) britische Staatsangehörige, die ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben und danach weiter dort wohnen; …“ 16 Art. 12 („Diskriminierungsverbot“) des Austrittsabkommens lautet: „Im Anwendungsbereich dieses Teils ist unbeschadet darin enthaltender besonderer Bestimmungen jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Sinne des Artikels 18 Absatz 1 AEUV in Bezug auf die in Artikel 10 dieses Abkommens genannten Personen im Aufnahmestaat und im Arbeitsstaat verboten.“ 17 In den Art. 13 bis 39 dieses Abkommens ist geregelt, welche Rechte den in Teil Zwei des Abkommens genannten Personen zustehen. 18 Art. 126 („Übergangszeitraum“) des Abkommens bestimmt: „Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet.“ 19 Art. 127 („Anwendungsbereich für den Übergang“) des Austrittsabkommens sieht vor: „(1)   Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, gilt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich. Die nachstehenden Bestimmungen der Verträge und Rechtsakte, die von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union erlassen wurden, gelten während des Übergangszeitraums jedoch weder für das Vereinigte Königreich noch im Vereinigten Königreich: … b) Artikel 11 Absatz 4 EUV, Artikel 20 Absatz 2 Buchstabe b, Artikel 22 und Artikel 24 Absatz 1 AEUV, Artikel 39 und 40 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie die auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Rechtsakte. … (6)   Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, schließen während des Übergangszeitraums alle Bezugnahmen auf Mitgliedstaaten in dem nach Absatz 1 geltenden Unionsrecht, einschließlich der Durchführung und Anwendung durch die Mitgliedstaaten, das Vereinigte Königreich ein.“ 20 Gemäß Art. 185 des Abkommens trat dieses am 1. Februar 2020 in Kraft. Außerdem ergibt sich aus Abs. 4 dieses Artikels, dass Teil Zwei des Abkommens ab dem Ende des Übergangszeitraums Anwendung findet. Französisches Recht 21 Art. 88-3 der Verfassung vom 4. Oktober 1958 in der Fassung des Verfassungsgesetzes Nr. 93-952 vom 27. Juli 1993 (JORF vom 28. Juli 1993, S. 10600) bestimmt: „Unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit und gemäß den Modalitäten des [EU-Vertrags] kann nur Unionsbürgern mit Wohnsitz in Frankreich das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen gewährt werden. …“ 22 Art. LO 227-1 des Code électoral (Wahlgesetz), eingefügt durch die Loi organique no 98‑404 du 25 mai 1998 déterminant les conditions d’application de l’article 88‑3 de la Constitution relatif à l’exercice par les citoyens de l’Union européenne résidant en France, autres que les ressortissants français, du droit de vote et d’éligibilité aux élections municipales, et portant transposition de la directive 94/80/CE du 19 décembre 1994 (Organgesetz Nr. 98-404 vom 25. Mai 1998 zur Festlegung der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 88-3 der Verfassung über die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen durch in Frankreich wohnhafte Bürger der Europäischen Union, die nicht die französische Staatsangehörigkeit besitzen, und zur Umsetzung der Richtlinie 94/80/EG vom 19. Dezember 1994 (JORF vom 26. Mai 1998, S. 7975), bestimmt: „Unionsbürger mit Wohnsitz in Frankreich, die nicht die französische Staatsangehörigkeit besitzen, können vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Abschnitts unter den gleichen Voraussetzungen wie französische Wähler an den Wahlen zu den Gemeinderäten teilnehmen. Die in Absatz 1 genannten Personen werden so behandelt, als hätten sie ihren Wohnsitz in Frankreich, wenn sie dort ihren tatsächlichen Wohnsitz haben oder sich ständig dort aufhalten. …“ 23 Art. LO 227-2 des Wahlgesetzes sieht vor: „Um ihr Wahlrecht ausüben zu können, müssen die in Artikel LO 227-1 genannten Personen auf Antrag in ein zusätzliches Wählerverzeichnis eingetragen sein. Sie können ihre Eintragung beantragen, wenn sie in ihrem Herkunftsstaat wahlberechtigt sind und außer der französischen Staatsangehörigkeit die rechtlichen Voraussetzungen für die Wahlberechtigung und Eintragung in ein Wählerverzeichnis in Frankreich erfüllen.“ 24 Nach Art. L 16 Abs. III Nr. 2 des Wahlgesetzes ist das INSEE für die Streichung verstorbener Wähler und nicht mehr wahlberechtigter Wähler aus dem einheitlichen Wählerverzeichnis zuständig. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 25 EP, eine Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, wohnt seit 1984 in Frankreich und ist mit einem französischen Staatsangehörigen verheiratet. Sie hat die französische Staatsangehörigkeit nicht beantragt oder erlangt. 26 Nach dem Inkrafttreten des Austrittsabkommens am 1. Februar 2020 wurde EP mit Wirkung von diesem Zeitpunkt in den Wählerverzeichnissen in Frankreich gestrichen. Sie konnte daher nicht an den Kommunalwahlen vom 15. März 2020 teilnehmen. 27 Am 6. Oktober 2020 beantragte EP ihre Wiedereintragung in das zusätzliche Wählerverzeichnis für nicht französische Unionsbürger. 28 Mit Bescheid vom 7. Oktober 2020 lehnte der Bürgermeister der Gemeinde Thoux (Frankreich) diesen Antrag ab. 29 Am 9. November 2020 erhob EP beim vorlegenden Gericht Klage gegen diese Entscheidung. 30 Vor dem vorlegenden Gericht weist EP darauf hin, dass sie im Vereinigten Königreich kein aktives und passives Wahlrecht mehr habe, weil ein Angehöriger dieses Staates, der seit mehr als 15 Jahren im Ausland wohne, nicht mehr zur Teilnahme an den Wahlen in diesem Staat berechtigt sei (im Folgenden: 15‑Jahre-Regel). 31 Sie befinde sich daher in einer anderen Lage als derjenigen, in Bezug auf die die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) entschieden habe, dass der Verlust der Unionsbürgerschaft die bürgerlichen und politischen Rechte des Betroffenen nicht unverhältnismäßig beeinträchtige, da dieser beim Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union und bei den 2019 in diesem Staat abgehaltenen Parlamentswahlen habe abstimmen können. Dies sei bei ihr jedoch nicht der Fall. 32 Der in Art. 20 AEUV vorgesehene Verlust des Unionsbürgerstatus könne keine automatische Folge des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union sein. Er verstoße gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit und stelle auch eine Diskriminierung zwischen Unionsbürgern und eine Beeinträchtigung ihrer Freizügigkeit dar. 33 Der Bürgermeister der Gemeinde Thoux weist darauf hin, dass die einschlägigen nationalen Vorschriften es nicht zuließen, EP in die Wählerverzeichnisse einzutragen. 34 Der Präfekt des Departement Gers beantragt, die Klage abzuweisen. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 1. Februar 2020 habe dazu geführt, dass die Angehörigen dieses Staates das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunal- und Europawahlen in Frankreich verloren hätten und das INSEE Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs wie EP, die nicht auch die französische Staatsangehörigkeit besäßen, von Amts wegen in den zusätzlichen Wählerverzeichnissen streichen müsse. 35 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass EP nirgends mehr wahlberechtigt sei, da sie aufgrund der 15‑Jahre-Regel bei den Wahlen im Vereinigten Königreich nicht abstimmen dürfe und nach Art. 127 des Austrittsabkommens auch das Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen in Frankreich verloren habe. 36 Die Anwendung der Bestimmungen dieses Abkommens auf EP stelle einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihr Grundrecht, das Wahlrecht, dar. 37 Unter diesen Umständen hat das Tribunal judiciaire d’Auch (Ordentliches Gericht Auch) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind Art. 50 AEUV und das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie die Unionsbürgerschaft der Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs aufheben, die vor Ende des Übergangszeitraums von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und niederzulassen, insbesondere solcher, die seit über 15 Jahren in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaft sind, unter die britische „15‑Jahre-Regel“ fallen und folglich jegliches Wahlrecht verlieren? 2. Wenn diese Frage bejaht wird: Ist aufgrund des Zusammenspiels der Art. 2, 3, 10, 12 und 127 des Austrittsabkommens, Nr. 6 seiner Präambel und der Art. 18, 20 und 21 AEUV davon auszugehen, dass diese Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs die Rechte aus der Unionsbürgerschaft, die sie vor dem Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union innehatten, ohne Einschränkung behalten? 3. Falls die zweite Frage verneint wird: Ist das Austrittsabkommen nicht teilweise ungültig, da es gegen Grundsätze verstößt, die Teil der Identität der Europäischen Union sind, insbesondere gegen die Art. 18, 20 und 21 AEUV, aber auch gegen die Art. 39 und 40 der Charta, und verkennt es nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, soweit es keine Bestimmung enthält, die es den Staatsbürgern des Vereinigten Königreichs erlaubt, ihre Rechte ohne Einschränkung zu behalten? 4. Ist Art. 127 Abs. 1 Buchst. b des Austrittsabkommens nicht jedenfalls teilweise ungültig, da er gegen die Art. 18, 20 und 21 AEUV und auch gegen die Art. 39 und 40 der Charta verstößt, soweit er den Unionsbürgern, die von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, sich im Vereinigten Königreich frei zu bewegen und niederzulassen, das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in diesem Land nimmt und, falls das Gericht und der Gerichtshof dies genauso sehen wie der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich), erstreckt sich dieser Verstoß nicht auf die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die von ihrer Freizügigkeit und ihrer Niederlassungsfreiheit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats seit mehr als 15 Jahren Gebrauch gemacht haben, unter die 15‑Jahre-Regel fallen und folglich jegliches Wahlrecht verlieren? Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens 38 Mit Schriftsatz, der am 15. April 2022 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat EP beantragt, nach Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs das mündliche Verfahren wiederzueröffnen. 39 Diesen Antrag hat sie damit begründet, dass sich der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) in einem Urteil vom 22. März 2022 in einer Rechtssache, die mit derjenigen des Ausgangsverfahrens vergleichbar sei, zu den Folgen des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union für den Status der in Frankreich wohnenden Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs im Hinblick auf die Vorschriften über die Unionsbürgerschaft geäußert habe, ohne das Urteil des Gerichtshofs im vorliegenden Verfahren abzuwarten. Sie sei auch mit den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 24. Februar 2022 nicht einverstanden, in denen zudem auf mehrere ihrer Argumente nicht eingegangen worden sei. 40 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und seine Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). 41 Zum anderen stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Es handelt sich somit nicht um eine an die Richter oder die Parteien gerichtete Stellungnahme, die von einer Behörde außerhalb des Gerichtshofs herrührt, sondern um die individuelle, begründete und öffentlich dargelegte Auffassung eines Mitglieds des Organs selbst. Die Schlussanträge des Generalanwalts können daher von den Parteien nicht erörtert werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Sumal, C‑882/19, EU:C:2021:800, Rn. 21). Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an deren Begründung gebunden. Dass ein Beteiligter nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 16. November 2021, Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a., C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:931, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Zwar kann der Gerichtshof gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist. 43 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof jedoch nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er über alle erforderlichen Angaben verfügt, um über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zu entscheiden. Die von EP zur Stützung ihres Antrags auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens vorgebrachten Gesichtspunkte einschließlich der angeführten nationalen Entscheidung stellen keine neuen Tatsachen dar, die für die vom Gerichtshof zu erlassende Entscheidung von Bedeutung wären. 44 Demnach ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen. Zu den Vorlagefragen Zur ersten und zur zweiten Frage 45 Mit der ersten und der zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 9 und 50 EUV und die Art. 20 bis 22 AEUV in Verbindung mit dem Austrittsabkommen dahin auszulegen sind, dass die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 1. Februar 2020 nicht mehr den Unionsbürgerstatus und insbesondere das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV besitzen, und zwar auch dann nicht, wenn sie nach dem Recht des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, auch das Wahlrecht bei den Wahlen in diesem Staat verloren haben. 46 Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Unionsbürgerschaft den Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats erfordert. 47 Nach Art. 9 EUV und Art. 20 Abs. 1 AEUV müssen Unionsbürger nämlich die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich ferner, dass die Unionsbürgerschaft zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzutritt und sie nicht ersetzt. 48 Mit Art. 9 EUV und Art. 20 AEUV haben die Verfasser der Verträge somit einen untrennbaren und ausschließlichen Zusammenhang zwischen dem Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und dem Erwerb, aber auch der Erhaltung des Unionsbürgerstatus geschaffen. 49 Unter diesem Blickwinkel hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 20 AEUV jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers verleiht, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteil vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Art. 20 Abs. 2 sowie die Art. 21 und 22 AEUV knüpfen eine Reihe von Rechte an den Unionsbürgerstatus. Die Unionsbürgerschaft verleiht u. a. jedem Unionsbürger ein elementares, persönliches Recht, sich vorbehaltlich der im Vertrag vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen und der Maßnahmen zu ihrer Durchführung frei im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Bei Unionsbürgern, die in einem Mitgliedstaat wohnen, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, umfassen diese Rechte nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, wobei für sie dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des Wohnmitgliedstaats. Dieses Recht ist auch in Art. 40 der Charta verankert. Keine dieser Bestimmungen sieht dieses Recht dagegen für Drittstaatsangehörige vor. 52 Wie die Kommission ausgeführt hat, ist der Umstand, dass eine Privatperson zu einem Zeitpunkt, zu dem der Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, Mitgliedstaat war, von ihrem Recht Gebrauch gemacht hat, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten, daher nicht geeignet, ihr den Unionsbürgerstatus und sämtliche nach dem AEU-Vertrag damit verbundenen Rechte zu erhalten, wenn sie aufgrund des Austritts ihres Herkunftsstaats aus der Union nicht mehr die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. 53 Zweitens ist zu den Folgen des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union für die Staatsangehörigen dieses Staates festzustellen, dass nach Art. 50 Abs. 1 EUV jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen kann, aus der Union auszutreten. Daraus folgt, dass der betreffende Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, seinen Beschluss in Abstimmung mit den übrigen Mitgliedstaaten oder mit den Unionsorganen zu fassen. Der Austrittsbeschluss beruht allein auf dem Willen dieses Mitgliedstaats, den er unter Beachtung seiner verfassungsrechtlichen Vorschriften bildet, und hängt somit allein von seiner souveränen Entscheidung ab (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 50). 54 Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, sieht Art. 50 Abs. 2 und 3 EUV das bei einem Austrittsbeschluss zu befolgende Verfahren vor, das Folgendes umfasst: erstens die Mitteilung der Austrittsabsicht an den Europäischen Rat, zweitens die Aushandlung und den Abschluss eines Abkommens über die Einzelheiten des Austritts, wobei den künftigen Beziehungen zwischen dem betreffenden Staat und der Union Rechnung getragen wird, und drittens den eigentlichen Austritt aus der Union zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Abkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der Mitteilung an den Europäischen Rat, es sei denn, dieser beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, die Frist zu verlängern (Urteil vom 16. November 2021, Governor of Cloverhill Prison u. a., C‑479/21 PPU, EU:C:2021:929, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Folglich finden die Verträge nach Art. 50 Abs. 3 EUV ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens am 1. Februar 2020 auf das Vereinigte Königreich keine Anwendung mehr, so dass dieser Staat seit diesem Tag kein Mitgliedstaat mehr ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 16. Juni 2021, Sharpston/Rat und Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, C‑685/20 P, EU:C:2021:485, Rn. 53). 56 Die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs besitzen daher seit dem 1. Februar 2020 nicht mehr die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, sondern die eines Drittstaats. 57 Der Besitz der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats ist jedoch, wie sich aus den Rn. 46 bis 51 des vorliegenden Urteils ergibt, eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass eine Person den Unionsbürgerstatus erlangen und behalten und sämtliche damit verbundenen Rechte in Anspruch nehmen kann. Der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats hat somit für die betroffene Person den automatischen Verlust ihres Unionsbürgerstatus zur Folge. 58 Da Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs seit dem 1. Februar 2020 Drittstaatsangehörige sind, haben sie demnach zu diesem Zeitpunkt den Unionsbürgerstatus verloren. Folglich besitzen sie nicht mehr das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV. Insoweit ist unerheblich, ob sie zuvor ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben. 59 Zu den Bedenken des vorlegenden Gerichts in Bezug auf die – seiner Ansicht nach unverhältnismäßigen – Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus für einen Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs wie EP, der nach der 15‑Jahre-Regel außerdem das Wahlrecht im Vereinigten Königreich verliert, ist zum einen festzustellen, dass der von diesem Staatsangehörigen erlittene Verlust dieses Status und, damit verbunden, des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen im Wohnmitgliedstaat, wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine automatische Folge allein des vom Vereinigten Königreich gemäß Art. 50 Abs. 1 EUV souverän gefassten Beschlusses ist, aus der Union auszutreten. 60 Was zum anderen die 15-Jahre-Regel betrifft, entspricht diese einer von diesem ehemaligen Mitgliedstaat und nunmehrigen Drittstaat getroffenen Entscheidung in Bezug auf das Wahlrecht. 61 Unter diesen Umständen können weder die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten noch deren Gerichte verpflichtet sein, im Einzelfall die Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus für die betroffene Person anhand des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu prüfen. 62 Insoweit ist hervorzuheben, dass der Verlust des Unionsbürgerstatus und des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen im Wohnmitgliedstaat der betroffenen Person die automatische Folge eines von einem ehemaligen Mitgliedstaat nach Art. 50 Abs. 1 EUV souverän gefassten Beschlusses ist, aus der Union auszutreten und damit ein Drittstatt zu werden. Die Rechtssachen, in denen der Gerichtshof die Pflicht vorgesehen hat, im Einzelfall die Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der Unionsbürgerschaft zu prüfen, bezogen sich jedoch auf spezifische unter das Unionsrecht fallende Situationen, in denen ein Mitgliedstaat Einzelnen ihre Staatsangehörigkeit entzogen hatte, und zwar durch eine gesetzliche Maßnahme (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 48) oder durch eine Einzelentscheidung seiner zuständigen Behörden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 42, und vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 74). Die sich aus diesen verschiedenen Urteilen ergebende Rechtsprechung ist daher nicht auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens übertragbar. 63 Was drittens die Frage betrifft, ob das Austrittsabkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union und damit über sein Inkrafttreten am 1. Februar 2020 hinaus für die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat aufrechterhält, ist festzustellen, dass dieses Abkommen nichts enthält, was den Schluss zuließe, dass es diesen Staatsangehörigen ein solches Recht verleiht. 64 Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass nach dem vierten Absatz der Präambel des Austrittsabkommens das Recht der Union in seiner Gesamtheit vorbehaltlich allein der Regelungen in diesem Abkommen ab dem Tag von dessen Inkrafttreten auf das Vereinigte Königreich keine Anwendung mehr findet. 65 Was diese Regelungen betrifft, die einen geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs ermöglichen sollten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 56), unterscheidet das Austrittsabkommen zwischen zwei Zeiträumen. 66 Zum einen sieht das Abkommen gemäß Art. 2 Buchst. e in Verbindung mit Art. 126 einen Übergangszeitraum vom 1. Februar bis zum 31. Dezember 2020 vor. 67 Insoweit stellt Art. 127 Abs. 1 des Abkommens den auch im achten Absatz der Präambel genannten Grundsatz auf, dass das Unionsrecht während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich weiterhin galt. In Abweichung von diesem Grundsatz schließt Art. 127 Abs. 1 Buchst. b des Abkommens allerdings ausdrücklich die Geltung von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV sowie der Art. 39 und 40 der Charta, d. h. der primärrechtlichen Unionsbestimmungen über das aktive und passive Wahlrecht der Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat, für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich aus. 68 Zwar betrifft dieser Ausschluss, wie EP geltend macht, nach Art. 127 Abs. 1 Buchst. b des Austrittsabkommens das Vereinigte Königreich und sein Hoheitsgebiet, wie es in Art. 3 Abs. 1 des Abkommens, der dessen räumlichen Geltungsbereich regelt, definiert ist, ohne sich ausdrücklich auf die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs zu beziehen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass dieser Ausschluss auch für die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs gilt, die ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben. 69 Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens ist nämlich in Verbindung mit dessen Art. 127 Abs. 6 zu lesen. 70 Aus letzterer Bestimmung geht aber hervor, dass die Bestimmungen des Unionsrechts, die nach Art. 127 Abs. 1 Buchst. b des Abkommens nicht gelten, bei ihrer Durchführung und Anwendung durch die Mitgliedstaaten dahin zu verstehen sind, dass sie das Vereinigte Königreich nicht in ihren Anwendungsbereich einbeziehen. Zu diesen Bestimmungen gehören Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV sowie die Art. 39 und 40 der Charta, die das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen betreffen. Dieses Recht ist den Unionsbürgern, die in einem Mitgliedstaat wohnen, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, vorbehalten, wobei nach Art. 20 Abs. 1 AEUV Unionsbürger „ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“. 71 Folglich waren die Mitgliedstaaten ab dem 1. Februar 2020 nicht mehr dazu verpflichtet, Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs für die Zwecke der Anwendung von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV sowie der Art. 39 und 40 der Charta den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats gleichzustellen, und damit auch nicht dazu, den in ihrem Hoheitsgebiet wohnenden Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen zuzuerkennen, das nach diesen Bestimmungen Personen verliehen wird, die als Staatsangehörige eines Mitgliedstaats den Unionsbürgerstatus besitzen. 72 Jedenfalls würde eine gegenteilige Auslegung von Art. 127 Abs. 1 Buchst. b des Austrittsabkommens, die dessen Anwendung auf das Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs und damit auf Unionsbürger beschränken würde, die während des Übergangszeitraums ihren Wohnsitz in diesem Staat hatten, zu einer Asymmetrie zwischen den Rechten führen, die das Abkommen den Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs bzw. den Unionsbürgern einräumt. Eine solche Asymmetrie widerspräche aber dem im sechsten Absatz der Präambel genannten Ziel des Abkommens, einen beiderseitigen Schutz für Unionsbürger und Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihre jeweiligen Freizügigkeitsrechte ausgeübt haben, zu gewährleisten. 73 Was zum anderen den Zeitraum betrifft, der mit dem Ende des Übergangszeitraums am 1. Januar 2021 begonnen hat, enthält das Austrittsabkommen in Teil Zwei Vorschriften, die wechselseitig und in gleicher Weise die Lage der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. a bzw. b des Abkommens genannten Unionsbürger und Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihre Freizügigkeitsrechte ausgeübt haben, absichern sollen. 74 Diese Vorschriften, die gemäß Art. 185 Abs. 4 des Abkommens ab dem Ende des Übergangszeitraums Anwendung finden, sollen, wie in Rn. 72 des vorliegenden Urteils ausgeführt, einen beiderseitigen Schutz für die in der vorstehenden Randnummer genannten Unionsbürger und Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs gewährleisten. Sie regeln in den Art. 13 bis 39 des Austrittsabkommens die Aufenthaltsrechte, die Rechte von Arbeitnehmern und Selbständigen, die Berufsqualifikationen und die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. 75 Zu diesen in Teil Zwei des Abkommens ausdrücklich genannten Rechten gehört jedoch, ebenso wie dies in Art. 127 Abs. 1 Buchst. b des Abkommens hinsichtlich des Übergangszeitraums vorgesehen ist, nicht das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen im Wohnmitgliedstaat für Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, die ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Union vor Ende des Übergangszeitraums ausgeübt haben und danach weiter dort wohnen. 76 In diesem Zusammenhang ist außerdem klarzustellen, dass sich das in Art. 12 des Austrittsabkommens vorgesehene Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Sinne von Art. 18 Abs. 1 AEUV in Bezug auf die in Art. 10 dieses Abkommens genannten Personen im Aufnahmestaat im Sinne von Art. 9 Buchst. c des Abkommens und im Arbeitsstaat im Sinne von Art. 9 Buchst. d des Abkommens schon nach dem Wortlaut dieses Art. 12 auf Teil Zwei des Abkommens bezieht. 77 Das aktive und passive Wahlrecht der in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b des Austrittsabkommens genannten Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs bei den Kommunalwahlen im Wohnmitgliedstaat fällt jedoch nicht in den Anwendungsbereich von Teil Zwei des Abkommens. Somit kann sich ein Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs wie EP, der sein Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt hat und danach weiter dort wohnt, nicht auf dieses Diskriminierungsverbot berufen, um das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in seinem Wohnmitgliedstaat zu beanspruchen, das er infolge der souveränen Entscheidung des Vereinigten Königreichs, aus der Union auszutreten, verloren hat. 78 An diese Erwägungen anschließend ist außerdem daran zu erinnern, dass Art. 18 Abs. 1 AEUV im Fall einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen keine Anwendung findet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 79 Desgleichen ist zu Art. 21 AEUV festzustellen, dass dieser Artikel in seinem Abs. 1 das Recht jedes Unionsbürgers vorsieht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, und dass er, wie aus Art. 20 Abs. 1 AEUV hervorgeht, für jede Person gilt, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, so dass er nicht auf einen Drittstaatsangehörigen anwendbar ist (Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 41). 80 Soweit Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV nach dem Austrittsabkommen im Übergangszeitraum und danach anwendbar sind, dürfen diese Bestimmungen nicht unter Verstoß gegen den Wortlaut von Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV, Art. 40 der Charta und der Bestimmungen des Austrittsabkommens dahin ausgelegt werden, dass sie auch den Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die nicht mehr die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat verleihen. 81 Daher können Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht dahin ausgelegt werden, dass sie die Mitgliedstaaten verpflichten, nach dem 1. Februar 2020 den in ihrem Hoheitsgebiet wohnenden Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs weiterhin das aktive und passive Wahlrecht bei den in diesem Hoheitsgebiet durchgeführten Kommunalwahlen einzuräumen, das sie den Unionsbürgern einräumen. 82 Diese Auslegung lässt die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt, Drittstaatsangehörigen, die in ihrem Hoheitsgebiet wohnen, unter den von ihnen in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegten Bedingungen das aktive und passive Wahlrecht einzuräumen. 83 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass die Art. 9 und 50 EUV und die Art. 20 bis 22 AEUV in Verbindung mit dem Austrittsabkommen dahin auszulegen sind, dass die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 1. Februar 2020 nicht mehr den Unionsbürgerstatus und insbesondere das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV besitzen, und zwar auch dann nicht, wenn sie nach dem Recht des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, auch das Wahlrecht bei den Wahlen in diesem Staat verloren haben. Zu den Fragen 3 und 4 84 Da die dritte und die vierte Frage die Gültigkeit des Austrittsabkommens betreffen, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof sowohl im Zusammenhang mit einer Nichtigkeitsklage als auch im Zusammenhang mit einem Vorabentscheidungsersuchen dafür zuständig ist, zu beurteilen, ob eine von der Union geschlossene internationale Übereinkunft mit den Verträgen und den Regeln des Völkerrechts vereinbar ist, die die Union gemäß den Verträgen binden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK, C‑266/16, EU:C:2018:118, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 85 Ist der Gerichtshof – wie hier – um Vorabentscheidung über die Gültigkeit einer von der Union geschlossenen internationalen Übereinkunft ersucht worden, ist dieses Ersuchen dahin zu verstehen, dass es sich auf den Rechtsakt der Union bezieht, mit dem der Abschluss dieser internationalen Übereinkunft genehmigt wird. Die vom Gerichtshof vorzunehmende Kontrolle der Gültigkeit dieses Rechtsakts kann sich aber darauf erstrecken, ob der Rechtsakt in Ansehung des Inhalts der in Rede stehenden internationalen Übereinkunft rechtmäßig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK, C‑266/16, EU:C:2018:118, Rn. 50 und 51). 86 Der Abschluss des Austrittsabkommens wurde mit dem Beschluss 2020/135 genehmigt. 87 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, wenn die vom nationalen Gericht in eigener Verantwortung vorgelegten Fragen die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen, grundsätzlich gehalten ist, darüber zu befinden, es sei denn, es sind etwa die in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufgeführten Anforderungen an den Inhalt des Vorabentscheidungsersuchens nicht erfüllt, es ist offensichtlich, dass die Auslegung oder die Beurteilung der Gültigkeit dieser Unionsvorschrift in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, oder das Problem ist hypothetischer Natur (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juni 2019, P. M. u. a., C‑264/18, EU:C:2019:472, Rn. 14 und 15). 88 Dies ist hier, soweit das vorlegende Gericht den Gerichtshof nach der Gültigkeit des Beschlusses 2020/135 fragt, im Hinblick darauf der Fall, dass das Austrittsabkommen Unionsbürgern, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich ausgeübt haben, nicht das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in diesem Staat verleiht und diese Situation in keinem Zusammenhang mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation steht. Ebenso wenig ist Art. 39 der Charta, der sich auf das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament bezieht, für die Beantwortung der dritten und der vierten Frage relevant, da sie das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen betreffen. 89 Daher sind diese beiden Fragen nur insoweit zu beantworten, als sie die Gültigkeit des Beschlusses 2020/135 im Hinblick darauf betreffen, dass das Austrittsabkommen den Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, nicht das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat verleiht. 90 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob der Beschluss 2020/135 im Hinblick auf Art. 9 EUV, die Art. 18, 20 und 21 AEUV sowie Art. 40 der Charta und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ungültig ist, weil das Austrittsabkommen den Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, nicht das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat verleiht. 91 Was erstens die Prüfung der Gültigkeit des Beschlusses 2020/135 im Hinblick auf Art. 9 EUV, die Art. 18, 20, 21 und 22 AEUV sowie Art. 40 der Charta betrifft, ist in den Rn. 55 bis 58 des vorliegenden Urteils festgestellt worden, dass infolge des vom Vereinigten Königreich auf der Grundlage von Art. 50 Abs. 1 EUV souverän gefassten Beschlusses, aus der Union auszutreten, die Verträge nach Art. 50 Abs. 3 EUV ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens am 1. Februar 2020 auf das Vereinigte Königreich keine Anwendung mehr finden, so dass seine Staatsangehörigen seit diesem Tag nicht mehr die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, sondern die eines Drittstaats besitzen. Daraus folgt, dass sie seitdem keine Unionsbürger mehr sind. 92 Wie sich aus den Rn. 46 bis 51 des vorliegenden Urteils ergibt, können sich aber nur Unionsbürger nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV sowie Art. 40 der Charta das Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat beanspruchen. 93 Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschluss 2020/135 gegen Art. 9 EUV, die Art. 20 und 22 AEUV sowie Art. 40 der Charta verstößt, weil das mit ihm genehmigte Austrittsabkommen den Staatsangehörigen dieses ehemaligen Mitgliedstaats und nunmehrigen Drittstaats, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, nicht das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat verleiht. 94 Gleiches gilt im Hinblick auf die Art. 18 und 21 AEUV. 95 In Bezug auf Art. 18 AEUV lässt sich den Erwägungen in den Rn. 78 bis 81 des vorliegenden Urteils entnehmen, dass die sich aus dem mit diesem Beschluss genehmigten Austrittsabkommen ergebende Ungleichbehandlung der in einem Mitgliedstaat wohnhaften Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die seit dem 1. Februar 2020 nicht mehr über das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat verfügen, und der Unionsbürger, die über ein solches Recht verfügen, keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Sinne von Art. 18 Abs. 1 AEUV darstellt. 96 In Bezug auf Art. 21 AEUV lässt sich den Erwägungen in den Rn. 79 bis 82 des vorliegenden Urteils entnehmen, dass die sich aus dem mit diesem Beschluss genehmigten Austrittsabkommen ergebende Entscheidung, für die in einem Mitgliedstaat wohnhaften Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in diesem Mitgliedstaat nach dem 1. Februar 2020 nicht beizubehalten, keine Verletzung von Art. 21 Abs. 1 AEUV darstellt. 97 Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Beschluss 2020/135 gegen die Art. 18 und 21 AEUV verstößt, weil das mit ihm genehmigte Austrittsabkommen für die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die nach dem 1. Februar 2020 weiterhin im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten wohnen, das aktive und passive Wahlrecht bei den dort durchgeführten Kommunalwahlen nicht vorgesehen hat. 98 Was zweitens die Prüfung der Gültigkeit des Beschlusses 2020/135 im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten kein Anhaltspunkt dafür ergibt, dass die Union als Vertragspartei des Austrittsabkommens dadurch die Grenzen ihres Ermessens bei der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen überschritten hätte, dass sie nicht verlangt hat, dass in diesem Abkommen allgemein oder in seinem Art. 127 für die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat vorgesehen wird. 99 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Unionsorgane bei der Gestaltung der auswärtigen Beziehungen über eine große Bandbreite politischer Entscheidungsbefugnisse verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2016, Swiss International Air Lines, C‑272/15, EU:C:2016:993, Rn. 24). In Ausübung ihrer außenpolitischen Prärogative können die Unionsorgane internationale Übereinkünfte schließen, die u. a. auf dem Grundsatz der Gegenseitigkeit und beiderseitiger Vorteile beruhen. Sie sind daher nicht verpflichtet, Drittstaatsangehörigen einseitig Rechte wie das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen im Wohnmitgliedstaat einzuräumen, das im Übrigen nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b, Art. 22 AEUV und Art. 40 der Charta Unionsbürgern vorbehalten ist. 100 Unter diesen Umständen kann dem Rat nicht vorgeworfen werden, mit dem Beschluss 2020/135 das Austrittsabkommen gebilligt zu haben, obwohl dieses den Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs nicht das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat, sei es im Übergangszeitraum oder danach, verleiht. 101 Was drittens den vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand betrifft, dass bestimmte Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs wie EP, die ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat vor Ende des Übergangszeitraums im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt haben, nach der 15-Jahre-Regel ihr Wahlrecht im Vereinigten Königreich verlieren, ist darauf hinzuweisen, dass dies allein auf eine Bestimmung des Rechts eines Drittstaats und nicht auf das Unionsrecht zurückzuführen und somit für die Beurteilung der Gültigkeit des Beschlusses 2020/135 unerheblich ist. 102 Folglich hat die Prüfung der dritten und der vierten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit des Beschlusses 2020/135 berühren könnte. Kosten 103 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Art. 9 und 50 EUV und die Art. 20 bis 22 AEUV in Verbindung mit dem am 17. Oktober 2019 angenommenen und am 1. Februar 2020 in Kraft getretenen Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft sind dahin auszulegen, dass die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 1. Februar 2020 nicht mehr den Unionsbürgerstatus und insbesondere das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV besitzen, und zwar auch dann nicht, wenn sie nach dem Recht des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, auch das Wahlrecht bei den Wahlen in diesem Staat verloren haben. 2. Die Prüfung der dritten und der vierten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Beschlusses (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 über den Abschluss des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft berühren könnte. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Französisch.
Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 15. September 2021.#Stavros Arnaoutakis u. a. gegen Europäisches Parlament.#Institutionelles Recht – Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Änderung der zusätzlichen freiwilligen Ruhegehaltsregelung – Weigerung, ein zusätzliches freiwilliges Ruhegehalt zu gewähren – Einrede der Rechtswidrigkeit – Zuständigkeit des Präsidiums des Parlaments – Erworbene Rechte und Anwartschaften – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Rechtssicherheit.#Rechtssachen T-240/20 bis T-245/20.
62020TJ0240
ECLI:EU:T:2021:590
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0240 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0240 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0240 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 15. September 2021.#Richard Ashworth u. a. gegen Europäisches Parlament.#Institutionelles Recht – Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Änderung der zusätzlichen freiwilligen Ruhegehaltsregelung – Bescheid über die Festsetzung der Ansprüche auf ein zusätzliches freiwilliges Ruhegehalt – Einrede der Rechtswidrigkeit – Zuständigkeit des Präsidiums des Parlaments – Erworbene Rechte und Anwartschaften – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung – Rechtssicherheit.#Rechtssachen T-720/19 bis T-725/19.
62019TJ0720
ECLI:EU:T:2021:580
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62019TJ0720 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62019TJ0720 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62019TJ0720 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Beschluss des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 14. Juli 2021.#Europäische Kommission gegen Republik Polen.#Vorläufiger Rechtsschutz – Art. 279 AEUV – Antrag auf einstweilige Anordnungen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Unabhängigkeit der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Unabhängigkeit der Richter – Disziplinarordnung der Richter – Prüfung von Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit von Richtern – Ausschließliche Zuständigkeit der Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht).#Rechtssache C-204/21 R.
62021CO0204(02)
ECLI:EU:C:2021:593
2021-07-14T00:00:00
Gerichtshof, Hogan
;
62021CO0204(02) BESCHLUSS DER VIZEPRÄSIDENTIN DES GERICHTSHOFS 14. Juli 2021 (*1) „Vorläufiger Rechtsschutz – Art. 279 AEUV – Antrag auf einstweilige Anordnungen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Unabhängigkeit der Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Unabhängigkeit der Richter – Disziplinarordnung der Richter – Prüfung von Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit von Richtern – Ausschließliche Zuständigkeit der Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)“ In der Rechtssache C‑204/21 R betreffend einen Antrag auf einstweilige Anordnungen nach Art. 279 AEUV, eingereicht am 1. April 2021, Europäische Kommission, vertreten durch P. J. O. Van Nuffel und K. Herrmann als Bevollmächtigte, Antragstellerin, gegen Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, Antragsgegnerin, erlässt DIE VIZEPRÄSIDENTIN DES GERICHTSHOFS nach Anhörung des Generalanwalts G. W. Hogan folgenden Beschluss 1 Mit ihrem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ersucht die Europäische Kommission den Gerichtshof u. a., der Republik Polen bis zum Erlass des Urteils aufzugeben, die Anwendung mehrerer nationaler Bestimmungen auszusetzen, die durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 (Dz. U. 2020, Position 190, im Folgenden: Änderungsgesetz) eingeführt wurden. 2 Dieser Antrag ist im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV gestellt worden, die von der Kommission am 1. April 2021 erhoben wurde (im Folgenden: Klage) und mit der beantragt wird, – festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 42a §§ 1 und 2 sowie Art. 55 § 4 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 (Dz. U. 2001, Nr. 98, Position 1070) in der Fassung des Änderungsgesetzes (im Folgenden: geändertes Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit), Art. 26 § 3 und Art. 29 §§ 2 und 3 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Position 5) in der Fassung des Änderungsgesetzes (im Folgenden: geändertes Gesetz über das Oberste Gericht), Art. 5 §§ 1a und 1b der Ustawa – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit) vom 25. Juli 2002 (Dz. U. 2002, Position 1269) in der Fassung des Änderungsgesetzes (im Folgenden: geändertes Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit) sowie Art. 8 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach allen nationalen Gerichten die Prüfung, ob die Anforderungen der Europäischen Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, untersagt ist; – festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen hat, dass sie Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie Art. 10 des Änderungsgesetzes erlassen und beibehalten hat, wonach für die Prüfung von Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters ausschließlich die Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) (im Folgenden: Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) zuständig ist; – festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV verstoßen hat, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassen und beibehalten hat, wonach die Prüfung, ob die Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht erfüllt sind, als Disziplinarvergehen gewertet werden kann; – festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie die Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) (im Folgenden: Disziplinarkammer), deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet sind, ermächtigt hat, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, etwa zum einen Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter und Assessoren strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, und zum anderen arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand; – festzustellen, dass die Republik Polen dadurch das Recht auf Achtung des Privatlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten, wie sie in Art. 7 und Art. 8 Abs. 1 der Charta sowie in Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e, Art. 6 Abs. 3 und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1) niedergelegt sind, verletzt hat, dass sie Art. 88a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, Art. 45 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und Art. 8 § 2 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit erlassen und beibehalten hat. 3 Am 6. Mai 2021 hat die Republik Polen ihre schriftliche Stellungnahme zu dem Antrag auf einstweilige Anordnungen eingereicht. Rechtlicher Rahmen Geändertes Gesetz über das Oberste Gericht 4 Mit dem Gesetz über das Oberste Gericht wurden innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zwei neue Kammern geschaffen, nämlich zum einen die Disziplinarkammer und zum anderen die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten. 5 Durch das Änderungsgesetz wurde das Gesetz über das Oberste Gericht insbesondere wie folgt geändert: In Art. 26 wurden die §§ 2 bis 6 eingefügt und in Art. 27 § 1 eine Nr. 1a, Art. 29 und Art. 72 § 1 wurden geändert, und in Art. 82 wurden die §§ 2 bis 5 eingefügt. 6 In Art. 26 §§ 2 bis 6 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht heißt es: „§ 2.   Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist zuständig für Anträge oder Erklärungen betreffend die Ablehnung eines Richters oder die Bestimmung des Gerichts, bei dem ein Verfahren geführt werden soll, mit denen die fehlende Unabhängigkeit des Gerichts oder des Richters gerügt wird. Das mit der Sache befasste Gericht übermittelt dem Präsidenten der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unverzüglich den Antrag, damit dieser nach den in gesonderten Vorschriften festgelegten Regeln weiter behandelt wird. Durch die Übermittlung des Antrags an den Präsidenten der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten wird das laufende Verfahren nicht ausgesetzt. § 3.   Der Antrag nach § 2 wird nicht geprüft, wenn er die Feststellung und die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung betrifft. § 4.   Die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ist für Klagen zuständig, die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Militärgerichte und der Verwaltungsgerichte einschließlich des Naczelny Sąd Administracyjny [(Oberstes Verwaltungsgericht, Polen)] gerichtet sind, wenn die Rechtswidrigkeit darin besteht, dass der Status der zur Ausübung des Richteramts berufenen Person in Frage gestellt wird, die in der Sache entschieden hat. § 5.   Für das Verfahren in den Sachen nach § 4 gelten die Bestimmungen über die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Entscheidungen entsprechend, und in Strafsachen die Bestimmungen über die Wiederaufnahme eines durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossenen Gerichtsverfahrens. Es ist nicht erforderlich, dass ein durch den Erlass der Entscheidung, die Gegenstand der Klage ist, verursachter Schaden vorliegt oder glaubhaft gemacht wird. § 6.   Eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung nach § 4 kann beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) – Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ohne Befassung des Gerichts, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, erhoben werden, und zwar auch dann, wenn eine Partei die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe, einschließlich des außerordentlichen Rechtsbehelfs beim Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)], nicht ausgeschöpft hat.“ 7 Art. 27 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor: „Die Disziplinarkammer ist zuständig für: … 1a) Sachen betreffend die Zustimmung dazu, dass Richter, Gerichtsassessoren [(Richter auf Probe)], Staatsanwälte und Staatsanwaltsassessoren [(Staatsanwälte auf Probe)] strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder in Untersuchungshaft genommen werden. 2) arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen, die Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] betreffen; 3) Sachen über die Versetzung eines Richters des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in den Ruhestand.“ 8 Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor: „§ 2.   Im Rahmen der Tätigkeiten des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] oder seiner Organe darf die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe, der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden. § 3.   Der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich daraus ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“ 9 Art. 72 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor: „Ein Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden, u. a. für: 1) die offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften; 2) Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können; 3) Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird.“ 10 Nach Art. 73 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht ist die Disziplinarkammer das Disziplinargericht zweiter (und letzter) Instanz für die Richter der ordentlichen Gerichte und das Disziplinargericht erster und zweiter Instanz für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht). 11 Art. 82 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht bestimmt: „§ 1.   Hat der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] bei der Prüfung einer Kassationsbeschwerde oder eines anderen Rechtsbehelfs ernste Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die betreffende Entscheidung erlassen wurde, so kann er das Verfahren aussetzen und einem aus sieben Richtern dieses Gerichts bestehenden Spruchkörper eine Rechtsfrage vorlegen. § 2.   Prüft der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] eine Sache, in der sich eine Rechtsfrage stellt, die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts betrifft, so setzt er die Entscheidung aus und legt diese Frage einem Spruchkörper vor, der aus sämtlichen Mitgliedern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten besteht. § 3.   Hat der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] bei der Prüfung eines Antrags nach Art. 26 § 2 ernste Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Rechtsvorschriften, auf deren Grundlage die Entscheidung zu ergehen hat, so kann er das Verfahren aussetzen und einem aus sämtlichen Mitgliedern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten bestehenden Spruchkörper eine Rechtsfrage vorlegen. § 4.   Beim Erlass eines Beschlusses nach § 2 oder § 3 ist die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten nicht an einen Beschluss eines anderen Spruchkörpers des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] gebunden, auch wenn dieser rechtskräftig geworden ist. § 5.   Ein von sämtlichen Mitgliedern der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten auf der Grundlage von § 2 oder § 3 erlassener Beschluss ist für alle Spruchkörper des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] verbindlich. Eine Abweichung von einem Beschluss, der die Wirkung eines Rechtsgrundsatzes hat, erfordert eine erneute Entscheidung durch einen Beschluss des Plenums des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Richter jeder der Kammern. Art. 88 findet keine Anwendung.“ Geändertes Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit 12 Durch das Änderungsgesetz wurde das Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit insbesondere wie folgt geändert: Eingefügt wurden ein Art. 42a und in Art. 55 ein § 4, und geändert wurden Art. 107 § 1 und Art. 110 § 2a. 13 Art. 42a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit lautet: „§ 1.   Im Rahmen der Tätigkeiten der Gerichte oder der Organe der Gerichte darf die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe, der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden. § 2.   Ein ordentliches Gericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich daraus ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“ 14 Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit sieht vor: „Ein Richter kann über alle Sachen an seinem Dienstort und in den gesetzlich vorgesehenen Fällen in anderen Gerichten entscheiden (Zuständigkeit des Richters). Die Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper beschränken nicht die Zuständigkeit des Richters und können keine Grundlage für die Feststellung sein, dass ein Spruchkörper im Widerspruch zu Rechtsvorschriften steht, dass ein Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt ist oder dass eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder zuständig ist.“ 15 Art. 80 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit lautet: „§ 1.   Ein Richter darf ohne Zustimmung des zuständigen Disziplinargerichts weder festgenommen noch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Diese Bestimmung betrifft nicht die Festnahme eines Richters auf frischer Tat, wenn diese Festnahme unerlässlich ist, um die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens zu gewährleisten. Bis zum Erlass des Beschlusses, mit dem die Zustimmung dazu gegeben wird, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, dürfen nur Maßnahmen getroffen werden, die keinen Aufschub dulden. … § 2c.   Das Disziplinargericht erlässt einen Beschluss, mit dem die Zustimmung dazu gegeben wird, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, wenn der hinreichend begründete Verdacht besteht, dass er eine Straftat begangen hat. Der Beschluss enthält die Zustimmung dazu, dass der betreffende Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, und die Begründung dafür. § 2d.   Das Disziplinargericht prüft einen Antrag auf Zustimmung dazu, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, innerhalb von 14 Tagen nach seinem Eingang.“ 16 Art. 107 § 1 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit lautet: „Ein Richter kann für Fehlverhalten im Amt (Disziplinarvergehen) disziplinarisch belangt werden, u. a. für: … 2) Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können; 3) Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters, die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Verfassungsorgans der Republik Polen in Frage gestellt wird; …“ 17 Art. 110 § 2a des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit lautet: „Für die Prüfung der in Art. 37 § 5 und Art. 75 § 2 Nr. 3 genannten Sachen ist das Disziplinargericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk der von dem Verfahren betroffene Richter sein Amt ausübt. In den Sachen nach den Art. 80 und 106zd entscheidet im ersten Rechtszug der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit einem Richter der Disziplinarkammer und im zweiten Rechtszug der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit drei Richtern der Disziplinarkammer.“ 18 Art. 129 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit lautet: „§ 1.   Das Disziplinargericht kann einen Richter, gegen den ein Disziplinar- oder Entmündigungsverfahren eingeleitet wurde, von seinen Diensttätigkeiten suspendieren; dies gilt auch dann, wenn es mit einem Beschluss seine Zustimmung dazu gibt, dass ein Richter strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird. § 2.   Wenn das Disziplinargericht mit einem Beschluss seine Zustimmung dazu gibt, dass ein Richter wegen einer vorsätzlichen Straftat, die von Amts wegen verfolgt wird, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, suspendiert es diesen Richter von Amts wegen von seinen Diensttätigkeiten. § 3.   Suspendiert das Disziplinargericht einen Richter von seinen Diensttätigkeiten, kürzt es für die Zeit der Suspendierung den Betrag seiner Vergütung um 25 bis 50 %; dies gilt nicht für Personen, gegen die ein Entmündigungsverfahren eingeleitet wurde. § 4.   Wenn das Disziplinarverfahren eingestellt oder ein Disziplinarvergehen verneint wurde, werden alle Bestandteile der Vergütung bzw. der Bezüge bis zu ihrer vollen Höhe ausgeglichen.“ Geändertes Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit 19 Durch das Änderungsgesetz wurde das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit insbesondere wie folgt geändert: In Art. 5 wurden die §§ 1a und 1b eingefügt, und Art. 29 § 1 und Art. 49 § 1 wurden geändert. 20 Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit bestimmt: „§ 1a.   Im Rahmen der Tätigkeiten eines Verwaltungsgerichts oder seiner Organe darf die Legitimität der Gerichte und Gerichtshöfe, der Verfassungsorgane des Staates und der Organe zur Kontrolle und zum Schutz des Rechts nicht in Frage gestellt werden. § 1b.   Ein Verwaltungsgericht oder ein anderes Organ der Staatsgewalt darf die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder die sich daraus ergebende Befugnis zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung weder feststellen noch beurteilen.“ 21 Nach Art. 29 § 1 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit finden die in Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit vorgesehenen Disziplinarvergehen auch in Bezug auf die Richter der Verwaltungsgerichte Anwendung. 22 Nach Art. 49 § 1 des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit finden die in Art. 72 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht vorgesehenen Disziplinarvergehen auch in Bezug auf die Richter des Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) Anwendung. Änderungsgesetz 23 Die Art. 8 und 10 des Änderungsgesetzes enthalten Übergangsbestimmungen. 24 Nach Art. 8 des Änderungsgesetzes gilt Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit auch für Sachen, die vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes, d. h. vor dem 14. Februar 2020, eingeleitet oder abgeschlossen wurden. 25 Art. 10 des Änderungsgesetzes lautet: „§ 1.   Die Bestimmungen des [Gesetzes über das Oberste Gericht] in der Fassung des vorliegenden Gesetzes finden auch auf Sachen Anwendung, die der Prüfung durch die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten unterliegen und vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingeleitet und nicht durch eine rechtskräftige Entscheidung, einschließlich eines Beschlusses, abgeschlossen worden sind. § 2.   Das Gericht, bei dem eine Sache nach § 1 anhängig ist, verweist diese unverzüglich, spätestens sieben Tage nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes, an die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, die die zuvor vorgenommenen Handlungen aufheben kann, soweit sie der weiteren Prüfung der Sache im Einklang mit dem Gesetz entgegenstehen. § 3.   Gerichtliche Handlungen und Handlungen der Parteien oder Verfahrensbeteiligten in Verfahren in den in § 1 genannten Sachen, die nach dem Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzes unter Verstoß gegen § 2 vorgenommen werden, haben keine verfahrensrechtlichen Wirkungen.“ Vorgeschichte des Rechtsstreits und Vorverfahren 26 Auf drei Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen], Polen) (im Folgenden: Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen) hat der Gerichtshof in Rn. 171 des Urteils vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982) (im Folgenden: Urteil A. K.), entschieden, dass Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16) dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts in die ausschließliche Zuständigkeit einer Einrichtung fallen können, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta ist. Nach den Ausführungen des Gerichtshofs in derselben Randnummer ist das der Fall, wenn die objektiven Bedingungen, unter denen die Einrichtung geschaffen wurde, ihre Merkmale sowie die Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen können, dass diese Einrichtung nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. Der Gerichtshof hat in derselben Randnummer weiter ergänzt, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehender erheblicher Erkenntnisse zu ermitteln, ob dies bei einer Einrichtung wie der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) der Fall ist, und dass in einem solchen Fall der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er das vorlegende Gericht dazu verpflichtet, die Bestimmung des nationalen Rechts, die die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Ausgangsrechtsstreitigkeiten dieser Einrichtung vorbehält, unangewendet zu lassen, damit die Rechtsstreitigkeiten von einem Gericht verhandelt werden können, das den Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genügt und in dem betreffenden Bereich zuständig wäre, stünde diese Bestimmung dem nicht entgegen. 27 Im Anschluss an das Urteil A. K. hat die Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen in dem Rechtsstreit, der zu dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑585/18 geführt hat, in ihrem Urteil vom 5. Dezember 2019 entschieden, dass die Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) (im Folgenden: KRS) kein unparteiisches und von der Legislative und der Exekutive unabhängiges Organ sei. Auch könne die Disziplinarkammer nicht als Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta und Art. 6 EMRK angesehen werden. 28 Am 12. Dezember 2019 legte eine Abgeordnetengruppe dem Sejm Rzeczypospolitej Polskiej (Erste Kammer des Parlaments, Polen) den Gesetzesentwurf vor, der zu dem Änderungsgesetz führte. Dieses Gesetz wurde am 20. Dezember 2019 erlassen und trat am 14. Februar 2020 in Kraft. 29 Da die Kommission der Ansicht ist, dass die Republik Polen durch den Erlass des Änderungsgesetzes gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 7, Art. 8 Abs. 1 und Art. 47 der Charta sowie aus Art. 6 Abs. 1 Buchst. c und e, Art. 6 Abs. 3 und Art. 9 der Verordnung 2016/679 verstoßen habe, richtete sie am 29. April 2020 ein Mahnschreiben an diesen Mitgliedstaat. Die Republik Polen antwortete darauf mit Schreiben vom 29. Juni 2020, in dem sie jeden Verstoß gegen das Unionsrecht in Abrede stellte. 30 Am 30. Oktober 2020 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie daran festhielt, dass die durch das Änderungsgesetz eingeführte Regelung gegen die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Beschlusses genannten Bestimmungen des Unionsrechts verstoße. 31 In Anbetracht der zunehmenden Zahl der bei der Disziplinarkammer anhängigen Verfahren wegen Anträgen auf Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter auf der Grundlage von Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht stellte die Kommission den polnischen Behörden am 1. November 2020 mehrere Fragen, die diese Behörden am 13. November 2020 beantworteten. 32 Am 3. Dezember 2020 übersandte die Kommission der Republik Polen wegen der Rechtsprechungstätigkeit der Disziplinarkammer auf der Grundlage von Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht in Sachen, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern und Assessoren auswirken, ein ergänzendes Mahnschreiben. 33 Mit Schreiben vom 30. Dezember 2020 antwortete die Republik Polen auf die mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission vom 30. Oktober 2020 und stellte das Vorliegen der gerügten Vertragsverletzungen in Abrede. Sie beantragte die Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens. 34 Mit Schreiben vom 4. Januar 2021 antwortete die Republik Polen auf das ergänzende Mahnschreiben vom 3. Dezember 2020 und machte geltend, dass die Rügen der Kommission in Bezug auf die fehlende Unabhängigkeit der Disziplinarkammer unbegründet seien. 35 Am 27. Januar 2021 richtete die Kommission an die Republik Polen eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme zur Rechtsprechungstätigkeit der Disziplinarkammer in Sachen betreffend den Status von Richtern und Assessoren. 36 Mit Schreiben vom 26. Februar 2021 antwortete die Republik Polen auf die ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme und machte geltend, dass die von der Kommission darin erhobene Rüge unbegründet sei. Sie beantragte die Einstellung des Verfahrens. 37 Da die Antworten der Republik Polen die Kommission nicht überzeugten, hat sie am 31. März 2021 eine Vertragsverletzungsklage erhoben und den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt. Anträge der Parteien 38 Die Kommission beantragt, – der Republik Polen aufzugeben, bis zum Erlass des Urteils des Gerichtshofs a) zum einen die Anwendung von Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und anderer Bestimmungen auszusetzen, wonach die Disziplinarkammer dafür zuständig ist, sowohl in erster Instanz als auch in zweiter Instanz über Anträge auf Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter oder Assessoren sowie zur Untersuchungshaft, zur Festnahme oder zur zwangsweisen Vorführung von Richtern oder Assessoren zu entscheiden, und zum anderen die Wirkungen der von der Disziplinarkammer auf der Grundlage dieses Artikels bereits erlassenen Entscheidungen über die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter oder zu seiner Festnahme auszusetzen und es zu unterlassen, die in diesem Artikel genannten Sachen an ein Gericht zu verweisen, das den insbesondere im Urteil A. K. festgelegten Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht genügt, b) die Anwendung von Art. 27 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, wonach die Disziplinarkammer für die Entscheidung in Sachen betreffend den Status und die Amtsausübung von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), insbesondere in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend diese Richter sowie in Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand, zuständig ist, auszusetzen und es zu unterlassen, diese Sachen an ein Gericht zu verweisen, das den insbesondere im Urteil A. K. festgelegten Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht genügt, c) die Anwendung von Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit sowie von Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht auszusetzen, wonach Richter wegen der Prüfung der Beachtung der Anforderungen in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta disziplinarisch belangt werden können, d) die Anwendung von Art. 42a §§ 1 und 2 sowie von Art. 55 § 4 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit, von Art. 26 § 3 sowie von Art. 29 §§ 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, von Art. 5 §§ 1a und 1b des geänderten Gesetzes über die Verwaltungsgerichtsbarkeit und von Art. 8 des Änderungsgesetzes auszusetzen, soweit sie es den nationalen Gerichten verbieten, die Beachtung der Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta zu überprüfen, e) die Anwendung von Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie von Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht und von Art. 10 des Änderungsgesetzes auszusetzen, mit denen die ausschließliche Zuständigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten für die Prüfung von Rügen der fehlenden Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts festgelegt wird, und f) der Kommission spätestens einen Monat nach der Zustellung des Beschlusses des Gerichtshofs, mit dem die beantragten einstweiligen Anordnungen erlassen werden, alle Maßnahmen mitzuteilen, die getroffen wurden, um diesem Beschluss in vollem Umfang nachzukommen; – der Republik Polen die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. 39 Die Kommission beantragt ferner gemäß Art. 160 Abs. 7 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs den Erlass der in der vorstehenden Randnummer genannten einstweiligen Anordnungen, bevor die Stellungnahme der Republik Polen eingeht. 40 Die Republik Polen beantragt, – den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz als offensichtlich unzulässig zurückzuweisen; – hilfsweise, den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz als unbegründet zurückzuweisen; – der Kommission die Kosten aufzuerlegen. Zum Antrag auf Entscheidung ohne Anhörung der Gegenpartei 41 Nach Art. 160 Abs. 7 der Verfahrensordnung kann der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz stattgeben, bevor die Stellungnahme der Gegenpartei eingeht, wobei die betreffende Anordnung später, auch von Amts wegen, abgeändert oder wieder aufgehoben werden kann. 42 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ermächtigt Art. 160 Abs. 7 der Verfahrensordnung einen Richter, der über einen Antrag auf einstweilige Anordnungen entscheidet, insbesondere dann, wenn es im Interesse einer geordneten Rechtspflege wünschenswert ist, zu verhindern, dass das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes völlig ausgehöhlt und wirkungslos wird, solche Anordnungen vorsorglich bis zum Erlass des Beschlusses, der das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beendet, oder, wenn dieser früher erfolgt, bis zum Abschluss des Verfahrens zur Hauptsache zu erlassen. Wenn er die Notwendigkeit prüft, einen Beschluss ohne Anhörung der Gegenpartei zu erlassen, hat dieser Richter die Umstände des Einzelfalls zu untersuchen (Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 19. Oktober 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:852, Rn. 13 und 14 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Im vorliegenden Fall lässt der von der Kommission gestellte Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz keine Umstände erkennen, mit denen die Notwendigkeit dargetan würde, die beantragten Anordnungen vorläufig bis zum Erlass des Beschlusses, der das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beendet, ohne vorherige Anhörung der Republik Polen zu erlassen. 44 Daher hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs beschlossen, dem Antrag der Kommission, über den vorliegenden Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ohne Anhörung der Gegenpartei zu entscheiden, nicht stattzugeben. Zum Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz Zur Zulässigkeit 45 Die Republik Polen hält den Antrag der Kommission auf vorläufigen Rechtsschutz für offensichtlich unzulässig. 46 Als Erstes macht die Republik Polen geltend, dass die nationalen Bestimmungen, die die Kommission im Rahmen der Klage angreife, nicht in den Zuständigkeitsbereich der Union fielen. Die Union verfüge nämlich über keinerlei Zuständigkeit im Bereich der Organisation der Justiz der Mitgliedstaaten und erst recht über keinerlei Zuständigkeit dafür, die politische Ordnung dieser Staaten zu bestimmen, die Zuständigkeiten ihrer verschiedenen Organe festzulegen, auf deren interne Organisation Einfluss zu nehmen oder deren Tätigkeit auszusetzen. Insbesondere die Frage der Gewährung und der Aufhebung der Immunität der Richter und Assessoren, die Festlegung sowohl der Disziplinarverfahren gegen Personen, die diese Ämter wahrnähmen, als auch des Umfangs ihrer disziplinarischen Verantwortlichkeit und die Bestimmung der für die Durchführung der Verfahren in diesen Sachen zuständigen Organe richteten sich ausschließlich nach dem nationalen Recht. Daher sei der Gerichtshof für den Erlass der von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen offensichtlich unzuständig. 47 Was im Übrigen insbesondere die einstweiligen Anordnungen in Bezug auf die Bestimmungen über die Aufhebung der Immunität von Richtern betreffe, verstoße der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz offenkundig gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten. Denn obwohl einige Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht den Richtern keine Immunität gewährten, so dass die Richter dieser Staaten ständigem Druck und einem Zustand ständiger Unsicherheit ausgesetzt seien, habe die Kommission nie Rügen gegen diese Mitgliedstaaten erhoben. 48 Außerdem verstoße der Antrag gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter. Sowohl die Aussetzung der Tätigkeit der Disziplinarkammer als auch die Aussetzung der Anwendung der in Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. c und d des vorliegenden Beschlusses genannten Bestimmungen stellten nämlich einen Eingriff in die Unabhängigkeit der Richter bei der Ausübung ihrer richterlichen Funktionen dar. 49 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. 50 Zunächst trifft es zwar zu – wie die Republik Polen zu Recht hervorhebt –, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt, doch haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Nach dieser Bestimmung hat jeder Mitgliedstaat u. a. dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind und die somit möglicherweise in dieser Eigenschaft über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil vom 2. März 2021, A. B. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, im Folgenden: Urteil A. B., EU:C:2021:153, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung). 52 Im vorliegenden Fall steht indessen fest, dass sowohl der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einschließlich der zu ihm gehörenden Disziplinarkammer als auch die ordentlichen Gerichte zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts berufen sein können und dass sie als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind, so dass diese Gerichte den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 56). 53 Im Übrigen regeln die von der Kommission im Rahmen der ersten vier Rügen der Klage beanstandeten nationalen Bestimmungen (im Folgenden: streitige nationale Bestimmungen) die Zuständigkeit der Disziplinarkammer, die Disziplinarordnung für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte sowie die Verfahrensmodalitäten für die Kontrolle der Voraussetzungen für die Unabhängigkeit dieser Richter. 54 Folglich können diese Bestimmungen im Kontext einer Vertragsverletzungsklage Gegenstand einer Überprüfung im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sein und demzufolge von u. a. auf die Aussetzung dieser Bestimmungen gerichteten einstweiligen Anordnungen, die der Gerichtshof in diesem Zusammenhang nach Art. 279 AEUV erlässt. 55 Demnach ist der Gerichtshof entgegen dem Vorbringen der Republik Polen für den Erlass einstweiliger Anordnungen der von der Kommission beantragten Art zuständig. 56 Was sodann das Vorbringen der Republik Polen betrifft, die Kommission habe die in anderen Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen über die Immunität der Richter nicht in Frage gestellt, bei denen das Niveau des Schutzes der richterlichen Unabhängigkeit geringer sei als das durch die polnische Regelung gewährleistete, genügt die Feststellung, dass sowohl die mutmaßliche Existenz von Vorschriften, die den streitigen nationalen Bestimmungen entsprechen oder gar weniger Schutz für die richterliche Unabhängigkeit bieten als diese Bestimmungen, als auch die fehlende Infragestellung dieser Vorschriften durch die Kommission keinen Einfluss auf die Zulässigkeit des vorliegenden Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz haben (vgl. entsprechend Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021, Rn. 58). 57 Schließlich kann dem Vorbringen der Republik Polen, dass der Erlass der von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter verstoße, nicht gefolgt werden. Es genügt nämlich die Feststellung, dass diese Anordnungen, falls sie erlassen werden sollten, nicht die Abberufung der Richter der polnischen Gerichte, insbesondere der Richter der Disziplinarkammer sowie der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, zur Folge hätten, sondern die vorläufige Aussetzung der Anwendung der streitigen nationalen Bestimmungen bis zur Verkündung des Urteils des Gerichtshofs in der Sache (im Folgenden: Endurteil). 58 Als Zweites macht die Republik Polen geltend, der Antrag der Kommission auf vorläufigen Rechtsschutz sei unzulässig, da die beantragten einstweiligen Anordnungen nicht die volle Wirksamkeit des Endurteils sicherstellen sollten. 59 Zum einen macht die Republik Polen nämlich, indem sie wiederholt, dass die Union nicht befugt sei, in die Tätigkeiten der Verfassungsorgane der Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen obersten Gerichte einzugreifen oder gar ihre Tätigkeiten auszusetzen, geltend, dass die von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen die Souveränität dieses Mitgliedstaats beeinträchtigten. 60 Zum anderen macht die Republik Polen geltend, dass ein Teil der von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen darauf abziele, das von der Kommission angestrebte Endurteil durchzuführen, noch bevor es erlassen worden sei. 61 Insbesondere macht die Republik Polen zunächst geltend, dass die Durchführung eines solchen Urteils nicht gefährdet sei. Sollte mit dem Endurteil den mit der Klage erhobenen Rügen stattgegeben werden, so werde sie dadurch gezwungen, ihr nationales Recht an die unionsrechtlichen Anforderungen anzupassen. Die Kommission habe jedoch den Zusammenhang zwischen den beantragten einstweiligen Anordnungen und der Fähigkeit der Republik Polen, ihrer Verpflichtung aus Art. 260 Abs. 1 AEUV nachzukommen, nicht dargetan. 62 Sodann trägt die Republik Polen vor, dass die entsprechende Anpassung der streitigen nationalen Bestimmungen genau ein und dasselbe gesetzgeberische Vorgehen erforderlich machen würde, unabhängig davon, ob diese Bestimmungen bis zum Erlass des Endurteils anwendbar blieben oder nicht, weshalb der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnungen für die Gewährleistung der Wirksamkeit des Endurteils belanglos sei. 63 Schließlich macht die Republik Polen geltend, eine einstweilige Anordnung auf Aussetzung der Wirkungen der von der Disziplinarkammer auf der Grundlage von Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassenen Entscheidungen, mit denen der Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter oder der Untersuchungshaft eines Richters zugestimmt werde, sei als mit dem Ziel einer einstweiligen Anordnung offensichtlich unvereinbar anzusehen, da sie Wirkungen entfalten solle, die über die Verpflichtungen hinausgingen, die sich nach Art. 260 Abs. 1 AEUV aus dem etwaigen Endurteil ergäben. 64 Diese Argumentation greift ebenfalls nicht durch. 65 Zum einen ergibt sich nämlich aus den Erwägungen in den Rn. 50 bis 55 des vorliegenden Beschlusses, dass der Gerichtshof nicht nur für die Entscheidung über eine Vertragsverletzungsklage wie die hier in Rede stehende Klage zuständig ist, mit der die Vereinbarkeit der nationalen Bestimmungen über die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, wie derjenigen über die Disziplinarordnung für die Richter, die über unionsrechtliche Fragen zu entscheiden haben, sowie derjenigen über die Aufhebung der Immunität dieser Richter, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Frage gestellt wird, sondern auch dafür, im Rahmen einer solchen Klage einstweilige Anordnungen auf Aussetzung der Anwendung solcher nationalen Bestimmungen nach Art. 279 AEUV zu erlassen. 66 Folglich kann der Erlass der von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen entgegen dem Vorbringen der Republik Polen die Souveränität dieses Mitgliedstaats nicht beeinträchtigen und demnach auch keinen solchen Zweck verfolgen. 67 Zum anderen beruht das in den Rn. 60 bis 63 des vorliegenden Beschlusses wiedergegebene Vorbringen der Republik Polen auf einem falschen Verständnis des Zwecks des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes und insbesondere der Natur und der Wirkungen der von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen sowie auf einer Verwechslung dieses Zwecks mit der Tragweite der Maßnahmen, die sich aus einem Urteil ergeben, mit dem eine Vertragsverletzung nach Art. 258 AEUV festgestellt wird. 68 Der Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes besteht nämlich darin, die volle Wirksamkeit der im Verfahren zur Hauptsache, an das das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anknüpft, zu erlassenden Entscheidung zu gewährleisten, um eine Lücke in dem vom Gerichtshof gewährten Rechtsschutz zu verhindern. So soll, was speziell eine einstweilige Anordnung auf Aussetzung einer nationalen Bestimmung betrifft, mit einer solchen Anordnung insbesondere verhindert werden, dass die sofortige Anwendung der fraglichen nationalen Bestimmung einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden im Hinblick auf die von dem Antragsteller geltend gemachten Interessen verursacht. Die Erforderlichkeit einer solchen Anordnung ist daher nur im Hinblick auf den wahrscheinlichen Eintritt eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens zu beurteilen, der sich gegebenenfalls aus der Ablehnung der beantragten einstweiligen Anordnungen in dem Fall ergäbe, dass anschließend der Klage stattgegeben würde (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021, Rn. 60, 61 und 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 69 Daher steht entgegen dem Vorbringen der Republik Polen der Umstand – seinen Nachweis unterstellt –, dass nicht die Gefahr bestehe, dass dieser Mitgliedstaat, falls der Klage letztlich stattgegeben werde, die Durchführung des Endurteils nicht sicherstelle, in keinem Zusammenhang mit dem Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes, insbesondere wenn es sich um eine einstweilige Anordnung auf Aussetzung einer nationalen Bestimmung handelt, wie sie von der Kommission beantragt wird, und ist daher für die Zulässigkeit des vorliegenden Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz ohne Belang. 70 Gleiches gilt für den von der Republik Polen geltend gemachten Umstand, dass die Durchführung des Endurteils, falls der Klage letztlich stattgegeben werde, für diesen Mitgliedstaat ein und dieselben Verpflichtungen mit sich bringe, unabhängig davon, ob die von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen erlassen würden oder nicht. 71 Ein solcher Umstand hat nämlich nicht nur nichts mit dem Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes zu tun, wie er in Rn. 68 des vorliegenden Beschlusses beschrieben worden ist, sondern ergibt sich aus Art. 260 Abs. 1 AEUV, wonach ein Mitgliedstaat, wenn der Gerichtshof feststellt, dass er gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat, die Maßnahmen zu ergreifen hat, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben. 72 Daher wäre die Republik Polen, wenn die Klage Erfolg haben sollte, unabhängig davon, ob die von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnungen vom Gerichtshof erlassen werden oder nicht, nach Art. 260 Abs. 1 AEUV verpflichtet, zur Durchführung des Endurteils ihr nationales Recht anzupassen und die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass die nationalen Gerichte, die Bestandteil ihres Rechtsschutzsystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen in Bezug auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gerecht werden. 73 Schließlich trifft es zwar zu, dass – wie die Republik Polen im Wesentlichen vorträgt – die Frage, welche Maßnehmen sich aus einem Urteil ergeben, mit dem eine Vertragsverletzung festgestellt wird, nicht Gegenstand eines nach Art. 258 AEUV erlassenen Urteils ist (Urteil vom 8. April 2014, Kommission/Ungarn, C‑288/12, EU:C:2014:237, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). Entgegen dem Vorbringen dieses Mitgliedstaats bedeutet dieser Umstand aber nicht, dass der Erlass einer konkreten einstweiligen Anordnung wie der, Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht sowie die Wirkungen der von der Disziplinarkammer auf der Grundlage dieser Bestimmung erlassenen Entscheidungen auszusetzen, Wirkungen hätte, die über die sich aus diesem Urteil gemäß Art. 260 Abs. 1 AEUV ergebenden Verpflichtungen hinausgingen und daher im Widerspruch zum Zweck einer einstweiligen Anordnung stünden. 74 Es genügt nämlich die Feststellung, dass das Vorbringen der Republik Polen, wenn ihm gefolgt würde, darauf hinausliefe, dass das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV gegenstandslos würde, da der Gerichtshof in dem Urteil, mit dem die Vertragsverletzung festgestellt wird, dem betroffenen Mitgliedstaat nicht aufgeben kann, bestimmte Maßnahmen zu erlassen, um dieses Urteil durchzuführen (Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 21. Mai 2021, Tschechische Republik/Polen, C‑121/21 R, EU:C:2021:420, Rn. 30). 75 Nach alledem ist der Antrag auf einstweilige Anordnungen zulässig. Zur Begründetheit 76 Art. 160 Abs. 3 der Verfahrensordnung bestimmt, dass Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz „den Streitgegenstand bezeichnen und die Umstände, aus denen sich die Dringlichkeit ergibt, sowie die den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung dem ersten Anschein nach rechtfertigenden Sach- und Rechtsgründe“ anführen müssen. 77 Somit kann der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter eine einstweilige Anordnung nur dann erlassen, wenn dargetan ist, dass ihr Erlass dem ersten Anschein nach in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gerechtfertigt ist (fumus boni iuris), und wenn sie in dem Sinne dringend ist, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen werden und ihre Wirkungen entfalten muss. Der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter nimmt gegebenenfalls auch eine Abwägung der widerstreitenden Interessen vor. Diese Voraussetzungen bestehen kumulativ, so dass der Antrag auf einstweilige Anordnungen zurückzuweisen ist, sofern es an einer von ihnen fehlt (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 78 Daher ist zu prüfen, ob die in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen in Bezug auf die beantragten einstweiligen Anordnungen erfüllt sind. Dazu ist nacheinander die Begründetheit der in Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. a, b, d, e und c des vorliegenden Beschlusses wiedergegebenen Anträge auf einstweilige Anordnungen zu prüfen. Zu den einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. a und b des vorliegenden Beschlusses – Zum fumus boni iuris 79 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Voraussetzung des fumus boni iuris erfüllt, wenn zumindest einer der Gründe, die die Partei, die die einstweiligen Anordnungen beantragt, zur Hauptsache geltend macht, auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage erscheint. Dies ist insbesondere der Fall, wenn einer dieser Gründe komplexe rechtliche Fragen aufwirft, deren Lösung sich nicht sogleich aufdrängt und die daher einer eingehenden Prüfung bedürfen, die nicht von dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter vorgenommen werden kann, sondern Gegenstand des Verfahrens zur Hauptsache sein muss, oder wenn ausweislich des Vorbringens der Parteien eine bedeutsame rechtliche Kontroverse besteht, deren Lösung sich nicht offensichtlich aufdrängt (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). 80 Im vorliegenden Fall trägt die Kommission vor, die vierte Rüge ihrer Klage, die sich auf die nationalen Bestimmungen bezieht, die Gegenstand der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. a und b des vorliegenden Beschlusses sind, erscheine auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage. Mit dieser Rüge werde konkret geltend gemacht, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen habe, dass sie der Disziplinarkammer, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet seien, die Zuständigkeit für die Entscheidung in Sachen betreffend die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter oder Assessoren oder zur Untersuchungshaft von Richtern oder Assessoren, für arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie in Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand zugewiesen habe. 81 Die Kommission stützt sich insoweit zum einen darauf, dass die nach Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht in die Zuständigkeit der Disziplinarkammer fallenden Sachen unmittelbare Auswirkungen auf den Status und die Bedingungen der Amtsausübung der Richter hätten, und zum anderen auf die Beurteilungen in den Rn. 52 bis 81 des Beschlusses vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277), sowie auf die Auslegungshinweise, die der Gerichtshof im Urteil A. K. gegeben habe, aus dem sich ergebe, dass die Rüge der fehlenden Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage erscheine. 82 Bei der Prüfung, ob die Voraussetzung des fumus boni iuris in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. a und b des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist, ist darauf hinzuweisen, dass entsprechend den Ausführungen in Rn. 51 des vorliegenden Beschlusses jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV u. a. dafür zu sorgen hat, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind und die somit möglicherweise in dieser Eigenschaft über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil A. B., Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung). 83 Damit dieser Schutz gewährleistet ist, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 194 und die dort angeführte Rechtsprechung). 84 Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt. Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte u. a. gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 195 und die dort angeführte Rechtsprechung). 85 Nach ständiger Rechtsprechung setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung sowie für die Ernennung und die Amtsdauer und für die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). 86 Insoweit sind die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für den Status der Richter und die Ausübung ihres Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen – und es damit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 197 und die dort angeführte Rechtsprechung). 87 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit verlangt, dass die Vorschriften über die Disziplinarordnung für diejenigen, die mit der Aufgabe des Richtens betraut sind, die erforderlichen Garantien aufweisen, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Ordnung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Insoweit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 198 und die dort angeführte Rechtsprechung). 88 Sieht ein Mitgliedstaat spezifische Vorschriften für Strafverfahren gegen Richter vor, insbesondere hinsichtlich der Aufhebung ihrer Immunität zum Zweck der Einleitung eines Strafverfahrens, so gebietet es das Erfordernis der Unabhängigkeit ferner, um bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel im Sinne der Rn. 85 und 86 des vorliegenden Beschlusses auszuräumen, dass diese spezifischen Vorschriften durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sind und dass sie ebenso wie die Vorschriften über die disziplinarische Haftung der Richter die notwendigen Garantien dafür vorsehen, dass sowohl das Verfahren über die Aufhebung der Immunität der Richter als solches als auch das Strafverfahren nicht als System zur politischen Kontrolle der Tätigkeit dieser Richter verwendet werden können und dass sie die in den Art. 47 und 48 der Charta verankerten Rechte in vollem Umfang gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 213 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies muss umso mehr gelten, wenn die Entscheidungen, mit denen der Aufhebung der Immunität der Richter zum Zweck der Einleitung eines Strafverfahrens gegen sie zugestimmt wird, als solche Folgen im Hinblick auf den Status oder die Bedingungen der Amtsausübung der betroffenen Richter haben. 89 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten, um zu gewährleisten, dass die nationalen Gerichte, die Bestandteil ihrer Rechtsbehelfssysteme in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen, darunter der der Unabhängigkeit, gerecht werden, und damit ihren Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nachzukommen, dafür sorgen müssen, dass die Regelung über den Status und die Bedingungen der Amtsausübung der Richter dieser Gerichte, insbesondere die für die Aufhebung der Immunität dieser Richter geltende Regelung, den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit wahrt, indem insbesondere gewährleistet wird, dass die im Rahmen dieser Regelung erlassenen Entscheidungen von einer richterlichen Instanz überprüft werden, die ihrerseits die mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Garantien erfüllt (vgl. entsprechend Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 35). 90 Im vorliegenden Fall ist indessen festzustellen, dass zum einen die arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen, die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) betreffen, sowie die Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand, die nach Art. 27 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht in die Zuständigkeit der Disziplinarkammer fallen, nicht nur die Anwendung des Unionsrechts implizieren können, sondern auch, wie die Kommission festgestellt hat, den Status und die Bedingungen der Amtsausübung dieser Richter betreffen. 91 Zum anderen führen, wie die Kommission vorgetragen hat, ohne dass ihr die Republik Polen widersprochen hätte, die Entscheidungen über die Aufhebung der Immunität der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichte zum Zweck der Einleitung eines Strafverfahrens gegen sie dazu, dass sie für gegebenenfalls unbestimmte Zeit von ihrem Amt suspendiert werden und ihre Bezüge in dieser Zeit um 25 % bis 50 % gekürzt werden. Demnach betreffen die Sachen über die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter und Assessoren oder zur Untersuchungshaft von Richtern und Assessoren, die nach Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht in die Zuständigkeit der Disziplinarkammer fallen, den Status und die Bedingungen für die Amtsausübung der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichtsbarkeit. 92 Daher muss die Republik Polen nach der in Rn. 89 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung, um ihren Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nachzukommen, sicherstellen, dass die Zuständigkeit für Entscheidungen in den in Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht genannten Sachen einer Einrichtung übertragen ist, die den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen, darunter der der Unabhängigkeit, gerecht wird. 93 Somit wird mit der vierten Rüge der Klage die Frage aufgeworfen, ob die Disziplinarkammer diesen Anforderungen gerecht wird. 94 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil A. K. die Tragweite der Anforderungen in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Zusammenhang mit gerade einer Einrichtung wie der Disziplinarkammer bestimmt hat. 95 Was zum einen die Umstände betrifft, unter denen die Ernennungen der Richter der Disziplinarkammer erfolgen, hat der Gerichtshof nach der Feststellung, dass die Richter dieser Kammer vom Präsidenten der Republik Polen auf Vorschlag der KRS ernannt werden, in den Rn. 137 und 138 des Urteils A. K. unter Berufung insbesondere auf die Rn. 115 und 116 des Urteils vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531), ausgeführt, dass die Einschaltung der KRS in diesem Ernennungsverfahren zwar zur Objektivierung dieses Verfahrens beitragen kann, indem sie den Handlungsspielraum, über den der Präsident der Republik Polen bei der Ausübung der ihm eingeräumten Befugnis verfügt, begrenzt; dies gilt jedoch u. a. nur insoweit, als die KRS selbst von der Legislative und der Exekutive sowie dem Präsidenten der Republik Polen hinreichend unabhängig ist. Zu diesem Punkt hat der Gerichtshof in den Rn. 142 bis 145 des Urteils A. K. ausgehend von den Angaben des vorlegenden Gerichts Gesichtspunkte ermittelt, die zusammen betrachtet Anlass zu Zweifeln an der Unabhängigkeit eines Gremiums wie der KRS geben können (vgl. auch Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 68 und 69). 96 Zum anderen hat der Gerichtshof unabhängig von den Umständen, unter denen die Richter der Disziplinarkammer ernannt werden, und von der Rolle, die die KRS hierbei spielt, in den Rn. 147 bis 151 des Urteils A. K. weitere Gesichtspunkte festgestellt, die unmittelbar für die Disziplinarkammer kennzeichnend sind. In Rn. 152 des Urteils A. K. hat der Gerichtshof festgestellt, dass zwar jeder einzelne dieser Faktoren für sich allein und isoliert betrachtet keine Zweifel an der Unabhängigkeit dieser Einrichtung aufkommen lassen kann, doch für ihre Kombination etwas anderes gelten könnte, zumal dann, wenn die Prüfung in Bezug auf die KRS zeigen sollte, dass diese gegenüber der Legislative und der Exekutive nicht unabhängig ist (vgl. auch Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 71). 97 Angesichts der Auslegungshinweise, die der Gerichtshof im Urteil A. K. gegeben hat, sowie des im Anschluss daran ergangenen Urteils der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen vom 5. Dezember 2019 kann jedoch auf den ersten Blick nicht ausgeschlossen werden, dass die Disziplinarkammer dem sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Erfordernis der Unabhängigkeit der Richter nicht gerecht wird (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 77). 98 Folglich ist, ohne sich in diesem Stadium zur Stichhaltigkeit der von den Parteien im Rahmen der vierten Rüge der Klage vorgebrachten Argumente zu äußern, wofür allein der Richter der Hauptsache zuständig ist, der Schluss zu ziehen, dass das Vorbringen der Kommission im Rahmen dieser Rüge in Anbetracht der von ihr vorgebrachten Gesichtspunkte, der in den Rn. 82 bis 89 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung und der insbesondere im Urteil A. K. gegebenen Auslegungshinweise auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage im Sinne der in Rn. 79 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung erscheint. 99 Das Vorbringen der Republik Polen vermag diese Schlussfolgerung nicht zu widerlegen. 100 Die Republik Polen macht nämlich als Erstes geltend, angesichts der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Anforderungen in Bezug auf das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die sich insbesondere aus den Urteilen vom 9. Juli 2020, Land Hessen (C‑272/19, EU:C:2020:535), und vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311), dem Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 10. September 2020, Rat/Sharpston (C‑424/20 P[R], nicht veröffentlicht, EU:C:2020:705), und dem Beschlusses des Gerichts der Europäischen Union vom 6. Oktober 2020, Sharpston/Rat und Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (T‑180/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:473), ergebe, sei die vierte Rüge der Klage zurückzuweisen. Aus dieser Rechtsprechung gehe nämlich hervor, dass die sich aus dieser Bestimmung des AEU-Vertrags ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, eine unabhängige Gerichtsbarkeit zu gewährleisten, Verfahren zur Ernennung von Richtern durch Politiker, an denen keine Vertreter der Richter beteiligt seien und die keiner gerichtlichen Kontrolle unterlägen, nicht entgegenstehe. 101 Entgegen dem Vorbringen der Republik Polen wurde jedoch zum einen mit den Urteilen vom 9. Juli 2020, Land Hessen (C‑272/19, EU:C:2020:535), und vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311), nur die frühere Rechtsprechung des Gerichtshofs angewandt, insbesondere die im Urteil A. K. herausgearbeiteten Rechtsgrundsätze. Zum anderen wurde in dem Beschluss vom 10. September 2020, Rat/Sharpston (C‑424/20 P[R], nicht veröffentlicht, EU:C:2020:705]), nur festgestellt, dass die gegen einen Beschluss der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten gerichtete Klage auf den ersten Blick offensichtlich unzulässig war, da ein solcher nicht von einem Organ, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union erlassener Beschluss vom Gerichtshof nicht nach Art. 263 AEUV auf seine Rechtmäßigkeit überprüft werden kann, was durch den Beschluss vom 16. Juni 2021, Sharpston/Rat und Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (C‑684/20 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:486), der auf ein Rechtsmittel gegen den Beschluss des Gerichts vom 6. Oktober 2020, Sharpston/Rat und Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (T‑180/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:473), ergangen ist, bestätigt wurde. 102 Die in Rn. 100 des vorliegenden Beschlusses angeführte Rechtsprechung erlaubt es daher nicht, das Vorliegen eines fumus boni iuris in Bezug auf die vierte Rüge der Klage in Frage zu stellen. 103 Als Zweites macht die Republik Polen geltend, das Urteil A. K. sei nicht relevant für die Beurteilung der Frage, ob die vierte Rüge der Klage auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage erscheine, da dieses Urteil in einem spezifischen tatsächlichen Kontext ergangen sei. 104 Insoweit trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof im Urteil A. K. nicht die Unvereinbarkeit der in Rede stehenden polnischen Rechtsvorschriften mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV festgestellt hat, sondern dem vorlegenden Gericht die hierfür erforderlichen Beurteilungen überlassen hat, doch ist darauf hinzuweisen, dass das durch Art. 267 AEUV eingerichtete Vorabentscheidungsverfahren ein Verfahren des unmittelbaren Zusammenwirkens des Gerichtshofs und der Gerichte der Mitgliedstaaten darstellt. Im Rahmen dieses Verfahrens, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, fällt jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts, das im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat, während der Gerichtshof nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern (Urteile vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 27, vom 30. Mai 2018, Dell’Acqua, C‑370/16, EU:C:2018:344, Rn. 31, und vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 28). 105 In diesem Zusammenhang sind die Aufgaben des Gerichtshofs danach zu unterscheiden, ob er mit einem Vorabentscheidungsersuchen oder mit einer Vertragsverletzungsklage befasst ist. Während der Gerichtshof nämlich im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage prüfen muss, ob die von der Kommission oder einem anderen als dem betroffenen Mitgliedstaat beanstandete nationale Maßnahme oder Praxis allgemein, und ohne dass diesbezüglich ein Rechtsstreit vor die nationalen Gerichte gebracht zu werden braucht, dem Unionsrecht zuwiderläuft, besteht die Aufgabe des Gerichtshofs in einem Vorabentscheidungsverfahren dagegen darin, das vorlegende Gericht bei der Entscheidung des konkret bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu unterstützen (Urteile vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 47, und vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 106 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, auch wenn es nicht seine Sache ist, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu beurteilen, gleichwohl befugt ist, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteile vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales, C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 23, und vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 30). 107 In Anwendung dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof in Rn. 132 des Urteils A. K. ausgeführt, dass er seine Prüfung auf die Bestimmungen des Unionsrechts beschränkt und dieses in einer für das vorlegende Gericht sachdienlichen Weise ausgelegt hat; diesem oblag es, im Licht der vom Gerichtshof gegebenen Auslegungshinweise zu beurteilen, ob die fraglichen polnischen Bestimmungen mit dem Unionsrecht vereinbar waren, um über die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden (vgl. auch Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 75). 108 Die Relevanz gerade dieser Faktoren kann, da sie sich im Wesentlichen auf die Zuständigkeiten der Disziplinarkammer, ihre Zusammensetzung, die Bedingungen und das Verfahren zur Ernennung ihrer Mitglieder sowie auf den Grad ihrer Autonomie innerhalb des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beziehen, nicht auf die tatsächlichen Umstände beschränkt werden, die dem Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 5. Dezember 2019 eigen sind (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 76). 109 Das Vorbringen der Republik Polen, mit dem dem Urteil A. K. jede Relevanz für die Beurteilung der Frage abgesprochen wird, ob die vierte Rüge der Klage auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage erscheint, kann daher keinen Erfolg haben. 110 Als Drittes macht die Republik Polen geltend, dass es in anderen Mitgliedstaaten für das Verfahren zur Ernennung von Richtern der nationalen obersten Gerichte ähnliche Regeln wie in der Republik Polen gebe. In diesem Zusammenhang führt die Republik Polen zum einen die Regelungen in der Tschechischen Republik sowie in Deutschland, Irland, Litauen, Malta und Österreich an, nach denen die Auswahl dieser Richter ausschließlich oder überwiegend Personen anvertraut sei, die die ausführende oder gesetzgebende Gewalt ausübten, und zum anderen die in Belgien, Dänemark und Frankreich bestehenden Regelungen, nach denen Vertreter der rechtsprechenden Gewalt an dem Verfahren zur Ernennung der Richter der obersten Gerichte beteiligt seien, ohne indessen einen ausschlaggebenden Einfluss auf ihre Auswahl auszuüben. Was im Übrigen insbesondere das Verfahren zur Ernennung der KRS betrifft, erwähnt die Republik Polen auch die spanische Regelung und nimmt auf die Bedingungen der Ernennung der Mitglieder des Consejo General del Poder Judicial (Nationaler Richterrat, Spanien) Bezug. Die Tatsache, dass die Kommission diese nationalen Regelungen nicht in Frage gestellt habe, zeige, dass ihre Rüge hinsichtlich der fehlenden Unabhängigkeit der Disziplinarkammer unbegründet sei. 111 Für die Zwecke des vorliegenden Verfahrens genügt insoweit allerdings die Feststellung, dass sich die Republik Polen nicht mit Erfolg darauf berufen kann, dass es Vorschriften gebe, die den nationalen Bestimmungen ähnlich seien, auf die sich die vierte Rüge der Klage beziehe, um darzutun, dass die Voraussetzung des fumus boni iuris in Bezug auf diese Rüge nicht erfüllt sei (Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021, Rn. 58). 112 Als Viertes und Letztes verweist die Republik Polen auf die Merkmale der Regelung für die Ernennung der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und des Verfahrens zur Ernennung der Mitglieder der KRS, eines Organs, das an der Bestimmung dieser Richter beteiligt sei, um darzutun, dass diese Regelung dem Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit entspreche. 113 Angesichts insbesondere der Auslegungshinweise, die der Gerichtshof im Urteil A. K. gegeben hat, kann dieses Vorbringen indessen nicht die Feststellung erlauben, dass die vierte Rüge der Klage auf den ersten Blick ohne ernsthafte Grundlage erscheint. 114 Nach alledem ist festzustellen, dass die Voraussetzung des fumus boni iuris in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. a und b des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist. – Zur Dringlichkeit 115 Wie in Rn. 68 des vorliegenden Beschlusses dargelegt, besteht der Zweck des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs darin, die volle Wirksamkeit der künftigen Endentscheidung zu gewährleisten, um eine Lücke in dem vom Gerichtshof gewährten Rechtsschutz zu verhindern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist die Dringlichkeit im Hinblick darauf zu beurteilen, ob eine einstweilige Anordnung erforderlich ist, um den Eintritt eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens bei der Partei, die den vorläufigen Rechtsschutz beantragt, zu verhindern. Dieser Partei obliegt der Nachweis, dass sie den Ausgang des Verfahrens zur Hauptsache nicht abwarten kann, ohne dass ihr ein derartiger Schaden entstünde. Für den Nachweis des Bestehens eines solchen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens braucht sein Eintritt nicht mit absoluter Sicherheit nachgewiesen zu werden. Es genügt, dass seine Entstehung mit einem hinreichenden Grad von Wahrscheinlichkeit vorhersehbar ist (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung). 116 Außerdem muss der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter zum alleinigen Zweck der Beurteilung der Dringlichkeit, ohne dass dies eine wie auch immer geartete Stellungnahme seinerseits zur Begründetheit der vom Antragsteller in der Hauptsache geltend gemachten Rügen bedeutete, als gegeben annehmen, dass diese Rügen durchgreifen könnten. Denn der schwere und nicht wiedergutzumachende Schaden, dessen wahrscheinlicher Eintritt glaubhaft gemacht werden muss, ist der Schaden, der sich gegebenenfalls aus der Ablehnung der beantragten einstweiligen Anordnungen in dem Fall ergäbe, dass anschließend der Klage in der Hauptsache stattgegeben würde (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). 117 Folglich muss der Gerichtshof im vorliegenden Fall für die Beurteilung der Dringlichkeit als gegeben annehmen, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die vierte Rüge der Klage bezieht, die Zuständigkeit für Entscheidungen in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), in Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand und in Sachen betreffend die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter oder Assessoren oder zur Untersuchungshaft von Richtern oder Assessoren einer Einrichtung zuweisen könnten, deren Unabhängigkeit möglicherweise nicht gewährleistet ist, und damit gegen die der Republik Polen nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV obliegende Verpflichtung verstoßen könnten, zu gewährleisten, dass die nationalen Gerichte, die Bestandteil ihres Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes gerecht werden. 118 Bei dieser Beurteilung ist im Übrigen zu berücksichtigen, dass die Disziplinarkammer ihre Tätigkeiten in den Sachen nach Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht bereits aufgenommen hat. 119 Was ferner insbesondere die Sachen betrifft, in denen es um die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter oder Assessoren oder zur Untersuchungshaft von Richtern oder Assessoren geht, ist auch zu berücksichtigen, dass die Disziplinarkammer, wie die Kommission ausgeführt hat, ohne dass die Republik Polen dem widersprochen hätte, erstens im Zeitraum vom 14. Februar 2020, dem Tag des Inkrafttretens des Änderungsgesetzes, bis zum 15. März 2021 mit mehr als 40 Anträgen befasst wurde, von denen einer den Präsidenten der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen betraf, und dass seit dem 5. November 2020 mehr als 20 Anträge bereits geprüft wurden. Zweitens stieg die Zahl der Anträge betreffend Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in den Wochen vor der Klageerhebung an, wobei insbesondere die Einreichung von Anträgen der Prokuratura Krajowa (nationale Staatsanwaltschaft, Polen) auf Zustimmung zur Einleitung von Strafverfahren gegen drei Richter der Strafkammer dieses Gerichts am 16. März 2021 zu nennen ist. Drittens erließ die Disziplinarkammer über zwölf Entscheidungen, mit denen der Einleitung von Strafverfahren gegen Richter sowie ihrer Suspendierung von den Amtstätigkeiten und einer Kürzung ihrer Bezüge um 25 % bis 50 % während der Dauer der Suspendierung zugestimmt wurde. 120 In diesem Zusammenhang ist zu prüfen, ob, wie die Kommission geltend macht, die Anwendung der nationalen Vorschriften, auf die sich die vierte Rüge der Klage bezieht, und die Aufrechterhaltung der Wirkungen der von der Disziplinarkammer nach Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassenen Entscheidungen einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Unionsrechtsordnung verursachen können. 121 Wie sich insoweit aus der in den Rn. 88 und 89 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung ergibt, kann der Umstand, dass wegen der Anwendung der nationalen Bestimmungen, auf die sich die vierte Rüge der Klage bezieht, die Prüfung von arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand und Sachen betreffend die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter oder Assessoren oder zur Untersuchungshaft von Richtern oder Assessoren bis zum Erlass des Endurteils in die Zuständigkeit einer Einrichtung fallen, deren Unabhängigkeit möglicherweise nicht gewährleistet ist, nämlich der Disziplinarkammer, in diesem Zeitraum die Unabhängigkeit des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie der ordentlichen Gerichte beeinträchtigen. 122 Wie die Kommission ausgeführt hat und sich im Übrigen aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, kann nämlich die bloße Aussicht für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichte, Gefahr zu laufen, dass Anträge auf Aufhebung ihrer Immunität zum Zweck der Einleitung eines Strafverfahrens gegen sie von einer Einrichtung geprüft werden, deren Unabhängigkeit möglicherweise nicht gewährleistet ist, angesichts der Folgen, die eine Aufhebung der Immunität für die betroffenen Richter mit sich bringen kann, nämlich ihre Suspendierung von den Amtstätigkeiten auf unbestimmte Dauer und die Kürzung ihrer Bezüge um 25 % bis 50 % auf ebenfalls unbestimmte Dauer, ihre eigene Unabhängigkeit beeinträchtigen (vgl. entsprechend Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 90). 123 Ebenso kann der bloße Umstand, dass die Prüfung von Sachen, die sich auf den Status und die Arbeitsbedingungen der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auswirken, etwa von arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen sowie von Sachen betreffend die Versetzung in den Ruhestand, einer Einrichtung übertragen ist, deren Unabhängigkeit möglicherweise nicht gewährleistet ist, bei den Rechtsunterworfenen Zweifel an der Unabhängigkeit dieser Richter wecken. 124 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich indessen, dass der Umstand, dass aufgrund der Anwendung einer nationalen Bestimmung, die Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens ist, die Unabhängigkeit des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) bis zur Verkündung des Urteils, mit dem über diese Klage entschieden wird, möglicherweise nicht gewährleistet ist, für die Unionsrechtsordnung und damit für die Rechte, die die Rechtsunterworfenen aus dem Unionsrecht ableiten, sowie für die in Art. 2 EUV genannten Werte, auf die sich die Union gründet, insbesondere die Rechtsstaatlichkeit, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden hervorrufen kann (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). 125 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Anwendung der nationalen Bestimmungen, auf die sich die vierte Rüge der Klage bezieht, soweit sie der Disziplinarkammer, deren Unabhängigkeit möglicherweise nicht gewährleistet ist, die Zuständigkeit für Entscheidungen in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), für Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand und in Sachen betreffend die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter oder Assessoren des polnischen Justizsystems oder zur Untersuchungshaft solcher Richter oder Assessoren entsprechend dem Vorbringen der Kommission einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Unionsrechtsordnung verursachen kann. 126 Wenn schließlich die bloße Aussicht für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichte, Gefahr zu laufen, dass Anträge auf Aufhebung ihrer Immunität zum Zweck der Einleitung eines Strafverfahrens gegen sie von einer Einrichtung – wie der Disziplinarkammer – geprüft werden, deren Unabhängigkeit möglicherweise nicht gewährleistet ist, die Unabhängigkeit dieser Richter beeinträchtigen kann, dann ist der Erlass von Entscheidungen dieser Einrichtung betreffend die Aufhebung der Immunität von Richtern mit der Folge der Suspendierung von der Amtstätigkeit und der Kürzung der Bezüge der betroffenen Richter erst recht geeignet, die Zweifel daran zu verstärken, dass die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichte, gegen die keine solchen Entscheidungen ergangen sind, für jede Einflussnahme und alle äußeren Faktoren, die ihre Entscheidungen leiten könnten, unempfänglich sind, und kann dazu führen, dass nicht der Eindruck vermittelt wird, dass diese Richter unabhängig und unparteiisch sind, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. 127 Daher kann der Umstand, dass wegen der Aufrechterhaltung der Wirkungen der Entscheidungen der Disziplinarkammer, mit denen der Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter zugestimmt wird, die Unabhängigkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) und der ordentlichen Gerichte, die nicht Gegenstand dieser Entscheidungen sind, bis zur Verkündung des Endurteils möglicherweise nicht gewährleistet ist, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden für das Unionsrecht zur Folge haben, zumal die Ausübung der Rechtsprechung während dieses Zeitraums allein diesen Richtern obliegt. 128 Wie die Kommission ausgeführt hat, kann eine solche Gefahr nur dadurch vermieden werden, dass für die von diesen Entscheidungen betroffenen Richter die Wiederherstellung ihres dienstrechtlichen Status sowie ihrer Rechte und der Bedingungen ihrer Amtsausübung, wie sie vor dem Erlass dieser Entscheidungen bestanden, gewährleistet wird. 129 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Kommission dargetan hat, dass im Fall der Ablehnung des Erlasses der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. a und b des vorliegenden Beschlusses zum einen die Anwendung der nationalen Bestimmungen, die Gegenstand der vierten Rüge der Klage sind, und zum anderen die Aufrechterhaltung der Wirkungen von Entscheidungen, mit denen der Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter des polnischen Justizsystems zugestimmt wird, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Unionsrechtsordnung verursachen kann. 130 Das Vorbringen der Republik Polen, mit dem die fehlende Dringlichkeit dargetan werden soll, kann diese Beurteilung nicht in Frage stellen. 131 Als Erstes macht die Republik Polen geltend, die Kommission habe die aufeinanderfolgenden Schritte zur Beendigung der im Rahmen der vierten Rüge der Klage behaupteten Vertragsverletzung zu spät ergriffen, da die Disziplinarkammer seit dem Erlass des Gesetzes über das Oberste Gericht und nicht erst seit dem Erlass des Änderungsgesetzes für die Entscheidung in Sachen von der Art der in Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht genannten zuständig sei. 132 Was die Nrn. 2 und 3 von Art. 27 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betreffe, seien diese nämlich bereits in dem Gesetz über das Oberste Gericht enthalten gewesen. Was Nr. 1a betreffe, so würden damit lediglich die Befugnisse der Disziplinarkammer für die Entscheidung in Sachen betreffend die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter oder Assessoren oder zur Untersuchungshaft von Richtern oder Assessoren, die sich aus anderen Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht ergäben, auf das erstinstanzliche Verfahren in Sachen betreffend Richter der ordentlichen Gerichte und Assessoren ausgedehnt. 133 Was ferner die Zuständigkeit der Disziplinarkammer für die in Art. 27 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht genannten Sachen angehe, so erlaubten es die Auslegungshinweise, die der Gerichtshof im Urteil A. K. gegeben habe, jede Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens, der sich aus der Anwendung dieser Bestimmung ergebe, zu beseitigen. Sollte nämlich im Licht dieser Auslegungshinweise der Schluss gezogen werden, dass die Prüfung einer dieser Sachen durch die Disziplinarkammer es nicht erlaube, das Recht auf ein unabhängiges Gericht zu gewährleisten, so könnten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta die Bestimmungen unangewendet bleiben, die der Disziplinarkammer die Zuständigkeit für die Entscheidung in einer solchen Sache verliehen, und die Sache könnte an ein anderes Gericht verwiesen werden, das ohne diese Bestimmungen zuständig wäre. 134 Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Kommission, wie aus den Rn. 29 bis 37 des vorliegenden Beschlusses hervorgeht, am 29. April 2020 an die Republik Polen ein erstes Mahnschreiben betreffend das Änderungsgesetz gerichtet hat, d. h. vier Monate nach dessen Erlass im Anschluss an ein Gesetzgebungsverfahren mit einer Dauer von nur acht Tagen. In Anbetracht der Tatsache, dass mit dem Änderungsgesetz nicht nur das Gesetz über das Oberste Gericht, sondern auch andere Gesetze wie u. a. das Gesetz über die ordentliche Gerichtsbarkeit und das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit geändert wurden, kann ein solcher Zeitraum von vier Monaten für die Prüfung sämtlicher durch das Änderungsgesetz eingeführten Änderungen und ihrer Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht sowie für die Beurteilung ihrer Auswirkungen nicht als unangemessen angesehen werden. Im Übrigen zeigt die zeitliche Abfolge des Schriftwechsels zwischen der Kommission und der Republik Polen in der Zeit zwischen diesem Mahnschreiben und der Erhebung der Klage keineswegs eine besondere Untätigkeit der Kommission in Bezug auf die Schritte, die auf die Feststellung der geltend gemachten Vertragsverletzung gerichtet waren. 135 Was sodann die Zuständigkeit der Disziplinarkammer nach Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betrifft, so ist nicht nur unstreitig, dass diese Bestimmung mit dem Änderungsgesetz neu eingeführt wurde, sondern die Republik Polen hat in ihrer schriftlichen Stellungnahme auch die von der Kommission vorgelegten Daten bestätigt, sowohl in Bezug auf die Zahl der Anträge auf Aufhebung der richterlichen Immunität, mit denen die Disziplinarkammer in der Zeit vom 14. Februar 2020 bis zum 15. März 2021 befasst wurde, als auch in Bezug auf die Anträge, die von ihr seit dem 5. November 2020 geprüft wurden, so wie sie in Rn. 119 des vorliegenden Beschlusses wiedergegeben wurden. 136 Es stimmt, dass die Republik Polen die Schlussfolgerung angreift, die die Kommission aus diesen Daten zieht, nämlich eine Intensivierung der Tätigkeiten der Disziplinarkammer nach Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht in den letzten Monaten vor der Erhebung der Klage und der Stellung des vorliegenden Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz, wobei diese Intensivierung nach Ansicht der Kommission die Dringlichkeit belegt. Die Republik Polen macht nämlich geltend, dass ein Gericht, wenn ein Gesetz ihm die Zuständigkeit für die Entscheidung über eine neue Kategorie von Sachen übertrage, zunächst Ermittlungen in diesen Sachen vornehmen müsse, so dass die Zahl der Entscheidungen in dem entsprechenden Bereich in der ersten Zeit notwendigerweise gering sei. Die Republik Polen schließt daraus, dass vernünftigerweise nicht geltend gemacht werden könne, dass die Disziplinarkammer ihre Tätigkeiten intensiviert habe, indem dafür allein angeführt werde, dass sie nach dem Erlass des Änderungsgesetzes in der Zeit vom 5. November 2020 bis zum 15. März 2021 mehr Entscheidungen erlassen habe als in der Zeit vom 14. Februar 2020 bis zum 5. November 2020. 137 Mit dieser Behauptung widerspricht die Republik Polen indessen nicht nur ihrer Behauptung, dass die Disziplinarkammer seit mehr als drei Jahren in Sachen von der Art der in Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht genannten entscheide, sondern zeigt auch, dass die Tätigkeit der Disziplinarkammer, was den Erlass von Entscheidungen nach dieser Bestimmung betrifft, in der Zeit vor der Erhebung der Vertragsverletzungsklage intensiver war als in der Zeit unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes. 138 Schließlich kann sich die Republik Polen, um eine fehlende Dringlichkeit darzutun, mit Erfolg weder darauf berufen, dass Art. 27 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht bereits im Gesetz über das Oberste Gericht enthalten gewesen sei, noch darauf, dass das Urteil A. K. es ermögliche, die Gefahr des Eintritts eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens infolge der Anwendung dieser Bestimmung abzuschwächen. Mit dem Änderungsgesetz wurden nämlich einige Bestimmungen eingeführt, die die Kommission mit ihrer Klage angreift, da sie die nationalen Gerichte insbesondere daran hinderten, die sich aus diesem Urteil ergebenden Grundsätze anzuwenden, und somit seit dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes die Wirksamkeit dieses Urteils im Hinblick auf die genannten Zwecke beeinträchtigten. 139 Als Zweites macht die Republik Polen geltend, dass sich aus dem Umstand, dass die Immunität eines Richters, in Bezug auf den Beweise für die Begehung einer Straftat vorlägen, aufgehoben worden sei und er strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könne, kein Schaden für die Rechtspflege ergebe. Die Gefahr des Eintritts eines solchen Schadens bestehe umso weniger, als das Strafverfahren, das auf eine Entscheidung über die Aufhebung der Immunität folge, nicht vor der Disziplinarkammer, sondern vor der Strafkammer geführt werde. 140 Insoweit genügt jedoch der Hinweis, dass sich, wie aus den Beurteilungen in den Rn. 121 bis 125 des vorliegenden Beschlusses hervorgeht, die Gefahr des Eintritts eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens nicht daraus ergibt, dass gegen Richter des polnischen Justizsystems eine Entscheidung über die Aufhebung ihrer Immunität zum Zweck der Einleitung eines Strafverfahrens gegen sie ergehen kann, sondern daraus, dass solche Entscheidungen von einer Einrichtung erlassen werden, deren Unabhängigkeit möglicherweise nicht gewährleistet ist. Der Umstand, dass das Strafverfahren im Anschluss an eine Entscheidung über die Aufhebung ihrer Immunität nicht vor der Disziplinarkammer geführt wird, erlaubt es daher nicht, eine solche Gefahr auszuschließen. 141 Nach alledem ist der Schluss zu ziehen, dass die Voraussetzung der Dringlichkeit in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. a und b des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist. – Zur Interessenabwägung 142 Bei den meisten Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes können sowohl der Erlass als auch die Ablehnung der beantragten Aussetzung des Vollzugs in gewissem Maße bestimmte endgültige Wirkungen zeitigen, und es ist Sache des für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richters, der mit einem Aussetzungsantrag befasst ist, die mit beiden Entscheidungsmöglichkeiten verbundenen Risiken gegeneinander abzuwägen. Konkret bedeutet dies u. a., dass zu prüfen ist, ob das Interesse der Partei, die die einstweiligen Anordnungen beantragt, an der Aussetzung des Vollzugs der nationalen Vorschriften schwerer wiegt als das Interesse an deren sofortiger Anwendung. Dabei ist zu bestimmen, ob eine Aufhebung dieser Vorschriften, nachdem der Gerichtshof der Klage in der Hauptsache stattgegeben hat, die Umkehrung der Lage erlauben würde, die durch ihren sofortigen Vollzug entstünde, und inwieweit umgekehrt die Aussetzung des Vollzugs die Erreichung der mit diesen Vorschriften verfolgten Ziele behindern würde, falls die Klage abgewiesen würde (Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen, C‑791/19 R, EU:C:2020:277, Rn. 104 und die dort angeführte Rechtsprechung). 143 Im vorliegenden Fall trägt die Kommission vor, dass, wenn der Gerichtshof der vierten Rüge der Klage stattgeben sollte, nachdem er es abgelehnt habe, die einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. a und b des vorliegenden Beschlusses zu erlassen, das ordnungsgemäße Funktionieren der Unionsrechtsordnung systemisch beeinträchtigt werde und die Rechte, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwüchsen, sowie die in Art. 2 EUV genannten Werte der Rechtsstaatlichkeit in nicht wiedergutzumachender Weise beeinträchtigt würden. Sollte der Gerichtshof die beantragten einstweiligen Anordnungen erlassen und die Rüge anschließend zurückweisen, hätte dies dagegen nur zur Folge, dass zum einen die nach Art. 27 § 1 Nrn. 1a, 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht in die Zuständigkeit der Disziplinarkammer fallenden Tätigkeiten zeitweise ausgesetzt würden und zum anderen die Entscheidungen der Disziplinarkammer betreffend die Immunität der Richter nicht durchgeführt würden. 144 Die Republik Polen macht ihrerseits, was als Erstes den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. a des vorliegenden Beschlusses betrifft, erstens geltend, dass die Aussetzung der Anwendung von Art. 27 § 1 Nr. 1a des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht nicht nur gegen das Subsidiaritätsprinzip und die tragenden Grundsätze der Unionsrechtsordnung verstoßen würde, sondern auch gegen die durch die Verfassung der Republik Polen geschützten Grundprinzipien des Systems eines demokratischen Rechtsstaats, was für diesen Mitgliedstaat und seine Bevölkerung einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden bewirken würde. 145 Dazu genügt indessen der Hinweis, dass, wie in Rn. 50 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt worden ist, die Organisation der Justiz der Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben. 146 Zweitens macht die Republik Polen geltend, dass die Aussetzung der Wirkungen aller Entscheidungen, mit denen der Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter zugestimmt werde, zur Verjährung eines Teils der begangenen Straftaten führen würde. Im Übrigen müssten noch nicht abgeschlossene Verfahren mit der Einreichung einer neuen Anklageschrift von vorne begonnen werden, was auch zur Folge hätte, dass die Straftäter zum Teil wegen Zeitablaufs ihrer Verantwortung entgehen könnten. Schließlich würde die Aussetzung der Wirkungen aller Entscheidungen der Disziplinarkammer dazu führen, dass Maßnahmen, die die Gerichte gegebenenfalls zum Schutz der Opfer von Straftaten wie Vergewaltigung oder häuslicher Gewalt angeordnet hätten, hinfällig würden. Der Erlass der von der Kommission beantragten einstweiligen Anordnung würde somit die Interessen der Opfer der Straftaten beeinträchtigen, die von den von diesen Entscheidungen betroffenen Richtern begangen worden seien. 147 Ohne einer Prüfung der Stichhaltigkeit des Vorbringens der Republik Polen vorzugreifen, wonach die Aussetzung der Wirkungen der Entscheidungen der Disziplinarkammer betreffend die Aufhebung der Immunität von Richtern zur Verjährung der von den betreffenden Richtern begangenen Straftaten führen könnte, ist festzustellen, dass die Republik Polen keinerlei Angaben zur Zahl der Entscheidungen der Disziplinarkammer macht, bei denen die Aussetzung ihrer Wirkungen in Anbetracht der besonderen Umstände dieser Entscheidungen zu einer solchen Folge führen könnte. Ebenso wenig macht die Republik Polen konkrete Angaben zum Nachweis dessen, dass es Entscheidungen über die Aufhebung der Immunität eines Richters zum Zweck der Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihn wegen Vergewaltigung oder häuslicher Gewalt gibt, das zum Ergreifen von Maßnahmen zum Schutz der Opfer dieser Straftaten geführt hätte. Somit hat die Republik Polen nicht dargetan, dass die Gefahr besteht, dass der geltend gemachte Schaden eintritt. 148 Drittens macht die Republik Polen geltend, die Wiederaufnahme der Rechtsprechungstätigkeit durch von strafrechtlichen Anklagen betroffene Richter führte zum einen zu einer echten Gefahr für die Sicherheit der Rechtspflege, da diese Richter von der Wiederaufnahme ihrer Tätigkeiten profitieren könnten, um insbesondere ihre persönlichen Interessen zu begünstigen, und zum anderen dazu, dass nicht der Eindruck vermittelt würde, dass diese Richter unabhängig seien, was einen nicht wiedergutzumachenden Schaden für die polnische Justiz und ihre Wahrnehmung durch die Rechtsunterworfenen verursachen würde. Es lasse sich nämlich schwerlich davon sprechen, dass ein Richter den Eindruck der Unabhängigkeit vermittle, wenn er von Korruptionsvorwürfen betroffen sei. 149 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass gegen einen Richter, der die Wiederaufnahme der Rechtsprechungstätigkeit dazu nutzen würde, bei der Ausübung seiner richterlichen Aufgaben seine persönlichen Interessen zu begünstigen, die Maßnahmen ergriffen werden könnten, die im nationalen Recht vorgesehen sind, um einem solchen Verhalten ein Ende zu setzen, darunter gegebenenfalls auch strafrechtliche Maßnahmen, soweit im letztgenannten Fall die Entscheidung über die Aufhebung der Immunität des betreffenden Richters von einer unabhängigen gerichtlichen Einrichtung erlassen wird, die den im Urteil A. K. genannten Anforderungen gerecht wird. 150 Zum anderen trifft es zwar zu, dass in Anbetracht der Aufgaben, die Richter wahrzunehmen haben, die Wiederaufnahme der Rechtsprechungstätigkeit durch einen Richter, dem vorgeworfen wird, Straftaten begangen zu haben, die ihrer Natur nach eine Empfänglichkeit für äußere Einflüsse implizieren, wie etwa die Straftat der Korruption, Zweifel an der Unabhängigkeit dieses Richters wecken könnte. Die Republik Polen hat allerdings keinerlei Angaben dazu gemacht, welchen Anteil die von der Disziplinarkammer gegen Richter, denen die Begehung derartiger Straftaten vorgeworfen wird, erlassenen Entscheidungen an allen von ihr in der Zeit vom Inkrafttreten des Änderungsgesetzes am 14. Februar 2020 bis zur Erhebung der Vertragsverletzungsklage am 31. März 2021 erlassenen Entscheidungen über die Aufhebung der Immunität ausmachen. Solche Angaben hätten indessen eine Beurteilung des Bestehens und der Schwere des geltend gemachten Schadens ermöglicht. 151 Was als Zweites den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. b des vorliegenden Beschlusses betrifft, betont die Republik Polen, dass die Anwendung von Art. 27 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht keinen Schaden verursache, da es entsprechend dem Urteil A. K. möglich sei, unter diese Bestimmung fallende Sachen einem Gericht zuzuweisen, das das Recht auf ein unabhängiges Gericht gewährleiste, wenn die tatsächliche Gefahr bestehe, dass das Recht einer Partei verletzt werde. Würde dagegen die Anwendung dieser Bestimmung ausgesetzt, so würde der Disziplinarkammer die Möglichkeit genommen, über Sachen zu befinden, in denen keine Rüge in Bezug auf die Gewährleistung des Rechts auf ein unabhängiges Gericht durch diese Kammer erhoben werde. 152 Aus den in Rn. 138 des vorliegenden Beschlusses genannten Gründen ist jedoch die Wirksamkeit des Urteils A. K. als Faktor, der es erlaubt, die Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Unionsrechtsordnung infolge der Anwendung von Art. 27 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zu beseitigen, nicht dargetan. 153 Unter diesen Umständen ist der Schluss zu ziehen, dass die Interessenabwägung für den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. a und b des vorliegenden Beschlusses spricht. Zu den einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. d des vorliegenden Beschlusses – Zum fumus boni iuris 154 Die Kommission trägt vor, die erste Rüge der Klage, die sich auf die nationalen Bestimmungen bezieht, die Gegenstand der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. d des vorliegenden Beschlusses sind, erscheine auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage. Diese Rüge werde konkret darauf gestützt, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie aus Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen habe, dass sie es jedem nationalen Gericht verboten habe, die Beachtung der Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht zu überprüfen. 155 Die Kommission beruft sich insoweit u. a. auf die Rechtsgrundsätze, die sich aus dem Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232), insbesondere seinen Rn. 55 bis 57 und 73 bis 75 ergeben, aus denen hervorgehe, dass die gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Ernennung der Richter und der Legitimität der Justizorgane insbesondere im Hinblick auf Unregelmäßigkeiten im Verfahren zur Ernennung zum Richter, erforderlich sei, um das Grundrecht der Einzelnen auf einen wirksamen Rechtsbehelf in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten, und macht geltend, dass die Bestimmungen, auf die sich die erste Rüge der Klage beziehe, gegen Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstießen, soweit den polnischen Gerichten damit die Vornahme einer solchen Kontrolle untersagt werde. 156 Außerdem hindere das Verbot der Vornahme einer solchen Kontrolle die nationalen Gerichte daran, dem Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV Fragen nach der Auslegung der Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht zur Vorabentscheidung vorzulegen. 157 Schließlich macht die Kommission geltend, der Umstand, dass der angeblich systemische Charakter des Rechtsakts zur Ernennung eines Richters in Polen gemäß der Verfassung der Republik Polen nicht in Frage gestellt werden könne, könne den Ausschluss der gerichtlichen Kontrolle nicht rechtfertigen, die darauf abziele, die Beachtung der unionsrechtlichen Anforderung in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht zu überprüfen, um das Grundrecht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten. Im Fall eines nachgewiesenen Verstoßes gegen dieses Grundrecht sei es durch den Effektivitätsgrundsatz und den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, wie sie sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta ergäben, geboten – soweit dies erforderlich sei, um den Grundsatz der Rechtssicherheit mit der Achtung des anwendbaren Rechts und der besonderen Rolle in Einklang zu bringen, die die rechtsprechende Gewalt in einer demokratischen Gesellschaft spielen müsse –, dass die nationalen Vorschriften, darunter auch verfassungsrechtliche, unangewendet blieben, wie aus Rn. 151 des Urteils A. B. hervorgehe. 158 Die Republik Polen macht geltend, die von der Kommission im Rahmen der ersten Rüge der Klage beanstandeten nationalen Bestimmungen, die das Verbot vorsähen, unter Verstoß gegen Verfassungsbestimmungen das Bestehen eines Dienstverhältnisses oder das Mandat von Richtern in Frage zu stellen, hinderten die nationalen Gerichte keineswegs daran, die Beachtung der unionsrechtlichen Anforderungen in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta zu überprüfen, da ein rechtliches Verbot in Bezug auf unmögliche Handlungen keinerlei rechtlichen Wert habe. 159 Das durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht umfasse nämlich nicht das Recht eines Einzelnen auf einen Antrag dahin gehend, das Mandat eines Richters in Frage zu stellen, der die ihn betreffende Sache geprüft habe oder geprüft hätte. 160 Zur Klärung der Frage, ob die Voraussetzung des fumus boni iuris in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. d des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist, ist insoweit in Anbetracht der Stellungnahme der Republik Polen erstens festzustellen, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die erste Rüge der Klage bezieht, den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die ordentlichen Gerichte und die Verwaltungsgerichte daran hindern, die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung der Richter der Spruchkörper zu überprüfen und gegebenenfalls die Unregelmäßigkeit des entsprechenden Verfahrens festzustellen. 161 Aus dem in den Rn. 158 und 159 des vorliegenden Beschlusses wiedergegebenen Vorbringen der Republik Polen geht nämlich hervor, dass dieser Mitgliedstaat nicht bestreitet, dass diese nationalen Bestimmungen den nationalen Gerichten die Vornahme einer solchen Überprüfung untersagen, sondern geltend macht, dass ein solches, mit den polnischen Verfassungsbestimmungen im Einklang stehendes Verbot nicht als Verstoß gegen seine Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, das Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht zu gewährleisten, angesehen werden könne. 162 Somit wirft die erste Rüge der Klage die Frage auf, ob die Mitgliedstaaten, um ihrer Verpflichtung aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta nachzukommen, sicherzustellen, dass die nationalen Gerichte, die Bestandteil ihres Rechtsschutzsystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen, darunter der der Unabhängigkeit, gerecht werden, gewährleisten müssen, dass diese Gerichte die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung der Richter eines Spruchkörpers überprüfen können. 163 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich, wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, aus dem durch Art. 47 der Charta garantierten Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht ergibt, dass der Einzelne grundsätzlich die Möglichkeit haben muss, sich auf eine Verletzung dieses Rechts zu berufen. Folglich muss der Unionsrichter prüfen können, ob eine Vorschriftswidrigkeit des in Rede stehenden Ernennungsverfahrens zu einer Verletzung dieses Grundrechts führen konnte (Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 55). 164 Die Garantien für den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, und insbesondere diejenigen, die für den Begriff und die Zusammensetzung des Gerichts bestimmend sind, bilden den Grundpfeiler des Rechts auf ein faires Verfahren. Danach muss jedes Gericht überprüfen, ob es in Anbetracht seiner Zusammensetzung ein solches Gericht ist, wenn insoweit ein ernsthafter Zweifel besteht. Diese Überprüfung ist im Hinblick auf das Vertrauen erforderlich, das die Gerichte einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtssuchenden wecken müssen. In diesem Sinne stellt eine solche Überprüfung ein wesentliches Formerfordernis dar, das zwingend zu beachten und von Amts wegen zu prüfen ist (Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 165 Im Übrigen soll nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Einfügung des Ausdrucks „auf Gesetz beruhend“ in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, dem Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta entspricht, verhindern, dass die Organisation des Justizsystems in das Ermessen der Exekutive gestellt wird, und dafür sorgen, dass dieser Bereich durch ein Gesetz geregelt wird, das von der gesetzgebenden Gewalt im Einklang mit den Vorschriften über die Ausübung ihrer Zuständigkeit erlassen wurde. Dieser Ausdruck spiegelt nach den Ausführungen des Gerichtshofs insbesondere das Rechtsstaatsprinzip wider und umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts, sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in jeder Rechtssache sowie alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache vorschriftswidrig macht, was insbesondere Vorschriften über die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Mitglieder des betreffenden Gerichts einschließt (Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung). 166 Desgleichen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass das Recht, von einem „auf Gesetz beruhenden“ Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK abgeurteilt zu werden, schon seinem Wesen nach das Verfahren zur Ernennung der Richter umfasst (Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung). 167 Somit stellt eine bei der Ernennung der Richter im betroffenen Justizsystem begangene Vorschriftswidrigkeit einen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Charta dar, insbesondere dann, wenn die Art und Schwere der Vorschriftswidrigkeit dergestalt ist, dass sie die tatsächliche Gefahr begründet, dass andere Teile der Staatsgewalt – insbesondere die Exekutive – ein ihnen nicht zustehendes Ermessen ausüben können, wodurch die Integrität des Ergebnisses des Ernennungsverfahrens beeinträchtigt und so beim Einzelnen berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des oder der betreffenden Richter geweckt werden, was der Fall ist, wenn es um Grundregeln geht, die Bestandteil der Errichtung und der Funktionsfähigkeit dieses Justizsystems sind (Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 75). 168 Schließlich hat der Gerichtshof in Rn. 171 des Urteils A. K. entschieden, dass das Unionsrecht dem entgegensteht, dass Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts in die ausschließliche Zuständigkeit einer Einrichtung fallen können, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta ist. Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass es Sache des vorlegenden Gerichts war, im Licht der gegebenen Auslegungshinweise zu entscheiden, ob dies bei der für die Ausgangsrechtsstreitigkeiten zuständigen Einrichtung, d. h. der Disziplinarkammer, der Fall war, und das in einem solchen Fall der Grundsatz des Vorrangs des Unionrechts das vorlegende Gericht dazu verpflichtet, die nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen, die die Zuständigkeit einer solchen Einrichtung zuweisen. 169 Wie in Rn. 108 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, betreffen die dem vorlegenden Gericht vom Gerichtshof gegebenen Auslegungshinweise für die Beurteilung, ob es sich bei der Disziplinarkammer um ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne des Unionsrechts handelt, u. a. die Bedingungen und das Verfahren der Ernennung der Mitglieder dieses Gerichts. 170 Somit zeigt sich, dass die Mitgliedstaaten, um ihren Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nachzukommen, gewährleisten müssen, dass gerichtlich überprüft werden kann, ob die nationalen Gerichte, die Bestandteil ihres Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, und die Richter dieser Gerichte die mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen beachten, wobei diese Überprüfung insbesondere die der Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung der Richter dieser Gerichte umfasst. 171 Daher kann auf den ersten Blick nicht ausgeschlossen werden, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die erste Rüge der Vertragsverletzungsklage bezieht, dadurch, dass sie es den nationalen Gerichten untersagen sollen, die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung eines Richters oder die Legitimität eines Gerichts zu überprüfen, gegen die der Republik Polen nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK obliegende Verpflichtung verstoßen, zu gewährleisten, dass die nationalen Gerichte, die Bestandteil ihres Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen gerecht werden. 172 Zweitens ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, in Anwendung des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der Zusammenarbeit das unmittelbar geltende Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den Einzelnen verleiht, zu schützen, indem es jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Unionsnorm ergangen ist, unangewendet lässt (Urteile vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Januar 2021, Whiteland Import Export, C‑308/19, EU:C:2021:47, Rn. 31). 173 Demnach ist jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs‑, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, unmittelbar zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften beiseite zu lassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der unmittelbar geltenden Normen des Unionsrechts bilden, mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar (Urteile vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 36). 174 Daher missachtet eine nationale Vorschrift, die es einem im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufenen nationalen Gericht verwehrt, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta anzuwenden und jede gegen diese Bestimmungen verstoßende nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts. 175 Unter diesen Umständen kann auf den ersten Blick nicht ausgeschlossen werden, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die erste Rüge der Klage bezieht, auch gegen die Verpflichtungen verstoßen, die dem betreffenden Mitgliedstaat nach dem Grundsatz des Vorrangs aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta obliegen. 176 Daher ist, ohne sich in diesem Stadium zur Stichhaltigkeit der von den Parteien im Rahmen der ersten Rüge der Klage vorgebrachten Argumente zu äußern, wofür allein der Richter der Hauptsache zuständig ist, der Schluss zu ziehen, dass das Vorbringen der Kommission im Rahmen dieser Rüge in Anbetracht der von ihr vorgebrachten Gesichtspunkte sowie der in den Rn. 163 bis 168 sowie 172 und 173 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage im Sinne der in Rn. 79 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung erscheint. 177 Folglich ist festzustellen, dass die Voraussetzung des fumus boni iuris in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. d des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist, ohne dass es erforderlich wäre, zu beurteilen, ob das Vorbringen zu dem behaupteten Verstoß der nationalen Bestimmungen, auf die sich die erste Rüge der Klage bezieht, gegen Art. 267 AEUV auf den ersten Blick begründet ist, wie sich aus der in Rn. 79 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung ergibt. – Zur Dringlichkeit 178 Nach der in Rn. 116 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung muss der Gerichtshof für die Beurteilung der Dringlichkeit als gegeben annehmen, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die erste Rüge der Klage bezieht, dadurch, dass es den Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte damit untersagt werden soll, die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung der Richter zu überprüfen und gegebenenfalls die Vorschriftswidrigkeit des entsprechenden Verfahrens festzustellen, gegen die der Republik Polen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta obliegende Verpflichtung verstoßen können, zu gewährleisten, dass die nationalen Gerichte, die Bestandteil ihres Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen gerecht werden. Außerdem ist als gegeben anzunehmen, dass diese nationalen Bestimmungen geeignet sind, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit angerufenen nationalen Gerichte daran zu hindern, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta anzuwenden und nationale Bestimmungen, die gegen diese unionsrechtlichen Bestimmungen verstoßen, unangewendet zu lassen, und damit gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen können. 179 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass die polnischen Gerichte durch die Anwendung der nationalen Bestimmungen, auf die sich die erste Rüge der Klage bezieht, bis zur Verkündung des Endurteils daran gehindert sein könnten, zu prüfen, ob ein Richter oder ein Gericht den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Garantien gerecht wird, geeignet ist, die Unabhängigkeit der entsprechenden polnischen Gerichte in dieser Zeit zu beeinträchtigen, und folglich entsprechend der in Rn. 124 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung der Unionsrechtsordnung und damit den Rechten, die die Einzelnen aus dem Unionsrecht ableiten, sowie den in Art. 2 EUV genannten Werten, auf die sich die Union gründet, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen kann. 180 Die Gefahr des Eintritts eines solchen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens ist zudem angesichts der Besonderheiten des rechtlichen Zusammenhangs, in den sich diese Bestimmungen einfügen, umso wahrscheinlicher. 181 Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass das Änderungsgesetz das letzte Element einer Reihe von gesetzgeberischen Reformen betreffend die Organisation der polnischen Justiz ist, die die Republik Polen seit Ende 2015 vorgenommen hat. Dabei war die Reform von 2017 gerade wegen der mit ihr mutmaßlich bewirkten systemischen Unzulänglichkeiten hinsichtlich der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte und insbesondere in Bezug auf die Bedingungen der Ernennung der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) stark umstritten und führte im Übrigen zu mehreren Vertragsverletzungsverfahren, zu zahlreichen an den Gerichtshof gerichteten Vorabentscheidungsersuchen sowie dazu, dass die Kommission am 20. Dezember 2017 gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV einen Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Feststellung der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die Republik Polen (COM[2017] 835 final) erlassen hat. 182 In einem Kontext, in dem die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte infolge der in der vorstehenden Randnummer genannten Gesetzesreformen ernsthaft in Zweifel steht, würde indessen die Anwendung nationaler Bestimmungen, die die nationalen Gerichte daran hindern würden, zu überprüfen, ob ein Richter oder ein Gericht den Anforderungen in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit gerecht wird, die bestehenden Zweifel an der Unabhängigkeit dieser Gerichte ganz offensichtlich nur verstärken und dazu führen, dass noch weniger der Eindruck vermittelt wird, dass die polnische Justiz unabhängig ist, und den Vertrauensverlust bei den Rechtsuchenden und den anderen Mitgliedstaaten in das Justizsystem der Republik Polen erschweren. 183 Die Republik Polen macht geltend, die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur Beachtung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts schließe die Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens aus, der sich aus der Anwendung der nationalen Bestimmungen ergebe, auf die sich die erste Rüge der Klage beziehe. 184 Diesem Argument kann jedoch nicht gefolgt werden, da, wie in Rn. 178 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, zur Beurteilung der Dringlichkeit als gegeben anzunehmen ist, dass diese Bestimmungen geeignet sind, die nationalen Gerichte daran zu hindern, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta anzuwenden und alle nationalen Bestimmungen, die gegen diese unionsrechtlichen Bestimmungen verstoßen, unangewendet zu lassen, was zur Missachtung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts durch diese Gerichte führt. 185 Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Beachtung der einem nationalen Gericht nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts obliegenden Verpflichtungen bedeuten würde, dass dieses Gericht gegen die streitigen nationalen Bestimmungen verstoßen würde, was ein Disziplinarvergehen darstellen könnte. Hierzu ist festzustellen, dass die Republik Polen in ihrer Stellungnahme zu den einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. c des vorliegenden Beschlusses anerkannt hat, dass die Beurteilung der Ordnungsmäßigkeit der Ernennung eines Richters durch einen Richter ein Vergehen gemäß Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht darstellen kann. 186 Wie die Kommission hervorgehoben hat, kann indessen die bloße Aussicht für die nationalen Richter, gegebenenfalls wegen der Einhaltung ihrer Verpflichtungen aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts disziplinarrechtlich belangt werden zu können, sie davon abhalten, diesen Grundsatz zu beachten. 187 Schließlich kann sich die Republik Polen für den Nachweis der fehlenden Dringlichkeit nicht mit Erfolg auf das Bestehen eines Systems von Rechtsbehelfen gegen die Entscheidungen der nationalen Gerichte berufen, da sie nichts vorträgt, was die Feststellung zuließe, dass dieses System so ausgestaltet ist, dass dadurch in einem Kontext wie dem in den Rn. 181 und 182 des vorliegenden Beschlusses beschriebenen die Gefahr beseitigt werden könnte, dass es infolge der Anwendung der streitigen nationalen Bestimmungen zu einem schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden für die Unionsrechtsordnung kommt. 188 Nach alledem ist der Schluss zu ziehen, dass die Voraussetzung der Dringlichkeit in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. d des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist. – Zur Interessenabwägung 189 Die Kommission weist darauf hin, dass, wenn der Gerichtshof der ersten Rüge der Klage stattgeben sollte, nachdem er es abgelehnt habe, die einstweilige Anordnung entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. d des vorliegenden Beschlusses zu erlassen, der Unionsrechtsordnung und den den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen würde. Sollte der Gerichtshof diese Anordnung erlassen und die Rüge anschließend zurückweisen, hätte dies dagegen nur die vorübergehende Aussetzung der Anwendung der Bestimmungen, auf die sich diese Rüge beziehe, zur Folge. 190 Die Republik Polen macht geltend, die Aussetzung der streitigen nationalen Bestimmungen würde gegen die grundlegenden Prinzipien verstoßen, die sich insbesondere aus der Verfassung der Republik Polen ergäben. Eine solche Aussetzung bedeute daher nicht, dass die Gerichte Richter unter anderen als den in Art. 180 der Verfassung vorgesehenen Voraussetzungen abberufen könnten. Schließlich beeinträchtigten die Wirkungen einer solchen Aussetzung eindeutig die Interessen der Justiz. 191 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Republik Polen in Anbetracht der mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verbundenen Wirkungen nicht mit Erfolg auf einen Widerspruch zwischen den Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, einschließlich solcher mit Verfassungsrang, und den Wirkungen berufen kann, die die Anwendung einer vom Gerichtshof erlassenen einstweiligen Anordnung wie der Aussetzung der nationalen Bestimmungen, auf die sich die erste Rüge der Klage bezieht, hätte, und ebenso wenig auf den Schaden für ihre Interessen, der sich aufgrund dieses Widerspruchs aus der Durchführung einer solchen Anordnung ergeben würde. Jedenfalls kann ein solcher Schaden, selbst wenn er dargetan wäre, nicht schwerer wiegen als das allgemeine Interesse der Union im Hinblick auf das ordnungsgemäße Funktionieren ihrer Rechtsordnung. 192 Unter diesen Umständen ist der Schluss zu ziehen, dass die Interessenabwägung für den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. d des vorliegenden Beschlusses spricht. Zu den einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. e des vorliegenden Beschlusses – Zum fumus boni iuris 193 Die Kommission trägt vor, die zweite Rüge der Klage, die sich auf die nationalen Bestimmungen bezieht, die Gegenstand der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. e des vorliegenden Beschlusses sind, erscheine auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage. Diese Rüge sei insbesondere darauf gestützt, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie aus Art. 267 AEUV und aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen habe, dass sie der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten mit diesen Bestimmungen die ausschließliche Zuständigkeit dafür übertragen habe, Rügen und Rechtsfragen betreffend die fehlende Unabhängigkeit eines Gerichts oder eines Richters zu prüfen. 194 Die Kommission macht geltend, dass nach diesen nationalen Bestimmungen kein anderes nationales Gericht als die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten eine Beurteilung der Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta vornehmen oder dem Gerichtshof eine diesbezügliche Frage nach Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorlegen dürfe. 195 Die Kommission weist u. a. darauf hin, dass sich aus dem Urteil A. K. ergebe, dass jedes nationale Gericht, das sich in einer Situation befinde, die mit der vergleichbar sei, in der sich das vorlegende Gericht in den verbundenen Rechtssachen befunden habe, die zu jenem Urteil geführt hätten, auf der Grundlage der in Rn. 171 des Urteils angeführten Umstände zu prüfen habe, ob das betreffende Gericht unabhängig sei, und, wenn sich aus dieser Prüfung ergebe, dass dies nicht der Fall sei, die mit Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 der Charta unvereinbaren nationalen Bestimmungen nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unangewendet zu lassen habe. 196 Die Republik Polen macht geltend, dass die Zuweisung der Zuständigkeit für Fragen hinsichtlich der Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts an einen besonderen Spruchkörper, nämlich die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten, keinen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta darstellen könne. Der Grund für diese Zuweisung sei das Erfordernis, eine Spezialisierung in diesen wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen sicherzustellen und die Gefahren von Divergenzen in der Rechtsprechung in Bereichen, die die Unabhängigkeit der Justiz beträfen, zu beseitigen. 197 Zur Klärung der Frage, ob die Voraussetzung des fumus boni iuris in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. e des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist, ist als Erstes festzustellen, dass die zweite Rüge, wie sich aus dem Vorbringen der Parteien ergibt, u. a. die Frage aufwirft, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta es erlaubt, die Prüfung von Fragen betreffend die richterliche Unabhängigkeit einem spezialisierten Gericht vorzubehalten, und, wenn ja, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um das Recht der Einzelnen auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. Dabei handelt es sich um eine komplexe rechtliche Frage, die sich nicht ohne Weiteres beantworten lässt und daher einer eingehenden Prüfung bedarf, die nicht von dem zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter vorgenommen werden kann. 198 Als Zweites ist festzustellen, dass, wie die Kommission vorgetragen hat, ohne dass die Republik Polen dem widersprochen hätte, nach den nationalen Bestimmungen, auf die sich die zweite Rüge der Klage bezieht, erstens nur die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten für die Entscheidung über Rechtsfragen zuständig ist, die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts betreffen, so dass die nationalen Gerichte dieser Kammer jede Frage dieser Art vorzulegen haben, die im Rahmen der bei ihnen anhängigen Sachen aufgeworfen wird. Zweitens sind die Beurteilungen dieser Kammer hinsichtlich der Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts für die nationalen Gerichte verbindlich. Drittens ist allein diese Kammer für die Entscheidung über Klagen zuständig, die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit rechtskräftiger Urteile des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte gerichtet sind, wenn die geltend gemachte Rechtswidrigkeit im Zusammenhang mit dem Richterstatus der Person steht, die in der Sache entschieden hat. 199 In Anbetracht der in den Rn. 163 bis 168 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung lässt sich indessen auf den ersten Blick nicht ausschließen, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die erste Rüge der Klage bezieht, dadurch, dass sie andere Kammern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) als die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten sowie die ordentlichen Gerichte und die Verwaltungsgerichte daran hindern, zu überprüfen, ob ein Richter oder ein Gericht den Anforderungen in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit gerecht wird, gegen die der Republik Polen nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta obliegende Verpflichtung verstoßen, zu gewährleisten, dass die nationalen Gerichte, die Bestandteil ihres Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen gerecht werden. 200 Als Drittes ist, wie bereits in Rn. 173 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs‑, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, unmittelbar zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften beiseite zu lassen, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der unmittelbar geltenden Normen des Unionsrechts bilden, mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar (Urteil vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). 201 Der Gerichtshof hat klargestellt, dass dies insbesondere dann der Fall wäre, wenn bei einem Widerspruch zwischen einer unionsrechtlichen Bestimmung und einem späteren nationalen Gesetz die Lösung dieses Normenkonflikts einem über ein eigenes Ermessen verfügenden anderen Organ als dem Gericht, das für die Anwendung des Unionsrechts zu sorgen hat, vorbehalten wäre, selbst wenn das daraus resultierende Hindernis für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts nur vorübergehender Art wäre (Urteil vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, EU:C:2010:503, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 202 Schließlich hat der Gerichtshof auch klargestellt, dass, wenn die Beurteilung eines nationalen Gerichts nicht dem Unionsrecht entspricht, ein anderes nationales Gericht, das nach dem innerstaatlichen Recht vorbehaltlos an die Auslegung des Unionsrechts durch das erstgenannte Gericht gebunden ist, nach dem Unionsrecht verpflichtet ist, aus eigener Entscheidungsbefugnis die innerstaatliche Rechtsvorschrift unangewendet zu lassen, und dass dies u. a. dann der Fall wäre, wenn ein nationales Gericht aufgrund einer solchen innerstaatlichen Rechtsvorschrift, an die es gebunden ist, daran gehindert wäre, in den bei ihm anhängigen Rechtssachen dem Umstand, dass eine nationale Vorschrift nach einem Urteil des Gerichtshofs als unionsrechtswidrig anzusehen ist, angemessen Rechnung zu tragen und sicherzustellen, dass der Vorrang des Unionsrechts ordnungsgemäß gewährleistet wird, indem es alle hierfür erforderlichen Maßnahmen ergreift (Beschluss vom 7. Juni 2018, Filippi u. a., C‑589/16, EU:C:2018:417, Rn. 35 und 36 und die dort angeführte Rechtsprechung). 203 Angesichts der in den Rn. 200 bis 202 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung kann somit auf den ersten Blick auch nicht ausgeschlossen werden, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die zweite Rüge der Klage bezieht, gegen die Verpflichtungen verstoßen, die der Republik Polen nach dem Grundsatz des Vorrangs gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta obliegen. 204 Daher ist, ohne sich in diesem Stadium zur Stichhaltigkeit der von den Parteien im Rahmen der zweiten Rüge der Klage vorgebrachten Argumente zu äußern, wofür allein der Richter der Hauptsache zuständig ist, der Schluss zu ziehen, dass das Vorbringen der Kommission im Rahmen dieser Rüge in Anbetracht der von ihr vorgebrachten Gesichtspunkte sowie der in den Rn. 163 bis 168 sowie 200 bis 202 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage im Sinne der in Rn. 79 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung erscheint. 205 Folglich ist festzustellen, dass die Voraussetzung des fumus boni iuris in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. e des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist, ohne dass erforderlich wäre, zu beurteilen, ob das Vorbringen zu dem behaupteten Verstoß der nationalen Bestimmungen, auf die sich die zweite Rüge der Klage bezieht, gegen Art. 267 AEUV auf den ersten Blick begründet ist, wie sich aus der in Rn. 79 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung ergibt. – Zur Dringlichkeit 206 Nach der in Rn. 116 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung muss der Gerichtshof für die Beurteilung der Dringlichkeit als gegeben annehmen, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die zweite Rüge der Klage bezieht, dadurch, dass sie der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten die ausschließliche Zuständigkeit dafür übertragen, Fragen in Bezug auf die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts zu prüfen, und demnach die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der ordentlichen Gerichte und der Verwaltungsgerichte daran hindern, zu überprüfen, ob ein Richter oder ein Gericht der Anforderung in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit gerecht wird, gegen die der Republik Polen gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta obliegende Verpflichtung, zu gewährleisten, dass die Gerichte den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen gerecht werden, verstoßen können. Außerdem ist als gegeben anzunehmen, dass diese Bestimmungen geeignet sind, die im Rahmen ihrer Zuständigkeit angerufenen nationalen Gerichte daran zu hindern, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta anzuwenden und nationale Bestimmungen, die gegen diese Bestimmungen des Unionsrechts verstoßen, unangewendet zu lassen, und damit gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen können. 207 Es ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass die nationalen Gerichte mit Ausnahme der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten durch die Anwendung der nationalen Bestimmungen, auf die sich die zweite Rüge der Klage bezieht, bis zur Verkündung des Endurteils daran gehindert sind, sich mit Fragen in Bezug auf die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts zu befassen und somit zu überprüfen, ob ein Richter oder ein Gericht den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen gerecht wird, geeignet ist, die Unabhängigkeit der entsprechenden polnischen Gerichte in dieser Zeit zu beeinträchtigen, und folglich entsprechend der in Rn. 124 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung der Unionsrechtsordnung und damit den Rechten, die die Einzelnen aus dem Unionsrecht ableiten, sowie den in Art. 2 EUV genannten Werten, auf die sich die Union gründet, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen kann. 208 Die Gefahr des Eintritts eines solchen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens ist zudem angesichts der Besonderheiten des rechtlichen Zusammenhangs, in den sich diese Bestimmungen einfügen, wie er in den Rn. 181 und 182 des vorliegenden Beschlusses beschrieben ist, umso wahrscheinlicher. 209 Die Republik Polen macht geltend, dass die Gefahr des Eintritts eines solchen Schadens nicht bestehe, da die die Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts betreffenden Rügen bis zur Verkündung des Endurteils von der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten geprüft würden, an deren Unabhängigkeit kein Zweifel bestehe. 210 Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass zum einen die Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten ebenso wie die Disziplinarkammer durch das Gesetz über das Oberste Gericht geschaffen wurde und dass, wie aus der Stellungnahme der Republik Polen hervorgeht, die Mitglieder dieser Kammer am Ende eines Verfahrens ernannt werden, an dem – wie auch im Fall der Mitglieder der Disziplinarkammer – die KRS beteiligt ist. In Anbetracht der Auslegungshinweise im Urteil A. K. lässt sich jedoch entgegen dem Vorbringen der Republik Polen nicht vertreten, dass die Unabhängigkeit der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten außer Zweifel steht. 211 Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 26 § 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht Anträge auf Feststellung oder Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters oder seiner Ermächtigung zur Wahrnehmung von Aufgaben im Bereich der Rechtsprechung von der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten nicht geprüft werden. 212 Daraus folgt, dass die Anwendung der nationalen Bestimmungen, auf die sich die zweite Rüge der Klage bezieht, dazu führen würde, dass bis zur Verkündung des Endurteils kein nationales Gericht diese Fragen prüfen kann, was, wie bei der Prüfung der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. d des vorliegenden Beschlusses festgestellt worden ist, geeignet ist, der Unionsrechtsordnung und den Rechten der Einzelnen auf einen wirksamen Rechtsbehelf einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zuzufügen. 213 Nach alledem ist der Schluss zu ziehen, dass die Voraussetzung der Dringlichkeit in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. e des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist. – Zur Interessenabwägung 214 Die Kommission weist darauf hin, dass, wenn der Gerichtshof der zweiten Rüge der Klage stattgeben sollte, nachdem er es abgelehnt habe, die einstweilige Anordnung entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. e des vorliegenden Beschlusses zu erlassen, der Unionsrechtsordnung und den den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen würde. Sollte der Gerichtshof diese Anordnung erlassen und die Rüge anschließend zurückweisen, hätte dies dagegen nur die vorübergehende Aussetzung der Anwendung der Bestimmungen von Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie von Art. 82 §§ 2 bis 5 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zur Folge. 215 Die Republik Polen macht ihrerseits zum einen geltend, dass die Aussetzung der nationalen Bestimmungen, auf die sich die zweite Rüge der Klage beziehe, nicht bedeute, dass die nationalen Gerichte die Fragen prüfen könnten, die diese Bestimmungen der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten vorbehielten, so dass eine solche Aussetzung nicht zu dem damit verfolgten Ziel beitragen könne. Zum anderen würde diese Aussetzung das Recht auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht und den Grundsatz der Rechtssicherheit beeinträchtigen, da dann keine nationale Vorschrift die materielle Zuständigkeit für die Entscheidung über Rechtsfragen regeln würde, die nach diesen Bestimmungen der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten vorbehalten seien. 216 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Durchführung einer einstweiligen Anordnung auf Aussetzung der Anwendung einer nationalen Bestimmung für den betreffenden Mitgliedstaat die Verpflichtung mit sich bringt, sicherzustellen, dass der vor dem Inkrafttreten dieser Bestimmung bestehende Rechtszustand wiederhergestellt wird, so dass er bis zum Erlass des Endurteils die durch die Bestimmung, deren Anwendung auszusetzen ist, aufgehobenen, ersetzten oder geänderten Bestimmungen anzuwenden hat (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen, C‑619/18 R, EU:C:2018:1021, Rn. 95 und 107). 217 Somit ist die Beeinträchtigung des Rechts auf ein zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht und des Grundsatzes der Rechtssicherheit, die sich nach Ansicht der Republik Polen aus der Aussetzung der nationalen Bestimmungen, auf die sich die zweite Rüge der Klage bezieht, bis zur Verkündung des Endurteils ergeben würde, nicht dargetan. 218 Unter diesen Umständen ist der Schluss zu ziehen, dass die Interessenabwägung für den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. e des vorliegenden Beschlusses spricht. Zu den einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. c des vorliegenden Beschlusses – Zum fumus boni iuris 219 Die Kommission trägt vor, die dritte Rüge der Klage, die sich auf die nationalen Bestimmungen bezieht, die Gegenstand der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. c des vorliegenden Beschlusses sind, erscheine auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage. Diese Rüge sei konkret darauf gestützt, dass die Republik Polen dadurch gegen die ihr nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie nach Art. 267 AEUV obliegende Verpflichtung, die Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt und das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten, verstoßen habe, dass sie Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht erlassen und beibehalten habe, wonach die Prüfung der Beachtung der Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht als Disziplinarvergehen gewertet werden könne. 220 Die Kommission macht erstens geltend, die Tatbestandsmerkmale der Disziplinarvergehen nach Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, d. h. „Handlungen oder Unterlassungen, die das Funktionieren eines Organs der Rechtsprechung unmöglich machen oder wesentlich erschweren können“, oder „Handlungen, mit denen das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters [oder] die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters … in Frage gestellt wird“, derart ungenau seien, dass davon Fallgestaltungen erfasst werden könnten, in denen ein nationaler Richter überprüfe, ob ein Gericht den Anforderungen in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta gerecht werde. Insbesondere könnte die von einem Richter vorgenommene Feststellung, dass sein Spruchkörper oder ein anderer Spruchkörper wegen einer bei der Ernennung eines ihm angehörenden Richters begangenen Unregelmäßigkeit die Anforderung in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht nicht erfülle, als „Handlung, mit der das Bestehen des Dienstverhältnisses eines Richters oder die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters in Frage gestellt wird“, eingestuft werden. Davon zeuge der Umstand, dass am 5. August 2020 aus diesem Grund ein Disziplinarverfahren gegen einen Richter des Sąd Apelacyjny w Szczecinie (Berufungsgericht Stettin, Polen) in Anwendung von Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit eingeleitet worden sei. 221 Unter Berufung u. a. auf die in Rn. 32 des Urteils vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), angeführten Rechtsgrundsätze sowie auf die Rn. 55, 57, 70 und 71 des Urteils vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232), macht die Kommission somit geltend, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die dritte Rüge der Klage beziehe, gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstießen. 222 Im Übrigen knüpften die Disziplinarvergehen im Sinne dieser Bestimmungen an den Inhalt gerichtlicher Entscheidungen an, was im Widerspruch zu Rn. 67 des Urteils vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586), stehe. 223 Zweitens macht die Kommission geltend, das Disziplinarvergehen nach Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht beruhe auf einem ungenauen Begriff, nämlich der „offensichtlichen und groben Missachtung von Rechtsvorschriften“, der sich sowohl auf den Inhalt gerichtlicher Entscheidungen als auch auf die Missachtung nationaler Vorschriften beziehen könne, die es untersagten, gerichtlich zu überprüfen, ob ein Gericht die Anforderungen in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit im Sinne des Unionsrechts beachte. 224 Die Republik Polen trägt vor, dass die disziplinarische Verantwortung, die die Richter nach Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht treffe, keine Haftung für den Inhalt gerichtlicher Entscheidungen umfasse und somit nicht als Faktor angesehen werden könne, mit dem Druck auf die Richter ausgeübt oder in ihre Rechtsprechungstätigkeiten eingegriffen werde. 225 Was insbesondere erstens das Vergehen nach Art. 107 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und nach Art. 72 § 1 Nr. 2 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betrifft, das darin besteht, die Rechtspflege wesentlich zu erschweren oder sogar unmöglich zu machen, stellt die Republik Polen in Abrede, dass die Durchführung der im Urteil A. K. beschriebenen Verpflichtungen durch ein Gericht ein solches Vergehen darstellen könne, da zum einen offensichtlich sei, dass ein Urteil des Gerichtshofs keine Bestimmungen enthalte, deren Durchführung die Rechtspflege wesentlich erschweren würde, und zum anderen dieses Urteil keine Entscheidung darstelle, die angesichts ihres Inhalts das Funktionieren der Justiz bedrohe. Im Übrigen spiele ein solches Vergehen in den nationalen Rechtsordnungen eine sehr wichtige Rolle und sei in den Verfassungsvorschriften anderer Mitgliedstaaten über die rechtsprechende Gewalt vorgesehen. Insbesondere seien die von der Kommission gerügten Bestimmungen am französischen Recht ausgerichtet worden, das von der Kommission jedoch nicht in Frage gestellt worden sei. 226 Was zweitens das Vergehen nach Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gerichte betrifft, das darin besteht, das Bestehen eines Dienstverhältnisses eines Richters und die Wirksamkeit der Ernennung eines Richters in Frage zu stellen, wiederholt die Republik Polen ihr in den Rn. 158 und 159 des vorliegenden Beschlusses im Rahmen der Prüfung der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. d des vorliegenden Beschlusses wiedergegebenes Vorbringen. Die Republik Polen bestreitet das Vorbringen der Kommission zu einem gegen einen Richter des Sąd Apelacyjny w Szczecinie (Berufungsgericht Stettin) eingeleiteten Disziplinarverfahren nicht, trägt aber nichtsdestoweniger insbesondere vor, das Verbot, die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters zu beurteilen, stelle im Licht des Verfassungsmodells für die Ernennung von Richtern in Polen eine Präzisierung des bisherigen Inhalts der Rechtsnorm über das Disziplinarvergehen dar und sei in vollem Umfang gerechtfertigt und sachgerecht. 227 Was drittens und letztens das Vergehen der offensichtlichen und groben Missachtung von Rechtsvorschriften nach Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betrifft, kann dieses Vergehen nach Ansicht der Republik Polen keinesfalls einer Haftung für den Inhalt eines Urteils oder für gewöhnliche Fehler, die ein Richter bei seinen Entscheidungen begehen könne, gleichgestellt werden. Dieses Vergehen betreffe, wie aus der Rechtsprechung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) klar hervorgehe, außergewöhnliche Fälle von Verstößen gegen Rechtsvorschriften, nämlich solche, bei denen der Verstoß offensichtlich und grob sei, so dass es gerechtfertigt sei, denjenigen, der sie begangen habe, zur Verantwortung zu ziehen. 228 Im Hinblick auf die Prüfung der Frage, ob die Voraussetzung des fumus boni iuris in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. c des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist, ist erstens darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus den Rn. 171 und 199 des vorliegenden Beschlusses ergibt, nationale Bestimmungen, durch die die zur Auslegung und Anwendung des Unionsrechts berufenen nationalen Gerichte daran gehindert werden, zu überprüfen, ob ein Richter oder ein Gericht den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen gerecht wird und ob insbesondere das Verfahren zur Ernennung eines Richters oder zur Einsetzung eines Gerichts ordnungsmäßig war, auf den ersten Blick gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoßen. 229 Somit ist festzustellen, dass nationale Bestimmungen, aus denen sich ergäbe, dass die nationalen Richter Disziplinarverfahren ausgesetzt sein können, weil sie eine solche Überprüfung vorgenommen haben, auf den ersten Blick ebenfalls gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta verstoßen. 230 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus der in Rn. 87 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung ergibt, das sich insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebende Erfordernis der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit es gebietet, jede Gefahr zu vermeiden, dass die Disziplinarordnung gegen diejenigen, die zu entscheiden haben, als System zur politischen Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen angewandt wird. 231 Hierzu ist insbesondere wesentlich, dass Regeln vorgesehen werden, die die Verhaltensweisen, die die disziplinarische Haftung von Richtern begründen können, hinreichend klar und präzise definieren, um die dem Auftrag des Richters inhärente Unabhängigkeit zu gewährleisten und zu verhindern, dass Richter der Gefahr ausgesetzt werden, dass ihre disziplinarische Haftung allein aufgrund ihrer Entscheidung eintreten kann (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 234). 232 Im vorliegenden Fall zeigt sich ohne Weiteres, dass der Wortlaut von Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit sowie von Art. 72 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht entsprechend dem Vorbringen der Kommission derart abstrakt und ungenau ist, dass sich auf den ersten Blick nicht ausschließen lässt, dass die disziplinarische Haftung eines Richters allein dadurch ausgelöst werden kann, dass er überprüft hat, ob ein Richter oder ein Spruchkörper den Anforderungen an die richterliche Unabhängigkeit gerecht wird, und insbesondere die Unregelmäßigkeit des Verfahrens zur Ernennung eines Richters festgestellt hat. 233 Dasselbe gilt für Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht. Da der Ausdruck „offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften“ abstrakt und ungenau ist, lässt sich nämlich auf den ersten Blick nicht ausschließen, dass die Haftung eines Richters allein auf der Grundlage des angeblich „irrtümlichen“ Inhalts seiner Entscheidungen oder aufgrund der Missachtung nationaler Bestimmungen ausgelöst werden kann, die es den nationalen Gerichten verwehren, zu überprüfen, ob ein Richter oder ein Spruchkörper den Anforderungen in Bezug auf die richterliche Unabhängigkeit gerecht wird. 234 Angesichts des Wortlauts der nationalen Bestimmungen, auf die sich die dritte Rüge der Klage bezieht, kann demnach auf den ersten Blick nicht ausgeschlossen werden, dass diese Bestimmungen die nationalen Gerichte nicht nur daran hindern, zu überprüfen, ob ein Richter oder ein Gericht den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen gerecht wird, sondern es auch erlauben, dass die Disziplinarordnung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen genutzt wird, und dass sie daher gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoßen. 235 Dies gilt umso mehr für Art. 107 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und Art. 72 § 1 Nr. 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht, da, wie sich aus dem in den Rn. 220 und 226 des vorliegenden Beschlusses wiedergegebenen Vorbringen der Parteien ergibt, die Feststellung der Unregelmäßigkeit der Ernennung eines Richters ein Vergehen nach diesen Bestimmungen darstellen könnte. 236 Im Übrigen wird die in Rn. 234 des vorliegenden Beschlusses vorgenommene Beurteilung auch dadurch weiter gestützt, dass die im Rahmen von Disziplinarverfahren gegen Richter ergangenen Entscheidungen von einer Einrichtung, nämlich der Disziplinarkammer, überprüft werden, deren fehlende Unabhängigkeit auf den ersten Blick nicht ausgeschlossen werden kann, wie dies in Rn. 97 des vorliegenden Beschlusses festgestellt worden ist. Gleiches gilt für den von der Kommission hervorgehobenen Umstand, dass das Änderungsgesetz, mit dem die in den streitigen nationalen Bestimmungen vorgesehenen Disziplinarvergehen eingeführt wurden, einen Monat nach dem Erlass des Urteils A. K. erlassen wurde, in dem der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Beurteilung der Unabhängigkeit dieser Kammer gegeben hat, auf deren Grundlage die nationalen Gerichte die Unabhängigkeit des Richters oder des Gerichts, der oder das für die Entscheidung in den bei ihnen anhängigen Rechtssachen zuständig war, beurteilen konnten. 237 Was ferner die von der Republik Polen angeführte Rechtsprechung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu den Tatbestandsmerkmalen des Vergehens „offensichtliche und grobe Missachtung von Rechtsvorschriften“ nach Art. 72 § 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betrifft, genügt die Feststellung, dass diese Rechtsprechung vor der Einrichtung der Disziplinarkammer im Jahr 2017 und damit erst recht vor der Annahme der nationalen Bestimmungen, auf die sich insbesondere die ersten beiden Rügen der Klage beziehen, durch das Änderungsgesetz im Jahr 2019 ergangen ist. Folglich kann diese Rechtsprechung die Beurteilung in Rn. 234 des vorliegenden Beschlusses nicht in Frage stellen. 238 Schließlich kann sich die Republik Polen, wie in Rn. 111 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, nicht mit Erfolg darauf berufen, dass es in anderen Mitgliedstaaten ähnliche Vorschriften wie diese Bestimmungen gebe, um darzutun, dass die Voraussetzung des fumus boni iuris im vorliegenden Fall nicht erfüllt sei. 239 Daher ist, ohne sich in diesem Stadium zur Stichhaltigkeit der von den Parteien im Rahmen der dritten Rüge der Klage vorgebrachten Argumente zu äußern, wofür allein der Richter der Hauptsache zuständig ist, der Schluss zu ziehen, dass das Vorbringen der Kommission im Rahmen dieser Rüge in Anbetracht der von ihr vorgebrachten Gesichtspunkte sowie der in den Rn. 163 bis 168 sowie 230 und 231 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung auf den ersten Blick nicht ohne ernsthafte Grundlage im Sinne der in Rn. 79 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung erscheint. 240 Folglich ist festzustellen, dass die Voraussetzung des fumus boni iuris in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. c des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist. – Zur Dringlichkeit 241 Nach der in Rn. 116 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung muss der Gerichtshof für die Beurteilung der Dringlichkeit als gegeben annehmen, dass die nationalen Bestimmungen, auf die sich die dritte Rüge der Klage bezieht, zum einen geeignet sind, die nationalen Gerichte daran zu hindern, zu überprüfen, ob ein Richter oder ein Gericht den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen gerecht wird, und es zum anderen erlauben können, dass die Disziplinarordnung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen genutzt wird, und damit gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoßen können. 242 Wie die Kommission geltend gemacht hat, kann der Umstand, dass durch die Anwendung der in der dritten Rüge der Klage genannten nationalen Bestimmungen zum einen die nationalen Gerichte bis zur Verkündung des Endurteils daran gehindert werden können, zu überprüfen, ob ein Richter oder ein Gericht den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen gerecht wird, und zum anderen die Disziplinarordnung bis zur Verkündung dieses Urteils als System zur politischen Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen genutzt werden kann, in dieser Zeit die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte beeinträchtigen und demzufolge entsprechend der in Rn. 124 des vorliegenden Beschlusses angeführten Rechtsprechung der Unionsrechtsordnung und damit den Rechten, die die Einzelnen aus dem Unionsrecht ableiten, sowie den in Art. 2 EUV genannten Werten, auf die sich die Union gründet, insbesondere der Rechtsstaatlichkeit, einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen. 243 Die Republik Polen bestreitet die Dringlichkeit, weil die Tätigkeiten der Disziplinarkammer in Disziplinarsachen gegen Richter nach dem Beschluss vom 8. April 2020, Kommission/Polen (C‑791/19 R, EU:C:2020:277), ausgesetzt worden seien. Aufgrund einer solchen Aussetzung, die bis zur Verkündung des Urteils in der Rechtssache C‑791/19 aufrechterhalten werde, wende die Disziplinarkammer die von der Kommission beanstandeten Bestimmungen nicht allgemein an, so dass ihre Aussetzung nicht dringlich sei, da sie nicht zur Folge hätte, irgendeinen Schaden zu verhindern. 244 Insoweit trifft es zwar zu, dass die Aussetzung der Tätigkeiten der Disziplinarkammer die Gefahr des Eintritts eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens durch die Anwendung der streitigen nationalen Bestimmungen mindert, doch kann eine solche Aussetzung eine solche Gefahr nicht beseitigen. 245 Wie die Kommission ausgeführt hat, kann nämlich die bloße Aussicht für die polnischen Richter, wegen der Überprüfung, ob ein Richter oder ein Gericht den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbundenen Anforderungen gerecht wird, gegebenenfalls disziplinarrechtlich verfolgt zu werden, ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen, und zwar unabhängig von der gerichtlichen Instanz, vor der das Disziplinarverfahren durchgeführt wird. 246 Im Übrigen kann das bloße Bestehen nationaler Bestimmungen, die die Nutzung der Disziplinarordnung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts gerichtlicher Entscheidungen erlauben, bei den Rechtsunterworfenen und den anderen Mitgliedstaaten Zweifel an der Unabhängigkeit der nationalen Gerichte wecken, was einen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden zu verursachen droht. 247 Was schließlich insbesondere Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht betrifft, macht die Republik Polen geltend, dass der Antrag auf Aussetzung dieser Bestimmung verspätet und völlig unverständlich sei. In diesem Kontext macht die Republik Polen zum einen geltend, die Kommission habe keine Rechtfertigung für die Aussetzung der Anwendung einer Bestimmung mit einer sehr langen Verfassungstradition in Polen angeführt, und zum anderen, dass der Umstand, dass die Kommission im Rahmen der Vertragsverletzungsklage in der Rechtssache C‑791/19 eine entsprechende Bestimmung in Art. 107 des Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit angefochten habe, ohne jedoch die Aussetzung ihrer Anwendung zu beantragen, zeige, dass die Kommission in Wirklichkeit nicht die Gefahr sehe, dass die Anwendung von Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zu einem Schaden führe. 248 Zum einen legt die Kommission jedoch entgegen dem Vorbringen der Republik Polen dar, aus welchen Gründen sie der Ansicht ist, dass die Anwendung aller in der dritten Rüge der Klage genannten Bestimmungen auszusetzen sei. Zum anderen wurden mit dem Änderungsgesetz, wie in den Rn. 138 und 237 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, mehrere Bestimmungen eingeführt, u. a. diejenigen, auf die sich die ersten beiden Rügen der Klage beziehen, die sich auf die Tragweite des Vergehens nach Art. 72 § 1 Nr. 1 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht auswirken können und die daher im Verhältnis zu den vor dem Erlass des Änderungsgesetzes bestehenden Umständen neue Gesichtspunkte für die Beurteilung der Dringlichkeit darstellen. 249 Nach alledem ist der Schluss zu ziehen, dass die Voraussetzung der Dringlichkeit in Bezug auf den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. c des vorliegenden Beschlusses erfüllt ist. – Zur Interessenabwägung 250 Die Kommission weist darauf hin, dass, wenn der Gerichtshof der dritten Rüge der Klage stattgeben sollte, nachdem er es abgelehnt habe, die einstweilige Anordnung entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. c des vorliegenden Beschlusses zu erlassen, der Unionsrechtsordnung und den den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechten, insbesondere ihrem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen würde. 251 Sollte der Gerichtshof diese Anordnung erlassen und die Rüge in der Folge zurückweisen, hätte dies dagegen nur die vorübergehende Aussetzung von Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 des geänderten Gesetzes über die ordentliche Gerichtsbarkeit und von Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des geänderten Gesetzes über das Oberste Gericht zur Folge, wodurch es vorübergehend unmöglich werde, den Umstand als Disziplinarvergehen nach diesen Bestimmungen einzustufen, dass ein Richter im Rahmen seiner richterlichen Tätigkeit geprüft habe, ob die unionsrechtlichen Anforderungen in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta gewahrt seien. 252 Die Republik Polen macht u. a. geltend, dass die Nichtanwendung der nationalen Bestimmungen, auf die sich die dritte Rüge der Klage beziehe, bis zur Verkündung des Endurteils zur Folge hätte, dass während dieses gesamten Zeitraums zu ahndende Verhaltensweisen, die zweifellos die disziplinarische Haftung derjenigen auslösen müssten, die sie an den Tag legten, stattdessen zulässig wären. So könnten die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) u. a. gerichtliche Schriftstücke vordatieren, Unterlagen, die für die Regelung von Rechtssachen von Bedeutung seien, unterdrücken, in den Gesetzen nicht vorgesehene Strafen aussprechen oder Entscheidungen nach in den Verfahren nicht vorgesehenen Modalitäten abändern oder sogar Entscheidungen erlassen, die in den betreffenden Verfahren nicht vorgesehen seien. Die Aussetzung der Anwendung der streitigen nationalen Bestimmungen würde daher zu einem Schaden für die Interessen der Republik Polen führen. 253 Dazu genügt indessen der Hinweis, dass, wie sich aus Rn. 216 des vorliegenden Beschlusses ergibt, die Aussetzung der Anwendung der nationalen Bestimmungen, auf die sich die dritte Rüge der Klage bezieht, für die Republik Polen die Verpflichtung mit sich bringt, bis zur Verkündung des Endurteils die durch die nationalen Bestimmungen, auf die sich diese Rüge bezieht, aufgehobenen, ersetzten oder geänderten Bestimmungen anzuwenden. Somit kann der Erlass der einstweiligen Anordnung entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. c des vorliegenden Beschlusses nicht den von diesem Mitgliedstaat geltend gemachten Schaden verursachen. 254 Unter diesen Umständen ist der Schluss zu ziehen, dass die Interessenabwägung für den Erlass der einstweiligen Anordnungen entsprechend Rn. 38 erster Gedankenstrich Buchst. c des vorliegenden Beschlusses spricht. 255 Nach alledem ist dem in Rn. 1 des vorliegenden Beschlusses angeführten Antrag der Kommission auf einstweilige Anordnungen stattzugeben. Aus diesen Gründen hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs beschlossen: 1. Die Republik Polen ist verpflichtet, unverzüglich und bis zur Verkündung des das Verfahren in der Rechtssache C‑204/21 beendenden Urteils a) zum einen die Anwendung von Art. 27 § 1 Nr. 1a der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 in der Fassung der Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze) vom 20. Dezember 2019 und anderer Bestimmungen auszusetzen, wonach die Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) dafür zuständig ist, sowohl in erster Instanz als auch in zweiter Instanz über Anträge auf Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen Richter oder Assessoren sowie zur Untersuchungshaft, zur Festnahme oder zur zwangsweisen Vorführung von Richtern oder Assessoren zu entscheiden, und zum anderen die Wirkungen der von der Disziplinarkammer auf der Grundlage dieses Artikels bereits erlassenen Entscheidungen über die Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens gegen einen Richter oder zu seiner Festnahme auszusetzen und es zu unterlassen, die in diesem Artikel genannten Sachen an ein Gericht zu verweisen, das den insbesondere im Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982), festgelegten Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht genügt, b) die Anwendung von Art. 27 § 1 Nrn. 2 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der geänderten Fassung, wonach die Izba Dyscyplinarna (Disziplinarkammer) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) für die Entscheidung in Sachen betreffend den Status und die Amtsausübung von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), insbesondere in arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Sachen betreffend diese Richter sowie in Sachen betreffend die Versetzung eines solchen Richters in den Ruhestand, zuständig ist, auszusetzen und es zu unterlassen, diese Sachen an ein Gericht zu verweisen, das den insbesondere im Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982), festgelegten Anforderungen an die Unabhängigkeit nicht genügt, c) die Anwendung von Art. 107 § 1 Nrn. 2 und 3 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze sowie von Art. 72 § 1 Nrn. 1 bis 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der geänderten Fassung auszusetzen, wonach Richter wegen der Prüfung der Beachtung der Anforderungen in Bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union disziplinarisch belangt werden können, d) die Anwendung von Art. 42a §§ 1 und 2 sowie von Art. 55 § 4 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit in der geänderten Fassung, von Art. 26 § 3 sowie von Art. 29 §§ 2 und 3 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der geänderten Fassung, von Art. 5 §§ 1a und 1b der Ustawa – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz über den Aufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit) vom 25. Juli 2002 in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze und von Art. 8 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze auszusetzen, soweit sie es den nationalen Gerichten verbieten, die Beachtung der Anforderungen der Europäischen Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht im Sinne von Art. 19 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte zu überprüfen, e) die Anwendung von Art. 26 §§ 2 und 4 bis 6 sowie von Art. 82 §§ 2 bis 5 des Gesetzes über das Oberste Gericht in der geänderten Fassung und von Art. 10 des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht und einiger anderer Gesetze auszusetzen, mit denen die ausschließliche Zuständigkeit der Izba Kontroli Nadzwyczajnej i Spraw Publicznych (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) für die Prüfung von Rügen der fehlenden Unabhängigkeit eines Richters oder eines Gerichts festgelegt wird, und f) der Europäischen Kommission spätestens einen Monat nach der Zustellung des Beschlusses des Gerichtshofs, mit dem die beantragten einstweiligen Anordnungen erlassen werden, alle Maßnahmen mitzuteilen, die getroffen wurden, um diesem Beschluss in vollem Umfang nachzukommen. 2. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Polnisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 19. November 2019.#A. K. gegen Krajow a Rada Sądow nictwa und CP und DO gegen Sąd Najwyższy.#Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Najwyższy.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Nichtdiskriminierung wegen des Alters – Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) – Art. 9 Abs. 1 – Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Einrichtung einer neuen Kammer beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die u. a. für Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Versetzung der Richter dieses Gerichts in den Ruhestand zuständig ist – Kammer, die mit Richtern besetzt ist, die vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Landesjustizrats neu ernannt werden – Unabhängigkeit des Landesjustizrats – Befugnis, die nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren nationalen Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen – Vorrang des Unionsrechts.#Verbundene Rechtssachen C-585/18, C-624/18 und C-625/18.
62018CJ0585
ECLI:EU:C:2019:982
2019-11-19T00:00:00
Tanchev, Gerichtshof
62018CJ0585 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 19. November 2019 (*1) (i ) Inhaltsverzeichnis Rechtlicher Rahmen Unionsrecht EU-Vertrag Charta Richtlinie 2000/78 Polnisches Recht Verfassung Neues Gesetz über das Oberste Gericht – Bestimmungen über die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) – Bestimmungen über die Ernennung von Richtern an den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) – Bestimmungen über die Disziplinarkammer Gesetz über die Organisation der Verwaltungsgerichte Gesetz über die KRS Ausgangsverfahren und Vorlagefragen Verfahren vor dem Gerichtshof Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 Zu den Fragen in der Rechtssache C‑585/18 sowie zu der zweiten und der dritten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs Zu einer etwaigen Erledigung Zur Zulässigkeit der zweiten und der dritten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 Zur inhaltlichen Prüfung der zweiten und der dritten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 Kosten „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2000/78/EG – Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – Nichtdiskriminierung wegen des Alters – Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) – Art. 9 Abs. 1 – Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit – Einrichtung einer neuen Kammer beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die u. a. für Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Versetzung der Richter dieses Gerichts in den Ruhestand zuständig ist – Kammer, die mit Richtern besetzt ist, die vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Landesjustizrats neu ernannt werden – Unabhängigkeit des Landesjustizrats – Befugnis, die nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren nationalen Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen – Vorrang des Unionsrechts“ In den verbundenen Rechtssachen C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18 betreffend drei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberster Gerichtshof [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen], Polen) mit Entscheidungen vom 30. August 2018 (C‑585/18) und 19. September 2018 (C‑624/18 und C‑625/18), beim Gerichtshof eingegangen am 20. September 2018 (C‑585/18) und 3. Oktober 2018 (C‑624/18 und C‑625/18), in den Verfahren A. K. gegen Krajowa Rada Sądownictwa (C‑585/18) und CP (C‑624/18), DO (C‑625/18) gegen Sąd Najwyższy, anderer Verfahrensbeteiligter: Prokurator Generalny, vertreten durch die Prokuratura Krajowa, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten E. Regan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi sowie der Richter E. Juhász, M. Ilešič, J. Malenovský und N. Piçarra, Generalanwalt: E. Tanchev, Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter, und R. Schiano, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündlichen Verhandlungen vom 19. März und 14. Mai 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von A. K., CP und DO, vertreten durch S. Gregorczyk-Abram, M. Wawrykiewicz und T. Zalasiński, adwokaci, – der Krajowa Rada Sądownictwa, vertreten durch D. Drajewicz, J. Dudzicz und D. Pawełczyk-Woicka als Bevollmächtigte, – des Sąd Najwyższy, vertreten durch M. Wrzołek-Romańczuk radca prawny, – des Prokurator Generalny, vertreten durch die Prokuratura Krajowa, diese vertreten durch S. Bańko, R. Hernand, A. Reczka, T. Szafrański und M. Szumacher, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, und S. Żyrek als Bevollmächtigte im Beistand von W. Gontarski, adwokat, – der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kucina und V. Soņeca als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer und K. Herrmann als Bevollmächtigte, – der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch J. S. Watson, C. Zatschler, I. O. Vilhjálmsdóttir und C. Howdle als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Juni 2019 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 267 Abs. 3 AEUV, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16). 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zum einen zwischen A. K., Richter am Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen), und der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) (im Folgenden: KRS) (Rechtssache C‑585/18) und zum anderen zwischen CP und DO, Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), auf der einen Seite und diesem Gericht auf der anderen Seite (Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18) wegen ihrer vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand infolge des Inkrafttretens neuer nationaler Rechtsvorschriften. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht EU-Vertrag 3 Art. 2 EUV lautet: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ 4 Art. 19 Abs. 1 EUV bestimmt: „Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge. Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“ Charta 5 In Titel VI („Justizielle Rechte“) der Charta bestimmt Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht“): „Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. … …“ 6 Art. 51 („Anwendungsbereich“) der Charta lautet: „(1)   Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden. (2)   Diese Charta dehnt den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.“ 7 Art. 52 Abs. 3 der Charta lautet: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete] Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“ 8 In den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) wird zu Art. 47 Abs. 2 der Charta klargestellt, dass diese Bestimmung Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entspricht. Richtlinie 2000/78 9 Art. 1 der Richtlinie 2000/78 bestimmt: „Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen … des Alters … in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten.“ 10 Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz‘, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.“ 11 In Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 heißt es: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass alle Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten für verletzt halten, ihre Ansprüche aus dieser Richtlinie auf dem Gerichts- und/oder Verwaltungsweg … geltend machen können, selbst wenn das Verhältnis, während dessen die Diskriminierung vorgekommen sein soll, bereits beendet ist.“ Polnisches Recht Verfassung 12 Nach Art. 179 der Verfassung ernennt der Präsident der Republik Polen (im Folgenden: Präsident der Republik) die Richter auf Vorschlag der KRS auf unbestimmte Zeit. 13 Art. 186 Abs. 1 der Verfassung lautet: „Die [KRS] schützt die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter.“ 14 Art. 187 der Verfassung bestimmt: „1.   Die [KRS] besteht aus: 1) dem Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], dem Justizminister, dem Präsidenten des [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] und einer vom Präsidenten der Republik berufenen Person, 2) fünfzehn Mitgliedern, die aus der Mitte der Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], der ordentlichen Gerichte, der Verwaltungs- und Militärgerichte gewählt worden sind, 3) vier Mitgliedern, die vom [Sejm (Erste Kammer des Parlaments, Polen)] aus der Mitte der Abgeordneten und zwei Mitgliedern, die vom Senat aus der Mitte der Senatoren gewählt worden sind. … 3.   Die Amtszeit der gewählten Mitglieder [der KRS] beträgt vier Jahre. 4.   Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise [der KRS] sowie die Wahl ihrer Mitglieder regelt ein Gesetz.“ Neues Gesetz über das Oberste Gericht – Bestimmungen über die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) 15 In Art. 30 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 23. November 2002 (Dz. U. 2002, Pos. 240) war das Ruhestandsalter für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf 70 Jahre festgesetzt. 16 Am 20. Dezember 2017 unterzeichnete der Präsident der Republik die Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5, im Folgenden: neues Gesetz über das Oberste Gericht), das am 3. April 2018 in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz wurde später mehrfach geändert. 17 Art. 37 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor: „§ 1.   Ein Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] tritt mit Vollendung des 65. Lebensjahres in den Ruhestand, es sei denn, er gibt frühestens zwölf und spätestens sechs Monate vor Erreichen dieses Alters eine Erklärung ab, im Amt verbleiben zu wollen, er legt eine Bescheinigung über seine gesundheitliche Befähigung zur Ausübung des Richteramts vor, die nach den für Bewerber um eine Richterstelle geltenden Grundsätzen erteilt wird, und der [Präsident der Republik] erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)]. § 1a.   Der [Präsident der Republik] holt vor Erteilung der Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] eine Stellungnahme [der KRS] ein. [Die KRS] übermittelt dem [Präsidenten der Republik] die Stellungnahme innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag ihrer Anforderung durch den [Präsidenten der Republik]. Wenn innerhalb der in Satz 2 genannten Frist keine Stellungnahme übermittelt worden ist, gilt eine befürwortende Stellungnahme [der KRS] als erteilt. § 1b   [Die KRS] berücksichtigt bei der Anfertigung der in § 1a genannten Stellungnahme das Interesse der Rechtspflege oder wichtige öffentliche Interessen, insbesondere die rationelle Nutzung der Personalressourcen des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] oder den Bedarf, der sich aus der Arbeitsbelastung einzelner Kammern des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] ergibt. … § 4.   Die Zustimmung nach § 1 wird für die Dauer von drei Jahren – höchstens zweimal – erteilt. …“ 18 Art. 39 dieses Gesetzes bestimmt: „Das Datum des Eintritts oder der Versetzung eines Richters des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in den Ruhestand wird vom [Präsidenten der Republik] festgestellt.“ 19 In Art. 111 Abs. 1 des Gesetzes heißt es: „Die Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], die das 65. Lebensjahr bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes vollendet haben oder innerhalb von drei Monaten nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vollenden, treten drei Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes in den Ruhestand, es sei denn, sie legen innerhalb eines Monats nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Erklärung und die Bescheinigung nach Art. 37 § 1 vor und der [Präsident der Republik] erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)]. …“ – Bestimmungen über die Ernennung von Richtern an den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) 20 Nach Art. 29 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht werden die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS ernannt. Art. 30 dieses Gesetzes nennt die Bedingungen, die eine Person erfüllen muss, um zum Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ernannt werden zu können. – Bestimmungen über die Disziplinarkammer 21 Mit dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht wurde am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eine neue Kammer mit der Bezeichnung „Izba Dyscyplinarna“ (im Folgenden: Disziplinarkammer) eingerichtet. 22 Art. 20 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht lautet: „In Bezug auf die Disziplinarkammer und die Richter, die ihr Amt in der Disziplinarkammer ausüben, werden die Befugnisse des Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], wie sie festgelegt sind in – Art. 14 § 1 Nrn. 1, 4 und 7, Art. 31 § 1, Art. 35 § 2, Art. 36 § 6, Art. 40 § 1 und 4 und Art. 51 § 7 und 14, vom Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] wahrgenommen, der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet; – Art. 14 § 1 und 2 sowie Art. 55 § 3 Satz 2 vom Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] im Einvernehmen mit dem Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] wahrgenommen, der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet.“ 23 In Art. 27 § 1 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht heißt es: „Die Disziplinarkammer ist zuständig für 1) Disziplinarverfahren, – die Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen … 2) Verfahren auf dem Gebiet des Arbeits- und des Sozialversicherungsrechts, die Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen; 3) Verfahren über die Versetzung eines Richters des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in den Ruhestand.“ 24 Art. 79 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor: „Für arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten, die Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffen, sowie Streitigkeiten, die die Versetzung eines Richters des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in den Ruhestand betreffen, ist zuständig 1) im ersten Rechtszug – der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit einem Richter der Disziplinarkammer; 2) im zweiten Rechtszug – der [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Besetzung mit drei Richtern der Disziplinarkammer.“ 25 In Art. 25 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht heißt es: „Die Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych [(Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen)] ist zuständig für Rechtsstreitigkeiten, die das Arbeitsrecht, die Sozialversicherung … betreffen“. 26 Zu den Übergangsbestimmungen des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht gehören u. a. folgende Bestimmungen: „Art. 131 Bevor nicht alle Richterstellen in der Disziplinarkammer des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] besetzt sind, können keine Richter aus einer anderen Kammer [dieses Gerichts] auf eine Stelle in dieser Kammer versetzt werden. … Art. 134 Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes werden die Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], die der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen sowie Öffentliche Angelegenheiten angehören, zu Richtern, die der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen angehören.“ 27 Art. 131 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht wurde durch Art. 1 Nr. 14 der Ustawa o zmianie ustawy o Sądzie Najwyższym (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Oberste Gericht) vom 12. April 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 847), das am 9. Mai 2018 in Kraft getreten ist, wie folgt geändert: „Richter, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes Stellen in anderen Kammern des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] innehaben, können auf Stellen in der Disziplinarkammer versetzt werden. Der Richter, der eine Stelle in einer anderen Kammer des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] innehat, legt nach Einholung der Zustimmung des Ersten Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] und des Präsidenten des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], der die Tätigkeit der Disziplinarkammer leitet, und der Kammer, in der der seine Versetzung beantragende Richter tätig ist, [der KRS] bis zu dem Tag, an dem erstmals alle Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Disziplinarkammer ernannt sein werden, einen Antrag auf Versetzung auf eine Stelle in der Disziplinarkammer vor. Der [Präsident der Republik] nimmt auf Vorschlag [der KRS] die Ernennung eines Richters am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] in der Disziplinarkammer bis zu dem Tag vor, an dem erstmals alle Stellen in dieser Kammer besetzt sein werden.“ Gesetz über die Organisation der Verwaltungsgerichte 28 Art. 49 der Ustawa – Prawo o ustroju sądów administracyjnych (Gesetz über die Organisation der Verwaltungsgerichte) vom 25. Juli 2002 (Dz. U. 2017, Pos. 2188) sieht vor, dass für Fragen, die nicht in diesem Gesetz geregelt sind, die Bestimmungen des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht gelten. Gesetz über die KRS 29 Die KRS ist in der Ustawa o Krajowej Radzie Sądownictwa (Gesetz über den Landesjustizrat) vom 12. Mai 2011 (Dz. U. Nr. 126 von 2011, Pos. 714) in der durch die Ustawa zmianie ustawy o Krajowej Radzie Sądownictwa oraz niektórych innych ustaw (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und bestimmter anderer Gesetze) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 3) geänderten Fassung (im Folgenden: KRS-Gesetz) geregelt. 30 In Art. 9a des KRS-Gesetzes heißt es: „(1)   Der Sejm wählt aus den Reihen der Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], an den ordentlichen Gerichten, an den Verwaltungsgerichten und an den Militärgerichten 15 Mitglieder [der KRS] für eine gemeinsame Amtszeit von vier Jahren. (2)   Bei der Vornahme der Wahl nach Abs. 1 trägt der Sejm soweit wie möglich dem Erfordernis Rechnung, dass Richter verschiedener Arten und Ebenen von Gerichten [in der KRS] vertreten sind. (3)   Die gemeinsame Amtszeit der aus den Reihen der Richter gewählten neuen Mitglieder [der KRS] beginnt an dem auf ihre Wahl folgenden Tag. Die für die vorherigen Amtszeiten ernannten Mitglieder [der KRS] üben ihre Tätigkeit bis zu dem Tag aus, an dem die gemeinsame Amtszeit der neuen Mitglieder [der KRS] beginnt.“ 31 Nach Art. 11a Abs. 2 des KRS-Gesetzes haben das Vorschlagsrecht für Kandidaten für eine Mitgliedschaft in der KRS, die aus der Mitte der Richter ausgewählt werden, eine Gruppe von mindestens 2000 Bürgern der Republik Polen oder 25 Richtern unter Ausschluss von Richtern im Ruhestand. Das Verfahren für die Ernennung der Mitglieder der KRS durch das Parlament ist in Art. 11d des KRS-Gesetzes geregelt. 32 Gemäß Art. 34 des KRS-Gesetzes nimmt eine aus drei Mitgliedern der KRS bestehende Gruppe Stellung zur Beurteilung der Bewerber um eine Richterstelle. 33 Art. 35 des KRS-Gesetzes bestimmt: „1.   Hat sich mehr als ein Kandidat um eine Stelle als Richter oder Richteramtsanwärter beworben, stellt die Gruppe eine Liste der empfohlenen Kandidaten auf. 2.   Bei der Festlegung der Reihenfolge der Kandidaten auf der Liste berücksichtigt die Gruppe in erster Linie die Beurteilung der Qualifikationen der Kandidaten und darüber hinaus 1) die Berufserfahrung, einschließlich der Erfahrung in der Rechtsanwendung, wissenschaftliche Leistungen, Stellungnahmen von Vorgesetzten, Empfehlungen, Veröffentlichungen und andere, dem Bewerbungsformular beigefügte Dokumente; 2) die Stellungnahme des kolegium (Kollegiums) des betreffenden Gerichts und die Beurteilung durch die betreffende Generalversammlung der Richter. 3.   Das Fehlen von in Abs. 2 genannten Unterlagen steht der Erstellung einer Liste der empfohlenen Kandidaten nicht entgegen.“ 34 Art. 37 Abs. 1 des KRS-Gesetzes sieht vor: „Hat sich mehr als ein Kandidat um eine Stelle als Richter beworben, prüft und bewertet [die KRS] alle eingereichten Bewerbungen gemeinsam. In diesem Fall verabschiedet [die KRS] eine Entschließung, die ihre Entscheidungen über die Einreichung eines Vorschlags zur Berufung in das Amt eines Richters hinsichtlich aller Kandidaten enthält.“ 35 Art. 44 des KRS-Gesetzes bestimmt: „1.   Ein Teilnehmer an dem Verfahren kann gegen die Entschließung [der KRS] einen Rechtsbehelf beim [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] mit der Begründung einlegen, dass diese rechtswidrig sei, soweit nicht besondere Bestimmungen etwas anderes vorsehen. … 1a.   In eine Berufung in das Amt eines Richters am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffenden Einzelfällen kann ein Rechtsbehelf beim [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] eingelegt werden. Ein Rechtsbehelf beim [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] kann in diesen Fällen nicht eingelegt werden. Ein Rechtsbehelf zum [Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht)] kann nicht damit begründet werden, dass nicht zutreffend beurteilt worden sei, ob die Kandidaten die Kriterien erfüllen, die bei der Entscheidung zu berücksichtigen sind, ob der Vorschlag zur Berufung in das Amt eines Richters am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] eingereicht wird. 1b.   Haben nicht alle Beteiligten am Verfahren die Entschließung nach Art. 37 Abs. 1 im eine Berufung in das Amt eines Richters am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] betreffenden Einzelfall angefochten, wird die Entschließung für Verfahrensbeteiligte, die keinen Rechtsbehelf eingelegt haben, insoweit rechtskräftig, als sie die Entscheidung zur Einreichung des Vorschlags zur Berufung in das Amt eines Richters am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] bzw. die Entscheidung, keinen Vorschlag zur Berufung in das Amt eines Richters am selben Gericht einzureichen, beinhaltet. 2.   Der Rechtsbehelf ist über den Przewodniczący [(Präsident der KRS)] innerhalb von zwei Wochen nach Mitteilung der mit Gründen versehenen Entschließung einzureichen. …“ 36 Art. 6 des Gesetzes vom 8. Dezember 2017 zur Änderung des KRS-Gesetzes sieht vor: „Die Amtszeit der in Art. 187 Abs. 1 Nr. 2 der [Verfassung] genannten Mitglieder [der KRS], die nach den bisherigen Bestimmungen gewählt wurden, dauert bis zum Tag vor dem Beginn der Amtszeit der neuen Mitglieder [der KRS], höchstens jedoch 90 Tage ab dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes, sofern sie nicht vorher durch den Ablauf der Amtszeit endet.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 37 In der Rechtssache C‑585/18 gab A. K., Richter am Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), der vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht das 65. Lebensjahr vollendet hatte, gemäß Art. 37 § 1 und Art. 111 § 1 dieses Gesetzes eine Erklärung ab, im Amt verbleiben zu wollen. Am 27. Juli 2018 nahm die KRS nach Art. 37 § 1a des Gesetzes zu diesem Antrag ablehnend Stellung. Gegen diese Stellungnahme legte A. K. am 10. August 2018 einen Rechtsbehelf beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ein. Zur Begründung des Rechtsbehelfs trug A. K. insbesondere vor, dass seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand im Alter von 65 Jahren gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta sowie gegen die Richtlinie 2000/78, insbesondere gegen deren Art. 9 Abs. 1, verstoße. 38 Die Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 betreffen zwei Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), CP und DO, die ebenfalls vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht das 65. Lebensjahr vollendet hatten, aber keine Erklärung gemäß Art. 37 § 1 und Art. 111 § 1 dieses Gesetzes abgegeben haben. Nachdem die Betroffenen darüber informiert worden waren, dass der Präsident der Republik gemäß Art. 39 des Gesetzes ihre Versetzung in den Ruhestand mit Wirkung vom 4. Juli 2018 festgestellt habe, stellten sie beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Anträge gegen dieses Gericht auf Feststellung, dass ihr Beschäftigungsverhältnis als Richter im aktiven Dienst dieses Gerichts nicht ab diesem Zeitpunkt in ein solches eines sich im Ruhestand befindlichen Richters dieses Gerichts übergegangen sei. Sie stützen ihre Anträge u. a. auf einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, der Diskriminierungen wegen des Alters verbietet. 39 Die Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych (Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) (im Folgenden: Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen), bei der diese verschiedenen Rechtsbehelfe anhängig sind, weist in ihren Vorlageentscheidungen in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 darauf hin, dass sie mit diesen Rechtsbehelfen befasst worden sei, als die Disziplinarkammer noch nicht eingerichtet gewesen sei. Es stelle sich deshalb die Frage, ob sie nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 und Art. 47 der Charta verpflichtet sei, die nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen, die die Zuständigkeit für die Entscheidung über solche Rechtsbehelfe einer noch nicht eingerichteten Kammer vorbehielten. Diese Frage könne allerdings ihre Bedeutung verlieren, wenn die Richterstellen in der Disziplinarkammer tatsächlich besetzt würden. 40 Das vorlegende Gericht führt in seinen Vorlageentscheidungen in den Rechtssachen C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18 zudem aus, dass unter Berücksichtigung insbesondere der Umstände, unter denen die Ernennung der neuen Richter der Disziplinarkammer zu erfolgen habe, ernste Zweifel bestünden, ob die Kammer und ihre Mitglieder hinreichende Gewähr für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit böten. 41 Insoweit weist es zunächst darauf hin, dass diese Richter vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS ernannt würden und dass aufgrund der sich aus dem Gesetz vom 8. Dezember 2017 zur Änderung des Gesetzes über den Landesjustizrat und bestimmter anderer Gesetze ergebenden Reform die 15 Mitglieder (von den insgesamt 25 Mitgliedern) der KRS, die aus der Mitte der Richter auszuwählen seien, seitdem nicht mehr wie zuvor von den Generalversammlungen der Richter aller Ebenen, sondern vom Sejm ausgewählt würden. Dies verstoße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung als Grundlage des demokratischen Rechtsstaats und entspreche nicht den internationalen und europäischen Standards in diesem Bereich, wie sich insbesondere aus der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats CM/Rec(2010)12, Richter: Unabhängigkeit, Effizienz und Verantwortung, vom 17. November 2010, der Stellungnahme Nr. 904/2017 (CDL‑AD[2017]031) der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (Venedig-Kommission) vom 11. Dezember 2017 und der an das Ministerkomitee des Europarats gerichteten Stellungnahme Nr. 10(2007) des Beirats der Europäischen Richter zum Rat für das Justizwesen im Dienste der Gesellschaft vom 23. November 2007 ergebe. 42 Sodann führt das vorlegende Gericht aus, dass sowohl die – insbesondere verfahrensrechtlichen – Voraussetzungen, unter denen die Mitglieder der KRS im Jahr 2018 ausgewählt und ernannt worden seien, als auch eine Prüfung der Art und Weise, in der die KRS in dieser Zusammensetzung bis jetzt agiert habe, zeigten, dass die KRS dem Willen der Politik unterworfen und nicht in der Lage sei, ihre verfassungsmäßige Aufgabe, über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu wachen, wahrzunehmen. 43 Zum einen seien die kürzlich erfolgten Wahlen der neuen Mitglieder der KRS nicht transparent gewesen, und es bestünden erhebliche Zweifel, ob sie tatsächlich den Anforderungen der geltenden Gesetzgebung entsprochen hätten. Auch das sich aus Art. 187 Abs. 1 Nr. 2 der Verfassung ergebende Erfordernis der Repräsentativität der verschiedenen Arten und Ebenen von Gerichten sei nicht beachtet worden. Zu den Mitgliedern der KRS gehörten nämlich keine gewählten Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der Berufungsgerichte oder der Militärgerichte, sondern ein Vertreter eines Woiwodschaftsverwaltungsgerichts, zwei Vertreter von Bezirksgerichten und zwölf Vertreter von Rayongerichten. 44 Zum anderen zeige eine Prüfung der Tätigkeit der neu zusammengesetzten KRS, dass diese im Kontext der Krise, die durch die jüngsten den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) betreffenden Gesetzesreformen ausgelöst worden sei, nicht für die Wahrung der Unabhängigkeit dieses Gerichts eintrete. Im Gegenteil hätten die KRS oder Mitglieder der KRS die Mitglieder des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) öffentlich dafür kritisiert, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt oder mit den Organen der Union, insbesondere mit der Europäischen Kommission, zusammengearbeitet zu haben. Wie insbesondere die in der Rechtssache C‑585/18 vor dem vorlegenden Gericht angefochtene Stellungnahme der KRS zeige, bestehe ferner die Praxis der KRS, wenn sie eine Stellungnahme zur möglichen Fortsetzung der Richtertätigkeit am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über das neu auf 65 Jahre festgesetzte Ruhestandsalter hinaus abzugeben habe, darin, ablehnende Stellungnahmen abzugeben, die keine Begründung enthielten, oder sich darauf zu beschränken, den Wortlaut von Art. 37 § 1b des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht wiederzugeben. 45 Darüber hinaus zeige die Auswahl, die von der KRS zur Besetzung der 16 Richterstellen der Disziplinarkammer, die am 24. Mai 2018 durch den Präsidenten der Republik für vakant erklärt worden seien, getroffen worden sei, dass die zwölf von der KRS in Betracht gezogenen Bewerber, nämlich sechs Staatsanwälte, zwei Richter, zwei Rechtsberater und zwei Hochschullehrer, entweder Personen seien, die bis dahin der Exekutive unterstanden hätten, Personen, die während der Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen auf Anordnung der Politik oder im Einklang mit deren Erwartungen gehandelt hätten, Personen, die nicht die gesetzlichen Kriterien erfüllten, oder Personen, gegen die in der Vergangenheit Disziplinarmaßnahmen ergriffen worden seien. 46 Schließlich hebt das vorlegende Gericht hervor, dass das Verfahren, mit dem die KRS die Bewerber um die Richterstellen der Disziplinarkammer auszuwählen habe, die nicht aus den Reihen der sich bereits im Amt befindlichen Mitglieder des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ausgewählt werden könnten, dahin konzipiert und später geändert worden sei, dass die KRS nach freiem Ermessen handeln könne, ohne dass insoweit eine echte Kontrollmöglichkeit bestehe. 47 Erstens sei nicht mehr vorgesehen, dass der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) an diesem Ernennungsverfahren beteiligt sei, so dass die effektive und konkrete Beurteilung der Verdienste der Bewerber nicht mehr gewährleistet sei. Zweitens sei es, wie sich aus Art. 35 Abs. 3 des KRS-Gesetzes ergebe, bei der Erstellung der Liste der von der KRS empfohlenen Bewerber kein Hindernis mehr, wenn die Bewerber die in Art. 35 Abs. 2 des KRS-Gesetzes genannten Unterlagen nicht vorlegten, die für die Entscheidung zwischen den Betroffenen jedoch von großer Bedeutung seien. Drittens würden die Entscheidungen der KRS nach Art. 44 des KRS-Gesetzes bestandskräftig, wenn sie nicht von allen Bewerbern angefochten worden seien, was eine gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidungen tatsächlich unmöglich mache. 48 In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, welche Bedeutung im Hinblick auf die Beachtung des sich aus dem Unionsrecht ergebenden Erfordernisses der Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte und Richter bestimmten Faktoren beizumessen ist, wie z. B. der Unabhängigkeit des für die Auswahl von Richtern zuständigen Gremiums von der Politik und der Umstände bei der Auswahl der Mitglieder einer gerichtlichen Kammer, die in einem Mitgliedstaat von Grund auf neu geschaffen werde, obwohl sie für die Entscheidung über unter das Unionsrecht fallende Rechtssachen zuständig ist. 49 Für den Fall, dass eine solche gerichtliche Kammer dieses Unabhängigkeitserfordernis nicht erfüllt, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es danach verpflichtet ist, die Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die, indem sie die Zuständigkeit dieser gerichtlichen Kammer vorbehalten, seiner eigenen Zuständigkeit für die eventuelle Entscheidung über die Rechtssachen des Ausgangsverfahrens entgegenstehen. In seinen Vorlageentscheidungen in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 führt das vorlegende Gericht insoweit aus, dass es im Bereich des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts über eine allgemeine Zuständigkeit verfüge, die es insbesondere dazu ermächtige, über Rechtsstreitigkeiten wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in denen ein Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters im Bereich der Beschäftigung geltend gemacht werde, zu entscheiden. 50 Unter diesen Umständen hat der Sąd Najwyższy (Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych) (Oberstes Gericht [Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen]) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und den Gerichtshof mit den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zu befassen. 51 In der Rechtssache C‑585/18 lauten die Vorlagefragen: 1. Ist Art. 267 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 und Art. 2 EUV sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass die von Grund auf neu geschaffene Kammer des letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats, die für den Rechtsbehelf eines nationalen Richters zuständig ist und die sich ausschließlich aus Richtern zusammensetzen soll, die von einer nationalen Einrichtung gewählt werden, die über die Unabhängigkeit der Gerichte wachen soll, der KRS, jedoch wegen der Art und Weise, wie sie besetzt wurde und wie sie arbeitet, keine Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive gewährleistet, ein unabhängiges Gericht im Sinne des Unionsrechts ist? 2. Falls die erste Frage verneint wird: Ist Art. 267 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 und Art. 2 EUV sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass die unzuständige Kammer des letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats, die die Anforderungen des Unionsrechts an ein Gericht erfüllt und bei der der Rechtsbehelf in einer unionsrechtlichen Streitigkeit eingelegt wurde, die Bestimmungen des nationalen Gesetzes unangewendet lassen muss, die sie in dieser Sache für unzuständig erklären? 52 In den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 lauten die Vorlagefragen: 1. Ist Art. 47 der Charta in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass im Fall der Einlegung eines Rechtsbehelfs (Klage) bei einem letztinstanzlichen Gericht eines Mitgliedstaats, mit dem ein Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters gegenüber einem Richter dieses Gerichts geltend gemacht und zugleich ein Antrag auf Sicherung des geltend gemachten Anspruchs gestellt wird, dieses Gericht – zur Wahrung der Rechte, die aus dem Unionsrecht erwachsen, durch Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nach innerstaatlichem Recht – verpflichtet ist, die nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen, mit denen die Zuständigkeit in dem Rechtsstreit, in dem der Rechtsbehelf eingelegt wurde, einer Organisationseinheit dieses Gerichts zugewiesen wird, die nicht arbeitsfähig ist, weil die betreffenden Richterstellen nicht besetzt wurden? 2. Für den Fall, dass die Richterstellen bei der nach nationalem Recht für die Entscheidung über das eingelegte Rechtsmittel zuständigen Organisationseinheit besetzt sind: Ist Art. 267 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 und Art. 2 EUV sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass die von Grund auf neu geschaffene Kammer des letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats, die für den Rechtsstreit eines Richters des nationalen Gerichts in erster und zweiter Instanz zuständig ist und die sich ausschließlich aus Richtern zusammensetzen soll, die von einer nationalen Einrichtung, die über die Unabhängigkeit der Gerichte wachen soll, der KRS, ausgewählt werden, jedoch wegen der Art und Weise, wie sie errichtet wurde und wie sie arbeitet, keine Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive gewährleistet, ein unabhängiges Gericht im Sinne des Unionsrechts ist? 3. Falls die zweite Frage verneint wird: Ist Art. 267 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 und Art. 2 EUV sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass die unzuständige Kammer des letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats, die die Anforderungen des Unionsrechts an ein Gericht erfüllt und bei der der Rechtsbehelf in einer unionsrechtlichen Streitigkeit eingelegt wurde, die nationalen Bestimmungen unangewendet lassen muss, die sie in dieser Sache für unzuständig erklären? Verfahren vor dem Gerichtshof 53 Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 5. November 2018 sind die Rechtssachen C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18 verbunden worden. 54 Mit Beschluss vom 26. November 2018, A. K. u. a. (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:977), hat der Präsident des Gerichtshofs dem Antrag des vorlegenden Gerichts, die vorliegenden Rechtssachen dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, stattgegeben. Wie in Art. 105 Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehen, ist der Termin für die mündliche Verhandlung umgehend auf den 19. März 2019 festgelegt und den Beteiligten mit der Zustellung der Vorabentscheidungsersuchen mitgeteilt worden. Für die etwaige Einreichung schriftlicher Erklärungen wurde den Beteiligten eine Frist gesetzt. 55 Am 19. März 2019 hat vor dem Gerichtshof eine erste mündliche Verhandlung stattgefunden. Am 14. Mai 2019 hat der Gerichtshof auf Antrag insbesondere der KRS, die keine schriftlichen Erklärungen vor dem Gerichtshof eingereicht hatte, in der ersten mündlichen Verhandlung nicht vertreten worden war und darum ersucht hatte, in die Lage versetzt zu werden, mündliche Ausführungen zu machen, eine zweite mündliche Verhandlung anberaumt, auch um es den Beteiligten zu ermöglichen, sich zu den etwaigen Auswirkungen eines Urteils vom 25. März 2019 auf die vorliegenden Rechtssachen zu äußern, mit dem das Trybunał Konstytucyjny (Verfassungsgericht, Polen) Art. 9a des KRS-Gesetzes für mit Art. 187 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 4 der Verfassung vereinbar erklärt hat. 56 In der zweiten mündlichen Verhandlung hat die KRS die Entschließung Nr. 6 vorgelegt, die von der Versammlung der Richter der Disziplinarkammer am 13. Mai 2019 angenommen worden war und in der der Standpunkt der Disziplinarkammer zum Verfahren in den vorliegenden verbundenen Rechtssachen dargelegt wird. Diese Entschließung wurde an die anwesenden Beteiligten verteilt und zu den Verfahrensakten genommen. 57 Mit Schriftsätzen, die am 3. und 29. Juli 2019, am 16. September 2019 und am 7. November 2019 von der polnischen Regierung, am 4. Juli 2019 von der KRS und am 29. Oktober 2019 vom Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt, Polen) bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereicht worden sind, ist die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt worden. 58 Zur Begründung ihres Antrags führt die KRS im Wesentlichen aus, dass sie mit den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht einverstanden sei, die auf fehlerhaften Beurteilungen beruhten und ihr Vorbringen in der mündlichen Verhandlung vom 14. Mai 2019 nicht hinreichend berücksichtigt hätten. Daher sei es auch angebracht, dass das Gericht noch einmal die Möglichkeit prüfe, die zuvor von der KRS übermittelten schriftlichen Erklärungen zu berücksichtigen, die wegen verspäteter Vorlage an sie zurückgesandt worden seien. 59 In ihrem Antrag vom 3. Juli 2019 und in den ergänzenden Erläuterungen, die sie am 29. Juli und 16. September 2019 an den Gerichtshof gerichtet hat, weist die polnische Regierung darauf hin, dass auch sie nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden sei, die gewisse Widersprüche enthielten, und, wie sich aus einigen Nummern dieser Schlussanträge und ähnlichen Nummern in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 11. April 2019 in der Rechtssache Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:325) ergebe, auf einem falschen Verständnis der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs und insbesondere des Urteils vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), beruhten. Ferner enthielten die Schlussanträge des Generalanwalts eine Reihe neuer Argumente und Positionen, die nicht hinreichend erörtert worden seien. Diese Gesichtspunkte rechtfertigten angesichts ihrer inhärenten Bedeutung oder ihrer grundlegenden Folgen für die verschiedenen in den Mitgliedstaaten geltenden Rechtsmodelle in Bezug auf die Zusammensetzung der nationalen Justizräte und das Verfahren für die Ernennung von Richtern eine Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens, um es allen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, sich zu diesem Thema zu äußern. In ihrem Antrag vom 7. November 2019, zu dessen Begründung sie ein Protokoll der mündlichen Verhandlung des Sąd Okręgowy w Krakowie (Bezirksgericht Krakau, Polen) vom 6. September 2019 vorlegt, macht die polnische Regierung geltend, dass dieses Dokument befürchten lasse, dass die Entscheidung des Gerichtshofs in den vorliegenden Rechtssachen in Polen zu Rechtsunsicherheit führen könne, und dass es somit eine neue Tatsache darstelle, die entscheidenden Einfluss auf die Entscheidung des Gerichtshofs haben könne. 60 Schließlich vertritt der Generalsstaatsanwalt, der im Wesentlichen auf die bereits von der KRS und der polnischen Regierung in ihren oben angeführten Anträgen auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens vom 3., 4. und 29. Juli 2019 sowie vom 16. September 2019 angeführten Gesichtspunkte und deren dort dargelegte Argumentation Bezug nimmt, erstens die Auffassung, dass die Umstände der Ausgangsverfahren nicht hinreichend geklärt seien, wie sich aus den Schlussanträgen des Generalanwalts ergebe. Zweitens sei in den Schlussanträgen zu wichtigen Fragen Stellung genommen worden, die nicht zwischen den Parteien erörtert worden seien. Drittens beruhten die Schlussanträge auf einem falschen Verständnis der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs und dieses falsche Verständnis stelle eine neue Tatsache dar, die entscheidenden Einfluss auf die Entscheidung des Gerichtshofs haben könne. 61 Zu diesem Vorbringen ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung des Gerichtshofs keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Zum anderen stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 63 Der Gerichtshof kann jedoch gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist. 64 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof jedoch nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens und der beiden aufeinanderfolgenden mündlichen Verhandlungen über alle für seine Entscheidung erforderlichen Informationen verfügt. Bei den vorliegenden verbundenen Rechtssachen ist auch kein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich. Ferner ergibt sich aus den verschiedenen Anträgen auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens, mit denen er befasst wurde, keine neue Tatsache, die von Bedeutung für seine Entscheidung in diesen Rechtssachen sein könnte. Aus diesen Gründen ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen. 65 Schließlich ist in Bezug auf den Antrag, mit dem die KRS erneut darum ersucht, dass der Gerichtshof ihre schriftlichen Erklärungen vom 4. April 2019 berücksichtigt, darauf hinzuweisen, dass diese Partei des Ausgangsverfahrens, die wie die anderen in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Beteiligten dazu aufgefordert worden war, innerhalb der dafür gesetzten Frist schriftliche Erklärungen einzureichen, hierauf bewusst verzichtet hat, wie schon aus dem Wortlaut ihres Schreibens an den Gerichtshof vom 28. März 2019 hervorgeht. Daher können die von der KRS verspätet eingereichten schriftlichen Erklärungen, die ihr aus diesem Grund zurückgesandt wurden, vom Gerichtshof auch in diesem Stadium des Verfahrens nicht berücksichtigt werden. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 66 Mit seiner ersten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass im Fall der Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einem letztinstanzlichen Gericht eines Mitgliedstaats, mit dem ein Verstoß gegen das sich aus dieser Richtlinie ergebende Verbot der Diskriminierung wegen des Alters geltend gemacht wird, dieses Gericht verpflichtet ist, die nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen, mit denen die Zuständigkeit für die Entscheidung über einen solchen Rechtsbehelf einer Einrichtung vorbehalten wird, die – wie die Disziplinarkammer – noch nicht geschaffen wurde, da die Personen, die in ihr tätig werden sollen, nicht ernannt wurden. 67 Im vorliegenden Fall ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Präsident der Republik kurz nach Erlass der Vorlageentscheidungen in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 die Richter der Disziplinarkammer ernannt hat, die somit geschaffen worden ist. 68 Aus diesem Grund ist eine Antwort auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 für die Entscheidungen, die das vorlegende Gericht in diesen beiden Rechtssachen zu erlassen hat, nicht mehr erheblich. Eine solche Antwort wäre nämlich nur dann erforderlich, wenn die Disziplinarkammer tatsächlich nicht eingerichtet worden wäre. 69 Nach ständiger Rechtsprechung ist das mit Art. 267 AEUV eingerichtete Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (Urteil vom 19. Dezember 2013, Fish Legal und Shirley, C‑279/12, EU:C:2013:853‚ Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 70 Die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt insoweit nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). Stellt sich heraus, dass die vorgelegte Frage für die in diesem Rechtsstreit zu treffende Entscheidung offensichtlich nicht erheblich ist, so muss der Gerichtshof feststellen, dass er keine Entscheidung treffen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Oktober 2013, Stoilov i Ko, C‑180/12, EU:C:2013:693, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 71 Folglich kann der Gerichtshof, wie die KRS, die polnische Regierung sowie die Kommission geltend gemacht haben und – wie sich aus Rn. 39 des vorliegenden Urteils ergibt – im Übrigen auch das vorlegende Gericht selbst nahegelegt hat, über die erste Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 nicht entscheiden. Zu den Fragen in der Rechtssache C‑585/18 sowie zu der zweiten und der dritten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 72 Mit den Fragen in der Rechtssache C‑585/18 sowie der zweiten und der dritten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 2 und 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 267 AEUV und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass eine Kammer eines obersten Gerichts eines Mitgliedstaats wie die Disziplinarkammer, die über Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden hat, die unter das Unionsrecht fallen, unter Berücksichtigung der Bedingungen, unter denen sie eingerichtet wurde und ihre Mitglieder ernannt wurden, den sich aus diesen Bestimmungen des Unionsrechts ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genügt. Ist das nicht der Fall, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass es danach dazu verpflichtet ist, die nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen, die die Zuständigkeit für die Entscheidung über solche Streitigkeiten dieser gerichtlichen Kammer vorbehalten. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 73 Der Generalstaatsanwalt hat erstens vorgetragen, dass der Gerichtshof für eine Entscheidung über die zweite und die dritte Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 nicht zuständig sei, da die in diesen Fragen genannten Bestimmungen des Unionsrechts den Begriff „unabhängiges Gericht“ nicht definierten und keine Regelungen zur Zuständigkeit der nationalen Gerichte und zu den nationalen Justizräten enthielten, so dass diese Fragen in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fielen und dem Einfluss der Union vollständig entzogen seien. 74 Es ist jedoch festzustellen, dass das Vorbringen des Generalstaatsanwalts in Wirklichkeit die Reichweite dieser Bestimmungen des Unionsrechts und damit ihre Auslegung betrifft. Eine solche Auslegung fällt jedoch offensichtlich in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV. 75 Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass zwar die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in deren Zuständigkeit fällt; unbeschadet dessen müssen die Mitgliedstaaten aber bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531‚ Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). 76 Der Generalstaatsanwalt hat zweitens geltend gemacht, dass sich hinsichtlich Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta die Unzuständigkeit des Gerichtshofs, über die beiden genannten Vorlagefragen zu entscheiden, auch daraus ergebe, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmungen weder das Unionsrecht umsetzten noch in dessen Anwendungsbereich fielen und daher nicht anhand dieses Rechts beurteilt werden könnten. 77 Was zunächst die Bestimmungen der Charta anbelangt, trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der ihm übertragenen Zuständigkeiten prüfen kann (Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). 78 Der Anwendungsbereich der Charta ist, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). 79 Im vorliegenden Fall ist insbesondere im Hinblick auf Art. 47 der Charta darauf hinzuweisen, dass die Kläger in den Ausgangsverfahren u. a. sie betreffende Verstöße gegen das in der Richtlinie 2000/78 festgelegte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters im Bereich der Beschäftigung geltend machen. 80 Zudem wird das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf durch die Richtlinie 2000/78 bekräftigt, nach deren Art. 9 die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass alle Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten für verletzt halten, ihre Ansprüche geltend machen können (Urteil vom 8. Mai 2019, Leitner, C‑396/17, EU:C:2019:375, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 81 Aus dem Vorstehenden folgt, dass die vorliegenden Rechtssachen Situationen entsprechen, die unter das Unionsrecht fallen, und sich die Kläger der Ausgangsverfahren daher auf das ihnen durch Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz berufen können. 82 Sodann ist zum Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zum einen darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ gewährleisten soll, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). 83 Entgegen der vom Generalstaatsanwalt hierzu vertretenen Auffassung hat der Umstand, dass die der Kürzung von Bezügen dienenden nationalen Maßnahmen, die in der Rechtssache in Rede standen, in der das Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117), ergangen ist, erlassen wurden, weil sich der betreffende Mitgliedstaat gezwungen sah, ein übermäßiges Haushaltsdefizit abzubauen, und mit einem Finanzhilfeprogramm der Union für diesen Mitgliedstaat zusammenhingen, wie sich aus den Rn. 29 bis 40 jenes Urteils ergibt, keine Rolle bei der Auslegung gespielt, die den Gerichtshof zu der Feststellung veranlasst hat, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in der betreffenden Rechtssache anwendbar war. Diese Feststellung stützte sich nämlich auf den Umstand, dass die nationale Einrichtung, um die es in dieser Rechtssache ging, nämlich das Tribunal de Contas (Rechnungshof, Portugal) – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das jene Rechtssache vorlegende Gericht –, als „Gericht“ über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hatte (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 84 Da in den Ausgangsverfahren Verstöße gegen Vorschriften des Unionsrechts geltend gemacht werden, genügt die Feststellung, dass im vorliegenden Fall die Einrichtung, die diese Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden hat, über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu entscheiden haben wird. 85 Schließlich ist zum Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf die Republik Polen und das Vereinigte Königreich (ABl. 2010, C 83, S. 313), auf das sich der Generalstaatsanwalt ebenfalls beruft, anzumerken, dass es sich nicht auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV bezieht; im Übrigen stellt es auch die Geltung der Charta für Polen nicht in Frage und bezweckt nicht, die Republik Polen von der Verpflichtung zur Einhaltung der Bestimmungen der Charta freizustellen (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). 86 Nach alledem ist der Gerichtshof für die Auslegung von Art. 47 der Charta und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in den vorliegenden Rechtssachen zuständig. Zu einer etwaigen Erledigung 87 Die KRS, der Generalstaatsanwalt und die polnische Regierung haben darauf hingewiesen, dass der Präsident der Republik am 17. Dezember 2018 die am 1. Januar 2019 in Kraft getretene Ustawa o zmianie ustawy o Sądzie Nawyższym (Gesetz zur Änderung des [neuen Gesetzes über das Oberste Gericht]) vom 21. November 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 2507, im Folgenden: Gesetz vom 21. November 2018) unterzeichnet habe. 88 Laut Art. 1 dieses Gesetzes werden Art. 37 §§ 1a bis 4 und Art. 111 § 1 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht aufgehoben und Art. 37 § 1 dieses Gesetzes dahin geändert, dass „[d]ie Richter des Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] mit 65 Jahren in den Ruhestand versetzt [werden]“. Es wird jedoch auch klargestellt, dass die letztgenannte Bestimmung nur für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gilt, die ihr Amt in dieser Eigenschaft nach dem 1. Januar 2019 angetreten haben. Für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die ihr Amt vor diesem Zeitpunkt angetreten haben, gelten die früheren Bestimmungen von Art. 30 des Gesetzes über das Oberste Gericht vom 23. November 2002, die einen Eintritt in den Ruhestand mit 70 Jahren vorsahen. 89 Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes vom 21. November 2018 bestimmt, dass „[a]b dem Tag des Inkrafttretens dieses Gesetzes … Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder am Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht), die nach Art. 37 §§ 1 bis 4 oder Art. 111 § 1 oder § 1a des [neuen Gesetzes über das Oberste Gericht] in den Ruhestand versetzt worden sind, wieder in das Amt eingesetzt [werden], das sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens [dieses Gesetzes] ausgeübt haben. Ihre Amtszeit als Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder am Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) gilt als nicht unterbrochen“. 90 Art. 4 des Gesetzes vom 21. November 2018 sieht in Abs. 1 vor, dass „[d]ie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes nach Art. 37 § 1 und Art. 111 §§ 1 bis 1b des [neuen Gesetzes über das Oberste Gericht] eingeleiteten Verfahren und die in diesen Rechtssachen anhängigen Rechtsbehelfsverfahren … eingestellt [werden]“, und in Abs. 2, dass „[d]ie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes eingeleiteten und anhängigen Verfahren mit dem Ziel der Feststellung, ob bei den in Art. 2 Abs. 1 genannten Richtern ein Beschäftigungsverhältnis als Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) oder am Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) im aktiven Dienst vorliegt, … eingestellt [werden]“. 91 Nach Ansicht der KRS, des Generalstaatsanwalts und der polnischen Regierung folgt aus den Art. 1 und 2 Abs. 1 des Gesetzes vom 21. November 2018, dass die Kläger der Ausgangsverfahren, die nach den Bestimmungen des neuen, nunmehr aufgehobenen Gesetzes über das Oberste Gericht in den Ruhestand versetzt worden seien, von Rechts wegen wieder in ihren jeweiligen Gerichten eingesetzt würden, bis sie im Einklang mit den zuvor geltenden nationalen Bestimmungen das Alter von 70 Jahren erreicht hätten. Zugleich sei aber auch jede Möglichkeit entfallen, die Ausübung ihres Amtes über das normale Ruhestandsalter hinaus durch den Präsidenten der Republik verlängern zu lassen. 92 Unter diesen Umständen und gemäß der Regelung in Art. 4 dieses Gesetzes, mit dem die Einstellung von Rechtsstreitigkeiten wie denen der Ausgangsverfahren angeordnet worden sei, seien die Ausgangsverfahren gegenstandslos geworden, so dass der Gerichtshof über die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen nicht mehr zu befinden habe. 93 Vor diesem Hintergrund hat sich der Gerichtshof am 23. Januar 2019 an das vorlegende Gericht gewandt, um zu erfahren, ob es nach dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 21. November 2018 die Beantwortung seiner Vorlagefragen für den Erlass seiner Entscheidungen in den bei ihm anhängigen Rechtssachen weiterhin für erforderlich halte. 94 In seiner Antwort vom 25. Januar 2019 bejahte das vorlegende Gericht dies und teilte mit, dass es das Verfahren über die Anträge auf Erledigung der Hauptsache, die der Generalstaatsanwalt auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 21. November 2018 bei ihm gestellt habe, mit Beschlüssen vom 23. Januar 2019 bis zur Entscheidung des Gerichtshofs in den vorliegenden Rechtssachen ausgesetzt habe. 95 In dieser Antwort führt das vorlegende Gericht aus, dass eine Beantwortung der Vorlagefragen in den Rechtssachen der Ausgangsverfahren weiterhin erforderlich sei, um ihm die Entscheidung über Vorfragen verfahrensrechtlicher Art zu ermöglichen, die sich ihm stellten, bevor es seine Urteile in diesen Rechtssachen erlassen könne. 96 Zur Begründetheit der Ausgangsrechtsstreitigkeiten sei hinzuzufügen, dass der Zweck des Gesetzes vom 21. November 2018 nicht darin bestanden habe, die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zu beseitigen, sondern darin, die einstweiligen Anordnungen umzusetzen, die von der Vizepräsidentin des Gerichtshofs in ihrem Beschluss vom 19. Oktober 2018, Kommission/Polen (C‑619/18 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:852), bestätigt durch den Beschluss des Gerichtshofs vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen (C‑619/18 R, EU:C:2018:1021), angeordnet worden seien. Mit diesem Gesetz seien somit weder die streitigen nationalen Bestimmungen noch ihre Rechtswirkungen ex tunc aufgehoben worden. Während das Gesetz vorgeblich bezwecke, die Kläger des Ausgangsverfahrens nach ihrer Versetzung in den Ruhestand wieder in ihr Amt einzusetzen und eine rechtliche Fiktion der ununterbrochenen Fortsetzung ihres Mandats durch diese Wiedereinsetzung aufzustellen, seien die Klagen in den Ausgangsverfahren auf die Feststellung gerichtet, dass die betreffenden Richter nie in den Ruhestand getreten und während des gesamten Zeitraums im Amt geblieben seien, was sich nur aus der Verdrängung der beanstandeten nationalen Regelungen aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts ergeben könne. Diese Unterscheidung sei aber von grundlegender Bedeutung, um den Status der betroffenen Richter zu bestimmen, sowohl im Hinblick auf ihre Befugnis, gerichtliche, organisatorische und administrative Maßnahmen zu ergreifen, als auch hinsichtlich etwaiger wechselseitiger Ansprüche mit dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis oder der disziplinarrechtlichen Verantwortung. Nach Äußerungen von Vertretern der Politik hätten die betroffenen Richter bis zum 1. Januar 2019, dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes vom 21. November 2018, rechtswidrig gerichtliche Funktionen ausgeübt. 97 Es ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, ist, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 98 Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 99 Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit den Fragen, die es dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, und mit der Auslegung des Unionsrechts, um die es im vorliegenden Fall ersucht, nicht zu materiell-rechtlichen Fragen der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten, die selbst weitere Fragen zum Unionsrecht aufwerfen, unterwiesen werden möchte, sondern zu einem verfahrensrechtlichen Problem, das von ihm in limine litis zu entscheiden ist, da es die Zuständigkeit dieses Gerichts für die Entscheidung über diese Rechtsstreitigkeiten selbst betrifft. 100 Der Gerichtshof ist insoweit nach ständiger Rechtsprechung befugt, dem nationalen Gericht die Kriterien des Unionsrechts aufzuzeigen, die zur Lösung der Zuständigkeitsfrage, die sich diesem Gericht stellt, beitragen können (Urteile vom 22. Oktober 1998, IN. CO. GE.’90 u. a., C‑10/97 bis C‑22/97, EU:C:1998:498‚ Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 12. Dezember 2002, Universale-Bau u. a., C‑470/99, EU:C:2002:746‚ Rn. 43). Dies gilt insbesondere dann, wenn die aufgeworfenen Fragen wie im vorliegenden Fall – wie sich aus den Rn. 79 bis 81 des vorliegenden Urteils ergibt – die Frage betreffen, ob die nationale Einrichtung, die normalerweise für die Entscheidung über einen Rechtsstreit zuständig ist, in dem sich ein Betroffener auf ein Recht beruft, das er aus dem Unionsrecht herleitet, den Anforderungen genügt, die sich aus dem durch Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 verbürgten Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf ergeben. 101 Das Gesetz vom 21. November 2018 betrifft nicht die Frage der gerichtlichen Zuständigkeit für die Entscheidung in den Ausgangsverfahren. Über diese Frage hat das vorlegende Gericht somit zu entscheiden, und es hat dazu vorliegend um eine Auslegung des Unionsrechts ersucht. 102 Zudem kann der Umstand, dass nationale Bestimmungen wie Art. 4 Abs. 1 und 2 des Gesetzes vom 21. November 2018 die Einstellung von Rechtsstreitigkeiten wie denen des Ausgangsverfahrens anordnen, den Gerichtshof ohne eine Entscheidung des vorlegenden Gerichts, die Ausgangsverfahren einzustellen oder in der Hauptsache für erledigt zu erklären, grundsätzlich nicht zu dem Schluss veranlassen, dass er nicht mehr über die ihm zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen entscheiden kann. 103 Die nationalen Gerichte haben nämlich die umfassende Befugnis, den Gerichtshof mit einer Frage nach der Auslegung der relevanten Bestimmungen des Unionsrechts zu befassen, und aus dieser Befugnis wird für letztinstanzlich entscheidende Gerichte, vorbehaltlich der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten Ausnahmen, eine Pflicht. Eine nationale Vorschrift kann daher ein nationales Gericht weder daran hindern, von dieser Befugnis Gebrauch zu machen, noch daran, dieser Pflicht nachzukommen. Sowohl diese Befugnis als auch diese Pflicht sind nämlich dem durch Art. 267 AEUV errichteten System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof und den mit dieser Bestimmung den nationalen Gerichten zugewiesenen Aufgaben des zur Anwendung des Unionsrechts berufenen Richters inhärent (Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 32 und 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 104 Daher können nationale Bestimmungen wie die in Rn. 102 des vorliegenden Urteils angeführten eine Kammer eines letztinstanzlich entscheidenden Gerichts, die sich mit einer Frage zur Auslegung des Unionsrechts konfrontiert sieht, nicht daran hindern, die Fragen aufrechtzuerhalten, die sie dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegt hat. 105 Schließlich ist zu den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18, in denen es darum geht, ob zwischen den Klägern der Ausgangsverfahren und ihrem Arbeitgeber, dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), ein Arbeitsverhältnis als Richter im aktiven Dienst fortbesteht, anzumerken, dass nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts, die in Rn. 96 des vorliegenden Urteils wiedergegeben worden sind, insbesondere in Anbetracht sämtlicher Auswirkungen eines solchen Arbeitsverhältnisses, sich die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten nicht offensichtlich erledigt haben müssen, nur weil Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes vom 21. November 2018 in Kraft getreten ist. 106 Nach alledem können die Annahme und das Inkrafttreten des Gesetzes vom 21. November 2018 nicht rechtfertigen, dass sich der Gerichtshof nicht zur zweiten und zur dritten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 äußert. 107 In Bezug auf die Rechtssache C‑585/18 ist hingegen festzustellen, dass der beim vorlegenden Gericht anhängige Rechtsbehelf gegen eine Stellungnahme der KRS in einem Verfahren gerichtet ist, das potenziell zu einer Entscheidung führen kann, wonach der Kläger des Ausgangsverfahrens sein Richteramt über das neu auf 65 Jahre festgesetzte Ruhestandsalter hinaus ausüben kann. 108 Den genannten Ausführungen des vorlegenden Gerichts ist jedoch nicht zu entnehmen, dass für diesen Rechtsbehelf noch ein Rechtsschutzinteresse gegeben sein könnte, und insbesondere nicht, dass eine solche Stellungnahme nicht hinfällig sein könnte, obwohl nach den zwischenzeitlich erlassenen nationalen Rechtsvorschriften sowohl die nationalen Bestimmungen über die Einführung des neuen Ruhestandsalters als auch die Bestimmungen, mit denen das Verfahren zur Verlängerung der Ausübung des Richteramts eingeführt wurde, in dem eine solche Stellungnahme erforderlich war, aufgehoben wurden. Der Kläger des Ausgangsverfahrens kann folglich nach den vor Erlass der aufgehobenen Vorschriften geltenden nationalen Rechtsvorschriften bis zum 70. Lebensjahr im Richteramt verbleiben. 109 Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der in den Rn. 69 und 70 des vorliegenden Urteils dargelegten Grundsätze hat der Gerichtshof nicht mehr über die in der Rechtssache C‑585/18 vorgelegten Fragen zu entscheiden. Zur Zulässigkeit der zweiten und der dritten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 110 Die polnische Regierung macht geltend, dass die zweite und die dritte Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 unzulässig seien. Erstens seien diese Fragen gegenstandslos, weil ihre Beantwortung nicht erforderlich sei, da die Verfahren, die bei der Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen, die die Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt habe, anhängig seien, gemäß Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung wegen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Zusammensetzung und Zuständigkeit von Gerichten ungültig seien. Die Kammer bestehe im vorliegenden Fall nämlich aus drei Richtern, während Art. 79 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht vorsehe, dass Rechtssachen wie die in den Ausgangsverfahren in der ersten Instanz von einem Einzelrichter zu entscheiden seien. Zweitens könnten Antworten auf diese Fragen dem vorlegenden Gericht jedenfalls nicht ohne Eingriff in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Gerichtsorganisation und ohne Überschreitung der Zuständigkeit der Union gestatten, sich mit Rechtssachen zu befassen, die in die Zuständigkeit einer anderen Kammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) fielen, und somit auch nicht für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten erheblich sein. 111 Dieses Vorbringen, das Gesichtspunkte der Begründetheit betrifft, kann jedoch die Zulässigkeit der vorgelegten Fragen keinesfalls berühren. 112 Mit ihnen wird nämlich im Wesentlichen gerade erfragt, ob ein Gericht wie das vorlegende ungeachtet der in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden nationalen Vorschriften über die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten nach den in diesen Fragen genannten unionsrechtlichen Bestimmungen verpflichtet ist, diese nationalen Vorschriften unangewendet zu lassen und sich gegebenenfalls in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten für zuständig zu erklären. Ein Urteil, mit dem der Gerichtshof eine solche Verpflichtung bejahen würde, wäre jedoch für das nationale Gericht und alle anderen Organe der Republik Polen bindend, ohne dass die innerstaatlichen Bestimmungen über die Ungültigkeit von Verfahren oder die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten, auf die sich die polnische Regierung bezieht, dem entgegenstehen könnten. 113 Demnach greifen die Einwände der polnischen Regierung gegen die Zulässigkeit dieser Fragen nicht durch. Zur inhaltlichen Prüfung der zweiten und der dritten Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 114 Wie sich aus den Rn. 77 bis 81 des vorliegenden Urteils ergibt, sind in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren, in denen die Kläger sie betreffende Verstöße gegen das in der Richtlinie 2000/78 ausgesprochene Verbot der Diskriminierung wegen des Alters im Bereich der Beschäftigung geltend machen, sowohl Art. 47 der Charta, der das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz verbürgt, als auch Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie anwendbar, der dieses Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bekräftigt. 115 Insoweit ist es nach ständiger Rechtsprechung mangels einer einschlägigen Unionsregelung Sache des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus der Unionsrechtsordnung erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei die Mitgliedstaaten allerdings für die Wahrung des in Art. 47 der Charta verbürgten Rechts auf effektiven gerichtlichen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Oktober 1998, IN. CO. GE.’90 u. a., C‑10/97 bis C‑22/97, EU:C:1998:498, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 44 und 45, sowie vom 19. März 2015, E.ON Földgáz Trade, C‑510/13, EU:C:2015:189, Rn. 49 und 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 116 Zudem haben nach Art. 52 Abs. 3 der Charta darin enthaltene Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden. 117 Wie aus den Erläuterungen zu Art. 47 der Charta, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind, hervorgeht, entsprechen die Abs. 1 und 2 von Art. 47 Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 der EMRK (Urteil vom 30. Juni 2016, Toma und Biroul Executorului Judecătoresc Horațiu Horațiu-Vasile Cruduleci, C‑205/15, EU:C:2016:499, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). 118 Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C‑38/18, EU:C:2019:628, Rn. 39). 119 Was den Inhalt von Art. 47 Abs. 2 der Charta betrifft, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass das in ihm verankerte Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf insbesondere das Recht jeder Person einschließt, dass ihre Sache von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht in einem fairen Verfahren verhandelt wird. 120 Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). 121 Nach ständiger Rechtsprechung umfasst das Erfordernis der Unabhängigkeit zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 72). 122 Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 73). 123 Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 74). 124 Im Übrigen ist nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung die Unabhängigkeit der Gerichte gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2016, Poltorak, C‑452/16 PPU, EU:C:2016:858, Rn. 35). 125 Insoweit sind die betreffenden Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die in Rn. 123 des vorliegenden Urteils angeführten Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung). 126 Diese Auslegung von Art. 47 der Charta wird durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 Abs. 1 EMRK bestätigt, wonach diese Bestimmung verlangt, dass die Gerichte unabhängig sein müssen, und zwar sowohl von den Parteien als auch von der Exekutive und der Legislative (EGMR, 18. Mai 1999, Ninn-Hansen/Dänemark, CE:ECHR:1999:0518DEC002897295, S. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung). 127 Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt es für die Frage, ob ein Gericht als „unabhängig“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK anzusehen ist, u. a. auf die Art und Weise der Berufung und die Amtszeit seiner Mitglieder, das Bestehen von Schutz gegen die Ausübung von Druck von außen und darauf an, ob es den Eindruck von Unabhängigkeit vermittelt (EGMR, 6. November 2018, Ramos Nunes de Carvalho e Sá/Portugal, CE:ECHR:2018:1106JUD005539113, § 144 und die dort angeführte Rechtsprechung), wobei zu diesem letzten Punkt klargestellt wird, dass es um das Vertrauen selbst geht, das jedes Gericht in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (vgl. in diesem Sinne EGMR, 21. Juni 2011, Fruni/Slowakei, CE:ECHR:2011:0621JUD000801407, § 141). 128 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann die Voraussetzung der „Unparteilichkeit“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf verschiedene Art und Weise beurteilt werden, nämlich nach einem subjektiven Kriterium unter Berücksichtigung der persönlichen Überzeugung und des Verhaltens des Richters, d. h. durch eine Prüfung, ob der Richter im betreffenden Fall Voreingenommenheit oder persönliche Vorurteile gezeigt hat, sowie nach einem objektiven Kriterium, d. h. durch die Feststellung, ob das Gericht durch seine Zusammensetzung hinreichende Gewähr für den Ausschluss berechtigter Zweifel an seiner Unparteilichkeit bietet. Bei der objektiven Beurteilung ist zu fragen, ob unabhängig vom persönlichen Verhalten des Richters bestimmte nachprüfbare Umstände Zweifel an seiner Unparteilichkeit aufkommen lassen können. Hierbei kann auch ein Eindruck von Bedeutung sein. Es geht dabei wieder um das Vertrauen, das die Gerichte in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen müssen, angefangen bei den Parteien des Verfahrens (vgl. u. a. EGMR, 6. Mai 2003, Kleyn u. a./Niederlande, CE:ECHR:2003:0506JUD003934398, § 191 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. November 2018, Ramos Nunes de Carvalho e Sá/Portugal, CE:ECHR:2018:1106JUD005539113, §§ 145, 147 und 149 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 129 Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt entschieden hat, sind die Begriffe der Unabhängigkeit und der objektiven Unparteilichkeit eng miteinander verknüpft, was ihn in der Regel dazu veranlasst, sie zusammen zu prüfen (vgl. u. a. EGMR, 6. Mai 2003, Kleyn u. a./Niederlande, CE:ECHR:2003:0506JUD003934398, § 192 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 6. November 2018, Ramos Nunes de Carvalho e Sá/Portugal, CE:ECHR:2018:1106JUD005539113, § 150 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird bei der Entscheidung, ob Anlass zu der Befürchtung besteht, dass die Erfordernisse der Unabhängigkeit oder objektiven Unparteilichkeit in einem bestimmten Fall nicht erfüllt sind, der Standpunkt einer Partei zwar berücksichtigt, spielt aber keine entscheidende Rolle. Entscheidend ist, ob die Befürchtungen als objektiv gerechtfertigt angesehen werden können (vgl. u. a. EGMR, 6. Mai 2003, Kleyn u. a./Niederlande, CE:ECHR:2003:0506JUD003934398, § 193 und 194 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 6. November 2018, Ramos Nunes de Carvalho e Sá/Portugal, CE:ECHR:2018:1106JUD005539113, §§ 147 und 152 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 130 In diesem Zusammenhang weist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte immer wieder darauf hin, dass zwar der Grundsatz der Trennung von Exekutive und Judikative in seiner Rechtsprechung immer wichtiger wird, aber weder Art. 6 noch eine andere Bestimmung der EMRK den Staaten ein bestimmtes Verfassungsmodell vorgibt, das die Beziehungen und das Zusammenwirken zwischen den verschiedenen Staatsgewalten in einer bestimmten Weise regelt, oder sie verpflichtet, sich nach dem einen oder anderen theoretischen Verfassungskonzept für die Grenzen eines solchen Zusammenwirkens zu richten. Dabei geht es immer um die Frage, ob die Anforderungen der EMRK im Einzelfall erfüllt sind (vgl. u. a. EGMR, 6. Mai 2003, Kleyn u. a./Niederlande, CE:ECHR:2003:0506JUD003934398, § 193 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 9. November 2006, Sacilor Lormines/Frankreich, CE:ECHR:2006:1109JUD006541101, § 59, sowie vom 18. Oktober 2018, Thiam/Frankreich, CE:ECHR:2018:1018JUD008001812, § 62 und die dort angeführte Rechtsprechung). 131 Im vorliegenden Fall beziehen sich die vom vorlegenden Gericht geäußerten Zweifel im Wesentlichen auf die Frage, ob in Anbetracht der nationalen Vorschriften über die Schaffung einer speziellen Einrichtung wie der Disziplinarkammer, die u. a. die ihr zugewiesenen Zuständigkeiten, ihre Zusammensetzung sowie die Voraussetzungen und Modalitäten der Ernennung der in ihr tätigen Richter betreffen, sowie unter Berücksichtigung des Kontexts, in dem sie geschaffen und die Ernennungen vorgenommen wurden, eine solche Einrichtung und ihre Mitglieder den Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genügen, die ein Gericht nach Art. 47 der Charta erfüllen muss, wenn es über einen Rechtsstreit zu entscheiden hat, in dem sich ein Rechtsunterworfener wie im vorliegenden Fall auf einen ihn betreffenden Verstoß gegen das Unionsrecht beruft. 132 Die Entscheidung hierüber ist letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, nachdem es die dafür erforderliche Würdigung vorgenommen hat. Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Unionsorgane zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof aber das Unionsrecht im Rahmen der durch diesen Artikel begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). 133 Insoweit ist zu den Bedingungen selbst, unter denen die Mitglieder der Disziplinarkammer ernannt wurden, zunächst festzustellen, dass der bloße Umstand, dass diese vom Präsidenten der Republik ernannt werden, keine Abhängigkeit von ihm schaffen oder Zweifel an der Unparteilichkeit der Mitglieder aufkommen lassen kann, wenn diese nach ihrer Ernennung keinem Druck ausgesetzt sind und bei der Ausübung ihres Amtes keinen Weisungen unterliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2013, D. und A., C‑175/11, EU:C:2013:45, Rn. 99, sowie EGMR, 28. Juni 1984, Campbell und Fell/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:1984:0628JUD000781977, § 79, 2. Juni 2005, Zolotas/Griechenland, CE:ECHR:2005:0602JUD003824002 §§ 24 und 25, 9. November 2006, Sacilor Lormines/Frankreich, CE:ECHR:2006:1109JUD006541101, § 67, sowie 18. Oktober 2018, Thiam/Frankreich, CE:ECHR:2018:1018JUD008001812, § 80 und die dort angeführte Rechtsprechung). 134 Es ist jedoch sicherzustellen, dass die materiellen Voraussetzungen und die Verfahrensmodalitäten für den Erlass der Ernennungsentscheidungen so beschaffen sind, dass sie bei den Rechtsunterworfenen, sind die betreffenden Richter erst einmal ernannt, keine berechtigten Zweifel an deren Unempfänglichkeit für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen lassen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 111). 135 Dafür müssen die genannten Voraussetzungen und Modalitäten u. a. so ausgestaltet sein, dass sie den in Rn. 125 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen genügen. 136 Im vorliegenden Fall legt Art. 30 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht alle Voraussetzungen fest, die eine Person erfüllen muss, damit sie zum Mitglied dieses Gerichts ernannt werden kann. Zudem werden die Richter der Disziplinarkammer nach Art. 179 der Verfassung und Art. 29 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht ebenso wie die Richter der anderen Kammern dieses Gerichts vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag der KRS ernannt, d. h. dem Gremium, das durch Art. 186 der Verfassung mit der Aufgabe betraut ist, über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu wachen. 137 Die Einschaltung eines solchen Gremiums im Verfahren zur Ernennung von Richtern kann zwar grundsätzlich zur Objektivierung dieses Verfahrens beitragen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 115; vgl. auch in diesem Sinne EGMR, 18. Oktober 2018, Thiam/Frankreich, CE:ECHR:2018:1018JUD008001812, § 81 und 82). Insbesondere kann der Umstand, dass die Möglichkeit des Präsidenten der Republik, einen Richter am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu ernennen, selbst davon abhängt, dass ein entsprechender Vorschlag der KRS vorliegt, den Handlungsspielraum, über den der Präsident der Republik bei der Ausübung der ihm eingeräumten Befugnis verfügt, objektiv begrenzen. 138 Das gilt jedoch u. a. nur insoweit, als dieses Gremium selbst von der Legislative und der Exekutive sowie dem Organ, dem es einen solchen Ernennungsvorschlag übermitteln soll, hinreichend unabhängig ist (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 116). 139 Der Grad der Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive, über den die KRS als Gremium, das durch Art. 186 der Verfassung mit der Aufgabe betraut wurde, über die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter zu wachen, bei der Wahrnehmung der ihr durch die nationalen Rechtsvorschriften übertragenen Aufgaben verfügt, kann nämlich von Bedeutung sein, wenn es um die Beurteilung geht, ob die von ihr ausgewählten Richter die sich aus Art. 47 der Charta ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllen. 140 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die KRS hinreichende Gewähr für ihre Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive bietet. Dabei wird es alle erheblichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben, die sowohl die Bedingungen, unter denen die Mitglieder der KRS bestellt wurden, als auch die Art und Weise betreffen, in der diese ihre Aufgabe konkret erfüllt. 141 Das vorlegende Gericht führt eine Reihe von Gesichtspunkten an, die seiner Meinung nach Zweifel an der Unabhängigkeit der KRS aufkommen lassen können. 142 Insoweit ist zwar denkbar, dass der eine oder andere vom vorlegenden Gericht angeführte Gesichtspunkt an und für sich nicht zu beanstanden ist und in diesem Fall in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt und deren Entscheidungen unterliegt, doch kann ihr Zusammenspiel neben den Umständen, unter denen diese Entscheidungen getroffen wurden, Zweifel an der Unabhängigkeit eines am Verfahren zur Ernennung von Richtern beteiligten Gremiums aufkommen lassen, auch wenn sich ein solcher Schluss bei getrennter Betrachtung dieser Gesichtspunkte nicht aufdrängen würde. 143 Unter diesem Vorbehalt können sich von den Gesichtspunkten, die vom vorlegenden Gericht genannt werden, folgende Umstände für eine solche Gesamtwürdigung als erheblich erweisen: erstens der Umstand, dass gleichzeitig mit der Einrichtung der neu zusammengesetzten KRS eine Verkürzung der laufenden vierjährigen Amtszeit der früheren Mitglieder der KRS erfolgte, zweitens der Umstand, dass die 15 Mitglieder der KRS, die aus der Mitte der Richter gewählt werden, zuvor von der Richterschaft gewählt wurden, nun aber von einem Teil der Legislative aus einer Gruppe von Kandidaten, die u. a. von einer Gruppe aus mindestens 2000 Bürgern oder 25 Richtern vorgeschlagen werden können, wobei eine solche Reform zu Ernennungen führt, durch die sich die Zahl der KRS-Mitglieder, die direkt aus der Politik kommen oder von ihr gewählt werden, auf 23 der insgesamt 25 Mitglieder erhöht, sowie drittens der Umstand, dass es eventuell Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung einiger Mitglieder der KRS in ihrer neuen Zusammensetzung gegeben haben könnte, auf die das vorlegende Gericht hingewiesen hat und die es gegebenenfalls zu überprüfen haben wird. 144 Für die Zwecke dieser Gesamtwürdigung darf das vorlegende Gericht auch die Art und Weise berücksichtigen, in der die KRS ihren verfassungsmäßigen Auftrag, über die Unabhängigkeit der Gerichte und Richter zu wachen, erfüllt und ihre verschiedenen Befugnisse wahrnimmt, insbesondere wenn sie dies in einer Weise tut, die Zweifel an ihrer Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive aufkommen lassen kann. 145 Ferner ist es in Anbetracht der Tatsache, dass die Entscheidungen des Präsidenten der Republik über die Ernennung von Richtern am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), wie sich aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Akten ergibt, nicht justiziabel sind, Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Art und Weise, in der in Art. 44 §§ 1 und 1a des KRS-Gesetzes die Tragweite des Rechtsbehelfs gegen eine Entschließung der KRS definiert ist, in der deren Entscheidungen über die Vorschläge für die Ernennung zum Richter an diesem Gericht enthalten sind, es erlaubt, eine effektive gerichtliche Kontrolle solcher Entschließungen sicherzustellen, die sich wenigstens auf die Prüfung erstreckt, ob sie frei von Befugnisüberschreitung, Ermessensmissbrauch, Rechtsfehlern oder offensichtlichen Beurteilungsfehlern sind (vgl. in diesem Sinne EGMR, 18. Oktober 2018, Thiam/Frankreich, CE:ECHR:2018:1018JUD008001812, §§ 25 und 81). 146 Unabhängig von dieser Prüfung der Bedingungen, unter denen die neuen Richter der Disziplinarkammer ernannt wurden, und der Rolle, die die KRS dabei gespielt hat, kann das vorlegende Gericht, um zu überprüfen, ob die Disziplinarkammer und ihre Mitglieder den sich aus Art. 47 der Charta ergebenden Anforderungen an ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genügen, auch gehalten sein, verschiedene andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die diese Kammer unmittelbarer kennzeichnen. 147 Das gilt erstens für den vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand, dass der Disziplinarkammer durch Art. 27 § 1 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht speziell eine ausschließliche Zuständigkeit für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) betreffende Streitigkeiten im Bereich des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts sowie der Versetzung in den Ruhestand zugewiesen wurde, die bis dahin in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte fielen. 148 Auch wenn dieser Umstand als solcher nicht entscheidend ist, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass insbesondere die Zuweisung der Rechtsstreitigkeiten über die Versetzung von Richtern des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in den Ruhestand wie der im Ausgangsverfahren fraglichen an die Disziplinarkammer parallel zu dem scharf kritisierten Erlass der Bestimmungen des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht erfolgte, mit denen das Ruhestandsalter für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) herabgesetzt und diese Maßnahme auf die sich im Amt befindlichen Richter dieses Gerichts angewandt wurde und außerdem dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen wurde, den aktiven Dienst der Richter dieses Gerichts über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern. 149 Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531), jedoch insoweit entschieden, dass die Republik Polen durch den Erlass dieser Maßnahmen die Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beeinträchtigt und gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat. 150 Zweitens ist in einem solchen Zusammenhang auf den – auch vom vorlegenden Gericht angeführten – Umstand hinzuweisen, dass die Disziplinarkammer nach Art. 131 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht nur mit neu ernannten Richtern besetzt werden darf, somit nicht mit bereits am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) tätigen Richtern. 151 Drittens scheint die Disziplinarkammer, obwohl sie als Kammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) gebildet ist, im Gegensatz zu den anderen Kammern dieses Gerichts, wie sich u. a. aus Art. 20 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht ergibt, innerhalb des Gerichts über eine besonders weitgehende Autonomie zu verfügen. 152 Jeder einzelne der verschiedenen in den Rn. 147 bis 151 des vorliegenden Urteils angeführten Umstände kann zwar für sich allein und isoliert betrachtet keine Zweifel an der Unabhängigkeit einer Einrichtung wie der Disziplinarkammer aufkommen lassen, doch könnte für ihre Kombination etwas anderes gelten, zumal dann, wenn die Prüfung in Bezug auf die KRS zeigen sollte, dass diese gegenüber der Legislative und der Exekutive nicht unabhängig ist. 153 Somit wird das vorlegende Gericht – gegebenenfalls unter Berücksichtigung der spezifischen Gründe oder Ziele, die vor ihm in dem Versuch, einige der betreffenden Maßnahmen zu rechtfertigen, eventuell vorgetragen werden – zu beurteilen haben, ob die Kombination der in den Rn. 143 bis 151 des vorliegenden Urteils genannten Umstände und aller anderen ordnungsgemäß nachgewiesenen erheblichen Umstände, von denen es möglicherweise Kenntnis erhält, geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit der Disziplinarkammer für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen kann, dass diese Einrichtung nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. 154 Käme das vorlegende Gericht zu dem Schluss, dass dies der Fall ist, folgte daraus, dass eine solche Einrichtung nicht den Anforderungen aus Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 genügt, da es sich dann nicht um ein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne der erstgenannten Vorschrift handeln würde. 155 Für einen solchen Fall möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, ob es nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dazu verpflichtet wäre, die nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen, die die gerichtliche Zuständigkeit für die Entscheidung in den Ausgangsverfahren der Disziplinarkammer vorbehalten. 156 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht dadurch gekennzeichnet ist, dass es einer autonomen Quelle, den Verträgen, entspringt und Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten hat, sowie durch die unmittelbare Wirkung einer ganzen Reihe für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen. Diese wesentlichen Merkmale des Unionsrechts haben zu einem strukturierten Netz miteinander verflochtener Grundätze, Regeln und Rechtsbeziehungen geführt, das die Union selbst und ihre Mitgliedstaaten wechselseitig sowie die Mitgliedstaaten untereinander bindet (Gutachten 1/17 [CETA EU–Kanada] vom 30. April 2019, EU:C:2019:341, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung). 157 Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts besagt, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung). 158 Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung im Hoheitsgebiet dieser Staaten nicht beeinträchtigen darf (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 159 Hierzu ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des innerstaatlichen Rechts, wonach es dem nationalen Gericht obliegt, das nationale Recht so weit wie möglich in Übereinstimmung mit dem Unionsrecht auszulegen, dem System der Verträge immanent ist, da dem nationalen Gericht dadurch ermöglicht wird, im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn es über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheidet (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 160 Ebenfalls nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, verpflichtet, dann, wenn es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). 161 Insoweit ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unmittelbare Wirkung hat, entgegensteht, unangewendet zu lassen (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski, C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 162 Zu Art. 47 der Charta ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass diese Bestimmung aus sich heraus Wirkung entfaltet und nicht durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das er als solches geltend machen kann (Urteile vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 78, und vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 56). 163 Gleiches gilt für Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78, da er, wie in Rn. 80 des vorliegenden Urteils ausgeführt, indem er bestimmt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass alle Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes in ihren Rechten für verletzt halten, ihre Ansprüche geltend machen können, ausdrücklich das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in dem betreffenden Bereich bekräftigt. Bei der Umsetzung der Richtlinie 2000/78 sind die Mitgliedstaaten nämlich verpflichtet, Art. 47 der Charta zu beachten, so dass die Merkmale des in Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Rechtsbehelfs im Einklang mit Art. 47 der Charta zu bestimmen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 55 und 56). 164 Folglich ist das nationale Gericht in dem oben in Rn. 160 des vorliegenden Urteils genannten Fall verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den Rechtsschutz zu gewährleisten, der den Einzelnen aus Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 erwächst, und für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 79). 165 Eine nationale Bestimmung, die einer bestimmten Einrichtung, die den sich aus Art. 47 der Charta ergebenden Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht genügt, die Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Rechtsstreit zuwiese, in dem ein Einzelner – wie im vorliegenden Fall – eine Verletzung von Rechten geltend macht, die sich aus den Vorschriften des Unionsrechts ergeben, würde dem Betroffenen jeden wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 vorenthalten und den Wesensgehalt des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf verkennen (vgl. entsprechend Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 72). 166 Somit ist, wenn sich herausstellt, dass eine nationale Bestimmung die Zuständigkeit für die Entscheidung über einen Rechtsstreit wie die Rechtsstreitigkeiten des Ausgangsverfahrens einer Einrichtung vorbehält, die nicht den Anforderungen an die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit genügt, die sich aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 47 der Charta, ergeben, eine andere Einrichtung, die mit einem solchen Rechtsstreit befasst ist, zur Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes im Sinne von Art. 47 der Charta gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, damit der Rechtsstreit von einem Gericht entschieden werden kann, das diesen Anforderungen genügt und in dem entsprechenden Bereich zuständig wäre, stünde dem nicht diese Bestimmung entgegen. Das ist in der Regel das Gericht, das nach den Rechtsvorschriften zuständig war, die galten, bevor die Gesetzesänderung erfolgte, mit der die Zuständigkeit der diesen Anforderungen nicht genügenden Einrichtung zugewiesen wurde (vgl. entsprechend Urteile vom 22. Mai 2003, Connect Austria, C‑462/99, EU:C:2003:297, Rn. 42, und vom 2. Juni 2005, Koppensteiner, C‑15/04, EU:C:2005:345, Rn. 32 bis 39). 167 Ferner ist zu den Art. 2 und 19 EUV, die ebenfalls Gegenstand der dem Gerichtshof vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen sind, anzumerken, dass Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe überträgt, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 168 Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der nun in Art. 47 der Charta verankert ist, so dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz im Sinne von insbesondere Art. 47 der Charta gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 49 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 169 Unter diesen Umständen erscheint eine gesonderte Prüfung der Art. 2 und 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die nur die in den Rn. 153 und 154 des vorliegenden Urteils bereits gezogene Schlussfolgerung stützen könnte, für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts und für die Entscheidung über die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten nicht erforderlich. 170 Schließlich gibt es für den Gerichtshof im vorliegenden Fall auch keinen Grund für eine Auslegung von Art. 267 AEUV, den das nationale Gericht ebenfalls in seinen Fragen erwähnt. In seiner Vorlageentscheidung hat das vorlegende Gericht nämlich nicht erläutert, warum sich eine Auslegung dieses Artikels für die Beantwortung der Fragen, die es in den Ausgangsverfahren zu entscheiden hat, als erheblich erweisen könnte. Jedenfalls reicht ferner die in den Rn. 114 bis 154 des vorliegenden Urteils vorgenommene Auslegung von Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 aus, um dem vorlegenden Gericht im Hinblick auf die Entscheidungen, die es in diesen Rechtsstreitigkeiten zu treffen hat, eine sachdienliche Antwort zu geben. 171 Nach alledem ist wie folgt auf die zweite und die dritte Frage in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 zu antworten: – Art. 47 der Charta und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 sind dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts in die ausschließliche Zuständigkeit einer Einrichtung fallen können, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta ist. Das ist der Fall, wenn die objektiven Bedingungen, unter denen die Einrichtung geschaffen wurde, ihre Merkmale sowie die Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen können, dass diese Einrichtung nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden erheblichen Erkenntnisse zu ermitteln, ob dies bei einer Einrichtung wie der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) der Fall ist. – In einem solchen Fall ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er das vorlegende Gericht dazu verpflichtet, die Bestimmung des nationalen Rechts, die die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Ausgangsrechtsstreitigkeiten dieser Einrichtung vorbehält, unangewendet zu lassen, damit die Rechtsstreitigkeiten von einem Gericht verhandelt werden können, das den oben genannten Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genügt und in dem betreffenden Bereich zuständig wäre, stünde diese Bestimmung dem nicht entgegen. Kosten 172 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Fragen der Izba Pracy i Ubezpieczeń Społecznych (Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen) des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) in der Rechtssache C‑585/18 und die erste Frage dieses Gerichts in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 sind nicht mehr zu beantworten. 2. Die zweite und die dritte Frage dieses Gerichts in den Rechtssachen C‑624/18 und C‑625/18 sind wie folgt zu beantworten: Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sind dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts in die ausschließliche Zuständigkeit einer Einrichtung fallen können, die kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta ist. Das ist der Fall, wenn die objektiven Bedingungen, unter denen die Einrichtung geschaffen wurde, ihre Merkmale sowie die Art und Weise der Ernennung ihrer Mitglieder geeignet sind, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen aufkommen zu lassen, und daher dazu führen können, dass diese Einrichtung nicht den Eindruck vermittelt, unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden kann, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung stehenden erheblichen Erkenntnisse zu ermitteln, ob dies bei einer Einrichtung wie der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) der Fall ist. In einem solchen Fall ist der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen, dass er das vorlegende Gericht dazu verpflichtet, die Bestimmung des nationalen Rechts, die die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Ausgangsrechtsstreitigkeiten dieser Einrichtung vorbehält, unangewendet zu lassen, damit die Rechtsstreitigkeiten von einem Gericht verhandelt werden können, das den oben genannten Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit genügt und in dem betreffenden Bereich zuständig wäre, stünde diese Bestimmung dem nicht entgegen. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Polnisch. (i ) In der vorliegenden Sprachfassung ist gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung das Inhaltsverzeichnis hinzugefügt worden.
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 16. Oktober 2019.#Glencore Agriculture Hungary Kft. gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága.#Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167 und 168 – Recht auf Vorsteuerabzug – Verweigerung – Betrug – Beweisführung – Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte – Recht auf Anhörung – Akteneinsicht – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Effektive gerichtliche Kontrolle – Grundsatz der Waffengleichheit – Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens – Nationale Regelung oder Praxis, wonach die Steuerverwaltung bei der Prüfung des von einem Steuerpflichtigen geltend gemachten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren vorgenommen hat, an denen der betreffende Steuerpflichtige nicht beteiligt war.#Rechtssache C-189/18.
62018CJ0189
ECLI:EU:C:2019:861
2019-10-16T00:00:00
Gerichtshof, Bobek
62018CJ0189 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) 16. Oktober 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167 und 168 – Recht auf Vorsteuerabzug – Verweigerung – Betrug – Beweisführung – Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte – Recht auf Anhörung – Akteneinsicht – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Effektive gerichtliche Kontrolle – Grundsatz der Waffengleichheit – Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens – Nationale Regelung oder Praxis, wonach die Steuerverwaltung bei der Prüfung des von einem Steuerpflichtigen geltend gemachten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren vorgenommen hat, an denen der betreffende Steuerpflichtige nicht beteiligt war“ In der Rechtssache C‑189/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) mit Entscheidung vom 14. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 13. März 2018, in dem Verfahren Glencore Agriculture Hungary Kft. gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter), E. Juhász, M. Ilešič und C. Lycourgos, Generalanwalt: M. Bobek, Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. März 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Glencore Agriculture Hungary Kft., vertreten durch Z. Várszegi, D. Kelemen und B. Balog, ügyvédek, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós, als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Havas und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Juni 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), sowie die Auslegung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Glencore Agriculture Hungary Kft. (im Folgenden: Glencore) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Steuerverwaltung) über zwei Bescheide, mit denen u. a. Mehrwertsteuerzahlungen für die Steuerjahre 2010 und 2011 angeordnet wurden. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt: „Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“ 4 Art. 168 dieser Richtlinie sieht vor: „Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen: a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden; …“ Ungarisches Recht 5 § 119 Abs. 1 des Általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII aus dem Jahr 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer) bestimmt: „Soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist, entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Festsetzung der geschuldeten Steuer in Höhe der Vorsteuer (§ 120).“ 6 In § 120 dieses Gesetzes heißt es: „Soweit der Steuerpflichtige – in dieser Eigenschaft – Gegenstände oder Dienstleistungen zur steuerpflichtigen Lieferung von Gegenständen bzw. zur steuerpflichtigen Erbringung von Dienstleistungen verwendet oder auf andere Weise verwertet, ist er berechtigt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer die Steuer abzuziehen, a) die ein anderer Steuerpflichtiger – einschließlich der Personen oder Einrichtungen, die der vereinfachten Unternehmensteuer unterliegen – im Zusammenhang mit dem Erwerb von Gegenständen oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen an ihn weitergegeben hat; …“ 7 § 1 Abs. 3a des Adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. törvény (Gesetz Nr. XCII aus dem Jahr 2003 über die Ordnung der Besteuerung; im Folgenden: Besteuerungsordnung) bestimmt: „Im Rahmen einer Prüfung der Parteien des steuerpflichtigen Rechtsverhältnisses (Vertrag, Geschäft) darf die Steuerbehörde ein und dasselbe Rechtsverhältnis, das von der Prüfung betroffen ist und das bereits eingestuft worden ist, nicht bei jedem Steuerpflichtigen unterschiedlich einstufen und muss die bei einer der Parteien dieses Rechtsverhältnisses getroffenen Feststellungen bei der Prüfung der anderen Partei dieses Rechtsverhältnisses von Amts wegen anwenden.“ 8 Nach § 12 Abs. 1 und 3 der Besteuerungsordnung hat jeder Steuerpflichtige sowie jede nach § 35 Abs. 2 und 7 zur Zahlung der Steuer verpflichtete Person das Recht, von den Besteuerungsunterlagen Kenntnis zu nehmen. Er kann jedes für die Ausübung seiner Rechte oder die Erfüllung seiner Verpflichtungen erforderliche Dokument einsehen oder eine Kopie davon anfertigen oder verlangen. Der Steuerpflichtige darf jedoch u. a. ein Dokument insoweit nicht einsehen, als es Informationen über eine andere Person enthält und seine Offenlegung gegen eine Bestimmung über das Steuergeheimnis verstoßen würde. 9 § 97 Abs. 4 und 5 der Besteuerungsordnung sieht vor: „(4)   Bei einer Prüfung muss die Steuerbehörde den Sachverhalt ermitteln und beweisen, es sei denn, das Gesetz erlegt dem Steuerpflichtigen die Beweislast auf. (5)   Beweismittel und Beweise sind insbesondere … Feststellungen angeordneter konnexer Prüfungen …“ 10 In § 100 Abs. 4 der Besteuerungsordnung heißt es: „Stützt die Steuerbehörde die Feststellungen einer Prüfung auf die Ergebnisse einer konnexen Prüfung, die bei einem anderen Steuerpflichtigen durchgeführt wurde, oder auf bei dieser Gelegenheit erhobene Daten und Beweise, wird der Steuerpflichtige detailliert über den ihn betreffenden Teil des diesbezüglichen Protokolls und der betreffenden Entscheidung sowie der Daten und Beweise, die bei der konnexen Prüfung erhoben wurden, in Kenntnis gesetzt.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 11 Glencore ist ein in Ungarn ansässiges Unternehmen, das hauptsächlich im Großhandel mit Getreide, Ölsaaten und Futtermitteln sowie Rohstoffen tätig ist. 12 Im Anschluss an Prüfungen aller Steuern und Subventionen für die Steuerjahre 2010 und 2011 mit Ausnahme der Mehrwertsteuer für die Monate September und Oktober 2011 sowie eine Mehrwertsteuerprüfung für Oktober 2011 erließ die Steuerverwaltung zwei Bescheide. Mit dem ersten wurde Glencore zur Zahlung von Mehrwertsteuer in Höhe von 1951418000 ungarischen Forint (HUF) (etwa 6000000 Euro) verpflichtet und ihr eine Geldbuße sowie ein Säumniszuschlag auferlegt; mit dem zweiten wurde Glencore zur Begleichung einer Mehrwertsteuerdifferenz in Höhe von 130171000 HUF (etwa 400000 Euro) verpflichtet. 13 In diesen Bescheiden vertrat die Steuerverwaltung die Ansicht, dass Glencore die Mehrwertsteuer unrechtmäßig abgezogen habe, da sie gewusst habe oder hätte wissen müssen, dass die von ihr mit ihren Lieferanten getätigten Umsätze in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen gewesen seien. Die Steuerverwaltung stützte sich auf die bei den Lieferanten gewonnenen Erkenntnisse und wertete hierbei den Mehrwertsteuerbetrug als erwiesene Tatsache. 14 Nach erfolglosem Einspruch gegen diese beiden Bescheide erhob Glencore beim vorlegenden Gericht, dem Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn), Anfechtungsklage. 15 Glencore begründet diese Klage u. a. damit, dass die Steuerverwaltung das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf ein faires Verfahren und die sich aus diesem Recht ergebenden Anforderungen verkannt und insbesondere gegen den Grundsatz der Waffengleichheit verstoßen habe. Darüber hinaus habe die Steuerverwaltung in zweifacher Hinsicht gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verstoßen. Zum einen habe nur die Steuerverwaltung Zugang zu der gesamten Akte über ein Strafverfahren gegen Lieferanten gehabt, an dem Glencore nicht beteiligt gewesen sei und in dem Glencore daher auch keinerlei Rechte habe geltend machen können, und auf diese Weise seien Beweise zusammengetragen und gegen sie verwendet worden. Zum anderen habe die Steuerverwaltung Glencore weder die Akte über die bei diesen Lieferanten durchgeführten Prüfungen, insbesondere die Unterlagen, auf denen die Feststellungen gestützt würden, noch ihr Protokoll oder die von ihr erlassenen Entscheidungen zur Verfügung gestellt und Glencore lediglich einen Teil davon übermittelt, den sie nach ihren eigenen Kriterien ausgewählt habe. 16 Die Steuerverwaltung ist der Ansicht, Glencore könne zwar in einem Steuerverfahren, das einen anderen Steuerpflichtigen betreffe, nicht über die Rechte verfügen, die sich an die Beteiligteneigenschaft knüpften; gleichwohl seien aber die Verteidigungsrechte nicht verletzt worden, da Glencore im Rahmen des sie betreffenden Verfahrens die aus konnexen Verfahren stammenden Schriftstücke und Erklärungen, die zu ihrer Akte genommen worden seien, habe einsehen und ihre Beweiskraft habe bestreiten können, indem sie von ihrem Recht auf Einlegung eines Rechtsmittels Gebrauch mache. 17 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Recht auf Vorsteuerabzug ein fundamentaler Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems sei und grundsätzlich nicht verweigert werden dürfe, wenn die erforderlichen materiellen Voraussetzungen erfüllt seien. Die im Ausgangsverfahren angewandte Praxis der Steuerverwaltung, die sich insbesondere auf eine Auslegung von § 1 Abs. 3a der Besteuerungsordnung stütze, wonach die Steuerverwaltung an die Feststellungen gebunden sei, die in den Entscheidungen enthalten seien, die von ihr infolge der bei den Lieferanten des Steuerpflichtigen durchgeführten Kontrollen erlassen worden und bestandskräftig geworden seien, sei jedoch darauf hinausgelaufen, dass Glencore dieses Abzugsrecht verweigert worden sei. 18 § 1 Abs. 3a der Besteuerungsordnung bezwecke, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, und schreibe zu diesem Zweck vor, dass ein und derselbe Umsatz dieselben Feststellungen nach sich ziehen müsse. Es stelle sich jedoch die Frage, ob dieser Zweck eine Praxis wie die im Ausgangsverfahren streitige rechtfertige, wonach sich die Steuerverwaltung von der ihr obliegenden Beweislast befreie, indem sie automatisch die Feststellungen aus einem früheren Verfahren berücksichtige, in dem der Steuerpflichtige nicht den Status eines Beteiligten gehabt habe, daher die an diesen Status geknüpften Rechte nicht habe ausüben können und von den zum Abschluss des früheren Verfahrens erlassenen und bestandskräftig gewordenen Entscheidungen erst im Rahmen der ihn betreffenden Prüfungen Kenntnis erlangt habe. 19 Diese Entscheidungen und die Unterlagen, auf die sie sich stützen, seien Glencore nur teilweise übermittelt worden, da die Steuerverwaltung in ihrem Protokoll lediglich die einzelnen Feststellungen angegeben habe, die in diesen Entscheidungen enthalten seien, die Entscheidungen selbst jedoch ebenso wenig vorgelegt habe wie die Unterlagen, auf denen sie beruhten. 20 Dem vorlegenden Gericht stellt sich die Frage, ob eine solche Praxis in Anbetracht der Grenzen, die für die von ihm vorzunehmende gerichtliche Kontrolle gälten, mit dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und dem in Art. 47 der Charta verankerten Recht auf ein faires Verfahren vereinbar sei, da es nicht befugt sei, die Rechtmäßigkeit von Entscheidungen zu überprüfen, die aufgrund von Prüfungen ergangen seien, die andere Steuerpflichtige betroffen hätten. Insbesondere sei es nicht befugt, zu überprüfen, ob die Beweise, auf denen diese Entscheidungen beruhten, rechtmäßig erlangt worden seien. Unter Bezugnahme auf das Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832), wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob die Anforderungen an ein faires Verfahren erfordern, dass das Gericht, bei dem eine Klage gegen einen Nacherhebungsbescheid der Steuerverwaltung anhängig ist, befugt ist, zu kontrollieren, ob die aus einem konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise im Einklang mit den unionsrechtlich garantierten Rechten erlangt wurden und ob die auf ihnen beruhenden Feststellungen diese Rechte nicht verletzen. 21 Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Sind die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und in Verbindung mit ihnen der fundamentale Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung und einer darauf beruhenden nationalen Praxis entgegenstehen, wonach die Feststellungen, die im Rahmen einer die Steuerpflicht betreffenden Prüfung der Parteien eines Rechtsverhältnisses (Vertrag, Geschäft) in einem Verfahren getroffen wurden, das bei einer der Parteien dieses Rechtsverhältnisses (im Ausgangsverfahren dem Rechnungsaussteller) durchgeführt wurde, und die eine Neueinstufung des Rechtsverhältnisses beinhalten, bei der Prüfung der anderen Partei des Rechtsverhältnisses (im Ausgangsverfahren des Rechnungsempfängers) von der Steuerbehörde von Amts wegen zu berücksichtigen sind, obschon die andere Partei des Rechtsverhältnisses im ursprünglichen Prüfverfahren über keine Rechte, insbesondere über keine Beteiligtenrechte, verfügte? 2. Stehen in dem Fall, dass die erste Vorlagefrage verneint wird, die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und in Verbindung mit ihnen der fundamentale Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte einer nationalen Praxis entgegen, die ein Verfahren wie das in der ersten Frage beschriebene zulässt, obschon die andere Partei des Rechtsverhältnisses (der Rechnungsempfänger) im ursprünglichen Prüfverfahren über keine Beteiligtenrechte verfügte und somit auch keinen Rechtsbehelf im Rahmen dieses Prüfverfahrens einlegen konnte, dessen Feststellungen von der Steuerbehörde in dem die Steuerpflicht der anderen Partei betreffenden Prüfverfahren von Amts wegen berücksichtigt werden und dieser zur Last gelegt werden können, wobei die Steuerbehörde der anderen Partei die maßgeblichen Schriftstücke der Prüfung, die bei der ersten Partei des Rechtsverhältnisses durchgeführt wurde, insbesondere die diesen Feststellungen zugrunde liegenden Beweise, Protokolle und Verwaltungsentscheidungen nicht zur Verfügung stellt, sondern der anderen Partei nur einen Teil davon in Form eines Auszugs und auch diesen nur mittelbar zur Kenntnis bringt, indem sie eine Auswahl nach ihren eigenen, von der anderen Partei nicht überprüfbaren Kriterien trifft? 3. Sind die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und in Verbindung mit ihnen der fundamentale Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis entgegenstehen, wonach die Feststellungen, die im Rahmen einer die Steuerpflicht betreffenden Prüfung der Parteien eines Rechtsverhältnisses in einem Verfahren getroffen wurden, das beim Rechnungsaussteller durchgeführt wurde, und die auch die Feststellung beinhalten, dass das betreffende Rechtssubjekt (der Rechnungsaussteller) aktiv an einem Mehrwertsteuerbetrug beteiligt gewesen ist, von der Steuerbehörde bei der Prüfung des Rechnungsempfängers von Amts wegen berücksichtigt werden, obschon der Rechnungsempfänger in dem beim Rechnungsaussteller durchgeführten Prüfverfahren über keine Beteiligtenrechte verfügte und somit auch keinen Rechtsbehelf im Rahmen dieses Prüfverfahrens einlegen konnte, dessen Feststellungen von der Steuerbehörde in dem die Steuerpflicht des Rechnungsempfängers betreffenden Prüfverfahren von Amts wegen berücksichtigt werden und diesem zur Last gelegt werden können, wobei die Steuerbehörde dem Rechnungsempfänger überdies die maßgeblichen Schriftstücke der Prüfung, die beim Rechnungsaussteller durchgeführt wurde, insbesondere die diesen Feststellungen zugrunde liegenden Beweise, Protokolle und Verwaltungsentscheidungen, nicht zur Verfügung stellt, sondern dem Rechnungsempfänger nur einen Teil davon in Form eines Auszugs und auch diesen nur mittelbar zur Kenntnis bringt, indem sie eine Auswahl nach ihren eigenen, von dem anderen Steuerpflichtigen nicht überprüfbaren Kriterien trifft? Zu den Vorlagefragen Vorbemerkungen 22 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Glencore im Anschluss an die bei ihr und ihren Lieferanten durchgeführten Steuerprüfungen das Recht auf Vorsteuerabzug verweigert und sie daher zu Mehrwertsteuernachzahlungen verpflichtet wurde. Die Steuerverwaltung stützte diese Weigerung u. a. gemäß § 1 Abs. 3a der Besteuerungsordnung auf die Feststellungen, die in den gegen die genannten Lieferanten durchgeführten Verfahren getroffen wurden, an denen Glencore folglich nicht beteiligt war und die zu bestandskräftigen Entscheidungen geführt haben, denen zufolge diese Lieferanten Steuerbetrug begangen haben. 23 Da im Vorabentscheidungsersuchen ein Strafverfahren und ein vorhergehendes Steuerverwaltungsverfahren sowie Verwaltungsentscheidungen erwähnt werden, die die Lieferanten von Glencore betrafen, hat der Gerichtshof das vorlegende Gericht nach Art. 101 seiner Verfahrensordnung um Klarstellungen zu dem oder den in Rede stehenden Strafverfahren sowie um Mitteilung ersucht, ob sie durch rechtskräftig gewordene strafgerichtliche Entscheidungen abgeschlossen worden sind. Auf dieses Ersuchen hin hat das vorlegende Gericht mitgeteilt, dass es keine Informationen darüber habe, ob die Strafverfahren gegen die Lieferanten von Glencore durch ein Sachurteil abgeschlossen worden seien, und vier bestandskräftige Entscheidungen der Steuerverwaltung übermittelt, die einige dieser Lieferanten betrafen. 24 In der mündlichen Verhandlung haben Glencore und die ungarische Regierung darauf hingewiesen, dass zwei Strafverfahren wegen des in Rede stehenden Betrugs noch anhängig gewesen seien, als die Steuerverwaltung die Unterlagen dieser Verfahren eingesehen und die beiden von Glencore im Ausgangsverfahren angefochtenen Verwaltungsentscheidungen erlassen habe. Diese Strafverfahren waren daher noch nicht durch eine strafgerichtliche Sachentscheidung abgeschlossen. Demzufolge wirft der vorliegende Fall keine Fragen hinsichtlich der Rechtskraftwirkung auf. 25 In Anbetracht dieser Klarstellungen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie, der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung oder Praxis eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach die Steuerverwaltung bei der Überprüfung des von einem Steuerpflichtigen ausgeübten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und die rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie bereits im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren gegen Lieferanten des betreffenden Steuerpflichtigen vorgenommen hat und auf die bestandskräftige Entscheidungen gestützt sind, in denen das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs durch diese Lieferanten festgestellt wird. 26 Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts ist die Steuerverwaltung der Ansicht, dass sie der Umstand, an die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen gebunden zu sein, die in den betreffenden bestandskräftig gewordenen Entscheidungen enthalten seien, davon freistelle, in dem den Steuerpflichtigen betreffenden Verfahren erneut Beweise für den Betrug beibringen zu müssen. In diesem Zusammenhang wirft das vorlegende Gericht insbesondere die Frage auf, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte einer Praxis der Steuerverwaltung entgegenstehen, bei der – wie im Ausgangsverfahren – dem betreffenden Steuerpflichtigen kein Zugang zu den Akten der konnexen Verfahren gewährt wird, insbesondere nicht zu allen Unterlagen, auf denen die Tatsachenfeststellungen beruhen, zu den erstellten Protokollen und den ergangenen Entscheidungen, und ihm lediglich mittelbar ein Teil dieser Anhaltspunkte übermittelt wird, den die Steuerverwaltung nach ihren eigenen, vom Steuerpflichtigen in keiner Weise überprüfbaren Kriterien ausgewählt hat. 27 Hierzu ist in der mündlichen Verhandlung ausgeführt worden, dass sich die Steuerverwaltung zum Nachweis dafür, dass Glencore in diesen Betrug einbezogen gewesen sei, auf Beweise gestützt habe, die im Rahmen der anhängigen Strafverfahren, der Verwaltungsverfahren gegen die Lieferanten von Glencore und des Verwaltungsverfahrens gegen Glencore zusammengetragen worden seien. 28 Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass es nicht befugt sei, die Rechtmäßigkeit früherer Entscheidungen, die nach bei anderen Steuerpflichtigen durchgeführten Prüfungen erlassen worden seien, zu prüfen, insbesondere nicht dazu, zu überprüfen, ob die Beweise, auf denen diese Entscheidungen beruhten, rechtmäßig erlangt worden seien, und wirft daher unter Hinweis auf das Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832), auch die Frage auf, ob die Anforderungen an ein faires Verfahren es erfordern, dass das Gericht, bei dem eine Klage gegen die Entscheidung der Steuerverwaltung über eine Nacherhebung von Mehrwertsteuer anhängig ist, befugt ist, zu überprüfen, ob die aus einem konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise im Einklang mit den unionsrechtlich garantierten Rechten erlangt wurden und ob die auf ihnen beruhenden Feststellungen diese Rechte nicht verletzen. 29 Soweit die ungarische Regierung in ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen die nationalen Vorschriften ausgelegt und die Praxis der Steuerverwaltung erläutert hat, sowohl was die Beweiserhebung als auch was den Umfang der Akteneinsicht und die Reichweite der gerichtlichen Kontrolle betrifft, und dabei von der Darstellung des vorlegenden Gerichts abweicht, ist zu beachten, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Systems der justiziellen Zusammenarbeit die Richtigkeit der Auslegung des nationalen Rechts durch das nationale Gericht zu überprüfen oder in Frage zu stellen, da diese Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit dieses Gerichts fällt. Der Gerichtshof hat daher, wenn ihm ein nationales Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen vorlegt, von der Auslegung des nationalen Rechts auszugehen, die ihm dieses Gericht vorgetragen hat (Urteil vom 6. Oktober 2015, Târșia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Es ist auch nicht Sache des Gerichtshofs, sondern des nationalen Gerichts, die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen festzustellen und daraus die Schlussfolgerungen für die von ihm zu erlassende Entscheidung zu ziehen. Der Gerichtshof hat somit im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten den Sachverhalt und die Rechtslage zu berücksichtigen, in die sich die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen einfügen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2018, Scotch Whisky Association, C‑44/17, EU:C:2018:415, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung). 31 Darüber hinaus ist es auch nicht Sache des Gerichtshofs, die Vereinbarkeit innerstaatlicher Rechtsnormen mit dem Unionsrecht zu beurteilen oder nationale Rechtsvorschriften auszulegen (Urteile vom 1. März 2012, Ascafor und Asidac, C‑484/10, EU:C:2012:113, Rn. 33 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 6. Oktober 2015, Consorci Sanitari del Maresme, C‑203/14, EU:C:2015:664, Rn. 43). Der Gerichtshof ist jedoch befugt, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteile vom 1. März 2012, Ascafor und Asidac, C‑484/10, EU:C:2012:113, Rn. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 26. Juli 2017, Europa Way und Persidera, C‑560/15, EU:C:2017:593, Rn. 35). 32 In Anbetracht dieser Vorbemerkungen sind die Anforderungen, die sich in einer Rechtssache wie dem Ausgangsverfahren aus der Mehrwertsteuerrichtlinie, dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und Art. 47 der Charta für die Beweiserhebung, den Umfang des Akteneinsichtsrechts des Steuerpflichtigen und die Reichweite der gerichtlichen Kontrolle ergeben, einzeln nacheinander zu prüfen. Zur Beweiserhebung unter Berücksichtigung der Mehrwertsteuerrichtlinie und des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte 33 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, ist das in den Art. 167 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden (Urteile vom 6. Dezember 2012, Bonik, C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 25 und 26, vom 19. Oktober 2017, Paper Consult, C‑101/16, EU:C:2017:775, Rn. 35 und 36, sowie vom 21. März 2018, Volkswagen, C‑533/16, EU:C:2018:204, Rn. 37 und 39). 34 Allerdings ist die Bekämpfung von Betrug, Steuerhinterziehung und etwaigen Missbräuchen ein Ziel, das mit der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird, und der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist. Daher haben die nationalen Behörden und Gerichte das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Dezember 2012, Bonik, C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 35 bis 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 28. Juli 2016, Astone, C‑332/15, EU:C:2016:614, Rn. 50). 35 Dies ist nicht nur der Fall, wenn der Steuerpflichtige selbst einen Betrug begeht, sondern auch, wenn ein Steuerpflichtiger wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in einen Mehrwertsteuerbetrug einbezogen war. Das Recht auf Vorsteuerabzug kann dem Steuerpflichtigen daher nur unter der Voraussetzung versagt werden, dass aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass dieser Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit dem Erwerb dieser Gegenstände oder der Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen an einem Umsatz beteiligt hat, der in eine vom Lieferer bzw. Leistenden oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Liefer- oder Leistungskette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Dezember 2012, Bonik, C‑285/11, EU:C:2012:774, Rn. 38 bis 40, sowie vom 13. Februar 2014, Maks Pen, C‑18/13, EU:C:2014:69, Rn. 27 und 28). 36 Da die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts eine Ausnahme vom Grundprinzip ist, das dieses Recht darstellt, obliegt es folglich den Steuerbehörden, die objektiven Umstände, die den Schluss zulassen, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung dieses Rechts geltend gemachte Umsatz in einen solchen Betrug einbezogen war, rechtlich hinreichend nachzuweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Februar 2014, Maks Pen, C‑18/13, EU:C:2014:69, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). 37 Da das Unionsrecht keine Regeln über die Modalitäten der Beweiserhebung beim Mehrwertsteuerbetrug vorsieht, müssen die betreffenden objektiven Umstände von der Steuerverwaltung gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts ermittelt werden. Diese Regeln dürfen jedoch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen und müssen die durch das Unionsrecht, insbesondere die Charta garantierten Rechte beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 65 bis 67). 38 Somit und unter diesen Bedingungen hat der Gerichtshof in Rn. 68 seines Urteils vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832) entschieden, dass das Unionsrecht dem nicht entgegensteht, dass die Steuerbehörde im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens zur Feststellung des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis im Bereich der Mehrwertsteuer Beweise verwenden darf, die im Rahmen eines parallel gegen den Steuerpflichtigen geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens erlangt wurden. Wie der Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, gilt diese Wertung auch dann, wenn zur Feststellung des Vorliegens eines Mehrwertsteuerbetrugs Beweismittel verwendet werden, die im Rahmen nicht abgeschlossener Strafverfahren, die nicht gegen den Steuerpflichtigen geführt werden, oder während konnexer Verwaltungsverfahren, an denen der Steuerpflichtige – wie im Ausgangsverfahren – nicht beteiligt war, erlangt wurden. 39 Zu den unionsrechtlich garantierten Rechten gehört die Wahrung der Verteidigungsrechte, die nach ständiger Rechtsprechung einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen. Nach diesem Grundsatz müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung sich zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen. Diese Verpflichtung besteht für die Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Maßnahmen treffen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbaren Unionsvorschriften ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsehen (Urteile vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C‑349/07, EU:C:2008:746, Rn. 36 bis 38, und vom 22. Oktober 2013, Sabou, C‑276/12, EU:C:2013:678, Rn. 38). 40 Dieser allgemeine Grundsatz ist somit in Situationen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anzuwenden, in denen ein Mitgliedstaat einen Steuerpflichtigen einer Steuerprüfung unterzieht, um seine sich aus der Anwendung des Unionsrechts ergebende Verpflichtung zu erfüllen, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 27). 41 Integraler Bestandteil der Verteidigungsrechte ist das Recht auf Anhörung, das jeder Person die Möglichkeit garantiert, im Verwaltungsverfahren, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll die Regel, wonach der Adressat einer beschwerenden Entscheidung Gelegenheit erhalten muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor die Entscheidung getroffen wird, der zuständigen Behörde erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen. Zur Gewährleistung eines wirksamen Schutzes der betroffenen Person soll diese Regel der betroffenen Person insbesondere ermöglichen, einen Fehler zu berichtigen oder ihre persönliche Situation betreffende maßgebliche Umstände vorzutragen, die für oder gegen den Erlass oder für oder gegen einen bestimmten Inhalt der Entscheidung sprechen (Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 46 und 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 42 Das Recht auf Anhörung beinhaltet auch, dass die Verwaltung mit aller gebotenen Sorgfalt die entsprechenden Erklärungen der betroffenen Person zur Kenntnis nimmt, indem sie sorgfältig und unparteiisch alle maßgeblichen Gesichtspunkte des Einzelfalls untersucht und ihre Entscheidung eingehend begründet. Die Pflicht, eine Entscheidung so hinreichend spezifisch und konkret zu begründen, dass es dem Betroffenen ermöglicht wird, die Gründe für die Ablehnung seines Antrags zu verstehen, ergibt sich somit aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte (Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 43 Allerdings ist der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht schrankenlos gewährleistet, sondern kann Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 44 Ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte vorliegt, ist zudem anhand der besonderen Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen, insbesondere anhand der Natur des betreffenden Rechtsakts, des Kontexts, in dem er erlassen wurde, sowie der Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteil vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 45 Ferner gehört auch die Rechtssicherheit zu den im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. So hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, dass die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten ist, zur Rechtssicherheit beiträgt und das Unionsrecht nicht verlangt, dass eine Behörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz, C‑453/00, EU:C:2004:17‚ Rn. 24, vom 12. Februar 2008, Kempter, C‑2/06, EU:C:2008:78‚ Rn. 37, und vom 4. Oktober 2012, Byankov, C‑249/11, EU:C:2012:608‚ Rn. 76). 46 Eine Regel wie die in § 1 Abs. 3a der Besteuerungsordnung vorgesehene, nach der die Steuerverwaltung – dem vorlegenden Gericht zufolge – an die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren vorgenommen hat, die gegen die Lieferanten des Steuerpflichtigen eingeleitet wurden und an denen der Steuerpflichtige daher nicht beteiligt war, ist allem Anschein nach geeignet – wie die ungarische Regierung geltend gemacht und der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat –, die Rechtssicherheit und die Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen zu gewährleisten, da sie die Verwaltung zu Kohärenz verpflichtet, weil sie denselben Sachverhalt rechtlich identisch werten muss. Das Unionsrecht steht daher der Anwendung einer solchen Regel nicht grundsätzlich entgegen. 47 Dies gilt jedoch dann nicht, wenn die Steuerverwaltung aufgrund dieser Regel und wegen der Bestandskraft der am Ende dieser konnexen Verwaltungsverfahren getroffenen Entscheidungen davon freigestellt wird, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus diesen Verfahren stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung beabsichtigt, und dem Steuerpflichtigen somit das Recht genommen wird, die betreffenden Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen. 48 Zum einen steht nämlich die Anwendung einer solchen Regel, die darauf hinausläuft, einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung, mit der das Vorliegen eines Betrugs festgestellt wird, gegenüber einem Steuerpflichtigen, der an dem zu dieser Feststellung führenden Verfahren nicht beteiligt war, Geltung zu verleihen, im Widerspruch zu der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Pflicht der Steuerverwaltung, diejenigen objektiven Umstände rechtlich hinreichend nachzuweisen, die den Schluss erlauben, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der Umsatz, mit dem das Recht auf Steuerabzug begründet wird, in einen Betrug einbezogen war, da diese Pflicht beinhaltet, dass die Steuerverwaltung in dem Verfahren gegen den Steuerpflichtigen den Beweis für das Vorliegen des Betrugs erbringt, bei dem ihm eine passive Beteiligung zur Last gelegt wird. 49 Zum anderen vermag der Grundsatz der Rechtssicherheit im Rahmen eines Steuerprüfungsverfahrens wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden eine derartige Einschränkung der Verteidigungsrechte, deren Inhalt in den Rn. 39 bis 41 des vorliegenden Urteils dargestellt wird, nicht zu rechtfertigen. Diese Einschränkung stellt in Anbetracht des verfolgten Zwecks einen unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff dar, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet. Sie nimmt nämlich dem Steuerpflichtigen, dem die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug verweigert werden soll, die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren, bevor ihm gegenüber eine für seine Interessen nachteilige Entscheidung ergeht, seinen Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung sich zu stützen beabsichtigt, sachdienlich und wirksam vorzutragen. Sie beeinträchtigt die Möglichkeit, dass die zuständige Behörde in die Lage versetzt wird, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen, und dass die betroffene Person gegebenenfalls einen Fehler berichtigt. Sie stellt schließlich die Verwaltung von ihrer Pflicht frei, mit aller gebotenen Sorgfalt die Erklärungen der betroffenen Person zur Kenntnis zu nehmen, indem sie sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls untersucht und ihre Entscheidung eingehend begründet. 50 Folglich stehen die Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte einer solchen Regel zwar nicht grundsätzlich entgegen, doch gilt dies unter dem Vorbehalt, dass ihre Anwendung die Steuerverwaltung nicht davon freistellt, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus konnexen Verfahren gegen seine Lieferanten stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung beabsichtigt, und dem Steuerpflichtigen somit nicht das Recht genommen wird, die Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen, die die Steuerverwaltung in diesen konnexen Verfahren vorgenommen hat, in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen. Zum Umfang des Akteneinsichtsrechts des Steuerpflichtigen unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte 51 Die in den Rn. 39 bis 41 des vorliegenden Urteils dargestellte Anforderung, dass der Adressat einer Entscheidung seinen Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung diese zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vortragen können muss, setzt voraus, dass er in die Lage versetzt wird, von diesen Gesichtspunkten Kenntnis zu erlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 31). Aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte folgt somit logisch das Recht auf Akteneinsicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 68). 52 Da der Adressat einer beschwerenden Entscheidung in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor diese getroffen wird, um u. a. der zuständigen Behörde zu erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen, und ihm gegebenenfalls zu ermöglichen, einen Fehler zu berichtigen oder seine persönliche Situation betreffende maßgebliche Gesichtspunkte vorzutragen, muss die Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren gewährt werden. Daher wird ein im Verwaltungsverfahren begangener Verstoß gegen das Recht auf Akteneinsicht nicht durch den bloßen Umstand geheilt, dass die Akteneinsicht im Gerichtsverfahren über eine Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung ermöglicht worden ist (vgl. entsprechend Urteile vom 8. Juli 1999, Hercules Chemicals/Kommission, C‑51/92 P, EU:C:1999:357, Rn. 78, vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 318, sowie vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission, C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 104). 53 Daraus folgt, dass der Steuerpflichtige in einem Steuerverwaltungsverfahren wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einsicht in den gesamten Akteninhalt nehmen können muss, auf den die Steuerverwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt. Beabsichtigt die Steuerverwaltung, ihre Entscheidung auf Beweise zu stützen, die sie – wie im Ausgangsverfahren – im Rahmen von Strafverfahren und konnexen Verwaltungsverfahren gegen die Lieferanten des Steuerpflichtigen erlangt hat, so muss diesem Zugang zu diesen Beweisen ermöglicht werden. 54 Zudem muss dem Steuerpflichtigen, wie der Generalanwalt in den Nrn. 59 und 60 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Zugang zu denjenigen Dokumenten ermöglicht werden, die nicht unmittelbar dazu dienen, die Entscheidung der Steuerverwaltung zu stützen, aber für die Ausübung der Verteidigungsrechte zweckdienlich sein können, insbesondere entlastende Gesichtspunkte, die die Steuerverwaltung möglicherweise zusammengetragen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, UBS Europe u. a., C‑358/16, EU:C:2018:715‚ Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Da allerdings, wie in Rn. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nicht schrankenlos gewährleistet wird, sondern Beschränkungen unterworfen werden kann, ist zu bemerken, dass solche im nationalen Recht vorgesehenen Beschränkungen u. a. den gebotenen Schutz der Vertraulichkeit oder von Geschäftsgeheimnissen bezwecken können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 36) und auch, wie die ungarische Regierung vorgetragen hat, den Schutz des Privatlebens Dritter, deren personenbezogener Daten oder der Wirksamkeit der Strafverfolgung, die durch den Zugang zu bestimmten Informationen und Dokumenten beeinträchtigt werden könnten. 56 Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte erlegt der Steuerverwaltung in einem Verwaltungsverfahren wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden somit keine allgemeine Verpflichtung auf, vollständigen Zugang zu der in ihrer Verfügungsgewalt befindlichen Akte zu gewähren, sondern erfordert, dass es dem Steuerpflichtigen möglich sein muss, auf Antrag Zugang zu den Informationen und Dokumenten zu erhalten, die in der Verwaltungsakte enthalten sind und die von der Behörde für den Erlass ihrer Entscheidung berücksichtigt werden, es sei denn, eine Beschränkung des Zugangs zu diesen Informationen und Dokumenten ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Ispas, C‑298/16, EU:C:2017:843, Rn. 32 und 39). Letzterenfalls muss die Steuerverwaltung, wie der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge dargelegt hat, prüfen, ob ein teilweiser Zugang möglich ist. 57 Demzufolge erfordert der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, wenn die Steuerverwaltung beabsichtigt, ihre Entscheidung auf Beweise zu stützen, die sie – wie im Ausgangsverfahren – im Rahmen von Strafverfahren und konnexen Verwaltungsverfahren gegen die Lieferanten des Steuerpflichtigen erlangt hat, dass der Steuerpflichtige in dem ihn betreffenden Verfahren zu all diesen Beweisen und zu den Beweisen, die für seine Verteidigung nützlich sein können, Zugang erhalten kann, es sei denn, eine Beschränkung dieses Zugangs ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt. 58 Eine Praxis der Steuerverwaltung, wonach dem betreffenden Steuerpflichtigen kein Zugang zu diesen Beweisen, insbesondere kein Zugang zu den Unterlagen, auf die sich die getroffenen Feststellungen stützen, zu den erstellten Protokollen und zu den aufgrund der konnexen Verwaltungsverfahren erlassenen Entscheidungen gewährt und ihm lediglich mittelbar in Form einer Zusammenfassung nur ein Teil dieser Beweise mitgeteilt wird, die die Steuerverwaltung nach ihren eigenen, vom Steuerpflichtigen in keiner Weise überprüfbaren Kriterien ausgewählt hat, erfüllt diese Anforderung nicht. Zur Reichweite der gerichtlichen Überprüfung unter Berücksichtigung von Art. 47 der Charta 59 Zu der vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Frage, ob die Anforderungen an ein faires Verfahren es verlangen, dass das Gericht, bei dem die Klage gegen einen Mehrwertsteuernacherhebungsbescheid der Steuerverwaltung anhängig ist, befugt ist, zu überprüfen, ob die aus einem konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise im Einklang mit den unionsrechtlich garantierten Rechten erlangt wurden und ob die darauf beruhenden Feststellungen diese Rechte nicht verletzen, ist darauf hinzuweisen, dass die von der Charta garantierten Rechte in einer solchen Situation Geltung beanspruchen, da eine Mehrwertsteuernacherhebung im Anschluss an die Feststellung eines Betrugs wie die im Ausgangsverfahren streitige eine Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105‚ Rn. 19 und 27, sowie vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832‚ Rn. 67). 60 Nach Art. 47 der Charta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Jede Person hat u. a. ein Recht darauf, dass ihre Sache in einem fairen Verfahren verhandelt wird. 61 Da der Grundsatz der Waffengleichheit, der integraler Bestandteil des in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte ist, ebenso wie etwa der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens eine logische Folge des Begriffs des fairen Verfahrens als solchem ist, gebietet er, dass es jeder Partei angemessen ermöglicht wird, ihren Standpunkt sowie ihre Beweise unter Bedingungen vorzutragen, die sie nicht in eine gegenüber ihrem Gegner deutlich nachteilige Position versetzen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 2014, Sánchez Morcillo und Abril García, C‑169/14, EU:C:2014:2099‚ Rn. 49, und vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373‚ Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Dieser Grundsatz dient der Wahrung des prozeduralen Gleichgewichts zwischen den Parteien eines Gerichtsverfahrens, indem er ihnen gleiche Rechte und Pflichten gewährleistet, insbesondere hinsichtlich der Regeln der Beweisführung und der streitigen Verhandlung vor Gericht sowie ihrer Rechtsbehelfe (Urteil vom 28. Juli 2016, Ordre des barreaux francophones et germanophone u. a., C‑543/14, EU:C:2016:605, Rn. 41). Für die Erfüllung der Anforderungen im Zusammenhang mit dem Recht auf ein faires Verfahren kommt es darauf an, dass die Beteiligten sowohl die tatsächlichen als auch die rechtlichen Umstände kennen, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind (Urteil vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, EU:C:2009:742, Rn. 56). 63 In Rn. 87 des Urteils vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832), auf das das vorlegende Gericht Bezug nimmt, hat der Gerichtshof – in einer Rechtssache, in der es um Beweise, die im Rahmen eines noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens ohne Wissen des Steuerpflichtigen durch eine möglicherweise gegen Art. 7 der Charta verstoßende Überwachung des Telekommunikationsverkehrs und Beschlagnahme von E‑Mails erlangt worden waren, und ihre Verwendung im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens ging – entschieden, dass die Wirksamkeit der durch Art. 47 der Charta garantierten gerichtlichen Nachprüfung erfordert, dass das Gericht, das die Rechtmäßigkeit einer das Unionsrecht durchführenden Entscheidung nachprüft, prüfen kann, ob die Beweise, auf die diese Entscheidung gestützt wird, nicht unter Verletzung der durch das Unionsrecht, insbesondere die Charta, garantierten Rechte erlangt wurden. 64 Der Gerichtshof hat in Rn. 88 dieses Urteils ausgeführt, dass dieses Erfordernis dann erfüllt ist, wenn das mit einer Klage gegen den Mehrwertsteuernacherhebungsbescheid der Steuerverwaltung befasste Gericht befugt ist, nachzuprüfen, ob die fraglichen Beweise, auf die der Bescheid gestützt wird, in dem betreffenden Strafverfahren im Einklang mit den durch das Unionsrecht garantierten Rechten erlangt wurden, oder sich zumindest aufgrund einer von einem Strafgericht im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens bereits vorgenommenen Nachprüfung vergewissern kann, dass die Beweise im Einklang mit dem Unionsrecht erlangt wurden. 65 Die Wirksamkeit der in Art. 47 der Charta garantierten gerichtlichen Überprüfung erfordert ebenso, dass das mit einer Klage gegen den Mehrwertsteuernacherhebungsbescheid der Steuerverwaltung befasste Gericht befugt ist, zu überprüfen, ob die Beweise, die im Rahmen eines konnexen Verwaltungsverfahrens, an dem der Steuerpflichtige nicht beteiligt war, gesammelt wurden und die zur Begründung dieser Entscheidung verwendet wurden, nicht unter Verletzung der durch das Unionsrecht und speziell die Charta garantierten Rechte erlangt worden sind. Dies gilt auch dann, wenn diese Beweise – wie im Ausgangsverfahren – Verwaltungsentscheidungen zugrunde lagen, die gegenüber anderen Steuerpflichtigen ergangen und bestandskräftig geworden sind. 66 Insoweit ist hervorzuheben, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 74 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Erklärungen und Feststellungen der Verwaltungsbehörden für die Gerichte nicht bindend sein können. 67 Generell muss das angerufene Gericht im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens die Rechtmäßigkeit der Erlangung und Verwendung von Beweisen, die im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren gegen andere Steuerpflichtige zusammengetragen wurden, sowie die Feststellungen, die in den am Ende dieses Verfahrens erlassenen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, überprüfen können, wenn sie für den Erfolg der Klage ausschlaggebend sind. Denn es bestünde keine Waffengleichheit mehr und der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens würde missachtet, wenn die Steuerverwaltung aus dem Grund, dass sie an gegenüber anderen Steuerpflichtigen getroffene bestandskräftige Entscheidungen gebunden ist, nicht verpflichtet wäre, diese Beweise dem Gericht vorzulegen, wenn der Steuerpflichtige keine Kenntnis von ihnen erlangen könnte, die Parteien nicht sowohl über diese Beweise als auch über die getroffenen Feststellungen kontradiktorisch verhandeln könnten und das angerufene Gericht nicht in der Lage wäre, alle tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zu überprüfen, auf denen diese Entscheidungen gestützt sind und die für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits ausschlaggebend sind. 68 Ist das angerufene Gericht nicht befugt, eine solche Überprüfung vorzunehmen, und ist folglich das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf nicht wirksam, so müssen die Beweise, die im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren erlangt wurden, und die Feststellungen, die in den am Ende dieser Verfahren gegen andere Steuerpflichtige erlassenen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, außer Betracht bleiben, und der angefochtene Bescheid, der sich auf diese Beweise und diese Feststellungen gründet, ist aufzuheben, falls er deswegen keine Grundlage hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses, C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 89). 69 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie, der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung oder Praxis, wonach die Steuerverwaltung bei der Überprüfung des von einem Steuerpflichtigen ausgeübten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und die rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie bereits im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren gegen Lieferanten des betreffenden Steuerpflichtigen vorgenommen hat und auf die bestandskräftige Entscheidungen gestützt sind, in denen das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs durch diese Lieferanten festgestellt wird, grundsätzlich nicht entgegenstehen; dies gilt unter dem Vorbehalt, dass erstens die Steuerverwaltung durch diese Regelung oder Praxis nicht davon freigestellt wird, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus diesen konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung beabsichtigt, und dem Steuerpflichtigen somit nicht das Recht genommen wird, diese Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen, zweitens der betreffende Steuerpflichtige in diesem Verfahren Zugang zu allen in diesen konnexen Verwaltungsverfahren oder in jedem sonstigen Verfahren zusammengetragenen Beweisen erhalten kann, auf die die Steuerverwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt oder die für die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte zweckdienlich sein können, es sei denn, eine Beschränkung dieses Zugangs ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt, und drittens das mit einer Klage gegen die betreffende Entscheidung befasste Gericht die Rechtmäßigkeit der Erlangung und Verwendung dieser Beweise sowie die Feststellungen, die in den gegenüber den Lieferanten des Steuerpflichtigen ergangenen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, überprüfen kann, wenn sie für den Erfolg der Klage ausschlaggebend sind. Kosten 70 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung oder Praxis, wonach die Steuerverwaltung bei der Überprüfung des von einem Steuerpflichtigen ausgeübten Rechts auf Vorsteuerabzug an die Tatsachenfeststellungen und die rechtlichen Wertungen gebunden ist, die sie bereits im Rahmen konnexer Verwaltungsverfahren gegen Lieferanten des betreffenden Steuerpflichtigen vorgenommen hat und auf die bestandskräftige Entscheidungen gestützt sind, in denen das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs durch diese Lieferanten festgestellt wird, grundsätzlich nicht entgegenstehen; dies gilt unter dem Vorbehalt, dass erstens die Steuerverwaltung durch diese Regelung oder Praxis nicht davon freigestellt wird, dem Steuerpflichtigen die Beweise einschließlich der aus diesen konnexen Verwaltungsverfahren stammenden Beweise zur Kenntnis zu bringen, auf deren Grundlage sie den Erlass einer Entscheidung beabsichtigt, und dem Steuerpflichtigen somit nicht das Recht genommen wird, diese Tatsachenfeststellungen und rechtlichen Wertungen in dem ihn betreffenden Verfahren wirksam in Frage zu stellen, zweitens der betreffende Steuerpflichtige während dieses Verfahrens zu allen in diesen konnexen Verfahren zusammengetragenen Beweisen, auf die die Steuerverwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt oder die für die Ausübung der Verteidigungsrechte nützlich sein können, Zugang erhalten kann, es sei denn, eine Beschränkung dieses Zugangs ist durch dem Gemeinwohl dienende Ziele gerechtfertigt, und drittens das mit einer Klage gegen die betreffende Entscheidung befasste Gericht die Rechtmäßigkeit der Erlangung und Verwendung dieser Beweise sowie die Feststellungen, die in den gegenüber den Lieferanten des Steuerpflichtigen ergangenen Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, überprüfen kann, wenn sie für den Erfolg der Klage ausschlaggebend sind. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 15. Oktober 2019.#Dumitru-Tudor Dorobantu.#Vorabentscheidungsersuchen des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung – Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat – Beurteilung durch die vollstreckende Justizbehörde – Kriterien.#Rechtssache C-128/18.
62018CJ0128
ECLI:EU:C:2019:857
2019-10-15T00:00:00
Campos Sánchez-Bordona, Gerichtshof
62018CJ0128 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 15. Oktober 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung – Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat – Beurteilung durch die vollstreckende Justizbehörde – Kriterien“ In der Rechtssache C‑128/18 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Februar 2018, in dem Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen Dumitru-Tudor Dorobantu erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, E. Regan, M. Safjan (Berichterstatter) und P. G. Xuereb, der Richter M. Ilešič, J. Malenovský und L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und N. Piçarra, Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona, Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Februar 2019, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Dorobantu, vertreten durch die Rechtsanwälte G. Strate, J. Rauwald und O.‑S. Lucke, – der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg, vertreten durch G. Janson und B. von Laffert als Bevollmächtigte, – der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze, M. Hellmann und A. Berg, dann durch M. Hellmann und A. Berg als Bevollmächtigte, – der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul, A. Honhon und J.‑C. Halleux als Bevollmächtigte, – der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren und M. S. Wolff als Bevollmächtigte, – von Irland, vertreten durch G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von G. Mullan, BL, – der spanischen Regierung, vertreten durch M. A. Sampol Pucurull als Bevollmächtigten, – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino und S. Faraci, avvocati dello Stato, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós, G. Tornyai und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der rumänischen Regierung, vertreten durch C.‑R. Canţăr, C.‑M. Florescu, A. Wellman und O.‑C. Ichim als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und R. Troosters als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2019 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584). 2 Dieses Ersuchen erging im Rahmen eines in Deutschland anhängigen Verfahrens zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, den die Judecătoria Medgidia (Amtsgericht Medgidia, Rumänien) am 12. August 2016 gegen Herrn Dumitru-Tudor Dorobantu zum Zweck der Strafverfolgung in Rumänien ausgestellt hatte. Rechtlicher Rahmen EMRK 3 Art. 3 („Verbot der Folter“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ Unionsrecht Charta 4 Art. 4 („Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung“) der Charta lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ 5 In den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17, im Folgenden: Erläuterungen zur Charta) heißt es zu Art. 4 der Charta, dass „[d]as Recht nach [diesem] Artikel … dem Recht [entspricht], das durch den gleich lautenden Artikel 3 EMRK garantiert ist“, und dass „[n]ach Artikel 52 Absatz 3 der Charta … Artikel 4 also die gleiche Bedeutung und Tragweite [hat] wie Artikel 3 EMRK“. 6 Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) Abs. 3 der Charta sieht vor: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“ 7 In den Erläuterungen zur Charta heißt es zu deren Art. 52 Abs. 3: „Die Bezugnahme auf die EMRK erstreckt sich sowohl auf die Konvention als auch auf ihre Protokolle. Die Bedeutung und Tragweite der garantierten Rechte werden nicht nur durch den Wortlaut dieser Vertragswerke, sondern auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und durch den Gerichtshof der Europäischen Union bestimmt. Mit dem letzten Satz des Absatzes soll der [Europäischen] Union die Möglichkeit gegeben werden, für einen weiter gehenden Schutz zu sorgen. Auf jeden Fall darf der durch die Charta gewährleistete Schutz niemals geringer als der durch die EMRK gewährte Schutz sein.“ 8 Art. 53 („Schutzniveau“) der Charta lautet: „Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union und das Völkerrecht sowie durch die internationalen Übereinkünfte, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragsparteien sind, darunter insbesondere die [EMRK], sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden.“ Rahmenbeschluss 2002/584 9 Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor: „(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt. (2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses. (3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“ 10 Die Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 enthalten die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann. 11 Art. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nennt die vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien. 12 In Art. 6 („Bestimmung der zuständigen Behörden“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es: „(1)   Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist. (2)   Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist. …“ 13 Art. 7 („Beteiligung der zentralen Behörde“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht in Abs. 1 vor: „Jeder Mitgliedstaat kann eine oder, sofern es seine Rechtsordnung vorsieht, mehrere zentrale Behörden zur Unterstützung der zuständigen Justizbehörden benennen.“ 14 Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt: „(1)   Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen. (2)   Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist. (3)   Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“ 15 Art. 17 („Fristen und Modalitäten der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 besagt: „(1)   Ein Europäischer Haftbefehl wird als Eilsache erledigt und vollstreckt. (2)   In den Fällen, in denen die gesuchte Person ihrer Übergabe zustimmt, sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von zehn Tagen nach Erteilung der Zustimmung erfolgen. (3)   In den anderen Fällen sollte die endgültige Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls innerhalb von 60 Tagen nach der Festnahme der gesuchten Person erfolgen. (4)   Kann in Sonderfällen der Europäische Haftbefehl nicht innerhalb der in den Absätzen 2 bzw. 3 vorgesehenen Fristen vollstreckt werden, so setzt die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde von diesem Umstand und von den jeweiligen Gründen unverzüglich in Kenntnis. In diesem Fall können die Fristen um weitere 30 Tage verlängert werden. …“ Deutsches Recht Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 16 Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. 1949 S. 1, im Folgenden: GG) bestimmt: „Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.“ Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen 17 Der Rahmenbeschluss 2002/584 wurde durch die §§ 78 bis 83k des Gesetzes vom 23. Dezember 1982 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen in der durch das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 20. Juli 2006 (BGBl. 2006 I S. 1721) geänderten Fassung (im Folgenden: IRG) in deutsches Recht umgesetzt. 18 § 73 IRG lautet: „Die Leistung von Rechtshilfe sowie die Datenübermittlung ohne Ersuchen ist unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten und Zehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 [EUV] enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 19 Am 12. August 2016 erließ die Judecătoria Medgidia (Amtsgericht Medigidia, Rumänien) einen Europäischen Haftbefehl gegen Herrn Dorobantu, einen rumänischen Staatsangehörigen, zum Zweck der Strafverfolgung wegen Vermögens- und Urkundsdelikten (im Folgenden: Europäischer Haftbefehl vom 12. August 2016). 20 Mit Beschlüssen vom 3. und vom 19. Januar 2017 stellte das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg (Deutschland, im Folgenden: OLG Hamburg) fest, dass zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls vom 12. August 2016 die Übergabe von Herrn Dorobantu an die rumänischen Behörden zulässig sei. 21 Insoweit erinnerte das OLG Hamburg an die im Urteil des Gerichtshofs vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), aufgestellten Anforderungen, wonach die vollstreckende Justizbehörde in einem ersten Schritt beurteilen muss, ob im Ausstellungsmitgliedstaat hinsichtlich der Haftbedingungen systemische oder allgemeine, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel bestehen, und in einem zweiten Schritt zu prüfen hat, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person aufgrund der voraussichtlichen Bedingungen ihrer Inhaftierung in diesem Staat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird. 22 Im Rahmen des ersten Schrittes dieser Prüfung befand das OLG Hamburg – gestützt u. a. auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) betreffend Rumänien sowie auf einen Bericht des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (Deutschland) –, dass es konkrete Anhaltspunkte für systemische und allgemeine Mängel der Haftbedingungen in Rumänien gebe. 23 Im Anschluss an diese Feststellung würdigte das Gericht im Rahmen des zweiten Schrittes der besagten Prüfung insbesondere die von dem Gericht, das den fraglichen Haftbefehl ausgestellt hatte, sowie vom Ministerul Justiţiei (Justizministerium, Rumänien) übermittelten Angaben zu den Haftbedingungen, denen Herr Dorobantu im Fall seiner Übergabe an die rumänischen Behörden unterliegen würde. 24 Insoweit berücksichtigte das OLG Hamburg die Information, dass Herr Dorobantu, falls in seinem Verfahren Untersuchungshaft angeordnet werde, in Zellen für vier Personen mit einer Fläche von 12,30 m2, 12,67 m2 oder 13,50 m2 oder in Zellen für zehn Personen mit einer Fläche von 36,25 m2 inhaftiert würde. Im Fall seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe würde er zunächst in einer Haftanstalt untergebracht, in der jeder Gefangene über eine Fläche von 3 m2 verfüge, und sodann unter denselben Bedingungen, falls er dem geschlossenen Vollzugsregime unterstellt werde, oder in einer Zelle mit einer Fläche von 2 m2 pro Person, falls ihm der offene oder halboffene Vollzug gewährt werde. 25 Unter Bezugnahme auf die Urteile des EGMR vom 22. Oktober 2009, Orchowski/Polen (CE:ECHR:2009:1022JUD001788504), vom 19. März 2013, Blejuşcă/Rumänien (CE:ECHR:2013:0319JUD000791010), und vom 10. Juni 2014, Mihai Laurenţiu Marin/Rumänien (CE:ECHR:2014:0610JUD007985712), nahm das OLG Hamburg eine Gesamtwürdigung der Haftbedingungen in Rumänien vor. Es stellte fest, diese hätten sich seit 2014 verbessert, auch wenn eine Fläche von 2 m2 pro Person nicht den in der Rechtsprechung des EGMR aufgestellten Anforderungen genüge. Die unzureichende Größe des den Gefangenen zur Verfügung stehenden Raums werde durch die sonstigen Haftbedingungen weitgehend kompensiert. Zudem habe Rumänien einen Mechanismus der wirksamen Kontrolle der Haftbedingungen geschaffen. 26 Im Übrigen sei festzustellen, dass, falls die Übergabe von Herrn Dorobantu an die rumänischen Behörden abgelehnt würde, die ihm zur Last gelegten Straftaten ungeahndet blieben, was dem Ziel widerspräche, die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege innerhalb der Union zu gewährleisten. 27 Auf der Grundlage der Beschlüsse des OLG Hamburg vom 3. und vom 19. Januar 2017 bewilligte die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg (Deutschland) die Übergabe von Herrn Dorobantu an die rumänischen Behörden, die nach Verbüßung der Freiheitsstrafe, zu der er wegen in Deutschland begangener anderweitiger Straftaten verurteilt worden war, vollzogen werden sollte. 28 Herr Dorobantu verbüßte bis zum 24. September 2017 die Freiheitsstrafe für diese in Deutschland begangenen Straftaten. 29 Gegen die Beschlüsse des OLG Hamburg legte er beim Bundesverfassungsgericht (Deutschland) Verfassungsbeschwerde ein. 30 Mit Beschluss vom 19. Dezember 2017 hob das Bundesverfassungsgericht diese Beschlüsse mit der Begründung auf, dass sie das Recht von Herrn Dorobantu auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzten. Die Sache wurde an das OLG Hamburg zurückverwiesen. 31 In seinem Beschluss stellte das Bundesverfassungsgericht fest, der EGMR habe im Urteil vom 20. Oktober 2016, Muršić/Kroatien (CE:ECHR:2016:1020JUD000733413), entschieden, dass aus einer Unterschreitung des persönlichen Raums von 3 m2 pro Gefangenem in einem Gemeinschaftshaftraum die „starke Vermutung“ einer Verletzung von Art. 3 EMRK folge, wobei diese Vermutung widerlegt werden könne, wenn es sich um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums gegenüber dem geforderten Minimum von 3 m2 handle, diese Reduzierung mit genügend Bewegungsfreiheit und ausreichenden Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergehe, der Gefangene in einer Haftanstalt untergebracht sei, die allgemein angemessene Haftbedingungen biete, und er keinen anderen Bedingungen ausgesetzt sei, die als die Haftbedingungen erschwerende Umstände anzusehen seien. 32 Bestimmte Kriterien, auf die das OLG Hamburg bei seiner Gesamtwürdigung der Haftbedingungen in Rumänien abgestellt habe, seien vom EGMR bisher nicht ausdrücklich als Gesichtspunkte anerkannt worden, die eine Reduzierung des persönlichen Raums des Gefangenen kompensieren könnten. Dies gelte insbesondere für die Möglichkeit, Hafturlaub zu erhalten, Besuch zu empfangen, private Wäsche reinigen zu lassen und Waren zu kaufen. Im Übrigen stehe nicht fest, dass die Verbesserung der Heizungsanlagen, der sanitären Anlagen und der Hygienebedingungen nach Maßgabe der jüngeren Rechtsprechung des EGMR eine solche Reduzierung des persönlichen Raums kompensieren könne. 33 Weder der Gerichtshof der Europäischen Union noch der EGMR hätten bislang darüber entschieden, ob Kriterien mit Bezug auf die Zusammenarbeit der Strafgerichte in der Union und die Notwendigkeit, die Straflosigkeit von Straftätern und die Schaffung von „safe havens“ für sie zu vermeiden, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens relevant seien. 34 Der vom OLG Hamburg zum Zweck der Übergabe von Herrn Dorobantu ausgestellte nationale Haftbefehl wurde vollzogen, bis die Auslieferungshaft des Verfolgten mit Beschluss dieses Gerichts vom 20. Dezember 2017 ausgesetzt wurde. 35 Um nach der Zurückverweisung durch das Bundesverfassungsgericht zu einer Entscheidung zu gelangen, möchte das OLG Hamburg in Erfahrung bringen, welche Anforderungen sich aus Art. 4 der Charta hinsichtlich der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat ergeben und nach welchen Kriterien zu beurteilen ist, ob diese Anforderungen nach Maßgabe des Urteils des Gerichtshofs vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198), erfüllt sind. 36 Daher hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Welche Mindestanforderungen an Haftbedingungen sind im Kontext des Rahmenbeschlusses 2002/584 aus Art. 4 der Charta zu fordern? a) Gibt es namentlich aus unionsrechtlicher Sicht eine „absolute“ Untergrenze bezüglich der Haftraumgröße, unterhalb derer stets ein Verstoß gegen Art. 4 der Charta vorliegt? i) Kommt es bei der Bestimmung des individuellen Haftraumanteils darauf an, ob es sich um eine Einzelzelle oder eine Gemeinschaftszelle handelt? ii) Ist bei der Berechnung der Haftraumgröße die durch die Möblierung (Bett, Schrank, etc.) in Anspruch genommene Fläche in Abzug zu bringen? iii) Welche baulichen Voraussetzungen sind für die Frage unionsrechtskonformer Haftbedingungen gegebenenfalls relevant? Welche Bedeutung hat gegebenenfalls der unmittelbar (oder nur mittelbar) von der Haftzelle eröffnete Zugang etwa zu Sanitär- oder sonstigen Räumen sowie die Versorgung mit kaltem und warmem Wasser, Heizung, Beleuchtung etc.? b) Inwieweit spielen unterschiedliche „Vollzugsregime“, namentlich unterschiedliche Aufschlusszeiten und unterschiedliche Grade der Bewegungsfreiheit innerhalb der Vollzugsanstalt für die Bewertung eine Rolle? c) Dürfen – wie es der Senat in seinen Zulässigkeitsentscheidungen getan hat – auch rechtliche und organisatorische Verbesserungen im Ausstellungsmitgliedstaat (Einführung eines Ombudsmann-Systems, Etablierung von Strafvollstreckungsgerichten etc.) in den Blick genommen werden? 2. Nach welchen Maßstäben sind die Haftbedingungen unionsgrundrechtlich zu bewerten? Inwieweit beeinflussen diese Maßstäbe die Auslegung des Begriffs der „echten Gefahr“ im Sinne des Urteils vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198)? a) Sind die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaates insoweit zu umfassender Kontrolle der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat befugt oder haben sie sich auf eine „Evidenzkontrolle“ zu beschränken? b) Sofern der Gerichtshof im Rahmen der Beantwortung der ersten Vorlagefrage zu dem Ergebnis gelangt, dass es „absolute“ unionsrechtliche Vorgaben für die Haftbedingungen gibt: Wäre eine Unterschreitung dieser Mindestbedingungen in dem Sinne „abwägungsresistent“, dass damit sogleich stets eine die Auslieferung verbietende „echte Gefahr“ vorläge, oder darf der Vollstreckungsmitgliedstaat gleichwohl in eine Abwägung eintreten? Dürfen dabei Gesichtspunkte wie die Aufrechterhaltung des innereuropäischen Rechtshilfeverkehrs, die Funktionsfähigkeit der europäischen Strafrechtspflege oder die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung berücksichtigt werden? Verfahren vor dem Gerichtshof 37 Mit Beschluss vom 25. September 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 27. September 2018, hat das OLG Hamburg dem Gerichtshof mitgeteilt, Herr Dorobantu sei, nachdem der Europäische Haftbefehl vom 12. August 2016 gegen ihn ausgestellt worden sei, in Rumänien in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Die rumänische Justizbehörde habe daher diesen Haftbefehl aufgehoben und am 1. August 2018 einen neuen Europäischen Haftbefehl zum Zweck der Vollstreckung dieser Strafe (im Folgenden: Europäischer Haftbefehl vom 1. August 2018) ausgestellt. Die Vorlagefragen würden auch nach dieser Ersetzung des Europäischen Haftbefehls aufrechterhalten. 38 Am 14. November 2018 hat der Gerichtshof gemäß Art. 101 seiner Verfahrensordnung ein Ersuchen um Klarstellung an das OLG Hamburg gerichtet und u. a. um Mitteilung gebeten, ob die Bewilligung der Vollstreckung und die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls vom 1. August 2018 als sicher und nicht nur hypothetisch angesehen werden können. 39 Mit Schreiben vom 20. Dezember 2018, das am selben Tag beim Gerichtshof eingegangen ist, hat das OLG Hamburg erwidert, vorbehaltlich der Antworten des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen seien die Bewilligung der Vollstreckung und die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls vom 1. August 2018 sicher. 40 Somit ergibt sich aus den Informationen im Beschluss des OLG Hamburg vom 25. September 2018 und in diesem Schreiben vom 20. Dezember 2018, dass das vorlegende Gericht über die Vollstreckung eines gültigen Europäischen Haftbefehls zu befinden hat (vgl. zum gegenteiligen Fall Beschluss vom 15. November 2017, Aranyosi, C‑496/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:866, Rn. 26 und 27). Folglich sind die Fragen dieses Gerichts zu beantworten. Zu den Vorlagefragen 41 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, erkundigt sich das vorlegende Gericht erstens nach der Intensität und dem Umfang der Prüfung, die eine vollstreckende Justizbehörde, die über Belege für das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats verfügt, mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 4 der Charta vorzunehmen hat, um zu beurteilen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, nach ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein wird. Fraglich sei insbesondere, ob diese Prüfung umfassend sein müsse oder sich auf Fälle offensichtlicher Unzulänglichkeiten der Haftbedingungen zu beschränken habe. 42 Zweitens fragt das vorlegende Gericht, ob es im Rahmen dieser Beurteilung ein Erfordernis berücksichtigen müsse, wonach jedem Gefangenen in einer Haftzelle eine Mindestfläche zustehe. Zu klären sei auch, wie diese Fläche zu berechnen sei, wenn sich in der Zelle Möbel und Sanitärvorrichtungen befänden, und ob bei einer solchen Beurteilung andere Haftbedingungen zu berücksichtigen seien, wie etwa die sanitären Verhältnisse oder das Ausmaß der Bewegungsfreiheit des Gefangenen innerhalb der Haftanstalt. 43 Drittens möchte das Gericht wissen, ob gesetzgeberische und strukturelle Maßnahmen zur Verbesserung der Kontrolle der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat bei dieser Beurteilung zu berücksichtigen sind. 44 Viertens sei fraglich, ob es eine Abwägung geben dürfe zwischen dem Umstand, dass der Ausstellungsmitgliedstaat die Mindestanforderungen an Haftbedingungen möglicherweise nicht erfülle, und Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie mit den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung. Vorbemerkungen 45 Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist zunächst daran zu erinnern, dass das Unionsrecht, wie sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 35, und vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 48). 46 Sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, haben im Unionsrecht fundamentale Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 36, und vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 49). 47 Bei der Durchführung des Unionsrechts können die Mitgliedstaaten somit unionsrechtlich verpflichtet sein, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete zu verlangen, noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 50). 48 Im Regelungsbereich des Rahmenbeschlusses 2002/584 kommt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der, wie sich namentlich aus dem sechsten Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses ergibt, einen „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit im strafrechtlichen Bereich bildet, in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses zur Anwendung, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen. Die vollstreckenden Justizbehörden können also die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls grundsätzlich nur aus den im Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung verweigern, und die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls kann nur an eine der Bedingungen geknüpft werden, die in Art. 5 des Rahmenbeschlusses erschöpfend aufgeführt sind. Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls stellt den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist. So nennt der Rahmenbeschluss 2002/584 ausdrücklich die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist (Art. 3) oder abgelehnt werden kann (Art. 4 und 4a), sowie die vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien (Art. 5) (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 41 und 42, sowie vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 54 und 55). 49 Gleichwohl sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter „außergewöhnlichen Umständen“ Beschränkungen der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich (Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 56). 50 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof festgestellt, dass die vollstreckende Justizbehörde unter bestimmten Umständen das mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 eingerichtete Übergabeverfahren beenden muss, wenn die Gefahr besteht, dass eine Übergabe zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung der gesuchten Person im Sinne von Art. 4 der Charta führt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 84, vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 44, und vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 57). 51 Somit ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, sofern sie über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht, im Licht des durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandards der Grundrechte und insbesondere von Art. 4 der Charta verpflichtet, das Vorliegen dieser Gefahr zu würdigen, wenn sie über die Übergabe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats zu entscheiden hat. Die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls darf nämlich nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung dieser Person führen (Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 88, sowie vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 59). 52 Dabei muss sich die vollstreckende Justizbehörde zunächst auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben über die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat stützen, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffender Mängel belegen. Diese Angaben können sich u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des EGMR, aus Entscheidungen von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben (Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89, sowie vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 60). 53 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht ausweislich der Akten, über die der Gerichtshof verfügt, auf der Grundlage von Entscheidungen des EGMR betreffend Rumänien, von Entscheidungen deutscher Gerichte sowie eines Berichts des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für systemische und allgemeine Mängel der Haftbedingungen in jenem Mitgliedstaat festgestellt. Seine Fragen beruhen also auf der Prämisse, dass solche Mängel bestehen; ob diese Prämisse zutrifft, hat es unter Berücksichtigung gebührend aktualisierter Angaben zu überprüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 71). 54 Das bloße Vorliegen von Anhaltspunkten für systemische oder allgemeine, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel bei den Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat bedeutet jedenfalls nicht zwingend, dass in einem konkreten Fall der Betroffene einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, sofern er den Behörden dieses Mitgliedstaats übergeben wird (Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 91 und 93, sowie vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 61). 55 Um die Beachtung von Art. 4 der Charta im konkreten Fall einer Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, sicherzustellen, ist daher die vollstreckende Justizbehörde, die über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Belege für das Vorliegen solcher Mängel verfügt, sodann verpflichtet, konkret und genau zu beurteilen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Anschluss an ihre Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Bedingungen, unter denen sie in diesem Mitgliedstaat inhaftiert sein wird, dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 92 und 94, sowie vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 62). 56 Die in den Rn. 50 bis 55 des vorliegenden Urteils dargelegte Auslegung von Art. 4 der Charta entspricht im Wesentlichen der Bedeutung, die der EGMR Art. 3 EMRK beimisst. 57 Der EGMR hat entschieden, dass ein Gericht eines Vertragsstaats der EMRK die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht mit der Begründung, dass die gesuchte Person im Ausstellungsstaat Haftbedingungen zu unterliegen drohe, die eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung mit sich brächten, ablehnen darf, wenn es nicht zuvor eine aktualisierte und eingehende Prüfung der Situation vorgenommen hat, wie sie sich zum Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellt, und nicht versucht hat, strukturelle Mängel hinsichtlich der Haftbedingungen sowie eine echte, individualisierbare Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK in diesem Staat konkret festzustellen (EGMR, 9. Juli 2019, Romeo Castaño/Belgien, CE:ECHR:2019:0709JUD000835117, § 86). Zur Intensität und zum Umfang der Prüfung der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat durch die vollstreckende Justizbehörde 58 Was als Erstes die Fragen des vorlegenden Gerichts anbelangt, mit welcher Intensität und in welchem Umfang die vollstreckende Justizbehörde die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat mit Blick auf Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 4 der Charta zu prüfen hat, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 der Charta das in deren Art. 4 enthaltene Recht, da es dem durch Art. 3 EMRK garantierten Recht entspricht, die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird. Zudem heißt es in den Erläuterungen zur Charta in Bezug auf diesen Art. 52 Abs. 3, dass die Bedeutung und Tragweite der durch die EMRK garantierten Rechte nicht nur durch den Wortlaut dieser Konvention, sondern auch durch die Rechtsprechung des EGMR und des Gerichtshofs der Europäischen Union bestimmt werden. 59 Nach diesem einleitenden Hinweis ist erstens hervorzuheben, dass eine Misshandlung, um unter Art. 3 EMRK zu fallen, ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, das unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles zu beurteilen ist, wie der Dauer der Misshandlung, ihrer physischen und psychischen Auswirkungen sowie, in manchen Fällen, des Geschlechts, des Alters und des Gesundheitszustands der Person (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Art. 3 EMRK soll gewährleisten, dass jeder Häftling unter Bedingungen untergebracht ist, die die Wahrung der Menschenwürde gewährleisten, dass die Modalitäten der Durchführung der Maßnahme den Betroffenen keiner Bürde oder Last aussetzen, deren Intensität über das dem Freiheitsentzug unvermeidlich innewohnende Maß des Leidens hinausgeht, und dass nach Maßgabe der praktischen Erfordernisse der Inhaftierung Gesundheit und Wohlergehen des Häftlings in angemessener Weise sichergestellt werden (Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 90, sowie vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung). 61 In diesem Kontext muss die Prüfung, die die vollstreckende Justizbehörde unter den in den Rn. 50 bis 52 des vorliegenden Urteils dargelegten außergewöhnlichen Umständen hinsichtlich der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat vorzunehmen hat – mit dem Ziel der Feststellung, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, nach der Übergabe an diesen Mitgliedstaat dort einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein wird –, auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen beruhen. 62 Eingedenk der vom Generalanwalt in Nr. 107 seiner Schlussanträge hervorgehobenen Tatsache, dass das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta absoluten Charakter hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 85 bis 87, sowie vom 19. März 2019, Jawo,C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 78), wäre die nach diesem Artikel erforderliche Achtung der Menschenwürde nicht gewährleistet, wenn die von der vollstreckenden Justizbehörde vorgenommene Prüfung der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt wäre. 63 Was zweitens den Umfang dieser Prüfung hinsichtlich der Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person zu entscheiden hat, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, konkret und genau prüfen muss, ob unter den konkreten Umständen eine echte Gefahr besteht, dass diese Person im Ausstellungsmitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 77). 64 Daraus folgt, dass die Prüfung, zu der diese Behörde verpflichtet ist, sich in Anbetracht ihrer Konkretheit und Genauigkeit nicht auf die allgemeinen Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten dieses Mitgliedstaats beziehen kann, in denen die betroffene Person inhaftiert werden könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 78). 65 Im Übrigen wäre die Verpflichtung der vollstreckenden Justizbehörden, die Haftbedingungen in sämtlichen Haftanstalten zu prüfen, in denen die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert werden könnte, offensichtlich zu weitgehend. Überdies wäre es unmöglich, dieser Verpflichtung innerhalb der in Art. 17 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Fristen nachzukommen. Eine solche Prüfung könnte daher die Übergabe dieser Person wesentlich verzögern und damit der Funktionsweise des Systems des Europäischen Haftbefehls jede praktische Wirksamkeit nehmen. Daraus ergäbe sich die Gefahr einer Straflosigkeit der gesuchten Person (vgl. Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 84 und 85). 66 In Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem das System des Europäischen Haftbefehls beruht, und unter Berücksichtigung insbesondere der den vollstreckenden Justizbehörden durch Art. 17 des Rahmenbeschlusses 2002/584 für den Erlass der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls gesetzten Fristen, sind diese Behörden folglich nur verpflichtet, die Haftbedingungen in den Haftanstalten zu prüfen, in denen diese Person nach den ihnen vorliegenden Informationen, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 87). 67 Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung). 68 Hat die ausstellende Justizbehörde die Zusicherung, dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt, in der sie im Ausstellungsmitgliedstaat inhaftiert werden wird, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung aufgrund ihrer konkreten und genauen Haftbedingungen erfahren werde, erteilt oder zumindest gebilligt, nachdem erforderlichenfalls die zentrale Behörde bzw. eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats im Sinne von Art. 7 des Rahmenbeschlusses 2002/584 um Unterstützung ersucht wurde, muss sich die vollstreckende Justizbehörde auf diese Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 der Charta verstoßen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 112). 69 Folglich darf die vollstreckende Justizbehörde nur unter außergewöhnlichen Umständen und auf der Grundlage konkreter Anhaltspunkte feststellen, dass trotz einer Zusicherung wie der in der vorstehenden Randnummer dargestellten eine echte Gefahr für die betroffene Person besteht, aufgrund der Bedingungen ihrer Inhaftierung im Ausstellungsmitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta unterworfen zu werden. Zur Würdigung der Haftbedingungen in Ansehung des dem Gefangenen zur Verfügung stehenden persönlichen Raums 70 Was als Zweites die von der vollstreckenden Justizbehörde vorzunehmende Würdigung der Haftbedingungen in Ansehung des persönlichen Raums anbelangt, der jedem Gefangenen in einer Haftzelle zur Verfügung steht, ist festzustellen, dass Herr Dorobantu ausweislich des Vorlagebeschlusses im Fall der Übergabe an die rumänischen Behörden in einer Gemeinschaftszelle untergebracht werden wird, und nicht in einer Einzelzelle. Daher sind im Rahmen der vorliegenden Rechtssache, ungeachtet der Formulierung der ersten Vorlagefrage, die Mindestanforderungen an den persönlichen Raum pro Gefangenem nur in Bezug auf die Inhaftierung in einer Gemeinschaftszelle zu bestimmen. 71 In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass sich der Gerichtshof in Anbetracht der Erwägungen in Rn. 58 des vorliegenden Urteils und angesichts dessen, dass im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestvorschriften hierzu existieren, auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und konkreter auf das Urteil vom 20. Oktober 2016, Muršić/Kroatien (CE:ECHR:2016:1020JUD000733413), gestützt hat. 72 Auf diesem Wege ist er zu der Entscheidung gelangt, dass in Anbetracht der Bedeutung des Raumfaktors bei der Gesamtbeurteilung von Haftbedingungen der Umstand, dass der einem Inhaftierten zur Verfügung stehende persönliche Raum in einer Gemeinschaftszelle unter 3 m2 liegt, eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründet (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). 73 Diese starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK kann normalerweise nur widerlegt werden, wenn es sich erstens um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums gegenüber dem geforderten Minimum von 3 m2 handelt, diese Reduzierung zweitens mit genügend Bewegungsfreiheit und ausreichenden Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht und drittens die Haftanstalt allgemein angemessene Haftbedingungen bietet und die betroffene Person keinen anderen Bedingungen ausgesetzt ist, die als die Haftbedingungen erschwerende Umstände anzusehen sind (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 93 und die dort angeführte Rechtsprechung). 74 Insoweit ist zu ergänzen, dass die Länge des Inhaftierungszeitraums zwar ein für die Beurteilung der Schwere des Leidens oder der Erniedrigung, das bzw. die ein Inhaftierter aufgrund seiner schlechten Haftbedingungen erfährt, relevanter Faktor sein kann. Die relative Kürze eines Inhaftierungszeitraums führt jedoch für sich genommen nicht automatisch dazu, dass die fragliche Behandlung dem Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK entzogen wäre, wenn andere Aspekte hinreichend sind, um sie in diesen Anwendungsbereich einzubeziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 97 und 98 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 75 Des Weiteren folgt im Wesentlichen aus der Rechtsprechung des EGMR, dass der Raumfaktor bei der Beurteilung der Angemessenheit der Haftbedingungen auch dann ein wichtiger Gesichtspunkt ist, wenn ein Gefangener in einer Gemeinschaftszelle über einen persönlichen Raum verfügt, der zwischen 3 m2 und 4 m2 beträgt. In solch einem Fall kann ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK bejaht werden, wenn zum Raummangel weitere schlechte Haftbedingungen hinzutreten, wie etwa fehlender Zugang zum Freistundenhof bzw. zu Frischluft und Tageslicht, schlechte Belüftung, zu niedrige oder zu hohe Raumtemperatur, fehlende Intimsphäre in den Toiletten oder schlechte Sanitär- und Hygienebedingungen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 20. Oktober 2016, Muršić/Kroatien, CE:ECHR:2016:1020JUD000733413, § 139). 76 Verfügt ein Gefangener über mehr als 4 m2 persönlichen Raum in einer Gemeinschaftszelle, so dass dieser Aspekt seiner materiellen Haftbedingungen keine Probleme aufwirft, bleiben die weiteren Aspekte dieser Bedingungen, wie etwa die in der vorstehenden Randnummer genannten, für die Beurteilung der Angemessenheit der Haftbedingungen des Betroffenen nach Maßgabe von Art. 3 EMRK relevant (vgl. in diesem Sinne EGMR, 20. Oktober 2016, Muršić/Kroatien, CE:ECHR:2016:1020JUD000733413, § 140). 77 Hinsichtlich der Frage, auf welche Weise für die Beurteilung, ob für die betroffene Person eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta besteht, der Raum zu berechnen ist, über den ein Gefangener in einer Gemeinschaftszelle, in der sich Möbel und Sanitärvorrichtungen befinden, mindestens verfügen muss, ist ebenfalls, da im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestnormen hierzu existieren, auf die vom EGMR mit Blick auf Art. 3 EMRK entwickelten Kriterien abzustellen. Nach Auffassung des EGMR ist bei der Berechnung der in einer solchen Zelle verfügbaren Fläche zwar nicht die Fläche der Sanitärvorrichtungen einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche, wobei es den Gefangenen jedoch möglich bleiben muss, sich in der Zelle normal zu bewegen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 20. Oktober 2016, Muršić/Kroatien, CE:ECHR:2016:1020JUD000733413, §§ 75 und 114 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 78 Im vorliegenden Fall hat die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, Herr Dorobantu solle im Fall seiner Übergabe in einem Vollzugsregime untergebracht werden, in dem er ein erhebliches Maß an Bewegungsfreiheit genieße und überdies arbeiten könne, was die in der Gemeinschaftszelle verbrachte Zeit beschränke. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, diese Angaben zu überprüfen und jeden weiteren Umstand zu würdigen, der sich für die Prüfung, die es gemäß den Hinweisen in den Rn. 71 bis 77 des vorliegenden Urteils vorzunehmen hat, als relevant erweist. Dabei hat es gegebenenfalls die ausstellende Justizbehörde um die notwendigen zusätzlichen Informationen zu bitten, wenn es der Ansicht ist, dass die von ihr bereits übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können. 79 Hervorzuheben ist schließlich, dass es den Mitgliedstaaten zwar freisteht, für ihr eigenes Strafvollzugssystem Mindestanforderungen an Haftbedingungen vorzusehen, die strenger sind als die Anforderungen, die sich aus Art. 4 der Charta und Art. 3 EMRK in der Auslegung durch den EGMR ergeben; jedoch darf ein Mitgliedstaat als Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe der von einem Europäischen Haftbefehl betroffenen Person an den Ausstellungsmitgliedstaat nur von der Erfüllung der letztgenannten Anforderungen abhängig machen, und nicht von der Erfüllung der sich aus seinem nationalen Recht ergebenden Anforderungen. Die gegenteilige Herangehensweise würde nämlich, indem die Einheitlichkeit des Standards für den Schutz der unionsrechtlich definierten Grundrechte in Frage gestellt wird, zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die der Rahmenbeschluss 2002/584 stärken soll, führen und daher dessen Wirksamkeit beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni,C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 63). Zur Relevanz allgemeiner Maßnahmen zur Verbesserung der Kontrolle der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat 80 Was als Drittes den Umstand betrifft, dass im Ausstellungsmitgliedstaat Maßnahmen wie die Einführung eines Mediationssystems oder die Schaffung von Strafvollstreckungsgerichten getroffen wurden, mit denen die Kontrolle der Haftbedingungen in diesem Mitgliedstaat verstärkt werden soll, ist hervorzuheben, dass eine – u. a. gerichtliche – nachträgliche Überprüfung dieser Haftbedingungen zwar einen wichtigen Gesichtspunkt darstellt, der dazu beitragen kann, die Behörden dieses Mitgliedstaats dazu zu veranlassen, diese Bedingungen zu verbessern, und somit von den vollstreckenden Justizbehörden bei der Gesamtbeurteilung der Bedingungen, unter denen eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, inhaftiert werden soll, für die Entscheidung über die Übergabe dieser Person berücksichtigt werden kann, jedoch für sich genommen nicht geeignet ist, die Gefahr auszuschließen, dass diese Person nach ihrer Übergabe aufgrund ihrer Haftbedingungen eine mit Art. 4 der Charta unvereinbare Behandlung erfährt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 74). 81 Selbst wenn der Ausstellungsmitgliedstaat Rechtsschutzmöglichkeiten vorsieht, die es ermöglichen, die Rechtmäßigkeit der Haftbedingungen im Hinblick auf die Grundrechte zu überprüfen, sind die vollstreckenden Justizbehörden daher weiterhin verpflichtet, die Situation jeder betroffenen Person individuell zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass ihre Entscheidung über die Übergabe dieser Person diese nicht aufgrund dieser Bedingungen einer echten Gefahr aussetzt, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne der genannten Vorschrift zu erleiden (Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 75). Zur Berücksichtigung von Erwägungen bezüglich der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung 82 Was als Viertes die Frage anbelangt, ob die für die Entscheidung über die Übergabe zuständige vollstreckende Justizbehörde eine Abwägung vornehmen darf zwischen einerseits dem Vorliegen einer echten Gefahr, dass die betroffene Person eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfahren wird, weil die Bedingungen ihrer Haft im Ausstellungsmitgliedstaat nicht den Mindestanforderungen der Rechtsprechung des EGMR genügen, und andererseits Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, so ist festzustellen, dass die in Rn. 62 des vorliegenden Urteils in Erinnerung gerufene Absolutheit des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausschließt, dass das Grundrecht, keiner solchen Behandlung unterworfen zu werden, in irgendeiner Weise durch derartige Erwägungen beschränkt wird. 83 Unter diesen Umständen rechtfertigt das Erfordernis, zu gewährleisten, dass die betroffene Person im Fall der Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta unterworfen wird, ausnahmsweise eine Einschränkung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 82, 98 bis 102 und 104). 84 Stellt die vollstreckende Justizbehörde fest, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der sie konkret inhaftiert werden soll, einer echten Gefahr einer solchen Behandlung ausgesetzt sein wird, so darf folglich bei der Entscheidung über die Übergabe keine Abwägung zwischen dieser Feststellung und Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung erfolgen. 85 Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten: – Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats belegen, zum Zweck der Beurteilung, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, nach ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein wird, alle relevanten materiellen Aspekte der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der diese Person konkret inhaftiert werden soll, berücksichtigen muss, wie etwa den persönlichen Raum, über den jeder Gefangene in einer Zelle dieser Anstalt verfügt, die sanitären Verhältnisse und das Ausmaß der Bewegungsfreiheit des Gefangenen innerhalb dieser Anstalt. Diese Beurteilung ist nicht auf die Prüfung offensichtlicher Unzulänglichkeiten beschränkt. Für eine solche Beurteilung muss die vollstreckende Justizbehörde von der ausstellenden Justizbehörde die für notwendig erachteten Informationen erbitten und sich grundsätzlich auf die Zusicherungen dieser Behörde verlassen, wenn keine konkreten Anhaltspunkte darauf schließen lassen, dass die Haftbedingungen gegen Art. 4 der Charta verstoßen. – Was speziell den persönlichen Raum betrifft, über den jeder Gefangene verfügt, so muss die vollstreckende Justizbehörde, da im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestnormen hierzu existieren, die Mindestanforderungen berücksichtigen, die sich aus Art. 3 EMRK in der Auslegung durch den EGMR ergeben. Bei der Berechnung dieses verfügbaren Raums ist zwar die durch Sanitärvorrichtungen belegte Fläche nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche. Den Gefangenen muss es jedoch möglich bleiben, sich in der Zelle normal zu bewegen. – Die vollstreckende Justizbehörde darf das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht allein deshalb ausschließen, weil die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat über einen Rechtsbehelf verfügt, der es ihr ermöglicht, die Bedingungen ihrer Haft zu beanstanden, oder weil es in diesem Mitgliedstaat gesetzgeberische oder strukturelle Maßnahmen gibt, die darauf abzielen, die Kontrolle der Haftbedingungen zu verstärken. – Stellt diese Justizbehörde fest, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der sie konkret inhaftiert werden soll, einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird, so darf bei der Entscheidung über die Übergabe keine Abwägung zwischen dieser Feststellung und Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung erfolgen. Kosten 86 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats belegen, zum Zweck der Beurteilung, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, nach ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein wird, alle relevanten materiellen Aspekte der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der diese Person konkret inhaftiert werden soll, berücksichtigen muss, wie etwa den persönlichen Raum, über den jeder Gefangene in einer Zelle dieser Anstalt verfügt, die sanitären Verhältnisse und das Ausmaß der Bewegungsfreiheit des Gefangenen innerhalb dieser Anstalt. Diese Beurteilung ist nicht auf die Prüfung offensichtlicher Unzulänglichkeiten beschränkt. Für eine solche Beurteilung muss die vollstreckende Justizbehörde von der ausstellenden Justizbehörde die für notwendig erachteten Informationen erbitten und sich grundsätzlich auf die Zusicherungen dieser Behörde verlassen, wenn keine konkreten Anhaltspunkte darauf schließen lassen, dass die Haftbedingungen gegen Art. 4 der Charta verstoßen. Was speziell den persönlichen Raum betrifft, über den jeder Gefangene verfügt, so muss die vollstreckende Justizbehörde, da im Unionsrecht gegenwärtig keine Mindestnormen hierzu existieren, die Mindestanforderungen berücksichtigen, die sich aus Art. 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergeben. Bei der Berechnung dieses verfügbaren Raums ist zwar die durch Sanitärvorrichtungen belegte Fläche nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche. Den Gefangenen muss es jedoch möglich bleiben, sich in der Zelle normal zu bewegen. Die vollstreckende Justizbehörde darf das Vorliegen einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht allein deshalb ausschließen, weil die betroffene Person im Ausstellungsmitgliedstaat über einen Rechtsbehelf verfügt, der es ihr ermöglicht, die Bedingungen ihrer Haft zu beanstanden, oder weil es in diesem Mitgliedstaat gesetzgeberische oder strukturelle Maßnahmen gibt, die darauf abzielen, die Kontrolle der Haftbedingungen zu verstärken. Stellt diese Justizbehörde fest, dass es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die betroffene Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der sie konkret inhaftiert werden soll, einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird, so darf bei der Entscheidung über die Übergabe keine Abwägung zwischen dieser Feststellung und Erwägungen im Zusammenhang mit der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sowie den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung erfolgen. Lenaerts Silva de Lapuerta Bonichot Arabadjiev Regan Safjan Xuereb Ilešič Malenovský Bay Larsen Jürimäe Lycourgos Piçarra Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Oktober 2019. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 30. Januar 2019.#Planta Tabak-Manufaktur Dr. Manfred Obermann GmbH & Co. KG gegen Land Berlin.#Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Berlin.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Gültigkeit der Richtlinie 2014/40/EU – Herstellung, Aufmachung und Verkauf von Tabakerzeugnissen – Regelung der ‚Inhaltsstoffe‘ – Verbot aromatisierter Tabakerzeugnisse.#Rechtssache C-220/17.
62017CJ0220
ECLI:EU:C:2019:76
2019-01-30T00:00:00
Gerichtshof, Saugmandsgaard Øe
62017CJ0220 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 30. Januar 2019 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Gültigkeit der Richtlinie 2014/40/EU – Herstellung, Aufmachung und Verkauf von Tabakerzeugnissen – Regelung der ‚Inhaltsstoffe‘ – Verbot aromatisierter Tabakerzeugnisse“ In der Rechtssache C‑220/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. April 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 27. April 2017, in dem Verfahren Planta Tabak-Manufaktur Dr. Manfred Obermann GmbH & Co. KG gegen Land Berlin erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter A. Arabadjiev, E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin (Berichterstatter), Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe, Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. März 2018, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Planta Tabak-Manufaktur Dr. Manfred Obermann GmbH & Co. KG, vertreten durch die Rechtsanwälte T. Masing und C. Eckart, – der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten, – der französischen Regierung, vertreten durch R. Coesme und D. Colas als Bevollmächtigte, – der ungarischen Regierung, vertreten durch G. Koós und Z. Fehér als Bevollmächtigte, – der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon, I. Rogers und Z. Lavery als Bevollmächtigte, – der norwegischen Regierung, vertreten durch P. Wennerås, M. Schei und M. Reinertsen Norum als Bevollmächtigte, – des Europäischen Parlaments, vertreten durch L. Visaggio, U. Rösslein und J. Rodrigues als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch P. Plaza García, E. Karlsson und R. Wiemann als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer und J. Tomkin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Juli 2018 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 7 Abs. 1, 7 und 14, der Art. 8 bis 11 – insbesondere von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2, Abs. 4 Buchst. a Satz 2 und Abs. 6, Art. 10 Abs. 1 Buchst. b, e und f sowie Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 – und von Art. 13 Abs. 1 Buchst. c sowie die Auslegung von Art. 7 Abs. 14 und von Art. 13 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. 2014, L 127, S. 1, berichtigt im ABl. 2015, L 150, S. 24). 2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Planta Tabak-Manufaktur Dr. Manfred Obermann GmbH & Co. KG (im Folgenden: Planta Tabak) und dem Land Berlin (Deutschland) wegen des Verbots des Inverkehrbringens bestimmter Tabakerzeugnisse und der Vorschriften über die Kennzeichnung und Verpackung von Tabakerzeugnissen. Rechtlicher Rahmen 3 Der neunte Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/40 lautet: „Um die einheitliche Anwendung dieser Richtlinie in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sind eine Reihe von Begriffsbestimmungen erforderlich. Wenn für verschiedene Erzeugniskategorien unterschiedliche Anforderungen gelten und ein Erzeugnis unter mehr als eine dieser Kategorien fällt (z. B. Pfeifentabak, Tabak zum Selbstdrehen), so sollten die strengeren Anforderungen gelten.“ 4 Der 16. Erwägungsgrund der Richtlinie lautet: „Die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Vorschriften wird noch durch die Bedenken im Zusammenhang mit Tabakerzeugnissen erhöht, die ein charakteristisches Aroma außer Tabakaroma haben, welches möglicherweise den Einstieg in den Tabakkonsum erleichtert oder die Konsumgewohnheiten beeinflusst. Maßnahmen, mit denen ungerechtfertigte Unterschiede bei der Behandlung verschiedener Arten aromatisierter Zigaretten eingeführt würden, sollten vermieden werden. Jedoch sollte der Verkauf von Erzeugnissen mit charakteristischen Aromen mit höheren Verkaufsmengen über einen längeren Zeitraum hinweg eingestellt werden, um den Verbrauchern ausreichend Zeit zu geben, zu anderen Erzeugnissen zu wechseln.“ 5 Art. 1 der Richtlinie bestimmt: „Ziel dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten … …, damit – ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen – das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse erleichtert wird und die Verpflichtungen der Union im Rahmen des [Rahmenübereinkommens der Weltgesundheitsorganisation (WHO)] zur Eindämmung des [Tabakkonsums] (Framework Convention on Tobacco Control, im Folgenden ‚FCTC‘) [genehmigt durch den Beschluss 2004/513/EG des Rates vom 2. Juni 2004 über den Abschluss des WHO-Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakkonsums (ABl. 2004, L 213, S. 8)] eingehalten werden.“ 6 Art. 2 der Richtlinie sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck … 14. ‚neuartiges Tabakerzeugnis‘ ein Tabakerzeugnis, das a) nicht in eine der nachstehenden Kategorien fällt: Zigaretten, Tabak zum Selbstdrehen, Pfeifentabak, Wasserpfeifentabak, Zigarren, Zigarillos, Kautabak, Schnupftabak und Tabak zum oralen Gebrauch; … …“ 7 Art. 7 der Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten verbieten das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen mit einem charakteristischen Aroma. … (7)   Die Mitgliedstaaten verbieten das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen, die in irgendwelchen ihrer Bestandteile Aromastoffe enthalten, etwa in Filtern, Papieren, Packungen, Kapseln, oder die sonstige technische Merkmale enthalten, mit denen sich der Geruch oder Geschmack der betreffenden Tabakprodukte oder deren Rauchintensität verändern lassen. Filter, Papier und Kapseln dürfen weder Tabak noch Nikotin enthalten. … (12)   Tabakerzeugnisse mit Ausnahme von Zigaretten und von Tabak zum Selbstdrehen sind von den Verboten in den Absätzen 1 und 7 ausgenommen. … … (14)   Im Fall von Tabakerzeugnissen mit einem charakteristischen Aroma, deren unionsweite Verkaufsmengen 3 % oder mehr einer bestimmten Erzeugniskategorie darstellen, gilt dieser Artikel ab 20. Mai 2020. …“ 8 Die Art. 8 bis 11 der Richtlinie, die zu Kapitel II („Kennzeichnung und Verpackung“) ihres Titels II gehören, enthalten allgemeine Bestimmungen, Bestimmungen über allgemeine Warnhinweise und die Informationsbotschaft für Rauchtabakerzeugnisse, Bestimmungen über kombinierte gesundheitsbezogene Warnhinweise für Rauchtabakerzeugnisse sowie Bestimmungen über die Kennzeichnung von Rauchtabakerzeugnissen mit Ausnahme von Zigaretten, von Tabak zum Selbstdrehen und von Tabak für Wasserpfeifen. 9 In Art. 9 der Richtlinie heißt es: „(1)   Jede Packung und jede Außenverpackung von Rauchtabakerzeugnissen trägt einen der folgenden allgemeinen Warnhinweise: ‚Rauchen ist tödlich – hören Sie jetzt auf.‘ oder ‚Rauchen ist tödlich‘. Die Mitgliedstaaten bestimmen, welcher dieser in Unterabsatz 1 genannten allgemeinen Warnhinweise verwendet wird. … (4)   Der allgemeine Warnhinweis und die Informationsbotschaft nach den Absätzen 1 und 2 sind a) in Helvetika fett schwarz auf weißem Hintergrund zu drucken. Um sprachlichen Erfordernissen gerecht zu werden, dürfen die Mitgliedstaaten die Schriftgröße selbst bestimmen, sofern die im nationalen Recht festgelegte Schriftgröße gewährleistet, dass der entsprechende Text den größtmöglichen Anteil der für diese gesundheitsbezogenen Warnhinweise reservierten Fläche einnimmt, … … (6)   Die Kommission legt im Wege von Durchführungsrechtsakten die genaue Anordnung des allgemeinen Warnhinweises und der Informationsbotschaft auf in Beuteln verkauftem Tabak zum Selbstdrehen fest, wobei sie den verschiedenen Formen von Beuteln Rechnung trägt.“ 10 In Art. 10 der Richtlinie 2014/40 heißt es: „(1)   Jede Packung und jede Außenverpackung von Rauchtabakerzeugnissen trägt kombinierte gesundheitsbezogene Warnhinweise. Die kombinierten gesundheitsbezogenen Warnhinweise … b) umfassen Informationen über Raucherentwöhnung, darunter Telefonnummern, E‑Mail-Adressen oder Websites, die dazu bestimmt sind, über Hilfsprogramme für Personen zu informieren, die das Rauchen aufgeben wollen; … e) werden an der Oberkante einer Packung und jeder Außenverpackung angebracht und werden in derselben Richtung wie die übrigen Informationen auf dieser Fläche der Packung ausgerichtet. Übergangsweise geltende Ausnahmen von dieser Verpflichtung bezüglich der Positionierung der kombinierten gesundheitlichen Warnhinweise können in Mitgliedstaaten mit weiterhin obligatorischen Steuerzeichen oder nationalen Kennzeichnungen für Steuerzwecke wie folgt eingeräumt werden: i) In Fällen, in denen das Steuerzeichen oder die nationalen Kennzeichnungen für Steuerzwecke an der Oberkante einer Packung aus Karton angebracht sind, kann der auf der Rückseite anzubringende kombinierte gesundheitsbezogene Warnhinweis direkt unter das an der Oberkante einer Kartonverpackung angebrachte Steuerzeichen oder die nationale Kennzeichnung platziert werden. ii) Besteht die Packung aus weichem Material, können die Mitgliedstaaten für das Steuerzeichen oder die nationale Kennzeichnung für Steuerzwecke eine rechteckige Fläche mit einer Höhe von nicht mehr als 13 mm zwischen der Oberkante der Packung und dem oberen Ende des kombinierten gesundheitsbezogenen Warnhinweises vorsehen. Die in den Ziffern i und ii genannten Ausnahmen gelten für einen Zeitraum von drei Jahren ab dem 20. Mai 2016. Markennamen oder Logos dürfen nicht oberhalb der gesundheitsbezogenen Warnhinweise angebracht werden; … f) werden hinsichtlich Format, Layout, Gestaltung und Proportionen entsprechend den Vorgaben reproduziert, die die Kommission gemäß Absatz 4 macht; …“ 11 Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 der Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten können Rauchtabakerzeugnisse mit Ausnahme von Zigaretten, Tabak zum Selbstdrehen und Tabak für Wasserpfeifen von der Verpflichtung ausnehmen, die Informationsbotschaft gemäß Artikel 9 Absatz 2 und den kombinierten gesundheitsbezogenen Warnhinweis gemäß Artikel 10 zu tragen.“ 12 Art. 13 der Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Kennzeichnung der Packung und der Außenverpackung sowie das Tabakerzeugnis selbst dürfen weder Elemente noch Merkmale aufweisen, die … c) sich auf den Geschmack, Geruch, eventuelle Aromastoffe oder sonstige Zusatzstoffe oder auf deren Fehlen beziehen; … (3)   Die nach den Absätzen 1 und 2 verbotenen Elemente und Merkmale können unter anderem sein: Texte, Symbole, Namen, Markennamen, figurative und sonstige Zeichen.“ 13 Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie lautet: „Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 20. Mai 2016 nachzukommen. Sie teilen der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Vorschriften mit. Sie wenden diese Maßnahmen ab dem 20. Mai 2016 an; Artikel 7 Absatz 14, Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe e, Artikel 15 Absatz 13 und Artikel 16 Absatz 3 bleiben davon unberührt.“ 14 In Art. 30 der Richtlinie heißt es: „Die Mitgliedstaaten dürfen das Inverkehrbringen folgender Erzeugnisse, die dieser Richtlinie nicht genügen, bis zum 20. Mai 2017 zulassen: a) Tabakerzeugnisse, die gemäß der Richtlinie 2001/37/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juni 2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen (ABl. 2001, L 194, S. 26)] vor dem 20. Mai 2016 hergestellt oder in den freien Verkehr gebracht und gekennzeichnet wurden; …“ Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen 15 Planta Tabak stellt Tabakerzeugnisse her und vertreibt sie, insbesondere aromatisierten Tabak zum Selbstdrehen. 16 Mit dem Gesetz über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse vom 4. April 2016 (BGBl. 2016 I S. 569, im Folgenden: TabakerzG) wurde die Richtlinie 2014/40 umgesetzt. 17 Am 25. April 2016 erhob Planta Tabak beim Verwaltungsgericht Berlin (Deutschland) Klage auf Feststellung, dass bestimmte, das Verbot von Aromen, die Schockfotos und das Verbot der Werbung für Aromen betreffende Vorschriften des TabakerzG auf ihre Erzeugnisse nicht anwendbar seien. Ferner macht sie geltend, dass Art. 7 Abs. 1 und 7, die Art. 8 bis 11 und Art. 13 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2014/40 das Primärrecht der Union verletzten, insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit. 18 Erstens hat das vorlegende Gericht Zweifel an der Gültigkeit und der Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2014/40 über das Verbot von Aromen in Tabakerzeugnissen, über die Kennzeichnung und Verpackung dieser Erzeugnisse und über das Verbot der Werbung für Aromen. 19 Es fragt zunächst nach der Auslegung von Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40 und nach der Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Hinblick auf das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen mit einem charakteristischen Aroma, das seit dem 20. Mai 2016 für Erzeugnisse besteht, deren unionsweite Verkaufsmengen weniger als 3 % einer bestimmten Erzeugniskategorie darstellen, und in den übrigen Fällen ab dem 20. Mai 2020 gilt. Es führt aus, die betroffenen Hersteller von Tabakerzeugnissen seien nicht in der Lage, Informationen über die unionsweiten Verkaufsmengen zu erlangen, obwohl die Kommission mit ihrem Durchführungsbeschluss (EU) 2015/2186 vom 25. November 2015 zur Festlegung eines Formats für die Bereitstellung und Verfügbarmachung von Informationen über Tabakerzeugnisse (ABl. 2015, L 312, S. 5) ein Melde- und Informationssystem geschaffen habe, das darauf abziele, mittelfristig diese Informationen zu sammeln und den Betroffenen zugänglich zu machen. Weder die Internetseiten der Kommission noch diejenigen der zuständigen bundesdeutschen Behörden enthielten entsprechende Angaben oder weiterführende Hinweise. Das bei der Anwendung der Ausnahme in Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 anzuwendende Verfahren sei daher nicht eindeutig festgelegt worden. 20 Auch der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Erzeugniskategorie“ werde in der Richtlinie 2014/40 nicht definiert und sei durch Auslegung nicht sicher bestimmbar. Insbesondere sei fraglich, ob die Einteilung in Erzeugniskategorien allein anhand der Art des Tabakerzeugnisses oder der Art des Aromas vorzunehmen sei oder ob die beiden Kriterien miteinander zu kombinieren seien (Mentholzigaretten, Mentholfeinschnitt usw.). 21 Außerdem verstoße Art. 7 der Richtlinie in Bezug auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verbote des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, da bei aromatisierten Tabakerzeugnissen anhand ihrer Verkaufsmengen unterschieden werde, obwohl die Situation angesichts der mit der Richtlinie verfolgten Ziele – Schutz der Gesundheit der Verbraucher und Beseitigung von Handelshemmnissen – bei diesen Erzeugnissen vergleichbar sei. 22 Überdies bedürfe der Klärung, ob die in der Richtlinie 2014/40 festgelegten Fristen für das Verbot von Aromen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und mit Art. 34 AEUV im Einklang stünden, wenn man die negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen für kleine und mittlere Unternehmen berücksichtige, die sich auf „Nischenprodukte“ mit einem unionsweiten Marktanteil von weniger als 3 % spezialisiert hätten, deren Inverkehrbringen seit dem 20. Mai 2016 untersagt sei. 23 Zweitens sei angesichts der Zeitpunkte, zu denen der Durchführungsbeschluss (EU) 2015/1735 der Kommission vom 24. September 2015 zur genauen Anordnung des allgemeinen Warnhinweises und der Informationsbotschaft auf in Beuteln verkauftem Tabak zum Selbstdrehen (ABl. 2015, L 252, S. 49) und der Durchführungsbeschluss (EU) 2015/1842 der Kommission vom 9. Oktober 2015 über die technischen Spezifikationen für das Layout, die Gestaltung und die Form der kombinierten gesundheitsbezogenen Warnhinweise für Rauchtabakerzeugnisse (ABl. 2015, L 267, S. 5) erlassen worden seien, auf die Kürze der in Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 vorgesehenen Frist für die Umsetzung der Richtlinie und den Beginn der Anwendung der nationalen Vorschriften hinzuweisen, die am 20. Mai 2016 geendet habe. 24 Insoweit sei zunächst fraglich, ob der nationale Gesetzgeber unionsrechtlich überhaupt zum Erlass eigener Übergangsregelungen befugt sei. Sollte dies zu verneinen sein, sei ferner fraglich, ob es nicht gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Verbindung mit dem Prinzip der einheitlichen und effektiven Anwendung des Unionsrechts verstoße, wenn von den Mitgliedstaaten verlangt werde, die Richtlinie 2014/40 deutlich vor dem Ablauf der in ihrem Art. 29 Abs. 1 festgelegten Frist umzusetzen. 25 Außerdem lasse sich das zeitliche Zusammentreffen des Ablaufs der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2014/40 und der Anwendung der nationalen Vorschriften schwer mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbaren. Ohne die näheren Angaben in den Durchführungsbeschlüssen 2015/1735 und 2015/1842, u. a. in Bezug auf die genaue Anordnung des allgemeinen Warnhinweises und der Informationsbotschaft auf in Beuteln verkauftem Tabak zum Selbstdrehen, seien die Hersteller nicht in der Lage gewesen, Verpackungs- und Druckvorlagen zu planen und in Auftrag zu geben sowie gegebenenfalls den Umbau entsprechender Abfüll- und Verpackungsmaschinen vorzusehen. Zwischen dem Erlass dieser Beschlüsse und dem Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 vorgesehenen Frist am 20. Mai 2016 hätten aber nur etwa sieben Monate gelegen. 26 Drittens sei im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fraglich, ob die bloße Nennung eines zulässigerweise in Tabakerzeugnissen enthaltenen Aromas, Geruchs- oder Geschmacksstoffs auf der Verpackung oder der Außenverpackung in neutraler, nicht werbender Form nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2014/40 erlaubt sei. 27 Schließlich müsse geklärt werden, ob das in Art. 13 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2014/40 aufgestellte Verbot der Verwendung bestimmter Marken eine unverhältnismäßige Enteignung im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) darstelle. Die von dieser Bestimmung betroffenen Markeninhaber seien von jeder sinnvollen oder relevanten Nutzung der Marken ausgeschlossen, und dieser Ausschluss treffe sie wirtschaftlich ebenso wie eine förmliche Enteignung. Die Kennzeichnungsvorgaben aus Art. 13 Abs. 1 Buchst c der Richtlinie hätten zur Folge, dass für die Markeninhaber wesentliche Nutzungsmöglichkeiten im Sinne von Art. 10 der Richtlinie (EU) 2015/2436 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2015 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken (ABl. 2015, L 336, S. 1) dauerhaft entfielen. 28 Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Berlin beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. a) Sind die Abs. 1 und 7 des Art. 7 der Richtlinie 2014/40 in Verbindung mit Abs. 14 des Art. 7 der Richtlinie 2014/40 wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit ungültig, weil sie den Mitgliedstaaten aufgeben, das Inverkehrbringen von bestimmten Tabakerzeugnissen zu verbieten, ohne dass klar und deutlich ist, welche dieser Tabakerzeugnisse genau bereits ab 20. Mai 2016 und welche erst ab 20. Mai 2020 verboten werden sollen? b) Sind die Abs. 1 und 7 des Art. 7 der Richtlinie 2014/40 in Verbindung mit Abs. 14 des Art. 7 der Richtlinie 2014/40 wegen Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz ungültig, weil sie hinsichtlich der durch die Mitgliedstaaten zu erlassenden Verbote nach Verkaufsmengen unterscheiden, ohne dass es dafür einen rechtfertigenden Grund gibt? c) Sind die Abs. 1 und 7 des Art. 7 der Richtlinie 2014/40 wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und/oder gegen Art. 34 AEUV ungültig, weil sie den Mitgliedstaaten aufgeben, das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen mit einem charakteristischen Aroma, deren unionsweite Verkaufsmengen weniger als 3 % einer bestimmten Erzeugniskategorie darstellen, bereits ab 20. Mai 2016 zu verbieten? d) Im Fall der Verneinung der Fragen 1. a bis 1. c: Wie ist der Begriff „Erzeugniskategorie“ in Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 zu verstehen? Hat die Einteilung in „Erzeugniskategorien“ nach der Art des charakteristischen Aromas zu erfolgen oder nach der Art des (aromatisierten) Tabakerzeugnisses oder aufgrund einer Kombination beider Kriterien? e) Im Fall der Verneinung der Fragen 1. a bis 1. c: Wie ist festzustellen, ob hinsichtlich eines bestimmen Tabakerzeugnisses die 3%-Grenze gemäß Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 erreicht ist, solange es keine offiziellen und öffentlich zugänglichen Zahlen und Statistiken dazu gibt? 2. a) Dürfen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Art. 8 bis 11 der Richtlinie 2014/40 in nationales Recht ergänzende Übergangsregelungen treffen? b) Im Fall der Verneinung von Vorlagefrage 2. a: – Sind Art. 9 Abs. 6 und Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Buchst. f der Richtlinie 2014/40 wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und/oder gegen Art. 34 AEUV ungültig, weil sie die Festlegung bestimmter Kennzeichnungs- und Verpackungsvorgaben an die Kommission delegieren, ohne dieser dafür eine Frist zu setzen und ohne weiter gehende Übergangsregelungen oder ‑fristen vorzusehen, welche sicherstellen, dass betroffenen Unternehmen ausreichend Zeit zur Anpassung an die Richtlinienvorgaben bleibt? – Sind Art. 9 Abs. 1 Satz 2 (Text des Warnhinweises) und Abs. 4 Satz 2 (Schriftgröße), Art. 10 Abs. 2 Satz 2 Buchst. b (Informationen über Raucherentwöhnung) und Buchst. e (Positionierung der Warnhinweise) sowie Art 11 Abs. 1 Satz 1 (Etikettierung) der Richtlinie 2014/40 wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und/oder gegen Art. 34 AEUV ungültig, weil sie den Mitgliedstaaten diverse Wahl- und Gestaltungsrechte einräumen, ohne ihnen dafür eine Frist zu setzen und ohne weiter gehende Übergangsregelungen oder ‑fristen vorzusehen, welche sicherstellen, dass betroffenen Unternehmen ausreichend Zeit zur Anpassung an die Richtlinienvorgaben bleibt? 3. a) Ist Art. 13 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 so auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten aufgibt, die Verwendung von auf den Geschmack, Geruch, Aroma- oder sonstige Zusatzstoffe bezogenen Informationen auch dann zu verbieten, wenn es sich um nicht werbliche Informationen handelt und die Verwendung der Inhaltsstoffe weiterhin erlaubt ist? b) Ist Art. 13 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2014/40 ungültig, weil er gegen Art. 17 der Charta verstößt? Zu den Vorlagefragen Zu den Buchst. a bis c der ersten Frage 29 Mit den Buchst. a bis c der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 1 und 7 der Richtlinie 2014/40 und deren Art. 7 Abs. 14 ungültig sind, weil sie gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, der Gleichbehandlung oder der Verhältnismäßigkeit oder gegen Art. 34 AEUV verstoßen. Zur Vereinbarkeit von Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40 mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit 30 Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, ob Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40, der den Mitgliedstaaten aufgibt, das Inverkehrbringen bestimmter Tabakerzeugnisse zu verbieten, ohne dass klar und deutlich ist, welche dieser Erzeugnisse bereits ab 20. Mai 2016 verboten werden sollen und welche erst ab 20. Mai 2020, gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt. 31 Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt zwar nach ständiger Rechtsprechung, dass eine Unionsregelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 25. Juli 2018, Teglgaard und Fløjstrupgård, C‑239/17, EU:C:2018:597, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). 32 Es ist jedoch nicht erforderlich, dass ein Gesetzgebungsakt selbst Angaben technischer Natur enthält, und es steht dem Unionsgesetzgeber frei, einen allgemeinen Rechtsrahmen zu schaffen, der gegebenenfalls später konkretisiert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 78 und 139). 33 Der Umstand, dass Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40 keine näheren Angaben dazu enthält, bei welchen Erzeugnissen mit einem charakteristischen Aroma die unionsweiten Verkaufsmengen 3 % oder mehr einer bestimmten Erzeugniskategorie darstellen, und keine konkrete Verfahrensweise vorsieht, um zu bestimmen, welche Erzeugnisse von Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie erfasst werden, bedeutet nicht, dass Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt. Sofern es an einer Regelung auf Unionsebene fehlt, ist es nämlich Sache der Mitgliedstaaten oder gegebenenfalls der Hersteller selbst, eine zuverlässige Methode festzulegen, mit der die Einhaltung der Anforderung, die sich aus dieser Vorschrift ergibt, sichergestellt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 101). 34 In Anbetracht dessen ist nicht ersichtlich, dass Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40 gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt. Zur Vereinbarkeit von Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40 mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit sowie mit Art. 34 AEUV 35 Das vorlegende Gericht wirft zunächst die Frage auf, ob die in Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 vorgenommene Unterscheidung der Tabakerzeugnisse nach Verkaufsmengen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt. 36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der allgemeine unionsrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 35). 37 Die Vergleichbarkeit verschiedener Sachverhalte ist in Anbetracht aller Merkmale zu beurteilen, die sie kennzeichnen. Diese Merkmale sind u. a. im Licht des Gegenstands und des Ziels der Unionshandlung, mit der die fragliche Unterscheidung eingeführt wird, zu bestimmen und zu beurteilen. Außerdem sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, in den die Handlung fällt (Urteil vom 12. Mai 2011, Luxemburg/Parlament und Rat, C‑176/09, EU:C:2011:290, Rn. 32). 38 Mit der Richtlinie 2014/40 wird nach ihrem Art. 1 ein zweifaches Ziel verfolgt, und zwar soll sie – ausgehend von einem hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen – das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse erleichtern (Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat, C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 80). 39 Damit das Ziel, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern, verwirklicht wird, sollten nach dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/40 Maßnahmen vermieden werden, mit denen ungerechtfertigte Unterschiede bei der Behandlung verschiedener Arten aromatisierter Zigaretten eingeführt würden. 40 Überdies hat der Gerichtshof im Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a. (C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 114), festgestellt, dass Tabakerzeugnisse mit einem charakteristischen Aroma zum einen ähnliche objektive Eigenschaften aufweisen und zum anderen ähnliche Auswirkungen auf den erstmaligen Tabakkonsum und die Aufrechterhaltung des Tabakgebrauchs haben. 41 Somit unterscheiden sich Tabakerzeugnisse mit einem charakteristischen Aroma, deren unionsweite Verkaufsmengen weniger als 3 % einer bestimmten Erzeugniskategorie darstellen, von Tabakerzeugnissen mit einem charakteristischen Aroma, deren unionsweite Verkaufsmengen 3 % oder mehr einer bestimmten Erzeugniskategorie darstellen, weder hinsichtlich des Ziels, das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern, noch hinsichtlich des Ziels, für einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit zu sorgen. 42 Folglich ist für die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung davon auszugehen, dass bei den von den Verboten charakteristischer Aromen in Art. 7 Abs. 1 und 7 der Richtlinie 2014/40 betroffenen aromatisierten Erzeugnissen vergleichbare Sachverhalte vorliegen. 43 Nach der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte gerechtfertigt, wenn sie auf einem objektiven und angemessenen Kriterium beruht, d. h., wenn sie im Zusammenhang mit einem rechtlich zulässigen Ziel steht, das mit der in Rede stehenden Regelung verfolgt wird, und wenn diese unterschiedliche Behandlung in angemessenem Verhältnis zu dem mit der betreffenden Behandlung verfolgten Ziel steht (Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 47). 44 Insoweit hat der Gerichtshof dem Unionsgesetzgeber ein weites Ermessen im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten zugebilligt, wenn seine Tätigkeit politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen erfordert und wenn er komplexe Beurteilungen und Prüfungen vornehmen muss (Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, EU:C:2008:728, Rn. 57). Der Unionsgesetzgeber könnte daher in Ausübung seines weiten Ermessens eine Harmonisierung nur in Etappen vornehmen und nur einen schrittweisen Abbau der einseitig von den Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen verlangen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 63 und 134). 45 In Bezug auf die mit Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 verfolgten Ziele geht aus ihrem 16. Erwägungsgrund hervor, dass der Verkauf von Erzeugnissen mit charakteristischen Aromen, die höhere Verkaufsmengen aufweisen, über einen längeren Zeitraum hinweg eingestellt werden sollte, um den Verbrauchern ausreichend Zeit zu geben, zu anderen Erzeugnissen zu wechseln. 46 Wie der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zielt das Kriterium der Verkaufsmengen von Tabakerzeugnissen einer bestimmten Erzeugniskategorie mit einem charakteristischen Aroma nicht auf Tabakerzeugnisse mit einem speziellen Aroma ab und ist in Bezug auf die Hersteller neutral. Aus den Akten, über die der Gerichtshof verfügt, ergibt sich nämlich nicht, dass Tabakerzeugnisse mit einem charakteristischen Aroma, deren unionsweite Verkaufsmengen weniger als 3 % einer bestimmten Erzeugniskategorie darstellen, hauptsächlich von kleinen und mittleren Unternehmen hergestellt werden. Infolgedessen ist dieses Kriterium als objektiv gerechtfertigt anzusehen. 47 Überdies ist es als angemessen anzusehen, den Verbrauchern ausreichend Zeit zu geben, zu anderen Erzeugnissen zu wechseln, was es ermöglicht, die wirtschaftlichen Folgen des Verbots in Art. 7 der Richtlinie 2014/40 mit dem Gebot der Gewährleistung eines hohen Schutzes der menschlichen Gesundheit in Einklang zu bringen. 48 Ein Kriterium, das wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende auf den Verkaufsmengen von Erzeugnissen beruht, spiegelt nämlich, wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Konsumgewohnheiten sowie die wirtschaftliche Bedeutung der Herstellung der erfassten Erzeugnisse wider. 49 Unter diesen Umständen verstößt Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40 nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung. 50 Sodann wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob das in Art. 7 Abs. 1 und 7 der Richtlinie 2014/40 aufgestellte Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen mit einem charakteristischen Aroma, deren unionsweiter Marktanteil weniger als 3 % einer bestimmten Erzeugniskategorie beträgt, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. 51 Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Handlungen der Unionsorgane zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen (Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat, C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 78). 52 In Bezug auf die gerichtliche Nachprüfung der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen geht aus der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervor, dass der Unionsgesetzgeber in einem Bereich wie dem hier betroffenen, in dem von ihm politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen verlangt werden und in dem er komplexe Beurteilungen vornehmen muss, über ein weites Ermessen verfügt. 53 Angesichts des mit dem Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen mit einem charakteristischen Aroma verfolgten Ziels ist festzustellen, dass dieses Verbot auch geeignet ist, einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit, besonders für junge Menschen, sicherzustellen. Es wird nämlich nicht bestritten, dass bestimmte Aromen insbesondere für junge Menschen attraktiv sind und den Einstieg in den Tabakkonsum erleichtern (Urteil vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat, C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 81 und 82). 54 Hierzu hat der Gerichtshof in den Urteilen vom 4. Mai 2016, Polen/Parlament und Rat (C‑358/14, EU:C:2016:323, Rn. 102), und vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a. (C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 190), ausgeführt, dass der Unionsgesetzgeber durch Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 die wirtschaftlichen Folgen des Verbots in Art. 7 der Richtlinie und das Erfordernis, bei einem durch gesundheitsschädliche Eigenschaften gekennzeichneten Erzeugnis einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit zu gewährleisten, miteinander in Ausgleich gebracht hat. 55 Somit ist festzustellen, dass das Verbot des Inverkehrbringens von Tabakerzeugnissen mit einem charakteristischen Aroma nicht offensichtlich über das zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderliche Maß hinausgeht. 56 Unter diesen Umständen verstößt Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40 nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. 57 Zudem ist zu den Zweifeln des vorlegenden Gerichts an der Vereinbarkeit von Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40 mit Art. 34 AEUV festzustellen, dass Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie zwar eine Beschränkung im Sinne von Art. 34 AEUV darstellt; sie ist jedoch nach den Ausführungen in Rn. 54 des vorliegenden Urteils durch die Abwägung der wirtschaftlichen Folgen des Verbots in Art. 7 der Richtlinie gegen das Erfordernis, einen hohen Schutz der menschlichen Gesundheit zu gewährleisten, gerechtfertigt und verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Folglich verstößt Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40 auch nicht gegen Art. 34 AEUV. 58 Nach alledem ist auf die Buchst. a bis c der ersten Frage zu antworten, dass die Prüfung dieser Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40 berühren könnte. Zu den Buchst. d und e der ersten Frage 59 Mit den Buchst. d und e der ersten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um die Auslegung des Begriffs „Erzeugniskategorie“ in Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 und um nähere Angaben dazu, wie festzustellen ist, ob bei einem bestimmten Tabakerzeugnis die in diesem Artikel vorgesehene 3%-Grenze erreicht ist. 60 Bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts sind nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 26. September 2018, Baumgartner, C‑513/17, EU:C:2018:772, Rn. 23). 61 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der in Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 verwendete Begriff „Erzeugniskategorie“ in ihrem Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) nicht definiert wird. 62 Sodann ist zum Zusammenhang von Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 festzustellen, dass nach ihrem Art. 7 Abs. 12 Zigaretten und Tabak zum Selbstdrehen die einzigen von den Verboten in Art. 7 Abs. 1 und 7 erfassten Tabakerzeugnisse sind. 63 Außerdem sind bei der Definition des Begriffs „neuartiges Tabakerzeugnis“ in Art. 2 Nr. 14 der Richtlinie 2014/40 Zigaretten und Tabak zum Selbstdrehen als gesonderte Kategorien von Tabakerzeugnissen aufgeführt. 64 Überdies wird Tabak zum Selbstdrehen im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie als Beispiel für eine „Erzeugniskategorie“ genannt. 65 Daher stellen Zigaretten ebenso wie Tabak zum Selbstdrehen eine „Erzeugniskategorie“ im Sinne von Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 dar. 66 Zu den mit Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie verfolgten Zielen geht aus ihrem 16. Erwägungsgrund hervor, dass der Verkauf von Erzeugnissen mit charakteristischen Aromen, die höhere Verkaufsmengen aufweisen, über einen längeren Zeitraum hinweg eingestellt werden sollte, um den Verbrauchern ausreichend Zeit zu geben, zu anderen Erzeugnissen zu wechseln. 67 Da die Auslegung, wonach Zigaretten ebenso wie Tabak zum Selbstdrehen eine „Erzeugniskategorie“ im Sinne von Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 darstellen, zu diesen Zielen nicht im Widerspruch steht und da eine Vermutung dafür spricht, dass gleiche Begriffe in der gleichen Handlung der Union die gleiche Bedeutung haben, ist der Begriff „Erzeugniskategorie“ im Sinne dieser Bestimmung nicht anders auszulegen als der gleiche Begriff in anderen Bestimmungen der Richtlinie. 68 Überdies geht in Bezug auf die Methode, anhand deren sich feststellen lässt, ob ein bestimmtes Tabakerzeugnis unionsweit die 3%-Grenze erreicht, ab der die in Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 vorgesehene Ausnahme zur Anwendung kommt, aus der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervor, dass es mangels einer Unionsregelung Sache der Mitgliedstaaten ist, eine zuverlässige Methode festzulegen, mit der die Einhaltung der Anforderung, die sich aus der genannten Vorschrift ergibt, sichergestellt werden kann. 69 Aus den Akten, über die der Gerichtshof verfügt, ergibt sich, dass die Bundesrepublik Deutschland im Einklang mit dieser Rechtsprechung Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 dadurch umgesetzt hat, dass sie in § 34 Abs. 3 der Verordnung über Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse vom 27. April 2016 (BGBl. 2016 I S. 980) vorgeschrieben hat, welche Aromen Tabakerzeugnisse enthalten müssen, damit das Verbot ihres Inverkehrbringens erst ab dem 20. Mai 2020 anzuwenden ist. 70 Angesichts dieser Erwägungen ist auf die Buchst. d und e der ersten Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Erzeugniskategorie“ im Sinne dieser Bestimmung Zigaretten und Tabak zum Selbstdrehen erfasst und dass das Verfahren, um festzustellen, ob ein bestimmtes Tabakerzeugnis die in dieser Bestimmung vorgesehene 3%-Grenze erreicht, im nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats zu regeln ist. Zur zweiten Frage Zu Buchst. a der zweiten Frage 71 Mit Buchst. a der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 8 bis 11 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen sind, dass sie es den Mitgliedstaaten gestatten, ergänzende Übergangsfristen neben den in Art. 29 Abs. 1 und in Art. 30 Buchst. a der Richtlinie vorgesehenen Fristen festzulegen. 72 Art. 29 Abs. 1 der Richtlinie 2014/40 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen, die erforderlich sind, um der Richtlinie bis zum 20. Mai 2016 nachzukommen, und dass sie diese Maßnahmen ab dem 20. Mai 2016 anwenden, wobei u. a. Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie davon unberührt bleibt. 73 Art. 30 („Übergangsbestimmung“) der Richtlinie sieht jedoch in Buchst. a vor, dass die Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen, die gemäß der Richtlinie 2001/37 vor dem 20. Mai 2016 hergestellt oder in den freien Verkehr gebracht und gekennzeichnet wurden, bis zum 20. Mai 2017 zulassen dürfen. 74 Dagegen sehen die Art. 8 bis 11 der Richtlinie 2014/40 keine Übergangsfristen vor, die an die Stelle der in den Art. 29 und 30 der Richtlinie vorgesehenen Fristen treten. 75 Angesichts dieser Erwägungen ist auf Buchst. a der zweiten Frage zu antworten, dass die Art. 8 bis 11 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen sind, dass sie es den Mitgliedstaaten nicht gestatten, ergänzende Übergangsfristen neben den in den Art. 29 und 30 der Richtlinie vorgesehenen Fristen festzulegen. Zu Buchst. b der zweiten Frage 76 Mit Buchst. b der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob im Fall der Verneinung von Buchst. a der zweiten Frage Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2, Abs. 4 Buchst. a Satz 2 und Abs. 6, Art. 10 Abs. 1 Buchst. b, e und f sowie Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen Art. 34 AEUV verstoßen. 77 Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Art. 9 Abs. 6 und Art. 10 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2014/40 die Festlegung bestimmter Kennzeichnungs- und Verpackungsvorgaben für Tabakerzeugnisse an die Kommission delegierten, ohne ihr dafür eine Frist zu setzen und ohne weiter gehende Übergangsregelungen oder ‑fristen vorzusehen, um sicherzustellen, dass den betroffenen Unternehmen ausreichend Zeit zur Anpassung an die Vorgaben der Richtlinie bleibe. 78 Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass die allgemeinen Rechtsgrundsätze, zu denen dieser Grundsatz zählt, Teil der Unionsrechtsordnung sind und daher von den Unionsorganen, aber auch von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Unionsrichtlinien übertragen, beachtet werden müssen (Urteil vom 2. Juni 2016, ROZ-ŚWIT, C‑418/14, EU:C:2016:400, Rn. 20). 79 Die Richtlinie 2014/40 ist nach ihrem Art. 32 am 19. Mai 2014 in Kraft getreten, während die Mitgliedstaaten verpflichtet waren, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um der Richtlinie nachzukommen, spätestens ab dem 20. Mai 2016 anzuwenden, wobei u. a. Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie davon unberührt blieb. 80 Die Frist von zwei Jahren, über die die Mitgliedstaaten verfügten, um die Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinie 2014/40 zu erlassen und sicherzustellen, dass den betroffenen Wirtschaftsteilnehmern ausreichend Zeit zur Anpassung an die Vorgaben der Richtlinie bleibt, reicht im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus. 81 Überdies dürfen die Mitgliedstaaten nach Art. 30 der Richtlinie 2014/40 bis zum 20. Mai 2017 das Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen zulassen, die gemäß der Richtlinie 2001/37 vor dem 20. Mai 2016 hergestellt oder in den freien Verkehr gebracht und gekennzeichnet wurden. 82 Zur Frage, ob Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2, Abs. 4 Buchst. a Satz 2 und Abs. 6, Art. 10 Abs. 1 Buchst. b, e und f sowie Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 gegen Art. 34 AEUV verstoßen, ist festzustellen, dass der Grundsatz des freien Warenverkehrs Einfuhr‑, Ausfuhr- und Durchfuhrverboten oder ‑beschränkungen nicht entgegensteht, die u. a. zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen gerechtfertigt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2004, Swedish Match, C‑210/03, EU:C:2004:802, Rn. 60). 83 Folglich stehen die Bestimmungen von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2, Abs. 4 Buchst. a Satz 2 und Abs. 6, von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b, e und f sowie von Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und mit Art. 34 AEUV im Einklang. 84 Unter diesen Umständen ist auf Buchst. b der zweiten Frage zu antworten, dass die Prüfung dieser Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2, Abs. 4 Buchst. a Satz 2 und Abs. 6, von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b, e und f sowie von Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 berühren könnte. Zur dritten Frage Zu Buchst. a der dritten Frage 85 Mit Buchst. a der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen ist, dass er den Mitgliedstaaten aufgibt, die Verwendung auf den Geschmack, Geruch, Aroma- oder sonstige Zusatzstoffe bezogener Informationen auch dann zu verbieten, wenn es sich um nicht werbliche Informationen handelt und die Verwendung der betreffenden Inhaltsstoffe weiterhin erlaubt ist. 86 Nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 dürfen die Kennzeichnung der Packung und der Außenverpackung sowie das Tabakerzeugnis selbst weder Elemente noch Merkmale aufweisen, die sich auf den Geschmack, Geruch, eventuelle Aromastoffe oder sonstige Zusatzstoffe oder auf deren Fehlen beziehen. Diese Elemente und Merkmale können u. a. durch Texte, Symbole, Namen, Markennamen, figurative und sonstige Zeichen repräsentiert werden. 87 Da nach dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2014/40 Tabakerzeugnisse „weder Elemente noch Merkmale“ aufweisen dürfen, die sich auf „Aromastoffe“„beziehen“, und da nach dem Wortlaut von Art. 13 Abs. 3 der Richtlinie diese Elemente und Merkmale u. a. Texte, Symbole, Namen, Markennamen, figurative und sonstige Zeichen sein können, die nicht werblicher Art sind, ist davon auszugehen, dass der Unionsgesetzgeber nicht zwischen werblichen Informationen und nicht werblichen Informationen unterscheiden wollte. Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 20 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie, anders als in deren Art. 13, ausdrücklich vorgeschrieben hat, dass die Packungen und die Außenverpackung von elektronischen Zigaretten und Nachfüllbehältern keine der in Art. 13 der Richtlinie 2014/40 genannten Elemente oder Merkmale enthalten; davon ausgenommen sind nach Art. 13 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie Informationen, die sich auf Aromastoffe oder auf deren Fehlen beziehen. 88 Überdies lassen sich, wie der Generalanwalt in Nr. 78 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, Tabakerzeugnisse mit einem charakteristischen Aroma nach wie vor von anderen Tabakerzeugnissen unterscheiden, sofern sie nicht eines der in Art. 13 Abs. 1 Buchst. a bis e der Richtlinie genannten Elemente verwenden. 89 Außerdem ist angesichts der Feststellung des Gerichtshofs im Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a. (C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 141), dass das Verbot von Elementen oder Merkmalen, die sich auf eventuelle Aromastoffe beziehen, unabhängig davon gilt, ob die fraglichen Informationen inhaltlich zutreffen, davon auszugehen, dass sich dieses Verbot auch auf nicht werbliche Informationen unter Angabe der Inhaltsstoffe bezieht, deren Verwendung die Richtlinie 2014/40 erlaubt. 90 Folglich ist Art. 13 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten aufgibt, die Verwendung auf den Geschmack, Geruch, Aroma- oder sonstige Zusatzstoffe bezogener Informationen auch dann zu verbieten, wenn es sich um nicht werbliche Informationen handelt und die Verwendung der betreffenden Inhaltsstoffe weiterhin erlaubt ist. Zu Buchst. b der dritten Frage 91 Mit Buchst. b der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2014/40 aufgrund der darin vorgesehenen erheblichen Beschränkungen der Verwendung von Markennamen gegen Art. 17 der Charta verstößt. 92 Das in Art. 17 der Charta verankerte Eigentumsrecht erstreckt sich nach Art. 17 Abs. 2 auch auf das geistige Eigentum. 93 Durch das Verbot, auf der Kennzeichnung der Packung und der Außenverpackung sowie dem Tabakerzeugnis selbst Markennamen anzugeben, die sich auf eventuelle Aromastoffe beziehen, beschränkt Art. 13 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2014/40 in Verbindung mit deren Art. 13 Abs. 3 die Verwendung dieser Marken. 94 Das Eigentumsrecht ist jedoch nicht schrankenlos gewährleistet, sondern muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Januar 2013, Križan u. a., C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 113). 95 Diese Erwägung spiegelt sich vor allem darin wider, auf welche Weise nach Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu handhaben ist (Urteil vom 22. Januar 2013, Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 47). 96 Nach der letztgenannten Bestimmung muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein, deren Wesensgehalt achten, unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 160). 97 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Beschränkung der Verwendung von Markennamen in der Richtlinie 2014/40 festgelegt worden ist und dass sie nur die Verwendung der Marken durch die Hersteller auf der Kennzeichnung der Packung und der Außenverpackung sowie dem Tabakerzeugnis selbst betrifft und ihr Markenrecht somit nicht in seinem Wesensgehalt antastet. Dies soll einen erhöhten Schutz der Gesundheit bei der Beseitigung der Hemmnisse gewährleisten, die sich aus den nationalen Etikettierungsvorschriften ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco [Investments] und Imperial Tobacco, C‑491/01, EU:C:2002:741, Rn. 150). 98 Die Richtlinie 2014/40 lässt nämlich die Freiheit der Inhaber der unter ihren Art. 13 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 fallenden Markennamen unberührt, sie in jeder anderen als der von diesen Bestimmungen erfassten Weise zu nutzen, etwa beim Großhandelsverkauf. Folglich kommt die in Rn. 93 des vorliegenden Urteils angesprochene Beschränkung der Verwendung von Markennamen nicht einem Entzug des Eigentums gleich. 99 Außerdem ist, da Tabakerzeugnisse, die ein charakteristisches Aroma haben, nach den Angaben im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/40 den Einstieg in den Tabakkonsum erleichtern oder die Konsumgewohnheiten beeinflussen, das Verbot, auf der Kennzeichnung der Packung und der Außenverpackung sowie dem Tabakerzeugnis selbst Marken anzubringen, die sich auf einen Aromastoff beziehen, geeignet, ihre Anziehungskraft zu verringern, und entspricht den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen, indem es dazu beiträgt, einen hohen Schutz der öffentlichen Gesundheit zu gewährleisten. 100 Folglich hat die Prüfung der dritten Frage nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 13 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 berühren könnte. Kosten 101 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Prüfung der ersten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 7 Abs. 1, 7 und 14 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG berühren könnte. 2. Art. 7 Abs. 14 der Richtlinie 2014/40 ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Erzeugniskategorie“ im Sinne dieser Bestimmung Zigaretten und Tabak zum Selbstdrehen erfasst und dass das Verfahren, um festzustellen, ob ein bestimmtes Tabakerzeugnis die in dieser Bestimmung vorgesehene 3%-Grenze erreicht, im nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats zu regeln ist. 3. Die Art. 8 bis 11 der Richtlinie 2014/40 sind dahin auszulegen, dass sie es den Mitgliedstaaten nicht gestatten, ergänzende Übergangsfristen neben den in den Art. 29 und 30 der Richtlinie vorgesehenen Fristen festzulegen. 4. Die Prüfung der zweiten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2, Abs. 4 Buchst. a Satz 2 und Abs. 6, von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b, e und f sowie von Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2014/40 berühren könnte. 5. Art. 13 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 ist dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten aufgibt, die Verwendung auf den Geschmack, Geruch, Aroma- oder sonstige Zusatzstoffe bezogener Informationen auch dann zu verbieten, wenn es sich um nicht werbliche Informationen handelt und die Verwendung der betreffenden Inhaltsstoffe weiterhin erlaubt ist. 6. Die Prüfung der dritten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 13 Abs. 1 Buchst. c und Abs. 3 der Richtlinie 2014/40 berühren könnte. Silva de Lapuerta Arabadjiev Regan Fernlund Rodin Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. Januar 2019. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 26. September 2018.#X und Y gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie.#Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State (Niederlande).#Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 46 – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 13 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Grundsatz der Nichtzurückweisung – Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird – Nationale Regelung, die einen zweiten Rechtszug vorsieht – Auf die Klage beschränkte aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes.#Rechtssache C-180/17.
62017CJ0180
ECLI:EU:C:2018:775
2018-09-26T00:00:00
Bot, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62017CJ0180 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 26. September 2018 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 46 – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 13 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Grundsatz der Nichtzurückweisung – Entscheidung, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird – Nationale Regelung, die einen zweiten Rechtszug vorsieht – Auf die Klage beschränkte aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes“ In der Rechtssache C‑180/17 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 29. März 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2017, in dem Verfahren X, Y gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter), der Richter C. Vajda und E. Juhász, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos, Generalanwalt: Y. Bot, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Y und X, vertreten durch J. Pieters, advocaat, – der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer, M. K. Bulterman und H. S. Gijzen als Bevollmächtigte, – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und C. Van Lul als Bevollmächtigte, – der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, M. Condou-Durande und G. Wils als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Januar 2018 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) und Art. 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) im Licht von Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und Y einerseits und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) andererseits wegen der Ablehnung ihrer Anträge auf internationalen Schutz und gegen sie ergangener Rückkehrentscheidungen. Rechtlicher Rahmen Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge 3 Art. 33 („Verbot der Ausweisung und Zurückweisung“) Abs. 1 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 137, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzten Fassung (im Folgenden: Genfer Konvention) sieht vor: „Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“ EMRK 4 Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt in Art. 3 („Verbot der Folter“): „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ 5 Art. 13 EMRK bestimmt: „Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.“ Unionsrecht Richtlinie 2013/32 6 In den Erwägungsgründen 12 und 60 der Richtlinie 2013/32 heißt es: „(12) Hauptziel dieser Richtlinie ist die Weiterentwicklung der Normen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes im Hinblick auf die Einführung eines gemeinsamen Asylverfahrens in der Union. … (60) Diese Richtlinie steht in Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die mit der Charta anerkannt wurden. …“ 7 Art. 3 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie bestimmt in Abs. 1: „Diese Richtlinie gilt für alle Anträge auf internationalen Schutz, die im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze, in den Hoheitsgewässern oder in den Transitzonen – der Mitgliedstaaten gestellt werden, sowie für die Aberkennung des internationalen Schutzes.“ 8 Art. 46 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“) dieser Richtlinie sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht haben gegen a) eine Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz, einschließlich einer Entscheidung, i) einen Antrag als unbegründet in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft und/oder den subsidiären Schutzstatus zu betrachten; … (3)   Zur Einhaltung des Absatzes 1 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der wirksame Rechtsbehelf eine umfassende Ex-nunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie 2011/95/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9, und Berichtigung ABl. 2017, L 167, S. 58)] zumindest in Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht beurteilt wird. … (5)   Unbeschadet des Absatzes 6 gestatten die Mitgliedstaaten den Antragstellern den Verbleib im Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf. (6)   Im Fall einer Entscheidung, a) einen Antrag im Einklang mit Artikel 32 Absatz 2 als offensichtlich unbegründet oder nach Prüfung gemäß Artikel 31 Absatz 8 als unbegründet zu betrachten, es sei denn, diese Entscheidungen sind auf die in Artikel 31 Absatz 8 Buchstabe h aufgeführten Umstände gestützt, b) einen Antrag gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstaben a, b oder d als unzulässig zu betrachten, c) die Wiedereröffnung des nach Artikel 28 eingestellten Verfahrens des Antragstellers abzulehnen oder d) gemäß Artikel 39 den Antrag nicht oder nicht umfassend zu prüfen, ist das Gericht befugt, entweder auf Antrag des Antragstellers oder von Amts wegen darüber zu entscheiden, ob der Antragsteller im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats verbleiben darf, wenn die Entscheidung zur Folge hat, das Recht des Antragstellers auf Verbleib in dem Mitgliedstaat zu beenden und wenn in diesen Fällen das Recht auf Verbleib in dem betreffenden Mitgliedstaat bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf im nationalen Recht nicht vorgesehen ist. …“ Richtlinie 2008/115 9 Die Erwägungsgründe 2, 4 und 24 der Richtlinie 2008/115 lauten: „(2) Auf seiner Tagung am 4. und 5. November 2004 in Brüssel forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden. … (4) Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden. … (24) Die Richtlinie wahrt die Grundrechte und Grundsätze, die vor allem in der [Charta] verankert sind.“ 10 Gemäß ihrem Art. 2 Abs. 1 findet diese Richtlinie auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige Anwendung. 11 Art. 3 der Richtlinie bestimmt: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke … 4. ‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird; …“ 12 Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht vor: „Rückkehrentscheidungen sowie – gegebenenfalls – Entscheidungen über ein Einreiseverbot oder eine Abschiebung ergehen schriftlich und enthalten eine sachliche und rechtliche Begründung sowie Informationen über mögliche Rechtsbehelfe. …“ 13 Art. 13 („Rechtsbehelfe“) dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen. (2)   Die in Absatz 1 genannte Behörde oder dieses Gremium ist befugt, Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 zu überprüfen, und hat auch die Möglichkeit, ihre Vollstreckung einstweilig auszusetzen, sofern eine einstweilige Aussetzung nicht bereits im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften anwendbar ist. …“ Niederländisches Recht 14 Nach niederländischem Recht haben Klagen bei der Rechtbank (Gericht erster Instanz, Niederlande) gegen Entscheidungen des Staatssekretärs für Sicherheit und Justiz im Bereich internationaler Schutz kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung. Gegen ein Urteil der Rechtbank (Gericht erster Instanz), das eine Entscheidung bestätigt, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird, kann zwar ein Rechtsmittel eingelegt werden, doch hat dieses nicht kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung. Allerdings kann der Betroffene beim Voorzieningenrechter (für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständiger Richter) des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) einstweilige Anordnungen beantragen, um insbesondere zu verhindern, dass er vor dem Abschluss des Rechtsmittelverfahrens abgeschoben wird. Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes selbst hat keine aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 15 Gegen X und Y, die russische Staatsangehörige sind, ergingen Bescheide, mit denen ihr Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt und ihnen eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wurde. Ihre bei der Rechtbank Den Haag (Gericht Den Haag, Niederlande) erhobenen Klagen gegen diese Bescheide wurden abgewiesen. Daraufhin legten X und Y ein Rechtsmittel beim Raad van State (Staatsrat) ein. Da dieses Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes hat, beantragten sie beim vorlegenden Gericht im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes den Erlass einer einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung in der Sache. Das Gericht gab diesem Antrag statt und verfügte, dass X und Y bis zur Entscheidung im Rechtsmittelverfahren nicht abgeschoben werden dürften. In der Vorlageentscheidung führt es allerdings aus, der Erlass dieser Anordnung sei damit begründet worden, dass verhindert werden solle, dass X und Y abgeschoben würden, bevor sich der Gerichtshof zu den Vorlagefragen habe äußern können. Es werde über die Aufrechterhaltung dieser Anordnung nach Maßgabe der Antworten des Gerichtshofs entscheiden. 16 Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist Art. 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 4, Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass ein Rechtsmittel, sofern das nationale Recht in Verfahren gegen einen Bescheid, in dem eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Abs. 4 dieser Richtlinie enthalten ist, ein solches vorsieht, nach Unionsrecht automatisch aufschiebende Wirkung haben muss, wenn der Drittstaatsangehörige vorträgt, die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung berge die ernsthafte Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung? Mit anderen Worten: Hat die Ausweisung des betroffenen Drittstaatsangehörigen in einem solchen Fall während der Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels oder – wenn ein Rechtsmittel eingelegt worden ist – bis zur Entscheidung über dieses Rechtsmittel zu unterbleiben, ohne dass der betroffene Drittstaatsangehörige dies gesondert zu beantragen braucht? 2. Ist Art. 46 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 4, Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass ein Rechtsmittel, sofern das nationale Recht in Verfahren über die Ablehnung eines Antrags auf Zuerkennung internationalen Schutzes ein solches vorsieht, nach Unionsrecht automatisch aufschiebende Wirkung haben muss? Mit anderen Worten: Hat die Ausweisung eines Antragstellers in einem solchen Fall während der Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels oder – wenn ein Rechtsmittel eingelegt worden ist – bis zur Entscheidung über dieses Rechtsmittel zu unterbleiben, ohne dass der Antragsteller dies gesondert zu beantragen braucht? 3. Ist es für das Bestehen einer automatisch aufschiebenden Wirkung im vorstehenden Sinne noch relevant, ob der Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes, der Anlass für das Klage- und das anschließende Rechtsmittelverfahren war, aus einem der in Art. 46 Abs. 6 der Richtlinie 2013/32 genannten Gründe abgelehnt worden ist? Oder gilt das Erfordernis für alle in dieser Richtlinie genannten Kategorien von Asylbescheiden? Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 17 Die belgische Regierung macht geltend, der Gerichtshof sei für die Beantwortung der gestellten Fragen nicht zuständig, da es in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle, ob gegen erstinstanzliche Entscheidungen über Bescheide wie die im Ausgangsverfahren streitigen ein Rechtsmittel zu schaffen und mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung auszustatten sei. 18 Hierzu ist festzustellen, dass Art. 46 der Richtlinie 2013/32 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen wie die in den Ausgangsverfahren streitigen regeln, mit denen die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten Anträge auf internationalen Schutz ablehnen und Antragstellern eine Rückkehrverpflichtung auferlegen. 19 Die Frage, ob ausschließlich die Mitgliedstaaten dafür zuständig sind, ein Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Urteile, die zu solchen Entscheidungen ergehen, zu schaffen und mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung auszustatten, ist untrennbar mit den Antworten auf die gestellten Fragen verbunden, die gerade die Tragweite des Rechts auf einen Rechtsbehelf nach Art. 46 der Richtlinie 2013/32 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht der Garantien in Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta betreffen. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Beantwortung dieser Fragen zuständig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. März 2017, X und X, C‑638/16 PPU, EU:C:2017:173, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zu den Vorlagefragen Zur ersten und zur zweiten Frage 20 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 46 der Richtlinie 2013/32 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zwar ein Rechtsmittel gegen ein erstinstanzliches Urteil, das eine Entscheidung bestätigt, mit dem ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird, vorsieht, diesen Rechtsbehelf jedoch nicht mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung ausstattet, obwohl der Betroffene die ernsthafte Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung geltend macht. 21 Nach Art. 46 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht u. a. gegen ablehnende Entscheidungen über ihren Antrag auf internationalen Schutz haben. Nach Art. 46 Abs. 3 dieser Richtlinie stellen die Mitgliedstaaten zur Einhaltung dieses Rechts sicher, dass der wirksame Rechtsbehelf eine umfassende Ex‑nunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie 2011/95 zumindest in Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht beurteilt wird. Gemäß Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 gestatten die Mitgliedstaaten unbeschadet des Abs. 6 dieses Artikels den Antragstellern den Verbleib im Hoheitsgebiet bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts der Antragsteller auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf. 22 Nach Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 haben die betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Rückkehrentscheidungen einzulegen. 23 Somit verpflichten die Bestimmungen der Richtlinien 2013/32 und 2008/115 die Mitgliedstaaten zwar, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen abschlägige Entscheidungen über einen Antrag auf internationalen Schutz und gegen Rückkehrentscheidungen vorzusehen; keine dieser Bestimmungen sieht jedoch vor, dass die Mitgliedstaaten internationalen Schutz beantragenden Personen, deren Klage gegen die Ablehnung ihres Antrags und die Rückkehrentscheidung abgewiesen wurde, ein Rechtsmittel gewähren müssen, und erst recht nicht, dass ein solches Rechtsmittel kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung haben muss. 24 Solche Anforderungen lassen sich auch nicht aus der Systematik und dem Zweck dieser Richtlinien ableiten. Deren Hauptziel ist nämlich, wie aus dem zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 hervorgeht, die Weiterentwicklung der Normen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes im Hinblick auf die Einführung eines gemeinsamen Asylverfahrens in der Union und, wie sich aus den Erwägungsgründen 2 und 4 der Richtlinie 2008/115 ergibt, die Einführung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik unter vollständiger Achtung der Grundrechte und der Würde der Betroffenen (vgl. zur Richtlinie 2008/115 Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). Den Erwägungsgründen dieser Richtlinien lässt sich dagegen nicht entnehmen, dass diese die Mitgliedstaaten zur Schaffung eines zweiten Rechtszugs verpflichten sollen. 25 Ferner bezieht sich, was die Richtlinie 2013/32 betrifft, die Vorgabe, dass der Rechtsbehelf wirksam sein muss, nach Art. 46 Abs. 3 dieser Richtlinie ausdrücklich auf „Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht“. Soweit danach eine umfassende Ex‑nunc-Prüfung erforderlich ist, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt, betrifft diese Vorgabe ausschließlich den Ablauf des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens. Sie kann daher nicht mit Blick auf das Ziel dieser Richtlinie dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten zur Schaffung eines zweiten Rechtszugs verpflichtet wären oder dass dieser in bestimmter Weise auszugestalten wäre. 26 Somit hindert das Unionsrecht, wie das Wort „zumindest“ in Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 in Bezug auf Entscheidungen, mit denen ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt wird, bestätigt, die Mitgliedstaaten zwar nicht daran, für Rechtsbehelfe gegen abschlägige Entscheidungen über einen Antrag auf internationalen Schutz und gegen Rückkehrentscheidungen einen zweiten Rechtszug vorzusehen. Die Richtlinien 2013/32 und 2008/115 enthalten jedoch keine Vorschriften über die Schaffung und Ausgestaltung eines solchen Rechtszugs. Insbesondere lassen, wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge ausführt, weder der Wortlaut noch die Systematik oder der Zweck dieser Richtlinien den Schluss zu, dass, wenn ein Mitgliedstaat einen zweiten Rechtszug gegen derartige Entscheidungen vorsieht, das damit geschaffene Rechtsmittelverfahren dem vom Antragsteller eingelegten Rechtsmittel zwingend kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung verleihen muss. 27 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 ebenso wie die Richtlinie 2013/32, wie sich aus dem 24. Erwägungsgrund der Ersteren und dem 60. Erwägungsgrund der Letzteren ergibt, unter Beachtung der insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte und Grundsätze auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 51). 28 Wenn ein Staat entscheidet, eine Person, die internationalen Schutz beantragt, in ein Land abzuschieben, bei dem ernsthafte Gründe befürchten lassen, dass tatsächlich die Gefahr einer Art. 18 der Charta in Verbindung mit Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge in der durch das entsprechende Protokoll geänderten Fassung oder Art. 19 Abs. 2 der Charta widersprechenden Behandlung dieser Person besteht, verlangt das in Art. 47 der Charta vorgesehene Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass der Antragsteller über einen Rechtsbehelf mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung gegen den Vollzug der Maßnahme verfügt, die seine Abschiebung ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 54). 29 Der Gerichtshof hat ferner präzisiert, dass bei einer Rückkehrentscheidung und einer etwaigen Abschiebungsentscheidung der mit dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und dem Grundsatz der Nichtzurückweisung verbundene Schutz dadurch zu gewährleisten ist, dass der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, das Recht zuzuerkennen ist, vor mindestens einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen, der kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat. Außerdem haben die Mitgliedstaaten zu gewährleisten, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz seine volle Wirksamkeit entfaltet, indem sie während der Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs und, falls er eingelegt wird, bis zur Entscheidung über ihn alle Wirkungen der Rückkehrentscheidung aussetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 56, 58 und 61 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss vom 5. Juli 2018, C u. a., C‑269/18 PPU, EU:C:2018:544, Rn. 50). 30 Allerdings schreibt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Art. 47 der Charta im Licht der in ihrem Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 enthaltenen Garantien ebenso wenig wie Art. 46 der Richtlinie 2013/32 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 vor, dass es zwei Rechtszüge geben muss. Denn allein entscheidend ist, dass es einen Rechtsbehelf vor einem Gericht gibt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Juli 2011, Samba Diouf, C‑69/10, EU:C:2011:524, Rn. 69, und vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 57). 31 In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass mit Art. 52 Abs. 3 der Charta, soweit diese Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta verankerten Rechten und den entsprechenden, durch die EMRK garantierten Rechten geschaffen werden soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 47, und vom 14. September 2017, K., C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach den Erläuterungen zu Art. 47 der Charta stützt sich dessen Abs. 1 auf Art. 13 EMRK. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 1 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 13 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (vgl. entsprechend Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 77, und vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 62). 32 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verlangt Art. 13 EMRK aber selbst dann, wenn geltend gemacht wird, dass die Abschiebung den Betroffenen einer echten Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung aussetzt, von den Hohen Vertragsparteien weder, zwei Rechtszüge zu schaffen, noch gegebenenfalls das Rechtsmittel mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung auszustatten (vgl. in diesem Sinne EGMR, 5. Juli 2016, A. M./Niederlande, CE:ECHR:2016:0705JUD002909409, Rn. 70). 33 Daraus folgt, dass sich der Schutz, den Art. 46 der Richtlinie 2013/32 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta einer internationalen Schutz beantragenden Person gegen eine Entscheidung gewährt, mit der ihr Antrag abgelehnt und ihr eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird, auf einen einzigen gerichtlichen Rechtsbehelf beschränkt. 34 Die Schaffung eines zweiten Rechtszugs gegen abschlägige Entscheidungen über einen Antrag auf internationalen Schutz und gegen Rückkehrentscheidungen sowie die Entscheidung, ihn gegebenenfalls mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung auszustatten, sind – entgegen dem in Rn. 17 des vorliegenden Urteils angeführten Vorbringen der belgischen Regierung – Verfahrensmodalitäten zur Umsetzung des in Art. 46 der Richtlinie 2013/32 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen solche Entscheidungen. Solche Verfahrensmodalitäten unterliegen nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten zwar ihrer jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung, müssen aber, wie der Gerichtshof hervorgehoben hat, die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität wahren (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Juli 2014, Sánchez Morcillo und Abril García, C‑169/14, EU:C:2014:2099, Rn. 31, 36 und 50 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie Beschluss vom 16. Juli 2015, Sánchez Morcillo und Abril García, C‑539/14, EU:C:2015:508, Rn. 33). 35 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die die dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte schützen sollen, nicht weniger günstig sein als die für entsprechende innerstaatliche Klagen (Grundsatz der Äquivalenz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität) (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2014, Kone u. a., C‑557/12, EU:C:2014:1317, Rn. 25, und vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Bei der Prüfung der Frage, ob die Anforderungen in Bezug auf die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität erfüllt sind, sind die Stellung der betroffenen Vorschriften im gesamten Verfahren, dessen Ablauf und die Besonderheiten dieser Vorschriften vor den verschiedenen nationalen Stellen zu berücksichtigen (Urteile vom 1. Dezember 1998, Levez, C‑326/96, EU:C:1998:577, Rn. 44, und vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung). 37 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Äquivalenzgrundsatz die Gleichbehandlung auf einen Verstoß gegen das nationale Recht gestützter Rechtsbehelfe und entsprechender, auf einen Verstoß gegen das Unionsrecht gestützter Rechtsbehelfe, nicht aber die Gleichwertigkeit nationaler Verfahrensvorschriften, die für Streitsachen unterschiedlicher Natur gelten (Urteil vom 6. Oktober 2015, Târşia, C‑69/14, EU:C:2015:662, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Somit ist erstens zu ermitteln, welche Verfahren oder Rechtsbehelfe miteinander zu vergleichen sind, und zweitens festzustellen, ob die auf das nationale Recht gestützten Rechtsbehelfe günstiger behandelt werden als die Rechtsbehelfe, mit denen die den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte durchgesetzt werden sollen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Februar 2015, Baczó und Vizsnyiczai, C‑567/13, EU:C:2015:88, Rn. 45, und vom 9. November 2017, Dimos Zagoriou, C‑217/16, EU:C:2017:841, Rn. 19). 39 Was die Vergleichbarkeit der Rechtsbehelfe angeht, ist es Sache des nationalen Gerichts mit seiner unmittelbaren Kenntnis der anwendbaren Verfahrensmodalitäten, die Gleichartigkeit der betreffenden Rechtsbehelfe unter dem Gesichtspunkt ihres Gegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Merkmale zu prüfen (Urteile vom 27. Juni 2013, Agrokonsulting-04, C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 39, und vom 9. November 2017, Dimos Zagoriou, C‑217/16, EU:C:2017:841, Rn. 20). 40 Was die vergleichbare Behandlung der Rechtsbehelfe angeht, hat das nationale Gericht bei der Untersuchung jedes Falles, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift für auf Unionsrecht gestützte Rechtsbehelfe ungünstiger ist als diejenigen, die vergleichbare Rechtsbehelfe des innerstaatlichen Rechts betreffen, die Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, den Verfahrensablauf und die Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2017, Dimos Zagoriou, C‑217/16, EU:C:2017:841, Rn. 21). 41 Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung aus, dass das niederländische Recht in manchen Bereichen des Verwaltungsrechts, nicht aber dem des internationalen Schutzes, Rechtsmittel mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung ausstatte. Es ist allerdings festzustellen, dass keiner der Beteiligten, die Erklärungen beim Gerichtshof abgegeben haben, Zweifel daran geäußert hat, dass die im Ausgangsverfahren streitige nationale Regelung den Äquivalenzgrundsatz wahrt. Jedenfalls enthält die dem Gerichtshof vorliegende Akte keine Anhaltspunkte, anhand deren sich beurteilen ließe, ob die in diesen Bereichen eingelegten Rechtsmittel nach ihrem Gegenstand, ihrem Rechtsgrund und ihren wesentlichen Merkmalen mit dem im Ausgangsverfahren fraglichen Rechtsmittel vergleichbar sind oder ob sie unter Berücksichtigung der in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführten Gesichtspunkte günstiger sind als dieses. 42 Unter diesen Umständen ist es Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung der in den Rn. 36 bis 41 des vorliegenden Urteils angeführten Gesichtspunkte zu prüfen, ob der Äquivalenzgrundsatz gewahrt wurde (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2017, Dimos Zagoriou, C‑217/16, EU:C:2017:841, Rn. 24). 43 Was den Effektivitätsgrundsatz betrifft, so verlangt dieser hier nicht mehr als die Wahrung der Grundrechte der Charta, insbesondere des Rechts auf einen wirksamen Rechtsschutz. Da sich aus Rn. 30 des vorliegenden Urteils ergibt, dass Art. 47 im Licht der Garantien in Art. 18 und Art. 19 Abs. 2 der Charta nur verlangt, dass eine internationalen Schutz beantragende Person, deren Antrag abgelehnt wurde und gegen die eine Rückkehrentscheidung ergangen ist, ihre Rechte vor einem Gericht wirksam geltend machen kann, lässt der bloße Umstand, dass ein im nationalen Recht vorgesehener zusätzlicher Rechtszug nicht kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat, nicht den Schluss zu, dass der Effektivitätsgrundsatz verletzt wurde. 44 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 46 der Richtlinie 2013/32 und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die zwar ein Rechtsmittel gegen ein erstinstanzliches Urteil, das eine Entscheidung bestätigt, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird, vorsieht, diesen Rechtsbehelf jedoch nicht mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung ausstattet, obwohl der Betroffene die ernsthafte Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung geltend macht. Zur dritten Frage 45 In Anbetracht der Antwort auf die erste und die zweite Frage ist die dritte Frage nicht zu beantworten. Kosten 46 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und Art. 13 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sind im Licht von Art. 18, Art. 19 Abs. 2 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die zwar ein Rechtsmittel gegen ein erstinstanzliches Urteil, das eine Entscheidung bestätigt, mit der ein Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt wird, vorsieht, diesen Rechtsbehelf jedoch nicht mit kraft Gesetzes aufschiebender Wirkung ausstattet, obwohl der Betroffene die ernsthafte Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung geltend macht. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 15. Dezember 2016.#Königreich Spanien gegen Europäische Kommission.#Zollunion – Einfuhr von Thunfischerzeugnissen aus El Salvador – Nacherhebung von Einfuhrabgaben – Antrag auf Nichterhebung von Einfuhrabgaben – Art. 220 Abs. 2 Buchst. b und Art. 236 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 – Recht auf eine gute Verwaltung im Rahmen des Art. 872a der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 – Vernünftigerweise nicht zu erkennender Irrtum der zuständigen Behörden.#Rechtssache T-466/14.
62014TJ0466
ECLI:EU:T:2016:742
2016-12-15T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62014TJ0466 URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer) 15. Dezember 2016 (*1) „Zollunion — Einfuhr von Thunfischerzeugnissen aus El Salvador — Nacherhebung von Einfuhrabgaben — Antrag auf Nichterhebung von Einfuhrabgaben — Art. 220 Abs. 2 Buchst. b und Art. 236 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 — Recht auf eine gute Verwaltung im Rahmen des Art. 872a der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 — Vernünftigerweise nicht zu erkennender Irrtum der zuständigen Behörden“ In der Rechtssache T‑466/14 Königreich Spanien, zunächst vertreten durch A. Rubio González, dann durch V. Ester Casas, abogado del Estado, Kläger, gegen Europäische Kommission, vertreten durch P. Arenas, A. Caeiros und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte, Beklagte, wegen eines auf Art. 263 AEUV gestützten Antrags auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2014) 2363 final der Kommission vom 14. April 2014 zur Feststellung, dass in einem Einzelfall der Erlass von Einfuhrabgaben für einen bestimmten Betrag gerechtfertigt und für einen anderen Betrag nicht gerechtfertigt ist (Sache REM 02/2013), soweit darin festgestellt wird, dass der Erlass der Einfuhrabgaben in Höhe von 14417193,41 Euro nicht gerechtfertigt ist, erlässt DAS GERICHT (Fünfte Kammer) zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten A. Dittrich sowie des Richters J. Schwarcz (Berichterstatter) und der Richterin V. Tomljenović, Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. April 2016 folgendes Urteil Sachverhalt 1 Zwischen 2007 und 2009 führten zwei in Spanien niedergelassene Gesellschaften des Calvo-Konzerns, die Calvo Conservas, SL und die Calvo Distribución Alimentaria, SL (im Folgenden zusammen: Zollschuldner), Erzeugnisse aus der Thunfischverarbeitung nach Spanien ein, nämlich Thunfisch in Dosen und gefrorene Thunfischfilets, als deren Ursprungsland El Salvador angegeben wurde (im Folgenden: streitige Einfuhren). 2 Der Zollschuldner beantragte bei den spanischen Zollbehörden, auf die streitigen Einfuhren das Schema allgemeiner Zollpräferenzen (im Folgenden: APS) anzuwenden – was die Aussetzung des Gemeinsamen Zolltarifs zum Satz von 24 % bedeutete –, indem er Ursprungszeugnisse nach Formblatt A vorlegte, die von den Zollbehörden von El Salvador ausgestellt und auf Antrag des Ausführers, einer anderen Gesellschaft des Calvo-Konzerns, erteilt worden waren, der Calvo Conservas El Salvador, SA de C.V., die bei den Zollbehörden von El Salvador die Bescheinigungen zum Nachweis des Ursprungs der Erzeugnisse für die Zwecke des APS eingereicht hatte. 3 Auf der Grundlage der vom Zollschuldner vorgelegten Ursprungszeugnisse erkannten die spanischen Zollbehörden den salvadorianischen Ursprung der Erzeugnisse an und gaben dem Antrag des Zollschuldners auf Gewährung der Zollpräferenzbehandlung für die streitigen Einfuhren statt. 4 Vom 8. bis 20. November 2009 führten Vertreter des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) und mehrerer Mitgliedstaaten der Europäischen Union wegen des Verdachts des Betrugs bei der Einfuhr verarbeiteter Thunfischerzeugnisse eine Untersuchungsmission in El Salvador durch. 5 Aus den Prüfberichten des OLAF vom 2. Juni und 7. Dezember 2009 sowie aus dem abschließenden Bericht vom 16. September 2010 geht hervor, dass die APS-Regeln nicht beachtet worden waren. Mehrere Unregelmäßigkeiten bezüglich des Ursprungs der streitigen Einfuhren wurden aufgedeckt. Diese Unregelmäßigkeiten betrafen die Verwendung von Ursprungszeugnissen, die den Zwecken des APS nicht entsprachen, die Nichterfüllung der Voraussetzung, dass die Besatzung der Schiffe zu mindestens 75 % aus Staatsangehörigen des begünstigten Landes oder von Mitgliedstaaten bestehen muss, damit das Schiff als zur Nationalität des begünstigten Landes gehörig gilt, und die Verwendung zweier Flaggen – der salvadorianischen und der seychellischen – durch die dem Calvo-Konzern gehörenden Thunfischfänger Montelape und Montealegre, so dass diese beiden Schiffe als staatenlos anzusehen waren und der von ihnen gefangene Thunfisch folglich nicht als Ursprungserzeugnis von El Salvador angesehen werden konnte. 6 Die Unregelmäßigkeit hinsichtlich der zwei Flaggen der Thunfischfänger Montelape und Montealegre war Gegenstand einer vom OLAF durchgeführten Mission zur Prüfung der Verwendung von Mitteln des Strukturfonds für die Fischerei, die eine Gesellschaft des Calvo-Konzerns, die Calvopesca, SA erhalten hatte. Der abschließende Bericht des OLAF kam zu dem Ergebnis, dass schwerwiegende Unregelmäßigkeiten hinsichtlich dieser Schiffe vorlagen, die in den Seychellen registriert worden waren, um von der Finanzierung durch den Strukturfonds für die Fischerei profitieren zu können, und deren Flagge nach zwei Betriebsjahren gegen die salvadorianische Flagge ausgetauscht wurde, und zwar in der Absicht, die Fänge als Ursprungserzeugnisse aus El Salvador auszugeben, um in den Genuss der APS-Zollpräferenzbehandlung zu gelangen. 7 2010 leiteten die spanischen Behörden im Anschluss an die Berichte des OLAF ein Verfahren der Nacherhebung von Einfuhrabgaben ein und wandten auf die streitigen Einfuhren den allgemeinen Zollsatz von 24 % an. Der Betrag der geforderten Zölle belief sich auf 15292471,19 Euro. 8 Am 1. Juli 2011 stellte der Zollschuldner einen Antrag auf Erlass der Einfuhrabgaben gemäß Art. 236 in Verbindung mit Art. 220 Abs. 2 Buchst. b und Art. 239 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1, im Folgenden: ZK). 9 Nachdem die Europäische Kommission dem Zollschuldner mitgeteilt hatte, dass sie eine ablehnende Stellungnahme beabsichtige, nahm dieser seinen Antrag auf Erlass der Abgaben mit Schreiben vom 5. September 2012 zurück. 10 Daraufhin teilte die Kommission dem Zollschuldner am 10. September 2012 mit, dass sie das Verfahren auf Erlass der Abgaben als nicht eingeleitet betrachte. 11 Am 16. Januar 2013 stellten die spanischen Behörden von Amts wegen bei der Kommission einen Antrag auf Erlass der Abgaben auf der Grundlage von Art. 236 in Verbindung mit Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK. 12 Der Zollschuldner vertrat die Auffassung, dass die Voraussetzungen von Art. 236 in Verbindung mit Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK erfüllt seien, und schloss sich den Ausführungen der spanischen Behörden an, widersprach jedoch der Verweisung der Sache an die Kommission unter Berufung auf das Urteil der Audiencia Nacional (Nationaler Gerichtshof, Spanien) vom 21. Mai 2012, die entschieden hatte, dass die APS-Zollpräferenzbehandlung im vorliegenden Fall gewährt werden könne. Seiner Ansicht nach hätte die Sache daher an die nationalen Behörden zurückverwiesen werden müssen, die gegebenenfalls ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof hätten richten können. 13 Die Kommission vertrat hingegen den Standpunkt, dass die spanische Gerichtsentscheidung sie nicht hindere, einen Beschluss in einer Angelegenheit zu erlassen, die in ihre Zuständigkeit falle. 14 Am 13. Februar, am 16. Juli und am 8. Oktober 2013 ersuchte die Kommission um ergänzende Auskünfte, die die spanischen Behörden erteilten. Der Zollschuldner nahm von diesen Auskunftsersuchen Kenntnis und konnte zu den Antworten, die die spanischen Behörden zu geben beabsichtigten, Stellung nehmen. 15 Mit Schreiben vom 10. Dezember 2013 gemäß Art. 872a der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zum Zollkodex (ABl. 1993, L 253, S. 1) forderte die Kommission den Zollschuldner auf, zu allen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen Stellung zu nehmen, die zur Zurückweisung seines Antrags führen könnten (im Folgenden: Mitteilung von Einwänden). 16 Mit Schreiben vom 9. Januar 2014 machte der Zollschuldner geltend, die salvadorianischen Behörden hätten einen Irrtum begangen. Er bestand darauf, gutgläubig gewesen zu sein und die Vorschriften über die Zollanmeldung eingehalten zu haben. Außerdem wandte er sich gegen die Auslegung der die Flagge betreffenden Bestimmungen durch die Kommission und hob die Schwierigkeiten hervor, das Kriterium der Zusammensetzung der Besatzung nach Art. 68 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2454/93 einzuhalten. Schließlich machte er geltend, die Kommission habe den salvadorianischen Behörden nicht die richtigen Stempel überlassen und die Verteidigungsrechte verletzt, da sie ihm nicht alle Dokumente übersandt habe, auf die sie ihre Entscheidung habe stützen wollen. 17 Zur Prüfung des Falls trat am 17. Februar 2014 gemäß Art. 873 der Verordnung Nr. 2454/93 eine Sachverständigengruppe zusammen, die aus Vertretern der Mitgliedstaaten bestand. 18 Mit Beschluss C(2014) 2363 final vom 14. April 2014 entschied die Kommission, dass in einem Einzelfall der Erlass von Einfuhrabgaben für einen bestimmten Betrag gerechtfertigt sei, nicht aber für einen anderen Betrag (Sache REM 02/2013) (im Folgenden: angefochtener Beschluss). 19 Im 27. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses wies die Kommission darauf hin, dass die Ausstellung unrichtiger Zertifikate durch die Zollbehörden eines Drittlands nach Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK einen Irrtum darstelle, den der Wirtschaftsteilnehmer, der seinerseits gutgläubig gehandelt und die in der geltenden Regelung vorgesehenen Vorschriften über die Zollanmeldung beachtet habe, vernünftigerweise nicht habe erkennen können. 20 Was die Voraussetzung in Bezug auf die Erkennbarkeit des Irrtums betrifft, stellte die Kommission im 28. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses fest, dass die salvadorianischen Behörden einen Fehler begangen hätten, indem sie die Ursprungszeugnisse nach Formblatt A unter Verstoß gegen die Verordnung Nr. 2454/93 ausgestellt hätten. In den Erwägungsgründen 30 bis 32 des angefochtenen Beschlusses führte die Kommission aus, sie habe weder in Bezug auf die Aushändigung der Stempel an die salvadorianischen Behörden noch in Bezug auf die Übermittlung der Dokumente, auf die sie ihre Entscheidung habe stützen wollen, einen Fehler begangen. Im ersten Fall machte sie geltend, dass ein solcher Fehler, selbst wenn er erwiesen wäre, nur Bedeutung gehabt hätte, wenn die Ursprungszeugnisse gefälscht worden wären. Dem sei aber nicht so gewesen. Im zweiten Fall versicherte sie, dem Zollschuldner alle erforderlichen Dokumente übermittelt und ihm Gelegenheit gegeben zu haben, zu diesen Dokumenten Stellung zu nehmen. 21 Die Kommission wies darauf hin, dass sie bei der Beurteilung dieser ersten Voraussetzung alle Umstände des Einzelfalls, die Art des Irrtums sowie die Erfahrung und die Sorgfalt des Zollschuldners berücksichtigen müsse. Ferner sei die Art des Irrtums nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung des Komplexitätsgrads der anwendbaren Regelung zu beurteilen. Im 35. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses stellte die Kommission fest, dass der Zollschuldner gegen die Ursprungsregeln verstoßen habe, weil er sich nicht vergewissert habe, dass die Voraussetzung, nach der die Besatzung der Thunfischfänger zu mindestens 75 % aus Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Union oder des begünstigten Landes bestehen müsse, erfüllt gewesen sei. Außerdem führte sie in den Erwägungsgründen 36 und 37 des angefochtenen Beschlusses aus, die Zollpräferenzbehandlung sei auf der Grundlage ungeeigneter Bescheinigungen gewährt worden, nämlich von Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1, die von den Behörden der Seychellen oder der Elfenbeinküste ausgestellt worden seien, sowie von Zeugnissen über den nichtpräferenziellen Ursprung, die die spanische und die französische Handelskammer ausgestellt hätten. In diesen Fällen sei es nicht möglich gewesen, die Herkunft des Thunfischs zurückzuverfolgen. Da der Ausführer eine Tochtergesellschaft des Calvo-Konzerns gewesen sei, dem auch der Zollschuldner angehöre, hätte dieser den Irrtum erkennen müssen. Hingegen vertrat die Kommission im 38. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses die Ansicht, der Zollschuldner habe nicht wissen können, ob die von Panama – einem Land, das ebenso wie El Salvador zum Regionalzusammenschluss II gehöre – erteilten Ursprungszeugnisse von den salvadorianischen Behörden korrekt ausgestellt worden seien. 22 Hinsichtlich der zweiten Voraussetzung, betreffend die Gutgläubigkeit des Zollschuldners, stellte die Kommission in den Erwägungsgründen 40 und 41 des angefochtenen Beschlusses fest, dass der Zollschuldner angesichts der Art seiner Aktivitäten und seiner Zugehörigkeit zu einem Konzern, der auf mehreren Kontinenten tätig sei und folglich unterschiedliche Regelungen zu beachten habe, nicht die Sorgfalt an den Tag gelegt habe, die erforderlich sei, um die Voraussetzung in Bezug auf die Zusammensetzung der Besatzung zu erfüllen. 23 Im 42. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses führte die Kommission ferner aus, der Ausführer habe in bestimmten Fällen entweder gleichzeitig von der spanischen und der französischen Handelskammer ausgestellte Zeugnisse über den nicht präferenziellen Ursprung sowie – nicht von den Zollbehörden der Union im Hinblick auf das am 23. Juni 2000 in Cotonou unterzeichnete (ABl. 2000, L 317, S. 3) und im Namen der Gemeinschaft durch Beschluss 2003/159/EG des Rates vom 19. Dezember 2002 (ABl. 2003, L 65, S. 27) genehmigte Partnerschaftsabkommen zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits (im Folgenden: AKP-Abkommen) ausgestellte – Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 oder aber gleichzeitig von den Behörden der Seychellen ausgestellte Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 sowie von den Behörden Panamas ausgestellte Ursprungszeugnisse nach Formblatt A vorgelegt. Mit der Vorlage von Ursprungszeugnissen, anhand deren sich die Herkunft des Thunfischs nicht feststellen lasse, habe der Zollschuldner gegen die Vorschriften über die Zollanmeldung und gegen die anwendbaren Ursprungsregeln verstoßen. 24 Schließlich führte die Kommission in den Erwägungsgründen 43 bis 45 des angefochtenen Beschlusses aus, die beiden dem Calvo-Konzern gehörenden Thunfischfänger hätten zwei Flaggen geführt oder seien in zwei Staaten registriert gewesen, obwohl die Unionsregelung eindeutig verlange, dass jedes Schiff nur in einem einzigen Land ins Schiffsregister eingetragen sein dürfe und dessen Flagge führen müsse, um die Zollpräferenzbehandlung in Anspruch nehmen zu können. Dadurch, dass der Zollschuldner Art. 68 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2454/93 nicht beachtet habe, habe er nicht die erforderliche Sorgfalt an den Tag gelegt. 25 Aufgrund dessen entschied die Kommission, dass der Erlass von Einfuhrabgaben in Höhe von 230879,88 Euro für diejenigen Einfuhren gerechtfertigt sei, bei denen der Nachweis des Ursprungs des in El Salvador verarbeiteten Thunfischs auf von den Behörden Panamas ausgestellten Ursprungszeugnissen nach Formblatt A beruhe, nicht aber bezüglich der die anderen Einfuhren betreffenden Einfuhrabgaben in Höhe von 14417193,41 Euro. Verfahren und Anträge der Parteien 26 Mit Klageschrift, die am 24. Juni 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat das Königreich Spanien die vorliegende Klage erhoben. Die Kommission hat am 18. September 2014 eine Klagebeantwortung eingereicht. Am 17. November 2014 hat das Königreich Spanien seine Erwiderung und am 22. Januar 2015 die Kommission ihre Gegenerwiderung eingereicht. 27 Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Fünfte Kammer) beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen. 28 In der Sitzung vom 6. April 2016 haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet. 29 Das Königreich Spanien beantragt, — den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit darin festgestellt wird, dass der Erlass der Einfuhrabgaben in Höhe von 14417193,41 Euro nicht gerechtfertigt ist, — der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 30 Die Kommission beantragt, — die Klage insgesamt abzuweisen, — dem Königreich Spanien die Kosten aufzuerlegen. Vorbringen der Parteien 31 Zur Stützung seiner Klage macht das Königreich Spanien zwei Klagegründe geltend. Der erste stützt sich auf eine Verletzung des Rechts auf eine gute Verwaltung im Zusammenhang mit Art. 872a der Verordnung Nr. 2454/93 und der zweite auf einen Verstoß gegen Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK. Erster Klagegrund: Verletzung des Rechts auf eine gute Verwaltung im Rahmen des Art. 872a der Verordnung Nr. 2454/93 32 Das Königreich Spanien macht geltend, ein Beschluss, der sich auf Gründe stütze, die zuvor nicht mitgeteilt worden seien, verletze das Recht auf eine gute Verwaltung im Rahmen des Art. 872a der Verordnung Nr. 2454/93 und verstoße gegen Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 33 Art. 872a der Verordnung Nr. 2454/93 sehe im Rahmen des Verfahrens des Erlasses von Einfuhrabgaben vor, dass die Kommission, wenn sie einen ablehnenden Beschluss zu erlassen beabsichtige, verpflichtet sei, dem Betroffenen ihre Einwände und die Unterlagen, auf die sie sich stütze, schriftlich mitzuteilen, um ihm Gelegenheit zu geben, seinen Standpunkt darzulegen. Angesichts der drei an den Zollschuldner gerichteten Aufforderungen der Kommission, ergänzende Auskünfte zu erteilen, ist das Königreich Spanien der Auffassung, dass die drei in Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK genannten Voraussetzungen für den Erlass von Einfuhrangaben vollständig geprüft worden seien und die in der Mitteilung von Einwänden nicht erwähnten Voraussetzungen als erfüllt angesehen werden müssten. 34 In der Mitteilung von Einwänden habe die Kommission nur Einwände angesprochen, die die Voraussetzung der Erkennbarkeit des Irrtums für den Zollschuldner betroffen hätten, und die Voraussetzungen der Gutgläubigkeit und der Beachtung der Vorschriften über die Zollanmeldung nicht angesprochen. Gleichwohl habe sie die letztgenannten Voraussetzungen in den Erwägungsgründen 40 bis 42 des angefochtenen Beschlusses geprüft und somit gegen Art. 41 der Charta der Grundrechte verstoßen. 35 In der Erwiderung vertritt das Königreich Spanien die Ansicht, die Erwähnung der Nichteinhaltung der Ursprungsregeln in der Mitteilung von Einwänden reiche nicht aus, weil es sich um die Voraussetzung handele, von der die Einleitung des Verfahrens des Erlasses von Einfuhrabgaben abhänge. Der Begründungsmangel des angefochtenen Beschlusses könne nicht dadurch ausgeglichen werden, dass die Kommission ihrer Mitteilung von Einwänden Dokumente beigefügt habe, die die Erfüllung der Voraussetzungen der Gutgläubigkeit und die Beachtung der Vorschriften über die Zollanmeldung beträfen. Außerdem bedeute der Umstand, dass die Antwort des Zollschuldners auf die Mitteilung von Einwänden Ausführungen zur Gutgläubigkeit und zur Zollanmeldung enthalte, nicht, dass diese Mitteilung ordnungsgemäß begründet gewesen sei. Schließlich hätte das Verfahren einen anderen Ausgang nehmen können, weil der Irrtum nicht zu entdecken gewesen sei, da der Ausführer den Sachverhalt nicht unrichtig dargestellt habe. 36 Die Kommission trägt vor, sie sei der in Art. 872a der Verordnung Nr. 2454/93 vorgesehenen Verpflichtung nachgekommen, indem sie die Mitteilung von Einwänden und sämtliche Unterlagen, auf die diese Einwände sich stützten, an den Zollschuldner übersandt habe, der seine Stellungnahme, u. a. zur Gutgläubigkeit, mit Schreiben vom 9. Januar 2014 eingereicht habe. Die Kommission macht geltend, die Mitteilung von Einwänden habe Ausführungen zur Gutgläubigkeit und zur Zollanmeldung enthalten. Sie weist darauf hin, dass sich in der Mitteilung von Einwänden ein ganzer Absatz mit der Gutgläubigkeit des Zollschuldners befasse und dass diese Voraussetzung ihrer Ansicht nach mit der Voraussetzung der Erkennbarkeit des Irrtums untrennbar verbunden sei. Wenn der Zollschuldner den Irrtum gekannt und die Gewährung der Zollpräferenzbehandlung beantragt hätte, hätte er nämlich nicht als gutgläubig angesehen werden können, weil ein Zollschuldner sich auf seine Gutgläubigkeit nur berufen könne, wenn er alle Vorschriften der Regelung eingehalten habe. Die Kommission ist daher der Auffassung, dass sie ihrer Begründungspflicht nachgekommen sei, indem sie die Sorgfalt des Zollschuldners und die Erkennbarkeit des Irrtums geprüft habe. 37 Die Kommission führt aus, sowohl der angefochtene Beschluss als auch die Mitteilung von Einwänden erwähnten die Voraussetzung der Beachtung der Vorschriften über die Zollanmeldung, da der Zollschuldner in seinem Schreiben vom 9. Januar 2014 zu diesem Punkt Stellung genommen habe, so dass eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht festgestellt werden könne. Der Umfang der Begründungspflicht sei u. a. anhand des Kontexts und somit anhand der der Mitteilung von Einwänden beigefügten Unterlagen zu beurteilen, die insbesondere die Erfüllung der Voraussetzungen der Gutgläubigkeit und der Zollanmeldung im Hinblick auf die Ursprungsregeln betroffen hätten. 38 Außerdem betont die Kommission, dass die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nur dann die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zur Folge habe, wenn das Verfahren ohne diesen Fehler zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Da die Voraussetzungen des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK kumulativ seien, hält sie den Umstand, dass im angefochtenen Beschluss ausgeführt sei, dass der Zollschuldner den im vorliegenden Fall in Rede stehenden Irrtum hätte erkennen können, für ausreichend, um die Ablehnung des Erlasses der Einfuhrabgaben zu rechtfertigen. Zudem weise nichts darauf hin, dass der Zollschuldner noch Weiteres vorzutragen gehabt hätte, was zum Erlass einer anderen Entscheidung hätte führen können. 39 Die Wahrung der Verteidigungsrechte ist ein tragender Grundsatz des Unionsrechts, mit dem der Anspruch darauf, in jedem Verfahren gehört zu werden, untrennbar verbunden ist (Urteile vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C‑349/07, EU:C:2008:746, Rn. 33 und 36, und vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 28). 40 Der Anspruch darauf, in jedem Verfahren gehört zu werden, ist heute nicht nur durch die Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte verbürgt, die die Wahrung der Verteidigungsrechte sowie das Recht auf ein faires Verfahren im Rahmen jedes Gerichtsverfahrens gewährleisten, sondern auch durch Art. 41 der Charta der Grundrechte, der das Recht auf eine gute Verwaltung sicherstellt. Nach Art. 41 Abs. 2 der Charta umfasst das Recht auf eine gute Verwaltung insbesondere das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird (Urteil vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 29). 41 Nach diesem Grundsatz, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen (Urteile vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C‑349/07, EU:C:2008:746, Rn. 36, und vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics, C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 30), müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen (Urteil vom 18. Dezember 2008, Sopropé, C‑349/07, EU:C:2008:746, Rn. 37). 42 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte in Zollsachen durch Art. 872a der Verordnung Nr. 2454/93 gewährleistet ist, der bestimmt, dass in allen Phasen des Verfahrens nach den Art. 872 und 873 dieser Verordnung die Kommission, wenn sie eine Entscheidung zulasten des antragstellenden Beteiligten treffen will, diesem in einem Schreiben alle der Entscheidung zugrunde liegenden Argumente mitteilt und ihm alle Unterlagen übersendet, auf die sie die Entscheidung stützt, dass der Beteiligte innerhalb eines Monats, gerechnet vom Datum dieses Schreibens, schriftlich Stellung nimmt und dass, wenn er seine Stellungnahme nicht innerhalb dieser Frist abgegeben hat, davon ausgegangen wird, dass er auf das Recht zur Stellungnahme verzichtet. 43 Im Licht dieser Erwägungen ist der Klagegrund zu prüfen. 44 Im vorliegenden Fall hat die Kommission dem Zollschuldner eine Mitteilung von Einwänden übersandt, auf die dieser geantwortet hat (siehe oben, Rn. 15 und 16). 45 Gleichwohl macht das Königreich Spanien im Wesentlichen geltend, daraus, dass sich die Mitteilung von Einwänden nicht auf die Voraussetzungen der Gutgläubigkeit des Zollschuldners und der Beachtung der Vorschriften über die Zollanmeldung erstreckt habe, müsse geschlossen werden, dass die Kommission in Bezug auf diese beiden Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK keine Einwände gehabt habe und diese Voraussetzungen als vom Zollschuldner erfüllt anzusehen seien. Indem die Kommission diese Gesichtspunkte in den Erwägungsgründen 40 bis 42 des angefochtenen Beschlusses geprüft habe, habe sie den Anspruch des Zollschuldners auf rechtliches Gehör verletzt und damit gegen Art. 41 der Charta der Grundrechte verstoßen. 46 Ohne dass entschieden zu werden braucht, ob der auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs gestützte Klagegrund – angesichts der Frage, ob sich das Königreich Spanien auf eine solche den Zollschuldner beeinträchtigende Verletzung berufen kann, die ihrem Wesen nach eine Verletzung von subjektiven Rechten ist (vgl. entsprechend Urteil vom 1. Juli 2010, Nuova Terni Industrie Chimiche/Kommission, T‑64/08, nicht veröffentlicht, EU:T:2010:270, Rn. 186) – zulässig ist oder nicht, ist der erste Klagegrund jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen. 47 Hierzu ist vorab darauf hinzuweisen, dass die Zollbehörden nach Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK nur dann von der nachträglichen buchmäßigen Erfassung der Einfuhrabgaben absehen, wenn drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Voraussetzung ist zunächst, dass die Abgaben wegen eines Irrtums der zuständigen Behörden nicht erhoben worden sind, sodann, dass deren Irrtum von einem gutgläubigen Abgabenschuldner vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte, und schließlich, dass dieser alle für seine Zollerklärung geltenden Bestimmungen beachtet hat. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, hat der Abgabenschuldner einen Anspruch darauf, dass von einer Nacherhebung abgesehen wird (vgl. Urteile vom 18. Oktober 2007, Agrover, C‑173/06, EU:C:2007:612, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 15. Dezember 2011, Afasia Knits Deutschland, C‑409/10, EU:C:2011:843, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 48 In Bezug auf die erste dieser Voraussetzungen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK das berechtigte Vertrauen des Abgabenschuldners in die Richtigkeit aller Gesichtspunkte schützen soll, die bei der Entscheidung darüber, ob Zölle nacherhoben werden oder nicht, Berücksichtigung finden. Das berechtigte Vertrauen des Abgabenschuldners ist nur dann schutzwürdig im Sinne dieser Vorschrift, wenn es gerade die zuständigen Behörden waren, die die Grundlage für dieses Vertrauen geschaffen haben. Somit begründen lediglich solche Irrtümer, die auf ein Handeln der zuständigen Behörden zurückzuführen sind, einen Anspruch darauf, dass von der Nacherhebung der Zölle abgesehen wird (vgl. Urteil vom 18. Oktober 2007, Agrover, C‑173/06, EU:C:2007:612, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Was die zweite der erwähnten Voraussetzungen angeht, so ist die Erkennbarkeit des Irrtums der zuständigen Zollbehörden unter Berücksichtigung seiner Art, der Berufserfahrung der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer und der von ihnen aufgewandten Sorgfalt zu beurteilen. Die Art des Irrtums ist unter Berücksichtigung des Komplexitätsgrads der betreffenden Regelung und der Länge des Zeitraums, in dem die Behörden in ihrem Irrtum verharrten, zu beurteilen (vgl. Urteil vom 18. Oktober 2007, Agrover, C‑173/06, EU:C:2007:612, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Hinsichtlich der dritten Voraussetzung hat der Zollanmelder den Zollbehörden alle Angaben zu machen, die nach den Unionsvorschriften oder den nationalen Regelungen, die diese Vorschriften gegebenenfalls ergänzen oder umsetzen, für die beantragte Zollbehandlung der fraglichen Ware erforderlich sind (vgl. Urteil vom 18. Oktober 2007, Agrover, C‑173/06, EU:C:2007:612, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). 51 Entgegen den Behauptungen des Königreichs Spanien ergibt sich aus der Mitteilung von Einwänden – insbesondere aus ihrem Teil B, dessen Überschrift erstens auf die Voraussetzung betreffend die Erkennbarkeit des Irrtums, zweitens auf die Gutgläubigkeit des Zollschuldners und drittens darauf verweist, dass dieser alle für seine Zollerklärung geltenden Bestimmungen beachtet haben muss –, dass die Kommission u. a. der Auffassung war, dass sie zur Beurteilung der Gutgläubigkeit des Zollschuldners prüfen müsse, ob dieser den Irrtum der salvadorianischen Behörden hätte erkennen können. 52 Unter diesem Gesichtspunkt hat die Kommission sich mit der Frage befasst, ob eine schlichte Analyse des Sachverhalts genügt hätte, um den von diesen Behörden begangenen Irrtum erkennen zu können. Sie hat die Behauptung des Zollschuldners, gutgläubig gewesen zu sein, eindeutig mit der Frage verknüpft, in welchem Umfang er von dem Irrtum Kenntnis hatte oder hätte haben können. Hinzu kommt, dass aus der Antwort des Zollschuldners vom 9. Januar 2014 hervorgeht, dass dieser die genannten Erklärungen in diesem Sinne verstanden und spezifische Angaben gemacht hat, die insbesondere seine Gutgläubigkeit und im Übrigen den Umstand betrafen, dass er die Anforderungen der einschlägigen Vorschriften erfüllt habe. 53 Was insbesondere die Zusammensetzung der Besatzungen der Schiffe angeht, hat die Kommission die Tätigkeiten des Zollschuldners und den Umstand berücksichtigt, dass er auf mehreren Ozeanen und Meeren tätig sowie unterschiedlichen Regelungen unterworfen war, und daraus den Schluss gezogen, dass er die Vorschriften über die Zollpräferenzbehandlung und die Ursprungsregeln korrekt hätte anwenden können und sich hätte vergewissern müssen, dass die Voraussetzungen einer solchen Zollpräferenzbehandlung erfüllt gewesen seien, indem er sich Zugang zu solchen Informationen verschaffte. Die Kommission war der Auffassung, dass die in Rede stehenden Vorschriften nicht als komplex anzusehen seien. Nach ihrer Ansicht hätte der Ausführer im vorliegenden Fall den Irrtum der salvadorianischen Behörden erkennen können. 54 Was den Nachweis des Ursprungs der Fänge betrifft, hat die Kommission ausgeführt, der Zollschuldner hätte wissen müssen, dass die vorgelegten Bescheinigungen keine Dokumente waren, die dem Zweck der regionalen Kumulierung entsprachen, und dass die Erzeugnisse, für die die salvadorianischen Behörden Ursprungszeugnisse nach Formblatt A ausgestellt hatten, nicht die Voraussetzungen erfüllten, um ihnen einen Präferenzursprung einzuräumen, und daraus geschlossen, dass der Ausführer den Irrtum der salvadorianischen Behörden hätte erkennen müssen. 55 Was die oben in Rn. 6 erwähnten zwei Flaggen der beiden Schiffe betrifft, hat die Kommission festgestellt, dass der Zollschuldner demselben Konzern angehört habe wie die Gesellschaft, die Eigner der Schiffe gewesen sei, und daher gewusst habe oder hätte wissen müssen, dass diese Schiffe auch in den Seychellen registriert gewesen seien, und dass er mit den insoweit anwendbaren Vorschriften, die nicht als komplex einzustufen seien, hätte vertraut sein müssen. 56 Hinsichtlich der Berufserfahrung des Zollschuldners hat die Kommission hervorgehoben, dass er einem Konzern angehört habe, der eine führende Rolle auf dem Gebiet der Fischerei sowie der Zubereitung, Verarbeitung, Verpackung und Vermarktung von Fischereierzeugnissen für den menschlichen Verzehr gespielt habe. 57 Was die Frage der möglichen Sorgfalt des Zollschuldners betrifft, hat die Kommission sich auf die verschiedenen oben in den Rn. 53 bis 56 angeführten Feststellungen und Schlussfolgerungen gestützt, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass der Zollschuldner nicht die Sorgfalt an den Tag gelegt habe, die von einem gewerblichen Wirtschaftsbeteiligten habe erwartet werden können, und dass er den Zollbehörden nicht alle Angaben gemacht habe, die nach den Unionsbestimmungen für die beantragte Zollbehandlung der in Rede stehenden Erzeugnisse erforderlich gewesen seien. 58 Angesichts dieser Umstände sind die Gründe, die die Kommission in Übereinstimmung mit der oben in Rn. 47 angeführten Rechtsprechung zu der Auffassung veranlasst haben, dass ein gutgläubig handelnder Wirtschaftsteilnehmer den Irrtum der salvadorianischen Behörden leicht hätte erkennen können, in der Mitteilung von Einwänden hinreichend klar und vollständig aufgeführt. Das Königreich Spanien kann daher nicht geltend machen, der Anspruch des Zollschuldners auf rechtliches Gehör sei verletzt worden, weil gegen dessen Gutgläubigkeit keine Einwände vorgebracht worden seien. 59 Sodann ist im Hinblick auf die Voraussetzung der Beachtung der Vorschriften über die Zollanmeldung festzustellen, dass die Kommission in der Mitteilung von Einwänden klar und eingehend dargelegt hat, warum sie diese Voraussetzung als nicht erfüllt angesehen hat. Wie die Kommission betont, wurde in der Mitteilung von Einwänden nämlich angegeben, dass sie der Auffassung sei, der Zollschuldner habe die Vorschriften über die APS-Ursprungsregeln der Union in Titel IV Kapitel 2 der Verordnung Nr. 2454/93 nicht beachtet. Dieses Ergebnis schloss sich in der Mitteilung von Einwänden an die Feststellung an, dass der Ausführer, der derselben Unternehmensgruppe angehöre wie der Zollschuldner, hätte wissen können, dass die verwendeten Bescheinigungen nicht geeignet waren, um die regionale Ursprungskumulierung in Anspruch nehmen zu können, dass die Erzeugnisse, für die die salvadorianischen Behörden Ursprungszeugnisse nach Formblatt A ausgestellt hatten, nicht die Voraussetzungen erfüllten, um ihnen El Salvador als präferenziellen Ursprung zuzuerkennen, und dass die nach der Unionsregelung vorgesehene Zollpräferenzbehandlung für sie nicht in Anspruch habe genommen werden können. 60 Mit diesen Feststellungen hat die Kommission ihre Zweifel zum Ausdruck gebracht, ob der Zollschuldner die Vorschriften über die Zollanmeldung beachtet hat. Die fehlerhafte Anwendung der Regeln über den Ursprung der in die Union eingeführten Erzeugnisse, um eine Zollpräferenzbehandlung zu erlangen, wirkt sich nämlich auf die Zollanmeldung dieser Erzeugnisse aus, weil sie irrtümlich einer Regelung unterworfen werden, die für sie nicht in Anspruch genommen werden kann. 61 So sieht Art. 84 der Verordnung Nr. 2454/93 vor, dass die Ursprungsnachweise den Zollbehörden des Einfuhrmitgliedstaats nach Maßgabe des Art. 62 ZK vorzulegen sind. Der letztgenannte Artikel betrifft die schriftliche Zollanmeldung. Er bestimmt, dass die Zollanmeldung auf einem hierfür vorgesehenen amtlichen Vordruck abzugeben ist, dass sie unterzeichnet werden und alle Angaben enthalten muss, die zur Anwendung der Vorschriften über das Zollverfahren, zu dem die Waren angemeldet werden, erforderlich sind, und dass ihr alle Unterlagen beizufügen sind, deren Vorlage zur Anwendung der Vorschriften über dieses Zollverfahren erforderlich ist. Um eine Zollpräferenzbehandlung wegen des Ursprungs der eingeführten Erzeugnisse zu erlangen, muss der Einführer gemäß Art. 62 ZK in Verbindung mit Art. 84 der Verordnung Nr. 2454/93 seiner Zollanmeldung ein korrektes Ursprungszeugnis nach Formblatt A beifügen. 62 Daher führt der Verstoß gegen die Vorschriften über den Ursprung der eingeführten Erzeugnisse zu einem Verstoß gegen die Vorschriften über die Zollanmeldung. 63 Folglich ist das Vorbringen des Königreichs Spanien, die Erwähnung der Nichtbeachtung der Ursprungsregeln in der Mitteilung von Einwänden reiche nicht aus, weil es sich um die Voraussetzung handele, von der die Einleitung des Verfahrens des Erlasses von Einfuhrabgaben abhänge, zurückzuweisen, weil der Umstand, dass die salvadorianischen Behörden die Ursprungszeugnisse nicht korrekt ausgestellt hatten, zwar der Anlass dafür war, dass die spanischen Zollbehörden – im Anschluss an die Berichte des OLAF – das Nacherhebungsverfahren durchführten, zugleich aber aufzeigt, dass der Zollschuldner die Vorschriften über den Ursprung der Erzeugnisse und über die Zollanmeldung nicht beachtet hat. 64 Soweit die Kommission die Frage der Unterlagen angesprochen hat, die der Mitteilung von Einwänden beizufügen waren und auf die sie ihre Einwände gestützt hat, ist ferner festzustellen, dass das Königreich Spanien ihr nicht vorwirft, für den Schutz der Verteidigungsrechte des Zollschuldners erforderliche Unterlagen nicht übermittelt zu haben. Im Übrigen trägt das Königreich Spanien in seiner Erwiderung lediglich vor, die Kommission könne ihre Einwände zwar auf die Unterlagen stützen, die sie als Anlage zur Mitteilung von Einwänden beifüge, diese Einwände aber nicht allein mit diesen Unterlagen begründen. 65 Mithin ist der erste Klagegrund jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen. Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK 66 In erster Linie macht das Königreich Spanien geltend, dass der Irrtum für den Zollschuldner vernünftigerweise nicht erkennbar gewesen sei, und hilfsweise, dass der Zollschuldner zum einen sorgfältig gehandelt und zum anderen die Vorschriften über den Zollwert beachtet habe. Das Königreich Spanien trägt seine Argumente, auf die es den zweiten Klagegrund stützt, zwar in drei Teilen vor, die den Voraussetzungen entsprechen, die Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK für das Absehen von einer Nacherhebung aufstellt, stellt aber auch den kumulativen Charakter dieser drei Voraussetzungen in Frage. 67 Vorab ist über die Zulässigkeit einer in der Erwiderung erhobenen Rüge zu befinden. Zulässigkeit der Rüge, die einen früheren Antrag des Zollschuldners auf Erlass von Einfuhrabgaben betrifft 68 In der Erwiderung macht das Königreich Spanien geltend, soweit die Kommission offenbar Fragen aufwerfe, die die Sache REM 01/11 beträfen, müsse der Erlass, der Gegenstand dieses Vorgangs gewesen sei, als bewilligt angesehen werden, weil die in Art. 871 Abs. 6 erster oder fünfter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2454/93 vorgesehenen Voraussetzungen für eine Rücksendung nicht erfüllt seien. Dieser Erlass sei wegen des Ablaufs der gesetzlichen Fristen bestandskräftig geworden, bevor der angefochtene Beschluss erlassen worden sei, weil den diese Sache betreffenden Unterlagen weder eine Änderung der tatsächlichen Umstände oder der rechtlichen Beurteilung noch eine Meinungsverschiedenheit über die Darstellung des Sachverhalts zu entnehmen sei. 69 In der Gegenerwiderung vertritt die Kommission die Auffassung, das Vorbringen, das ein anderes Verfahren auf Erlass von Abgaben betreffe, müsse für unzulässig erklärt werden, weil es verspätet sei. 70 In der mündlichen Verhandlung hat das Königreich Spanien auf eine Frage des Gerichts erklärt, bei den in der Erwiderung angeführten Argumenten, die die Sache REM 01/11 beträfen, handele es sich nicht um ein neues Angriffsmittel, sondern allein um eine Erwiderung auf das Vorbringen der Kommission. 71 Jedenfalls geht aus Art. 76 Buchst. d in Verbindung mit Art. 84 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts hervor, dass die Klageschrift den Streitgegenstand nennen und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten muss und dass neue Angriffs- und Verteidigungsmittel oder Argumente im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden können, es sei denn, sie werden auf rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte gestützt, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2015, Dennekamp/Parlament, T‑115/13, EU:T:2015:497, Rn. 80). 72 Selbst wenn jedoch davon auszugehen wäre, dass das Vorbringen des Königreichs Spanien in der Erwiderung, im vorliegenden Fall sei ein Erlass der streitigen Einfuhrabgaben angebracht, weil die gesetzlichen Fristen für einen Beschluss der Kommission über den vom Zollschuldner am 1. Juli 2011 gestellten Erlassantrag abgelaufen seien, nur eine Reaktion auf bestimmte Behauptungen der Kommission gewesen sei, ändert das nichts daran, dass es sich um eine Rüge handelt, die in der Klageschrift nicht erhoben wurde, obwohl sie auf tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten beruht, die dem Königreich Spanien schon bei Einreichung dieser Klageschrift bekannt waren, weil unstreitig ist, dass es die spanischen Behörden waren, die diesen Antrag sowie die vom Zollschuldner erklärte Rücknahme seines Antrags auf Erlass von Abgaben an die Kommission weitergeleitet hatten, und dass ihnen mitgeteilt worden war, dass die Kommission dieses Verfahren als nicht eingeleitet betrachte. 73 Folglich ist festzustellen, dass diese erstmals in der Erwiderung – und somit verspätet – erhobene Rüge unzulässig ist. Kumulativer Charakter der in Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK genannten Voraussetzungen 74 Mit seiner Rüge, der Irrtum sei nicht erkennbar gewesen, macht das Königreich Spanien geltend, nach Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK seien die Behörden des Ausfuhrlands für Irrtümer bei der Ausstellung von Ursprungszeugnissen und bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Anwendung der Präferenzregelungen verantwortlich, wenn der Irrtum im Anschluss an eine korrekte Schilderung der Tatsachen durch den Ausführer begangen worden sei oder im Anschluss an eine nicht korrekte Schilderung, sofern diese Behörden in diesem Fall gewusst hätten oder hätten wissen müssen, dass die Bescheinigung nicht korrekt gewesen sei. In Bezug auf die in der angefochtenen Entscheidung enthaltene Feststellung, es liege ein Irrtum der salvadorianischen Behörden vor, und in Bezug auf die an die spanischen Behörden gerichteten Ersuchen um zusätzliche Auskünfte ist das Königreich Spanien der Auffassung, der Ausführer habe weder die Tatsachen unzutreffend dargestellt noch die genannten Behörden irregeführt, weil er alle ihm zur Verfügung stehenden Informationen erteilt und insbesondere die Nachweise über den Ursprung der Ausgangserzeugnisse sowie Besatzungslisten der Schiffe vorgelegt habe. Daher hätte der Irrtum als vernünftigerweise nicht erkennbar angesehen werden müssen. 75 Im Wesentlichen ist das Königreich Spanien der Ansicht, dass die den Irrtum betreffenden Voraussetzungen erfüllt seien und damit feststehe, dass der Ausführer den begangenen Irrtum nicht hätte erkennen können, wenn der Irrtum der Zollbehörden des Ausfuhrlands nicht auf einer unrichtigen Darstellung der Fakten durch den Ausführer beruhe oder, selbst wenn das der Fall sei, die Behörden gewusst hätten oder hätten wissen müssen, dass die vorgelegten Bescheinigungen unrichtig gewesen seien. Es beruft sich auch auf die in Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 (ABl. 2000, L 311, S. 17) geänderten Fassung enthaltenen Bestimmungen über präferenzberechtigte Erzeugnisse, die es als eine im Rahmen der Präferenzregelungen anwendbare Sonderregelung ansieht, nach der die Feststellung eines auf der Grundlage korrekter Angaben des Ausführers begangenen Irrtums zur Folge habe, dass dieser Irrtum vernünftigerweise nicht erkannt werden könne. 76 Aus dieser Argumentation leitet das Königreich Spanien ab, dass die Bezugnahmen auf die Voraussetzungen hinsichtlich der Gutgläubigkeit und der Vorschriften über die Zollanmeldung fehlerhaft seien, weil die Kommission in dem angefochtenen Beschluss nicht festgestellt habe, dass der Irrtum auf einer unrichtigen Darstellung des Sachverhalts beruht habe oder die salvadorianischen Behörden gewusst hätten oder hätten wissen müssen, dass die vorgelegten Bescheinigungen unrichtig gewesen seien. 77 Die Kommission ist der Ansicht, die Rüge des Königreichs Spanien greife nicht durch, weil der Umstand, dass eine der drei Voraussetzungen für den Erlass von Abgaben erfüllt sei, nicht bedeute, dass die beiden anderen ebenfalls erfüllt seien. Ferner hat die Kommission vor dem Gericht ausführlich zu der Frage Stellung genommen, ob der Irrtum der salvadorianischen Behörden vernünftigerweise hätte erkannt werden können, und zwar anhand der Art des von diesen Behörden begangenen Irrtums. 78 Um auf die vom Königreich Spanien erhobene Rüge zu antworten, ist zum einen zu klären, ob sich die Nichterkennbarkeit des Irrtums der Behörden des Ausfuhrlands in Bezug auf die Ursprungszeugnisse in Anwendung des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 ZK automatisch aus den Umständen ergibt, unter denen dieser Irrtum begangen wurde, und zum anderen, falls dieser Irrtum als vom Zollschuldner nicht erkennbar anzusehen ist, ob die anderen Anwendungsvoraussetzungen dieses Artikels deshalb als erfüllt anzusehen sind. Nichterkennbarkeit des Irrtums 79 Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Zweck der nachträglichen Kontrolle darin besteht, die Ursprungsangabe in dem zuvor ausgestellten Ursprungszeugnis nach Formblatt A auf ihre Richtigkeit zu überprüfen (vgl. in diesem Sinne in Bezug auf Bescheinigungen EUR.1 Urteile vom 9. März 2006, Beemsterboer Coldstore Services, C‑293/04, EU:C:2006:162, Rn. 32, und vom 15. Dezember 2011, Afasia Knits Deutschland, C‑409/10, EU:C:2011:843, Rn. 43, sowie in Bezug auf Ursprungszeugnisse nach Formblatt A Urteil vom 8. November 2012, Lagura Vermögensverwaltung, C‑438/11, EU:C:2012:703, Rn. 17). 80 Wenn sich bei einer nachträglichen Überprüfung keine Bestätigung für die im Ursprungszeugnis nach Formblatt A oder in der EUR.1-Bescheinigung enthaltene Angabe über den Warenursprung finden lässt, ist daraus zu schließen, dass die Ware unbekannten Ursprungs ist und dass das Ursprungszeugnis demnach zu Unrecht ausgestellt und der Vorzugstarif zu Unrecht gewährt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 2006, Beemsterboer Coldstore Services, C‑293/04, EU:C:2006:162, Rn. 34, vom 15. Dezember 2011, Afasia Knits Deutschland, C‑409/10, EU:C:2011:843, Rn. 44, und vom 8. November 2012, Lagura Vermögensverwaltung, C‑438/11, EU:C:2012:703, Rn. 18). 81 Haben die Behörden des Ausfuhrstaats unrichtige Ursprungszeugnisse nach Formblatt A ausgestellt, ist diese Ausstellung nach Art. 220 Abs.2 Buchst. b Unterabs. 2 und 3 ZK daher als Irrtum dieser Behörden anzusehen, es sei denn, es stellt sich heraus, dass diese Zeugnisse auf einer unrichtigen Darstellung der Fakten durch den Ausführer beruhen. Wurden die genannten Zeugnisse auf der Grundlage falscher Erklärungen des Ausführers ausgestellt, müssen die Einfuhrabgaben nacherhoben werden, sofern insbesondere nicht offensichtlich ist, dass die Behörden, die solche Zeugnisse ausgestellt haben, wussten oder hätten wissen müssen, dass die Waren die Voraussetzungen für eine Präferenzbehandlung nicht erfüllten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Dezember 2011, Afasia Knits Deutschland, C‑409/10, EU:C:2011:843, Rn. 48, und vom 8. November 2012, Lagura Vermögensverwaltung, C‑438/11, EU:C:2012:703, Rn. 19). 82 Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob der Zollschuldner die Irrtümer der salvadorianischen Behörden hätte erkennen können. 83 Unter Berufung auf Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 ZK in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung vertritt das Königreich Spanien die Ansicht, dass sich – weil die Kommission das Vorliegen eines Irrtums der zuständigen Behörden einräume – aus dieser Bestimmung unmittelbar ergebe, dass der Irrtum nicht erkennbar gewesen sei. 84 Die Kommission hat sich darauf beschränkt, in der Gegenerwiderung eingehend darzulegen, dass die in Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 ZK vorgesehenen Voraussetzungen in Anbetracht der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der engen Auslegung einer Ausnahme von der gewöhnlichen Regelung der Zahlung einer Zollschuld kumulativ erfüllt sein müssten, um beschließen zu können, die Einfuhrabgaben nicht nachzuerheben. 85 Durch das Vorbringen des Königreichs Spanien sieht das Gericht sich veranlasst, festzustellen, welche Bestimmungen des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK im vorliegenden Fall anwendbar sind und welche Voraussetzungen diese Bestimmungen aufstellen, damit einem Antrag auf Nichterhebung stattgegeben werden kann. 86 Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 ZK bestimmt, dass der Irrtum im Sinne des Unterabs. 1 vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte, wenn die Behörden eines Drittlands eine unrichtige Bescheinigung im Rahmen einer Regelung ausgestellt haben, nach der der Präferenzstatus einer Ware im Rahmen eines Systems der administrativen Zusammenarbeit unter Beteiligung dieser Behörden ermittelt wird. Andererseits bestimmt Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 3 ZK, dass die Ausstellung einer unrichtigen Bescheinigung keinen Irrtum darstellt, wenn die Bescheinigung auf einer unrichtigen Darstellung der Fakten seitens des Ausführers beruht, außer insbesondere dann, wenn offensichtlich ist, dass die ausstellenden Behörden wussten oder hätten wissen müssen, dass die Waren die Voraussetzungen für eine Präferenzbehandlung nicht erfüllten. 87 Es ist daher zunächst anhand des angefochtenen Beschlusses festzustellen, unter welchen Umständen die salvadorianischen Behörden den Irrtum begangen haben, ehe die Konsequenzen eines solchen Irrtums für die Anwendung des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 und 3 ZK gezogen werden können. 88 Als Erstes ist auf die Feststellung der Kommission hinzuweisen, dass erhebliche Mengen Thunfisch aus El Salvador zum Zweck der Inanspruchnahme des APS mit Ursprungszeugnissen nach Formblatt A eingeführt wurden, die nicht rechtmäßig ausgestellt waren, wobei sämtliche Unregelmäßigkeiten dieser Ursprungszeugnisse Verstöße gegen die Ursprungsregeln darstellten, insbesondere wegen der unrichtigen Verwendung von Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 (Erwägungsgründe 6 bis 9 des angefochtenen Beschlusses). Daraus hat die Kommission den Schluss gezogen, dass der im APS vorgesehene Präferenzzollsatz für die betroffenen Thunfischeinfuhren nicht hätte gewährt werden dürfen (zehnter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). 89 Im 28. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses hat die Kommission angesichts der Umstände des vorliegenden Falls die Ansicht vertreten, dass die salvadorianischen Behörden einen Irrtum begangen hätten, indem sie die Ursprungszeugnisse nach Formblatt A unrichtig ausgestellt hätten, ohne die einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 2454/93 zu beachten. 90 Im Anschluss an die Feststellung, dass sie selbst in Bezug auf die den salvadorianischen Behörden zur Verfügung gestellten Musterabdrücke der Stempel keinen Irrtum begangen habe (Erwägungsgründe 30 bis 32 des angefochtenen Beschlusses), hat die Kommission geprüft, ob der Zollschuldner den von diesen Behörden begangenen Irrtum vernünftigerweise hätte erkennen können (Erwägungsgründe 29 und 33 bis 39 des angefochtenen Beschlusses), und sodann, ob er gutgläubig gehandelt hatte (Erwägungsgründe 40 bis 47 des angefochtenen Beschlusses). 91 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in dem angefochtenen Beschluss keineswegs festgestellt hat, dass die unrichtigen Bescheinigungen auf einer unrichtigen Darstellung der Fakten durch den Ausführer beruht hätten, und erst recht nicht, dass die salvadorianischen Behörden gewusst hätten oder hätten wissen müssen, dass die Erzeugnisse im Gegensatz zu dem, was in Art 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 3 ZK vorgesehen ist, die erforderlichen Voraussetzungen für die Zollpräferenzbehandlung nicht erfüllten. 92 Als Zweites ist es daher erforderlich, darüber zu befinden, ob der Zollschuldner sich auf die in Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 ZK aufgestellte Regel berufen kann, nach der der Irrtum als im Sinne von Unterabs. 1 vernünftigerweise nicht erkennbar gilt, wenn die unrichtige Ausstellung durch die Behörden eines Drittlands im Rahmen einer Regelung erfolgt, bei der der Präferenzstatus einer Ware im Rahmen eines Systems der administrativen Zusammenarbeit unter Beteiligung dieser Behörden ermittelt wird. Diese Regel steht daher im Zusammenhang mit Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 ZK, indem sie bestimmt, dass im besonderen Fall eines unrichtig ausgestellten Ursprungszeugnisses eine gesetzliche Vermutung dafür besteht, dass der Irrtum nicht erkennbar war. 93 Zunächst geht aus den Erwägungsgründen 7 bis 9 und 35 bis 38 des angefochtenen Beschlusses hervor, dass die von der Kommission aufgedeckten Unregelmäßigkeiten bei der Ausstellung der Ursprungszeugnisse nach Formblatt A die Ursprungsregeln betreffen, die für in die Union eingeführte Erzeugnisse gelten. 94 Sodann waren die unrichtigen Ursprungszeugnisse nach Formblatt A in Anwendung des APS ausgestellt, das zum maßgeblichen Zeitpunkt zum einen nach der Verordnung (EG) Nr. 980/2005 des Rates vom 27. Juni 2005 über ein Schema allgemeiner Zollpräferenzen (ABl. 2005, L 169, S. 1) und zum anderen nach der Verordnung (EG) Nr. 732/2008 des Rates vom 22. Juli 2008 über ein Schema allgemeiner Zollpräferenzen für den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2011 und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 552/97 und (EG) Nr. 1933/2006 sowie der Verordnungen (EG) Nr. 1100/2006 und (EG) Nr. 964/2007 der Kommission (ABl. 2008, L 211, S. 1) vorgesehen war. 95 Aus Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 980/2005 und aus Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 732/2008 ergibt sich, dass für die Zwecke der in Art. 1 Abs. 2 beider Verordnungen genannten Regelungen, nämlich für die Regelungen, aufgrund deren Zollpräferenzen gewährt werden, die in der Verordnung Nr. 2454/93 niedergelegten Regeln über die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen gelten. 96 In seiner auf den Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache anzuwendenden Fassung nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2005 der Kommission vom 10. Juni 2005 zur Änderung der Verordnung Nr. 2454/93 (ABl. 2005, L 148, S. 5) bestimmt Art. 81 der Verordnung Nr. 2454/93, dass Ursprungserzeugnisse, sofern sie unmittelbar befördert worden sind, bei der Einfuhr in die Union die Zollpräferenzbehandlung nach dieser Verordnung in der Regel auf Vorlage eines von den Zollbehörden oder anderen zuständigen Regierungsbehörden des von der Präferenzbehandlung begünstigten Landes ausgestellten Ursprungszeugnisses nach Formblatt A erhalten. Da das Ursprungszeugnis nach Formblatt A der Nachweis für die Inanspruchnahme der Zollpräferenzen im Sinne dieser Verordnung ist, sieht Art. 83 dieser Verordnung vor, dass es den Regierungsbehörden des Ausfuhrlands obliegt, die zur Prüfung des Ursprungs der Erzeugnisse und der Richtigkeit der übrigen Angaben in dem Ursprungszeugnis erforderlichen Bestimmungen zu treffen. 97 Die Art. 93 bis 95 der Verordnung Nr. 2454/93 betreffen die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen zwischen den vom APS begünstigten Ländern und der Kommission, zu denen die nachträgliche Überprüfung der Ursprungszeugnisse nach Formblatt A immer dann gehört, wenn die Zollbehörden der Union begründete Zweifel an deren Echtheit, der Ursprungseigenschaft der betreffenden Erzeugnisse oder der Erfüllung der übrigen Voraussetzungen des den APS betreffenden Abschnitts der Verordnung haben, wobei die Behörden des Ausfuhrlands diese Prüfung innerhalb von sechs Monaten durchzuführen und ihr Ergebnis den Zollbehörden der Union zur Kenntnis zu bringen haben (Art. 94 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 2454/93). Außerdem sieht Art. 94 Abs. 6 der Verordnung Nr. 2454/93 vor, dass das begünstigte Ausfuhrland, wenn das Prüfungsverfahren oder andere verfügbare Angaben darauf schließen lassen, dass die Vorschriften des den APS betreffenden Abschnitts nicht eingehalten worden sind, von sich aus oder auf Antrag der Union die erforderlichen Ermittlungen durchführt oder die erforderlichen Vorkehrungen dafür trifft, dass diese Ermittlungen mit der gebotenen Dringlichkeit durchgeführt werden, um solche Zuwiderhandlungen festzustellen und zu verhüten, und dass die Union zu diesem Zweck an diesen Ermittlungen mitwirken kann. Schließlich sieht Art. 94 Abs. 7 der Verordnung Nr. 2454/93 vor, dass die Abschriften der Ursprungszeugnisse nach Formblatt A von den Regierungsbehörden des Ausfuhrlands mindestens drei Jahre lang aufbewahrt werden. 98 Somit ergibt sich aus der Verordnung Nr. 980/2005 in Verbindung mit der Verordnung Nr. 732/2008 einerseits und der Verordnung Nr. 2454/93 in der Fassung der Verordnung Nr. 883/2005 andererseits, dass der Präferenzstatus der betroffenen Erzeugnisse anhand eines Systems der administrativen Zusammenarbeit unter Beteiligung der Behörden eines Drittlands, nämlich denen von El Salvador, ermittelt wurde. 99 Daher stellte der von den salvadorianischen Behörden bei der Ausstellung der Ursprungszeugnisse nach Formblatt A begangene Irrtum gemäß Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 ZK einen Irrtum dar, von dem zu vermuten ist, dass er im Sinne von Unterabs. 1 dieser Bestimmung vernünftigerweise nicht hätte erkannt werden können. 100 Unter diesen Umständen ist im Folgenden weiter zu prüfen, ob die anderen Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK im vorliegenden Fall erfüllt sein müssen oder ob dies – wie das Königreich Spanien geltend macht – nicht erforderlich ist, weil die Kommission in dem angefochtenen Beschluss nicht festgestellt hat, dass der Irrtum auf einer unrichtigen Darstellung des Sachverhalts beruht habe oder die salvadorianischen Behörden gewusst hätten oder hätten wissen müssen, dass die vorgelegten Bescheinigungen unrichtig gewesen seien. Verpflichtung zur Erfüllung der anderen Voraussetzungen des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK 101 Das Königreich Spanien hält die Bezugnahmen der Kommission auf die Voraussetzungen hinsichtlich der Gutgläubigkeit und der Vorschriften über die Zollanmeldung für rechtswidrig, weil die Kommission in dem angefochtenen Beschluss nicht festgestellt habe, dass der Irrtum der salvadorianischen Behörden auf einer unrichtigen Darstellung des Sachverhalts durch den Ausführer beruht habe. 102 Die Kommission ist im Wesentlichen der Ansicht, dass die drei Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 ZK erfüllt sein müssten, um von der Nacherhebung der Zollschuld absehen zu können, und dass sie zu Recht geprüft habe, ob der Zollschuldner gutgläubig gewesen sei und die Vorschriften über die Zollanmeldung beachtet habe. Was die Voraussetzung der Gutgläubigkeit betrifft, ist die Kommission außerdem der Ansicht, dass der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 eingeführte Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 4 ZK auf den Fall des Zollschuldners anwendbar sei und es einem Zollschuldner, der nicht sorgfältig gehandelt habe, verwehre, sich auf seine Gutgläubigkeit zu berufen. 103 Um auf die Argumente des Königreichs Spanien einzugehen, ist genau zu bestimmen, ob die Verordnung Nr. 2700/2000 in Bezug auf Anträge auf Absehen von der Nacherhebung eine besondere Regelung für den Fall eingeführt hat, dass eingeführte Erzeugnisse einen Präferenzstatus genießen. 104 Wie sich bereits aus den Rn. 92 bis 99 des vorliegenden Urteils ergibt, stellt die Ausstellung einer unrichtigen Bescheinigung durch die Behörden gemäß Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 ZK dann, wenn der Präferenzstatus einer Ware anhand eines Systems der administrativen Zusammenarbeit unter Beteiligung der Behörden eines Drittlands ermittelt wird, einen Irrtum dar, von dem vermutet wird, dass er im Sinne von Unterabs. 1 vernünftigerweise nicht hätte erkannt werden können, so dass eine solche Regelung eine Ausnahme ist, weil sie als Ausgangspunkt der Beurteilung eine gesetzliche Vermutung vorsieht, die bei der Würdigung der hier in Rede stehenden kumulativen Voraussetzungen zu berücksichtigen ist (siehe oben, Rn. 47). 105 Zudem ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 2700/2000 – auf die das Königreich Spanien vor allem seine Auffassung stützt, sie habe eine Sonderregelung für die nachträgliche buchmäßige Erfassung von Einfuhrabgaben im Rahmen der Präferenzregelungen eingeführt – Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK ergänzt, indem sie seinem ersten Unterabsatz vier weitere Unterabsätze hinzufügt, die alle die Präferenzregelung betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2006, Beemsterboer Coldstore Services, C‑293/04, EU:C:2006:162, Rn. 3 und 4). Außerdem verstärkt die Neufassung den Vertrauensschutz des betroffenen Wirtschaftsteilnehmers im Hinblick auf Irrtümer der Zollbehörden im Zusammenhang mit dem Präferenzstatus von Waren aus Drittländern (Urteil vom 9. März 2006, Beemsterboer Coldstore Services, C‑293/04, EU:C:2006:162, Rn. 25), indem sie für den besonderen Fall der Präferenzbehandlung von Waren aus Drittländern eine Klarstellung bewirkt (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Beemsterboer Coldstore Services, C‑293/04, EU:C:2005:527, Nr. 29). 106 Somit ergibt sich aus diesen Vorbemerkungen, dass Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 bis 5 ZK Sonderregelungen eingeführt hat, nach denen angefallene Einfuhrabgaben nicht nachträglich buchmäßig erfasst werden, wenn der Präferenzstatus einer Ware anhand eines Systems der administrativen Zusammenarbeit unter Beteiligung der Behörden eines Drittlands ermittelt wird. Entgegen der von der Kommission vertretenen Auffassung ist der Antrag auf Absehen von der Nacherhebung von Einfuhrabgaben im Hinblick auf Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 bis 5 ZK zu prüfen. 107 Allerdings ist ein Antrag auf Absehen von der Nacherhebung von Einfuhrabgaben auch unter Berücksichtigung der Bestimmungen des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 ZK und somit der darin genannten Voraussetzungen zu prüfen, die kumulativ und zusätzlich zu der Voraussetzung erfüllt sein müssen, dass der Irrtum der zuständigen Behörden vernünftigerweise nicht hätte erkannt werden können (siehe oben, Rn. 92 bis 99), nämlich dass der Zollschuldner gutgläubig war und alle Bestimmungen der geltenden Regelung beachtet hat (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 1. Oktober 2009, Agrar-Invest-Tatschl/Kommission, C‑552/08 P, EU:C:2009:605, Rn. 52, 55 und 56, sowie Urteil vom 15. Dezember 2011, Afasia Knits Deutschland, C‑409/10, EU:C:2011:843, Rn. 47). 108 Was erstens die Voraussetzung der Gutgläubigkeit des Zollschuldners betrifft, geht aus Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 4 ZK hervor, dass der Abgabenschuldner Gutgläubigkeit nur geltend machen kann, wenn er darzulegen vermag, dass er sich während des Ablaufs des fraglichen Handelsgeschäfts mit der gebotenen Sorgfalt vergewissert hat, dass alle Voraussetzungen für eine Präferenzbehandlung erfüllt wurden (Urteil vom 16. Dezember 2010, HIT Trading und Berkman Forwarding/Kommission, T‑191/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2010:535, Rn. 53). 109 Daher macht das Königreich Spanien zu Unrecht geltend, dass die Kommission rechtswidrig auf die Voraussetzung der Gutgläubigkeit Bezug genommen habe, bevor sie darüber entschieden habe, ob die angefallenen Einfuhrabgaben gemäß Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK in der Fassung der Verordnung Nr. 2700/2000 nachzuerheben gewesen seien. 110 Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass zwischen der Voraussetzung der Gutgläubigkeit des Wirtschaftsteilnehmers und derjenigen der fehlenden Kenntnis vom Irrtum der Zollbehörden ein gewisser Zusammenhang besteht. Um die Frage zu beantworten, ob ein Wirtschaftsteilnehmer gutgläubig gehandelt hat, muss u. a. notwendigerweise festgestellt werden, ob er den Irrtum der zuständigen Behörden vernünftigerweise hätte erkennen können (vgl. entsprechend Urteile vom 14. Mai 1996, Faroe Seafood u. a., C‑153/94 und C‑204/94, EU:C:1996:198, Rn. 83 und 98 bis 102, vom 18. Oktober 2007, Agrover, C‑173/06, EU:C:2007:612, Rn. 30, und vom 15. Dezember 2011, Afasia Knits Deutschland, C‑409/10, EU:C:2011:843, Rn. 47). 111 Nunmehr ist zu prüfen, in welcher Weise die Voraussetzung der Gutgläubigkeit des Wirtschaftsteilnehmers im Hinblick auf die Anwendung des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 bis 4 ZK in dem rechtlichen Zusammenhang zu sehen ist, der sich aus dem Erlass der Verordnung Nr. 2700/2000 ergibt, d. h. auf dem Gebiet der Präferenzregelungen. Dazu ist es erforderlich, die Erkenntnisse zu berücksichtigen, die sich aus den Erwägungsgründen dieser Verordnung, aus dem Verfahren, das ihrem Erlass vorausging, und aus der Rechtsprechung gewinnen lassen. 112 Was zunächst die Erwägungsgründe der Verordnung Nr. 2700/2000 betrifft, ist es deren elften Erwägungsgrund zufolge erforderlich, für die Präferenzbehandlung die Begriffe „Irrtum der Zollbehörden“ und „Gutgläubigkeit des Abgabenschuldners“ zu definieren. Dieser Erwägungsgrund befasst sich zunächst mit der Frage des Irrtums der Drittlandsbehörden und fährt dann mit dem allgemeinen Hinweis fort, dass der Abgabenschuldner Gutgläubigkeit geltend machen kann, wenn er darlegen kann, dass er mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, es sei denn, es wurde im Amtsblatt der Europäischen Union eine Mitteilung veröffentlicht, dass begründete Zweifel bestehen. Dieser Erwägungsgrund ist somit als Hinweis darauf zu verstehen, dass die Gutgläubigkeit des Zollschuldners zu prüfen ist, wenn der von den Behörden des Drittlands begangene Irrtum zur Ausstellung einer unrichtigen Bescheinigung geführt hat, unabhängig davon, ob dieser Irrtum auf eigenes Verschulden dieser Behörden oder auf eine unrichtige Darstellung der Fakten durch den Ausführer zurückzuführen ist. 113 Was sodann das Verfahren zum Erlass der Verordnung Nr. 2700/2000 betrifft, ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Änderung des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK in dem Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung Nr. 2913/92 (ABl. 1998, C 228, S. 8) nicht vorgesehen war. 114 Im Anschluss an die Stellungnahme des Europäischen Parlaments in erster Lesung, in der vorgeschlagen worden war, Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK einen zweiten und einen dritten Unterabsatz hinzuzufügen, hatte die Kommission einen geänderten Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung Nr. 2913/92 (ABl. 2000, C 248 E, S. 1) vorgelegt. 115 Zudem ergibt sich aus dem Protokoll der 2248. Tagung des Rates der Europäischen Union (Binnenmarkt) in Brüssel (Belgien) vom 16. März 2000, bei der eine politische Einigung über den Vorschlag zur Änderung des Zollkodex erzielt worden war, dass dieser Vorschlag vorsah, die Begriffe „Irrtum der Zollbehörden“ und „Gutgläubigkeit des Einführers“ in Bezug auf Transaktionen mit Waren, die aufgrund von den Behörden eines Drittlands unrichtig ausgestellter Bescheinigungen Gegenstand einer Präferenzbehandlung waren, genau zu definieren. 116 Der Gemeinsame Standpunkt (EG) Nr. 31/2000 vom 25. Mai 2000, vom Rat festgelegt gemäß dem Verfahren des Artikels 251 EG im Hinblick auf den Erlass einer Verordnung (EG) des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung des Zollkodex (ABl. 2000, C 208, S. 1), enthält die Erwägungsgründe und Bestimmungen, die in Gestalt der Verordnung Nr. 2700/2000 endgültig angenommen wurden. 117 Zweitens hat das für den Binnenmarkt zuständige Mitglied der Kommission in der Pressemitteilung IP/2000/1123 vom 5. Oktober 2000 darauf hingewiesen, dass die betreffende Änderung eine neue Definition des Schutzes des guten Glaubens von Wirtschaftsteilnehmern einführe, die Waren im Rahmen von Präferenzregelungen importieren, falls die Ursprungszeugnisse sich als unrichtig erweisen sollten, und dass die Einführer somit wissen sollten, dass sie nicht automatisch exkulpiert seien, nur weil ein gefälschtes Ursprungszeugnis vom Exporteur in einem Land außerhalb der EU stamme. 118 Somit geht aus dem Verfahren zum Erlass der Verordnung Nr. 2700/2000 eindeutig hervor, dass Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 4 ZK, der die Gutgläubigkeit des Zollschuldners betrifft, zur Anwendung kommt, wenn Bescheinigungen, die zur Inanspruchnahme einer Präferenzregelung berechtigen, von den Behörden eines Drittlands unrichtig ausgestellt wurden, was das oben in Rn. 112 a. E. gefundene Ergebnis bestätigt. 119 Drittens ergibt sich, wie der Gerichtshof entschieden hat, aus dem elften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2700/2000, dass die Änderung des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK bezweckte, für den besonderen Fall der Präferenzbehandlung die Begriffe „Irrtum der Zollbehörden“ und „Gutgläubigkeit des Abgabenschuldners“ zu definieren, und dass dieser Artikel, ohne eine inhaltliche Änderung vorzunehmen, diese beiden Begriffe erläutern sollte, die bereits in der ursprünglichen Fassung des Art. 220 enthalten waren und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs präzisiert worden sind (vgl. Urteil vom 9. März 2006, Beemsterboer Coldstore Services, C‑293/04, EU:C:2006:162, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). Aufgrund dessen hat der Unionsrichter festgestellt, dass Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK in erster Linie Auslegungscharakter hat (Urteil vom 9. März 2006, Beemsterboer Coldstore Services, C‑293/04, EU:C:2006:162, Rn. 23). 120 Damit hat der Gerichtshof die Erwägungen in den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Beemsterboer Coldstore Services, (C‑293/04, EU:C:2005:527, Nrn. 29 und 32) übernommen, nach denen zum einen mit der Neufassung von Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK keine Änderung, sondern nur eine Klarstellung für den besonderen Fall der Präferenzbehandlung von Waren aus Drittländern beabsichtigt war, weil der Unionsgesetzgeber es für erforderlich gehalten hatte, die Begriffe „Irrtum der Zollbehörden“ und „Gutgläubigkeit des Abgabenschuldners“ genauer zu definieren, und zum anderen die Neufassung dieser Bestimmung lediglich dazu diente, die bisherige Rechtslage für den besonderen Fall von Irrtümern der Zollbehörden im Zusammenhang mit dem Präferenzstatus von Waren aus Drittländern zu kodifizieren und zu präzisieren. 121 Unter diesen Umständen bleibt die bisherige Rechtsprechung zur Nacherhebung von Einfuhrabgaben weiterhin anwendbar. Wie oben in Rn. 110 ausgeführt, folgt daraus, dass zwischen der Voraussetzung der Gutgläubigkeit des Wirtschaftsteilnehmers und derjenigen der fehlenden Kenntnis vom Irrtum der Zollbehörden ein gewisser Zusammenhang besteht, weil zur Beantwortung der Frage, ob der Wirtschaftsteilnehmer gutgläubig gehandelt hat, u. a. festgestellt werden muss, ob er den Irrtum der zuständigen Behörden vernünftigerweise hätte erkennen können. 122 Ungeachtet des Umstands, dass ein von den Behörden eines Drittlands bei der Ausstellung einer unrichtigen Bescheinigung begangener Irrtum gemäß Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 ZK einen Irrtum darstellt, von dem zu vermuten ist, dass er im Sinne von Unterabs. 1 vernünftigerweise nicht hätte erkannt werden können (siehe oben, Rn. 99), ist folglich auch zu berücksichtigen, dass zwischen der Voraussetzung der Gutgläubigkeit des Wirtschaftsteilnehmers und derjenigen der fehlenden Kenntnis vom Irrtum der Zollbehörden ein gewisser Zusammenhang besteht (vgl. oben, Rn. 121), was zur Folge hat, dass diese Voraussetzungen jedenfalls im Licht der gesetzlichen Vermutung von Unterabs. 2 dieser Bestimmung anhand der konkreten Umstände des Falls zu prüfen sind. 123 Eine solche Auslegung hält auch die praktische Wirksamkeit von Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 4 ZK aufrecht, weil die Gutgläubigkeit des Zollschuldners unter den in dieser Bestimmung genannten Voraussetzungen geltend gemacht und von der Kommission im Einzelfall und unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des jeweiligen Falls geprüft werden kann, selbst wenn vermutet wird, dass der Irrtum vernünftigerweise nicht hätte erkannt werden können. 124 Was sodann die Voraussetzung der Beachtung der für die Zollerklärung geltenden Bestimmungen betrifft, ist festzustellen, dass die neuen, durch die Verordnung Nr. 2700/2000 in Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK eingefügten Bestimmungen keinerlei Bezugnahme darauf enthalten. Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass bei der Prüfung eines Antrags auf Absehen von der Nacherhebung von Einfuhrabgaben auch die Bestimmungen des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 ZK und somit die darin genannten Voraussetzungen, die kumulativ erfüllt sein müssen (siehe oben, Rn. 92 bis 99), zu berücksichtigen sind, nämlich insbesondere die Voraussetzung, dass der Zollschuldner gutgläubig gewesen sein und alle Bestimmungen der geltenden Regelung beachtet haben muss (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 1. Oktober 2009, Agrar-Invest-Tatschl/Kommission, C‑552/08 P, EU:C:2009:605, Rn. 52, 55 und 56, sowie Urteil vom 15. Dezember 2011, Afasia Knits Deutschland, C‑409/10, EU:C:2011:843, Rn. 47). 125 Daher findet die Voraussetzung der Einhaltung der für die Zollerklärung geltenden Regelung Anwendung, wenn das Nacherhebungsverfahren den Präferenzstatus einer Ware betrifft und die Behörden eines Drittlands insoweit eine unrichtige Bescheinigung ausgestellt haben. Anwendung der anderen Voraussetzungen des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK 126 Wie sich aus Rn. 123 des vorliegenden Urteils ergibt, hindert der Umstand, dass der von den zuständigen Behörden begangene Irrtum einen Irrtum darstellt, von dem zu vermuten ist, dass er vernünftigerweise nicht hätte erkannt werden können, die Kommission nach der oben in Rn. 121 angeführten Rechtsprechung keineswegs, unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob der Zollschuldner gutgläubig war. 127 Außerdem muss die Kommission auch die Voraussetzung der Beachtung der für die Zollerklärung geltenden Regelung prüfen, so dass angesichts des Vorbringens des Königreichs Spanien zu untersuchen ist, ob der angefochtene Beschluss in diesem Punkt mit Fehlern behaftet ist. – Umstände, die die Gutgläubigkeit des Zollschuldners betreffen 128 Vorab ist festzustellen, dass bei der Prüfung der Frage, ob der Zollschuldner im vorliegenden Fall gutgläubig war, insbesondere zwei von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss angeführte Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen. 129 Erstens gehört der Zollschuldner einem Konzern an, der auf dem Gebiet der Fischerei sowie der Zubereitung, Verarbeitung, Verpackung und Vermarktung von als Frischware, Kühlware oder Konserven angebotenen Fischereierzeugnissen für den menschlichen Verzehr weltweit tätig ist (39. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). 130 Zweitens handelt es sich bei dem Ausführer der betroffenen Erzeugnisse, von dem die Angaben stammten, auf deren Grundlage die Ursprungszeugnisse nach Formblatt A ausgestellt wurden, um eine Gesellschaft desselben Konzerns, zu dem auch der Zollschuldner gehört (Erwägungsgründe 37 und 46 des angefochtenen Beschlusses), und die beiden Schiffe, die unter zwei Flaggen fuhren, stehen in Eigentum dieses Konzerns (43. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). Nach Auffassung der Kommission wäre es unter diesen Umständen nicht hinnehmbar, wenn die sich aus der Anwendung des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 ZK ergebende Vermutung, dass der Irrtum vernünftigerweise nicht hätte erkannt werden können, dazu führen würde, die Gutgläubigkeit des Zollschuldners anzuerkennen. 131 In dieser Hinsicht geht aus der Rechtsprechung insbesondere hervor, dass der Irrtum der zuständigen Behörden so geartet sein muss, dass er vom gutgläubigen Zollschuldner trotz seiner Berufserfahrung und der von ihm aufgewandten Sorgfalt vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2002, Ilumitrónica, C‑251/00, EU:C:2002:655, Rn. 38). 132 In einem ersten Schritt ist festzustellen, dass das Königreich Spanien die von der Kommission in dem angefochtenen Beschluss angeführten Umstände in Bezug auf die Berufserfahrung des Zollschuldners (siehe oben, Rn. 129) nicht bestreitet, sondern im Gegenteil einräumt, dass die Kommission im 39. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses zu Recht festgestellt habe, dass der Zollschuldner ein sehr erfahrener Wirtschaftsteilnehmer gewesen sei, es aber zugleich geltend macht, die Berufserfahrung des Zollschuldners sei kein Präjudiz dafür, dass er die in Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK vorgesehenen Voraussetzungen nicht beachtet habe. 133 Es trifft zwar zu, dass die Berufserfahrung für sich genommen die Gutgläubigkeit des Wirtschaftsteilnehmers oder die Nichterkennbarkeit des Irrtums nicht ausschließt, wie das Königreich Spanien betont. Dennoch ist festzustellen, dass von einem erfahrenen Wirtschaftsteilnehmer erwartet werden kann, den administrativen und faktischen Gegebenheiten, deren Beurteilung in den üblichen Rahmen seiner Tätigkeit fällt, erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken, so dass er jede Abweichung von dem, was eine gewöhnliche und korrekte Praxis darstellt, leichter erkennen kann. 134 In einem zweiten Schritt ist, was die Sorgfalt betrifft, darauf hinzuweisen, dass der Wirtschaftsteilnehmer sich, wenn er Zweifel hat, nach Kräften informieren muss, um die jeweiligen Vorschriften nicht zu verletzen (vgl. entsprechend Urteile vom 11. November 1999, Söhl & Söhlke, C‑48/98, EU:C:1999:548, Rn. 58, und vom 13. September 2007, Common Market Fertilizers/Kommission, C‑443/05 P, EU:C:2007:511, Rn. 191). 135 Aus dem angefochtenen Beschluss ergibt sich, dass die Kommission die Voraussetzung der Sorgfalt des Wirtschaftsteilnehmers anhand der verschiedenen Umstände geprüft hat, die sie als Verstoß gegen die Ursprungsregeln beurteilt hatte. 136 Soweit es erstens um die Voraussetzung betreffend die Zusammensetzung der Besatzung der Fischereischiffe geht, hat die Kommission die Auffassung vertreten, der Zollschuldner habe angesichts der Art seiner Tätigkeit und seiner Zugehörigkeit zu einem Konzern, der auf mehreren Weltmeeren tätig und folglich unterschiedlichen Regelungen unterworfen sei, nicht sorgfältig gehandelt, indem er die in den Verordnungen Nrn. 980/2005 und 732/2008 vorgesehenen Voraussetzungen für die Gewährung der Zollpräferenzbehandlung nicht beachtet habe. 137 Zweitens hat die Kommission festgestellt, dass der Ausführer in bestimmten Fällen gleichzeitig entweder von der spanischen und der französischen Handelskammer ausgestellte Zeugnisse über den nicht präferenziellen Ursprung sowie nicht von den Zollbehörden der Union im Hinblick auf das AKP-Abkommen ausgestellte Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 oder von den Behörden der Seychellen ausgestellte Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 sowie von den Behörden Panamas ausgestellte Ursprungszeugnisse nach Formblatt A vorgelegt habe. Sie hat die Auffassung vertreten, dass es unter diesen Umständen mangels der erforderlichen Rückverfolgbarkeit nicht möglich gewesen sei, die Herkunft des Thunfischs festzustellen, und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Zollschuldner gegen die anwendbaren Ursprungsregeln und Vorschriften über die Zollanmeldung verstoßen habe. 138 Drittens hat die Kommission festgestellt, dass die Begriffe „zweifache Registrierung“, „Registernummer“ und „zweifache Staatszugehörigkeit“ der Schiffe nicht unklar, sondern durch das Recht der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) eindeutig definiert seien. Des Weiteren hat sie ausgeführt, das Unionsrecht verlange eindeutig, dass ein Fischereifahrzeug nur in einem Land registriert sein und nur eine einzige Flagge führen dürfe, um am APS teilnehmen zu können. Die Kommission hat indessen geltend gemacht, die beiden betroffenen Schiffe seien in den Seychellen registriert gewesen und fünf Jahre lang unter der Flagge dieses Landes gefahren; gleichwohl habe der Zollschuldner – weil sie in El Salvador registriert gewesen seien und die salvadorianische Flagge geführt hätten – erklärt, dass die Voraussetzungen des Art. 68 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2454/93 für die Gewährung der APS-Präferenz erfüllt gewesen seien. 139 Viertens hat die Kommission ausgeführt, die Angaben, auf deren Grundlage die salvadorianischen Behörden die Ursprungszeugnisse nach Formblatt A ausgestellt hätten, stammten von einer Tochtergesellschaft des Konzerns des Zollschuldners. 140 Daraus hat die Kommission den Schluss gezogen, dass der Zollschuldner nicht die Sorgfalt an den Tag gelegt habe, die von einem gewerblichen Wirtschaftsbeteiligten bei der für die betroffenen Erzeugnisse erforderlichen zollrechtlichen Behandlung angesichts der von ihr festgestellten Situationen erwartet werde. 141 In einem dritten Schritt ist auf die verschiedenen Argumente einzugehen, mit denen das Königreich Spanien die mangelnde Sorgfalt des Zollführers in Abrede stellt. 142 Erstens macht das Königreich Spanien vorab geltend, es sei widersprüchlich, wenn in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt werde, dass die salvadorianischen Behörden einen Irrtum begangen hätten, ohne dass der Ausführer eine unrichtige Darstellung der Fakten geliefert habe, und dass der Zollschuldner es in Bezug auf dieselben Fakten an Sorgfalt habe fehlen lassen. 143 Dazu ist zwar darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung der Nichterkennbarkeit des von den zuständigen Behörden begangenen Irrtums unbestreitbar in einem gewissen Zusammenhang mit der Frage der Gutgläubigkeit des Zollschuldners steht, wie sich aus der Rechtsprechung ergibt. Es kann jedoch nicht angenommen werden, dass die Vermutung, der Irrtum hätte vernünftigerweise nicht erkannt werden können, die sich aus der Anwendung der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 eingeführten Regel des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 2 ZK ergibt, automatisch und zwangsläufig zur Folge haben soll, dass die Gutgläubigkeit des Zollschuldners festgestellt werden müsse. Im vorliegenden Fall gilt dies angesichts der in den Rn. 128 bis 130 des vorliegenden Urteils bereits festgestellten Umstände erst recht. Was den vom Königreich Spanien angeführten Widerspruch zwischen der Feststellung eines begangenen Irrtums und dem Fehlen einer unrichtigen Darstellung der Fakten durch den Ausführer betrifft, werden keine Argumente zur Stützung dieses Vorbringens vorgetragen, dessen Logik sich auch nicht aus der Rechtsprechung erschließt. Das Gleiche gilt für den vermeintlichen Widerspruch zwischen dem Fehlen einer unrichtigen Darstellung der Fakten durch den Ausführer und der mangelnden Sorgfalt des Zollschuldners in Bezug auf dieselben Fakten. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Gutgläubigkeit des Zollschuldners unmittelbar aus dem Verhalten des Ausführers ergibt, weil dessen Verhalten dem Zollschuldner insbesondere nicht unter Umständen zugutekommen kann, unter denen die vom Ausführer gemachten tatsächlichen Angaben nicht zur Ausstellung von Ursprungszeugnissen nach Formblatt A durch die zuständigen Behörden des betreffenden Drittlands führen können. Somit ist festzustellen, dass die vorstehenden Ausführungen des Königreichs Spanien im Hinblick darauf zu beurteilen sind, dass bestimmte Irrtümer der salvadorianischen Zollbehörden auf die Berücksichtigung ursprünglicher Bescheinigungen, die offenkundig nicht als zur Erlangung der Präferenzbehandlung geeignet angesehen werden können, und andere Irrtümer auf erhebliche Verstöße, insbesondere gegen die Verpflichtungen in Bezug auf die Besatzung und die Flagge der betreffenden Schiffe, zurückzuführen waren. 144 Das Vorbringen des Königreichs Spanien ist daher zurückzuweisen. 145 Zweitens ist das Königreich Spanien zum einen der Ansicht, es sei unverhältnismäßig, vom Zollschuldner zu verlangen, die Zusammensetzung der Besatzung eines jeden Schiffs zum Zeitpunkt der verschiedenen Fänge zu kennen, die von nicht zum Calvo-Konzern gehörenden Schiffen erzielt worden seien, so dass dieser Konzern keine Angaben über die Zusammensetzung der Besatzung habe verlangen können. Es trägt vor, der Zollschuldner habe zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, indem er von seinen Lieferanten einen Eigentumsnachweis verlangt habe, der bescheinige, dass die Regelung in Bezug auf die Zusammensetzung der Besatzung eingehalten worden sei. Zum anderen beruft es sich darauf, dass die Komplexität der den Ursprung von Fischereierzeugnissen betreffenden Regelung eines der Kriterien sei, die für die Beurteilung der Voraussetzungen des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK von Belang seien, und dass diese Komplexität im vorliegenden Fall außer Zweifel stehe. 146 Zum ersten Argument, dem zufolge es unverhältnismäßig sein soll, vom Zollschuldner die Kenntnis der Zusammensetzung der Besatzung der Schiffe zu verlangen, die die fraglichen Fänge getätigt hätten, ist festzustellen, dass die Kommission dies in dem angefochtenen Beschluss zwar vom Zollschuldner verlangt hat, in ihren Schriftsätzen an das Gericht das Gleiche aber auch vom Ausführer verlangt. Jedenfalls ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die mangelnde Sorgfalt des Ausführers bei der Prüfung der die Zusammensetzung der Besatzung der Schiffe betreffenden Voraussetzung in Anbetracht der Zugehörigkeit des Zollschuldners und des Ausführers zum selben Konzern auch dem Zollschuldner zugerechnet werden kann, insbesondere weil Gesellschaften, die zum selben Konzern gehören, die Möglichkeit haben, sich zu erkundigen. Zudem ist festzustellen, dass das Königreich Spanien mit der Vorlage von Nachweisen über das Eigentum an den Schiffen, aus denen die Zusammensetzung der Besatzung hervorgeht und die der Calvo-Konzern sich angeblich von den Schiffseignern üblicherweise ausstellen lässt, in Wirklichkeit einen klaren Hinweis darauf liefert, dass die vom Ausführer oder vom Zollschuldner verlangte Kenntnis der Zusammensetzung der Besatzung offenkundig nicht unverhältnismäßig ist und dass es sich im Gegenteil um eine im Fischereisektor recht gängige Praxis handelt, insbesondere wenn die Fänge dieser Schiffe zur Einfuhr in die Union im Rahmen des APS bestimmt sind. Unter diesen Umständen kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Ausführer oder der Zollschuldner, der die APS-Präferenz in Anspruch nehmen möchte, sich von seinen Lieferanten – auch denen, die nicht zum Calvo-Konzern gehören – im Rahmen ihrer Geschäftsbeziehungen Angaben zur Zusammensetzung der Besatzung verschaffen kann, ungeachtet der Behauptung des Königreichs Spanien, solche Informationen seien vor allem deshalb schwer zu erlangen, weil sich die Zusammensetzung der Besatzung zum Zeitpunkt der jeweiligen Fänge geändert haben könne und bestimmte Personen nicht ständig an Bord seien. Außerdem steht die Beachtung der Bestimmungen über den Schutz personenbezogener Daten – im Gegensatz zum Vorbringen des Königreichs Spanien – einer solchen Sichtweise nicht entgegen, weil in der Praxis mehrere Möglichkeiten bestehen, derartige Daten ohne Verstoß gegen die genannten Bestimmungen zu erheben und aufzubewahren, indem nämlich von den betroffenen Personen – insbesondere, was die nicht zum Konzern des Ausführers und des Zollschuldners gehörenden Schiffe betrifft – die hierfür erforderlichen Einwilligungen eingeholt werden. Dem Vorbringen des Königreichs Spanien zu diesem Punkt zu folgen, würde zudem das Erfordernis hinfällig machen, die Zusammensetzung der Besatzung der Schiffe zum Zeitpunkt des Fangs nachzuweisen, obwohl feststeht, dass im vorliegenden Fall aufgrund der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Vorschriften eine solche Verpflichtung bestand. 147 Zu den sieben Bescheinigungen, die das Königreich Spanien dem Gericht vorgelegt hat, trägt die Kommission vor, aus ihnen ergebe sich nicht, dass die Voraussetzung in Bezug auf die Zusammensetzung der Schiffsbesatzung, nach der 75 % der Besatzungsmitglieder Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Union oder des von der Zollpräferenzbehandlung begünstigten Landes sein müssten, erfüllt gewesen sei. Hierzu ist festzustellen, dass diese Bescheinigungen, wie die Kommission zu Recht vorträgt, nur den Prozentsatz der Besatzungsmitglieder angeben, die Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Union oder eines beliebigen anderen zur APS-Kumulierungsgruppe II gehörenden Landes waren („porcentaje de nacionales de un País miembro de la UE o del grupo II de Países SPG“), und dass eine dieser Bescheinigungen sich auf den Prozentsatz der Besatzungsmitglieder bezog, die Staatsangehörige von Unterzeichnerstaaten des AKP-Abkommens waren. Unter diesen Umständen muss festgestellt werden, dass die fraglichen Bescheinigungen wegen ihrer ungenauen Angaben nicht geeignet sind, die Erfüllung der Voraussetzung in Bezug auf die Zusammensetzung der Besatzung darzutun. 148 Was schließlich die Komplexität der Regelung über den Ursprung von Fischereierzeugnissen betrifft, kann diese in Bezug auf den in der vorliegenden Rechtssache streitigen rechtlichen Gesichtspunkt nicht als gegeben angesehen werden. Art. 68 Abs. 1 Buchst. f und g sowie Abs. 2 fünfter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2454/93 in der auf den Sachverhalt anwendbaren Fassung bestimmt nämlich, dass als in einem begünstigten Land oder in der Union vollständig gewonnen oder hergestellt Erzeugnisse der Seefischerei und andere von ihren Schiffen außerhalb der eigenen Küstenmeere aus dem Meer gewonnene Erzeugnisse sowie Erzeugnisse gelten, die an Bord ihrer Fabrikschiffe hergestellt werden, wobei die Begriffe „ihre Schiffe“ und „ihre Fabrikschiffe“ nur auf Schiffe und Fabrikschiffe anwendbar sind, deren Besatzung zu mindestens 75 % aus Staatsangehörigen des begünstigten Landes oder der Mitgliedstaaten besteht. 149 Eine solche Regelung kann nicht als so komplex angesehen werden, dass sie einem sehr erfahrenen Wirtschaftsteilnehmer wie dem Zollschuldner oder dem Ausführer die Feststellung, ob sie beachtet wurde, übermäßig erschwert. Somit ist das Vorbringen des Königreichs Spanien in Bezug auf die Anzahl der Beschlüsse, mit denen die Kommission von der nachträglichen buchmäßigen Erfassung von Einfuhrabgaben im Thunfischsektor abgesehen haben soll, ohne dass behauptet wird, die Schwierigkeit der Regelung habe in diesen Fällen gerade die Frage der Zusammensetzung der Besatzung betroffen, ebenso zurückzuweisen wie sein Vorbringen hinsichtlich der Änderungen, die die Unionsorgane am Rechtsrahmen in APS-Angelegenheiten vorgenommen hätten. Solche Umstände lassen nämlich nicht darauf schließen, dass die Voraussetzung in Bezug auf die Zusammensetzung der Schiffsbesatzung komplex gewesen wäre. Zudem ist der Umstand, dass die Kommission sich für eine Vereinfachung der Ursprungsregeln im Rahmen der Präferenzregelungen eingesetzt hatte, die zur Abschaffung der Voraussetzung der Zusammensetzung der Schiffsbesatzung führte, allenfalls ein Indiz dafür, dass das Organ im Anschluss an eine Folgenabschätzung der in Rede stehenden Bestimmungen eine bessere gesetzgeberische Praxis anstrebte, ohne dass daraus geschlossen werden könnte, dass diese Bestimmungen für auf diesem Gebiet erfahrene Geschäftsleute schwer verständlich gewesen seien. Wie die Kommission zu Recht hervorhebt, ist im Übrigen nicht dargetan, dass die Ausführungen des Königreichs Spanien zur Komplexität der Regelung speziell der hier in Rede stehenden Voraussetzung hinsichtlich der Besatzung gegolten hätten. Ebenso ist auch der Umstand, dass zu diesem Punkt eine Konsultation zwischen dem OLAF und dem Juristischen Dienst der Kommission stattgefunden hat, kein ausschlaggebender Beweis für die Komplexität der hier in Rede stehenden Rechtsfrage. Was außerdem die Auslegung des Begriffs „Besatzung“ durch den Gerichtshof im Urteil vom 14. Mai 1996, Faroe Seafood u. a. (C‑153/94 und C‑204/94, EU:C:1996:198, Rn. 47), betrifft, kann die Beschränkung dieses Begriffs auf die ständige Schiffsmannschaft nicht als eine Quelle zusätzlicher Schwierigkeiten für die Feststellung angesehen werden, ob die in Art. 68 Abs. 1 und Abs. 2 fünfter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 2454/93 vorgesehene Regelung beachtet wurde, weil diese Beschränkung im Gegenteil dazu führt, dass man sich nur nach den Besatzungsmitgliedern zu erkundigen braucht, die in einer dauerhaften Verbindung zu dem Schiff stehen, das die vom APS begünstigten Fänge tätigt. 150 Das Vorbringen des Königreichs Spanien zu diesem Punkt ist daher zurückzuweisen. 151 Drittens ist das Königreich Spanien der Auffassung, der angefochtene Beschluss sei widersprüchlich, weil darin ausgeführt werde, dass der Zollschuldner aufgrund seiner Tätigkeit hätte wissen müssen, dass die Voraussetzung der Zusammensetzung der Besatzung nicht eingehalten worden sei, aber in Bezug auf die Fänge, deren Ursprung durch die von Panama ausgestellten Ursprungszeugnisse nach Formblatt A bescheinigt worden sei, den Irrtum nicht habe erkennen können. Außerdem sei die Kommission von ihrer Entscheidungspraxis abgewichen, der zufolge sie erfahrenen Wirtschaftsteilnehmern, die die gleiche Tätigkeit ausübten wie der Zollschuldner, die Zollabgaben stets erlassen habe, was ein im vorliegenden Fall zu berücksichtigender relevanter Umstand sei, auch wenn diese Beschlüsse in Anwendung des Art. 239 ZK oder der AKP-Regeln erlassen worden seien. 152 Zur Widersprüchlichkeit des angefochtenen Beschlusses ist festzustellen, dass aus dem 38. Erwägungsgrund dieses Beschlusses klar hervorgeht, aus welchen Gründen die Kommission der Ansicht war, dass der Fall der aus Panama stammenden Rohmaterialien anders zu behandeln sei als die übrigen Fälle. Der Ursprung der hier in Rede stehenden Rohmaterialien war durch Ursprungszeugnisse nach Formblatt A bescheinigt worden, die von den Behörden Panamas ausgestellt worden waren, eines Landes, das zum Regionalzusammenschluss II gehört, und nicht – wie im Fall der streitigen Einfuhren – durch Bescheinigungen anderer Art, die von den Behörden nicht zu demselben Regionalzusammenschluss gehörender Länder stammten. Angesichts dieser Umstände hat die Kommission eingeräumt, dass der Zollschuldner nicht habe wissen können, ob die von den salvadorianischen Behörden für die streitigen Einfuhren ausgestellten Ursprungszeugnisse nach Formblatt A ordnungsgemäß auf der Grundlage gleichartiger Bescheinigungen der panamaischen Behörden ausgestellt worden waren oder nicht. Somit weist der angefochtene Beschluss keinen Widerspruch auf. 153 In Bezug auf ihre bisherige Entscheidungspraxis macht die Kommission zu Recht geltend, dass die Beschlüsse REM 07/02 und REM 08/02 Fälle betroffen hätten, in denen es nicht um die Vorlage ursprünglicher, für die Zwecke des APS ungeeigneter Ursprungszeugnisse durch den Ausführer unter Umständen gegangen sei, unter denen – wie im vorliegenden Fall – Schuldner der Zollabgaben über eine besondere Berufserfahrung verfügten oder der Zollschuldner und der Ausführer demselben Konzern angehörten. Diese Beschlüsse betrafen nämlich Probleme, die eher mit der Zusammensetzung der Besatzung und im zweiten Fall auch mit der Frage zusammenhingen, wer Eigner der fraglichen Schiffe war. Was die weiteren vom Königreich Spanien vorgelegten Beschlüsse angeht, ist festzustellen, dass keiner von ihnen einen Fall betrifft, in dem der Zollschuldner und der Ausführer demselben Konzern angehörten. Somit handelt es sich um Beschlüsse, die andere Sachverhalte als den des vorliegenden Falls betreffen. Sie können daher keine Entscheidungspraxis begründen, die für die Lösung des vorliegenden Falls maßgeblich sein könnte. Zudem enthält keiner der genannten Beschlüsse die Feststellung, dass die in Rede stehende Regelung komplex sei und deshalb einen Erlass der Einfuhrabgaben rechtfertige. 154 Das Vorbringen des Königreichs Spanien zu diesem Punkt ist daher zurückzuweisen. 155 Viertens weist das Königreich Spanien darauf hin, dass der Zeitraum, während dessen die Zollbehörden dasselbe Verhalten an den Tag legen, nach der Rechtsprechung von einiger Bedeutung für die Beurteilung der Sorgfalt der Wirtschaftsteilnehmer sei. Die salvadorianischen Behörden hätten, obwohl sie über die ausgestellten Bescheinigungen ordnungsgemäß informiert worden seien, jahrelang keine Einwände gegen die Ausstellung von Ursprungszeugnissen nach Formblatt A erhoben, insbesondere nicht wegen der ihnen von der Kommission nicht zur Verfügung gestellten Stempel, und damit der Ausstellung unrichtiger Bescheinigungen Vorschub geleistet. 156 Mit der Kommission stellt das Gericht fest, dass das Argument, die zuständigen Behörden hätten ihren Standpunkt über längere Zeit beibehalten, für sich genommen nicht ausschlaggebend für die Beurteilung der Frage ist, ob der Zollschuldner mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, auch wenn es sich um einen hilfreichen Anhaltspunkt für die Prüfung handelt, ob ein Irrtum dieser Behörden vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2013, Recombined Dairy System/Kommission, T‑65/11, EU:T:2013:295, Rn. 25 und 29). In Anbetracht aller maßgeblichen Aspekte des vorliegenden Falls, genauer gesagt der Erfahrung des Zollschuldners, seiner Zugehörigkeit zum selben Konzern wie der Ausführer und der Art des begangenen Irrtums, kann der Zeitraum, zu dem die salvadorianischen Behörden ihren Standpunkt beibehielten, den Zollschuldner nicht von seiner mangelnden Sorgfalt entlasten. Abgesehen davon ist festzustellen, dass die Frage der Stempel, die die Kommission den genannten Behörden hätte zur Verfügung stellen müssen, keine Auswirkungen auf die Art des begangenen Irrtums und folglich auch nicht auf die Sorgfalt hat, die der Zollschuldner hätte an den Tag legen müssen. Im Anschluss an sein Vorbringen, dass die unterlassene Übergabe der Stempel ein der Kommission unmittelbar zuzurechnendes Versäumnis sei, das zweifellos zur Ausstellung unrichtiger Bescheinigungen und zur Fortdauer des Irrtums beigetragen habe, weist das Königreich Spanien im Übrigen selbst darauf hin, „dass es sich hierbei nicht um die Hauptursache für die Ausstellung unrichtiger Bescheinigungen handeln [könne]“. Dem ist hinzuzufügen, dass sich die Frage einer etwaigen Fälschung der Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1, die Grundlage der Ausstellung der Ursprungszeugnisse nach Formblatt A waren, im vorliegenden Fall nicht stellt, so dass die unterbliebene Überlassung der fraglichen Stempel durch die Kommission keine praktischen Folgen haben konnte. 157 Das Vorbringen des Königreichs Spanien zu diesem Punkt ist daher zurückzuweisen. 158 Fünftens trägt das Königreich Spanien vor, die Ursprungsregel sehe lediglich vor, dass die Schiffe in dem begünstigten Staat oder einem Mitgliedstaat registriert oder ins Schiffsregister eingetragen sein müssten, während der Ausschluss der Präferenzregelungen im Fall zweifacher Registrierung auf einer Auslegung durch die Kommission beruhe, die bei Einreichung der Anträge auf Bescheinigungen, in denen die Führung der Flagge der Seychellen angegeben worden sei, nicht bekannt gewesen sei. Daher ergäben sich die Folgen der zweifachen Registrierung aus einer komplexen Regelung, was sich auch darin zeige, dass die salvadorianischen Behörden die die Flagge betreffende Voraussetzung anders ausgelegt hätten als die Kommission. 159 Wie die Kommission zu Recht ausführt, räumt das Königreich Spanien insoweit ein, dass sowohl der Zollschuldner als auch der Ausführer wussten, dass die fraglichen Schiffe in zwei Ländern registriert waren. Es macht indessen geltend, der Ausführer habe den salvadorianischen Behörden in gutem Glauben angezeigt, dass zwei Flaggen geführt worden seien. Außerdem ist unstreitig, dass die fraglichen Schiffe im Eigentum einer anderen Gesellschaft des Konzerns standen, zu dem auch der Zollschuldner und der Ausführer gehören. 160 Entgegen dem Vorbringen des Königreichs Spanien kann nicht davon ausgegangen werden, dass die in Art. 68 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2454/93 vorgesehene Ursprungsregel besonders komplex ist. Diese Bestimmungen sehen nämlich vor, dass Schiffe, die vom APS begünstigte Fänge tätigen, in dem begünstigten Land oder in einem Mitgliedstaat registriert oder ins Schiffsregister eingetragen sein und die Flagge des begünstigten Landes oder eines Mitgliedstaats führen müssen. Somit ist davon auszugehen, dass die einzige noch relevante Frage die Folgen betrifft, die sich daraus ergeben, dass die beiden fraglichen Schiffe sowohl in El Salvador als auch in den Seychellen registriert waren. 161 Wie die Kommission mehrfach betont hat, regelt das Recht der UNO die Folgen, die sich für ein Schiff ergeben, wenn es unter mehreren Flaggen fährt. 162 So bestimmt Art. 92 Abs. 2 des am 10. Dezember 1982 in Montego Bay unterzeichneten und am 16. November 1994 in Kraft getretenen Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen, dass ein Schiff, das unter den Flaggen von zwei oder mehr Staaten fährt, von denen es nach Belieben Gebrauch macht, keine dieser Staatszugehörigkeiten gegenüber dritten Staaten geltend machen kann und dass es einem Schiff ohne Staatszugehörigkeit gleichgestellt werden kann. Aus dieser Regelung folgt, dass ein Schiff, das zwei Flaggen führt, sich nach internationalem Recht in einer rechtswidrigen Situation befindet. 163 Was die Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf den vorliegenden Fall betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen mit Beschluss 98/392/EG des Rates vom 23. März 1998 über den Abschluss des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 und des Übereinkommens vom 28. Juli 1994 zur Durchführung des Teils XI des Seerechtsübereinkommens (ABl. 1998, L 179, S. 1) im Namen der Union genehmigt wurde. Dies hat zur Folge, dass die Union daran gebunden ist und die Bestimmungen dieses Übereinkommens fortan integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind (Urteile vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland, C‑459/03, EU:C:2006:345, Rn. 82, und vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a., C‑308/06, EU:C:2008:312, Rn. 53). 164 Daher hat die Kommission die in Art. 68 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2454/93 vorgesehene Ursprungsregel zu Recht angewandt, indem sie die in Art. 92 Abs. 2 des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen getroffene Bestimmung berücksichtigt hat. Somit kann angesichts der recht einfachen Methode der Auslegung einer Bestimmung dieser Verordnung im Licht dieses Übereinkommens, die im Übrigen zum Zeitpunkt der maßgebenden Ereignisse keineswegs neu war, nicht davon ausgegangen werden, dass die in Rede stehende Regelung komplex war. Zudem kann das Königreich Spanien angesichts der Erfahrung des Ausführers und des Zollschuldners sowie ihrer Zugehörigkeit zu einem Konzern von internationaler Dimension auf dem Gebiet der Fischerei nicht mit Erfolg geltend machen, sie hätten die Regel in Bezug auf die zweifache Flagge und deren strikte Folgen nicht gekannt. 165 Unter diesen Umständen ist das gesamte Vorbringen des Königreichs Spanien, das sich gegen die im angefochtenen Beschluss getroffene Feststellung in Bezug auf die zweifache Flagge richtet – einschließlich der Behauptung, der Ausführer habe nicht verheimlicht, dass die Schiffe zwei Flaggen geführt hätten –, zurückzuweisen. Der Umstand, dass diese Situation den Behörden bekannt war, ändert nämlich nichts an der Erheblichkeit der Tatsache, dass es sich um ein Verhalten handelte, das mit den vorstehend genannten Bestimmungen nicht vereinbar war (siehe oben, Rn. 162 und 163). 166 Was schließlich das Vorbringen zur Berufserfahrung des Zollschuldners betrifft – die die Kommission nach Auffassung des Königreichs Spanien nicht gehindert hätte, die Einfuhrabgaben zu erlassen, wie sich aus ihrer Praxis ergebe –, ist festzustellen, dass darauf bereits, insbesondere in den Rn. 128 bis 133, 146 und 149 des vorliegenden Urteils, in dem Sinne geantwortet worden ist, dass der Zollschuldner unter den Umständen des vorliegenden Falls und insbesondere aufgrund seiner Berufserfahrung eine Sorgfalt hätte an den Tag legen müssen, die er in Bezug auf den Irrtum der salvadorianischen Behörden nicht beachtet hat. 167 Was den Umstand betrifft, dass eine solche Erfahrung der Nichterhebung der Einfuhrabgaben für die aus Panama stammenden Einfuhren nicht entgegengestanden hätte, geht aus Rn. 152 des vorliegenden Urteils hinreichend hervor, dass der Nachweis des Ursprungs durch Ursprungszeugnisse nach Formblatt A, die von den Behörden Panamas – eines zum Regionalzusammenschluss II gehörenden Landes – ausgestellt worden waren, den Zollschuldner nicht in den Stand setzten, zu wissen, ob die von den salvadorianischen Behörden für die streitigen Einfuhren ausgestellten Ursprungszeugnisse nach Formblatt A ordnungsgemäß auf der Grundlage der entsprechenden Ursprungszeugnisse der panamaischen Behörden ausgestellt waren oder nicht. Daher kann das Königreich Spanien aus dieser Feststellung nicht ableiten, dass die Argumentation der Kommission, die auf der Beurteilung zweier unterschiedlicher Sachverhalte in Bezug auf die vom Zollschuldner durchgeführten Einfuhren beruht, widersprüchlich sei. 168 Folglich hat die Kommission zu Recht festgestellt, dass der Zollschuldner seine Sorgfaltspflicht verletzt hat und deshalb für die Anwendung des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK nicht als gutgläubig angesehen werden kann. – Umstände, die die Beachtung der Vorschriften über die Zollanmeldung betreffen 169 Das Königreich Spanien macht in erster Linie geltend, die Kommission habe nicht spezifiziert, welche Bestimmungen über den Zollwert nicht beachtet worden seien, sondern nur einen Verstoß gegen die Ursprungsregeln festgestellt. Mit einer solchen Feststellung könne ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Zollanmeldung nicht dargetan werden. Der Zollschuldner habe korrekte Zollanmeldungen eingereicht, in denen er Anträge auf Zollpräferenzbehandlung gestellt habe, die auf die hierfür erforderlichen Bescheinigungen gestützt worden seien. Ihm könne daher nicht vorgeworfen werden, Angaben, die er vernünftigerweise weder habe kennen noch sich verschaffen können, nicht gemacht zu haben. 170 Zur Stützung seines Vorbringens verweist das Königreich Spanien auf den Bericht des OLAF, dem zufolge die Möglichkeit bestehe, ausgehend von einem Fang die daraus gewonnenen Fertigerzeugnisse und diejenigen Lieferungen in die Union zu identifizieren, die diese Erzeugnisse enthalten hätten, ohne dass Anhaltspunkte dafür bestünden, dass es unmöglich sei, den Ursprung der Fänge zu ermitteln. Außerdem hätten die Lieferungen in die Union Erzeugnisse aus Rohmaterialien umfasst, die von den im vorliegenden Fall betroffenen Schiffen, aber auch von anderen Schiffen gefangen worden seien. Wenn aber sämtliche Lieferungen Erzeugnisse aus der Verarbeitung von Rohmaterialien umfasst hätten, die von mehreren Schiffen gefangen worden seien, sei die Behauptung der Kommission, bestimmte Lieferungen, die mit demselben Zeugnis nach Formblatt A erfolgt seien, hätten gegen die Vorschriften über den Zollwert verstoßen, folglich willkürlich, weil dieser Umstand auf sämtliche Fälle zutreffe. 171 Schließlich macht das Königreich Spanien geltend, das bestehende Rückverfolgungssystem ermögliche es, den Ursprung der Fänge zu bestimmen, denn das OLAF nehme ausdrücklich auf die vom Zollschuldner vorgelegten Rückverfolgungsberichte Bezug, was beweise, dass ein geeignetes Rückverfolgungssystem vorhanden gewesen sei und die Möglichkeit bestehe, bei jeder Lieferung Ursprungserzeugnisse von Nichtursprungserzeugnissen zu unterscheiden. Außerdem habe die Kommission in einem Schreiben vom 14. März 2014 mit dem Aktenzeichen Ares(2014) 732193 die Rückverfolgbarkeit im vorliegenden Fall anerkannt; dieser Brief habe mit dem angefochtenen Beschluss im Zusammenhang gestanden, weil darin eine Entscheidung des Tribunal de Cuentas (Rechnungshof, Spanien) über Festsetzungsbescheide des Jahres 2009 beurteilt worden sei, die die streitigen Einfuhren betroffen hätten. 172 In der Erwiderung macht das Königreich Spanien geltend, die Auslegung, nach der die zweifache Registrierung eines Schiffs die Anwendung der Präferenzregelungen ausschließe, sei erst vorgenommen worden, nachdem die spanische Finanzverwaltung die meisten nachträglichen Festsetzungen abgeschlossen habe, ohne dabei zwischen in ein- und derselben Bescheinigung erfassten Ursprungs- und Nichtursprungserzeugnissen zu unterscheiden. 173 Außerdem weist das Königreich Spanien darauf hin, dass die Nichtbeachtung der Ursprungsregel zwar die Ermittlung der Zollschuld ermögliche, die für die Einleitung eines Verfahrens des Erlasses von Abgaben erforderlich sei, aber keine Voraussetzung für einen solchen Erlass darstelle. 174 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich aus dem 42. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses ergibt, dass der Zollschuldner durch die Vorlage von Ursprungszeugnissen, anhand deren der Ursprung des Thunfischs nicht festgestellt werden kann, gegen die anwendbaren Ursprungsregeln und Bestimmungen über die Zollanmeldung verstoßen hat. 175 Es ist festzustellen, dass es sich dabei um die einzige Erwägung handelt, auf die der Vorwurf der Nichtbeachtung der Bestimmungen über die Zollanmeldung gestützt wird, weil die Kommission vor dem Gericht nicht in sachgerechter Weise auf das Argument des spanischen Königreichs geantwortet hat, eine solche Nichtbeachtung lasse sich nicht aus einem Verstoß gegen die Ursprungsregeln ableiten, der nach seiner Auffassung der Ausgangspunkt des Verfahrens der Nacherhebung sei, aber kein Kriterium für die Beurteilung, ob die Voraussetzung in Bezug auf die Zollanmeldung erfüllt sei oder nicht. 176 Nach der Rechtsprechung hat der Zollanmelder den Zollbehörden alle Angaben zu machen, die nach den Unionsvorschriften oder den nationalen Regelungen, die diese Vorschriften gegebenenfalls ergänzen oder umsetzen, für die beantragte Zollbehandlung der fraglichen Ware erforderlich sind (Urteile vom 23. Mai 1989, Top Hit Holzvertrieb/Kommission, 378/87, EU:C:1989:209, Rn. 26, und vom 14. Mai 1996, Faroe Seafood u. a., C‑153/94 und C‑204/94, EU:C:1996:198, Rn. 108). 177 Wie der Gerichtshof betont hat, kann diese Verpflichtung indessen nicht über die Angabe der Daten hinausgehen, die der Abgabenschuldner vernünftigerweise kennen und sich beschaffen kann, so dass es genügt, wenn diese Angaben, auch wenn sie unrichtig sind, in gutem Glauben gemacht wurden (Urteile vom 1. April 1993, Hewlett Packard France, C‑250/91, EU:C:1993:134, Rn. 29, und vom 14. Mai 1996, Faroe Seafood u. a., C‑153/94 und C‑204/94, EU:C:1996:198, Rn. 109). 178 Aus den Rn. 61 und 62 des vorliegenden Urteils geht jedoch hervor, dass die festgestellte Nichtbeachtung der Regeln über den Ursprung der eingeführten Erzeugnisse im vorliegenden Fall einen Verstoß gegen die für die Zollerklärung geltende Regelung nach sich zieht. Art. 84 der Verordnung Nr. 2454/93 sieht nämlich vor, dass die Ursprungsnachweise den Zollbehörden des Einfuhrmitgliedstaats nach Maßgabe des Art. 62 ZK vorzulegen sind. Der letztgenannte Artikel betrifft die schriftliche Zollanmeldung. Er schreibt vor, dass die Zollanmeldung auf einem hierfür vorgesehenen amtlichen Vordruck abzugeben ist, dass sie unterzeichnet werden und alle Angaben enthalten muss, die zur Anwendung der Vorschriften über das Zollverfahren, zu dem die Waren angemeldet werden, erforderlich sind, und dass ihr alle Unterlagen beizufügen sind, deren Vorlage zur Anwendung der Vorschriften über dieses Zollverfahren erforderlich ist. Um eine Zollpräferenzbehandlung wegen des Ursprungs der eingeführten Erzeugnisse zu erlangen, muss der Einführer gemäß Art. 62 ZK in Verbindung mit Art. 84 der Verordnung Nr. 2454/93 seiner Zollanmeldung ein korrektes Ursprungszeugnis nach Formblatt A beifügen. 179 Wie ferner die Kommission zutreffend vorträgt, ließ sich der Ursprung der hier in Rede stehenden Fänge anhand des vom Zollschuldner verwendeten Rückverfolgungssystems nicht feststellen. Die von den spanischen Behörden vorgenommenen nachträglichen buchmäßigen Erfassungen betrafen nämlich nur die Nichtursprungserzeugnisse und die Erzeugnisse, die sich von Nichtursprungserzeugnissen nicht trennen ließen, so dass diese Behörden die Nachverfolgbarkeit ebenfalls als unzureichend angesehen haben. Desgleichen geht, wie die Kommission betont, auch aus dem oben in Rn. 171 erwähnten Schreiben vom 14. März 2014 hervor, dass die Rückverfolgbarkeit nur bei den Erzeugnissen gegeben war, die als Ursprungserzeugnisse von der Nacherhebung ausgenommen werden konnten, weil sie sich von den Nichtursprungserzeugnissen hatten trennen lassen. Alles in allem betrifft die Rückverfolgbarkeit der Erzeugnisse somit, wie die Kommission zu Recht ausführt, ein dem vorliegenden Verfahren vorausgehendes Stadium, nämlich das der Ermittlung der Zollschuld, die den nationalen Behörden oblag, und nicht das Stadium des Erlasses von Abgaben. Entgegen dem Vorbringen des Königreichs Spanien ist im Übrigen auch in den Prüfberichten des OLAF von schwerwiegenden Unzulänglichkeiten des Rückverfolgungssystems die Rede. 180 Schließlich kann nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass die Kommission die unterschiedlichen Sachverhalte, auf die sich die vorgelegten Bescheinigungen beziehen, willkürlich beurteilt habe, denn es handelt sich – wie oben in Rn. 152 festgestellt – um objektiv unterschiedliche und nicht miteinander vergleichbare Sachverhalte. 181 Ohne dass es einer Prüfung der hierzu vorgebrachten und oben in den Rn. 170 bis 173 wiedergegebenen weiteren Argumente des Königreichs Spanien bedarf – die weder die Feststellung, dass die mögliche Rückverfolgbarkeit von Erzeugnissen nicht die im vorliegenden Fall fraglichen Erzeugnisse betraf, noch die Schlussfolgerung, dass die Kommission den Sachverhalt nicht willkürlich beurteilt hat, entkräften können –, sind folglich die erste Rüge des zweiten Klagegrundes und mit ihr dieser Klagegrund insgesamt sowie die vorliegende Klage zurückzuweisen. Kosten 182 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. 183 Da das Königreich Spanien unterlegen ist, sind ihm entsprechend dem Antrag der Kommission seine eigenen Kosten sowie die Kosten der Kommission aufzuerlegen. Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Das Königreich Spanien trägt seine eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission. Dittrich Schwarcz Tomljenović Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. Dezember 2016. Unterschriften Inhaltsverzeichnis Sachverhalt Verfahren und Anträge der Parteien Vorbringen der Parteien Erster Klagegrund: Verletzung des Rechts auf eine gute Verwaltung im Rahmen des Art. 872a der Verordnung Nr. 2454/93 Zweiter Klagegrund: Verstoß gegen Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK Zulässigkeit der Rüge, die einen früheren Antrag des Zollschuldners auf Erlass von Einfuhrabgaben betrifft Kumulativer Charakter der in Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK genannten Voraussetzungen Nichterkennbarkeit des Irrtums Verpflichtung zur Erfüllung der anderen Voraussetzungen des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK Anwendung der anderen Voraussetzungen des Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK – Umstände, die die Gutgläubigkeit des Zollschuldners betreffen – Umstände, die die Beachtung der Vorschriften über die Zollanmeldung betreffen Kosten (*1) Verfahrenssprache: Spanisch.
Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 26. September 2014.#Arctic Paper Mochenwangen GmbH gegen Europäische Kommission.#Umwelt – Richtlinie 2003/87/EG – System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten ab 2013 – Beschluss 2011/278/EU – Von Deutschland unterbreitete nationale Umsetzungsmaßnahmen – Härtefallklausel – Unternehmerische Freiheit – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T‑634/13.
62013TJ0634
ECLI:EU:T:2014:828
2014-09-26T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62013TJ0634 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62013TJ0634 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62013TJ0634 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 26. September 2014.#Molda AG gegen Europäische Kommission.#Umwelt – Richtlinie 2003/87/EG – System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten ab 2013 – Beschluss 2011/278/EU – Von Deutschland unterbreitete nationale Umsetzungsmaßnahmen – Härtefallklausel – Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T‑629/13.
62013TJ0629
ECLI:EU:T:2014:834
2014-09-26T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62013TJ0629 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62013TJ0629 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62013TJ0629 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Fünfte Kammer) vom 26. September 2014.#Raffinerie Heide GmbH gegen Europäische Kommission.#Umwelt – Richtlinie 2003/87/EG – System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten – Übergangsvorschriften zur Harmonisierung der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten ab 2013 – Beschluss 2011/278/EU – Von Deutschland unterbreitete nationale Umsetzungsmaßnahmen – Härtefallklausel – Unternehmerische Freiheit – Eigentumsrecht – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T‑631/13.
62013TJ0631
ECLI:EU:T:2014:830
2014-09-26T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62013TJ0631 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62013TJ0631 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62013TJ0631 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 3. Juli 2014.#Kamino International Logistics BV und Datema Hellmann Worldwide Logistics BV gegen Staatssecretaris van Financiën.#Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden.#Erhebung einer Zollschuld – Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte – Anspruch auf rechtliches Gehör – Adressat der Entscheidung über die Zollerhebung, der von den Zollbehörden nicht vor Erlass dieser Entscheidung, sondern erst in der darauffolgenden Stufe des Einspruchs angehört wurde – Verletzung der Verteidigungsrechte – Bestimmung der Rechtsfolgen der Nichtwahrung der Verteidigungsrechte.#Verbundene Rechtssachen C‑129/13 und C‑130/13.
62013CJ0129
ECLI:EU:C:2014:2041
2014-07-03T00:00:00
Wathelet, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62013CJ0129 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer) 3. Juli 2014 (*1) „Erhebung einer Zollschuld — Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte — Anspruch auf rechtliches Gehör — Adressat der Entscheidung über die Zollerhebung, der von den Zollbehörden nicht vor Erlass dieser Entscheidung, sondern erst in der darauffolgenden Stufe des Einspruchs angehört wurde — Verletzung der Verteidigungsrechte — Bestimmung der Rechtsfolgen der Nichtwahrung der Verteidigungsrechte“ In den verbundenen Rechtssachen C‑129/13 und C‑130/13 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidungen vom 22. Februar 2013, am Gerichtshof eingegangen am 18. März 2013, in den Verfahren Kamino International Logistics BV (C‑129/13), Datema Hellmann Worldwide Logistics BV (C‑130/13) gegen Staatssecretaris van Financiën erlässt DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas (Berichterstatter), D. Šváby und C. Vajda, Generalanwalt: M. Wathelet, Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Januar 2014, unter Berücksichtigung der Erklärungen — der Kamino International Logistics BV und der Datema Hellmann Worldwide Logistics BV, vertreten durch B. Boersma und G. Koevoets, adviseurs, — der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman, B. Koopman und J. Langer als Bevollmächtigte, — der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J.‑C. Halleux als Bevollmächtigte, — der griechischen Regierung, vertreten durch D. Kalogiros und K. Paraskevopoulou als Bevollmächtigte, — der spanischen Regierung, vertreten durch J. García-Valdecasas Dorrego als Bevollmächtigte, — der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Wilman und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Februar 2014 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 (ABl. L 311, S. 17) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex) und des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte im Einklang mit dem Unionsrecht. 2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Kamino International Logistics BV (im Folgenden: Kamino) und der Datema Hellmann Worldwide Logistics BV (im Folgenden: Datema) einerseits und dem Staatssecretaris van Financiën andererseits, in denen es um die Anwendung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte im Rahmen des Zollkodex geht. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3 Art. 6 Abs. 3 des Zollkodex lautet folgendermaßen: „Schriftliche Entscheidungen, mit denen Anträge abgelehnt werden oder die für die Personen, an die sie gerichtet sind, nachteilige Folgen haben, sind zu begründen. Sie müssen eine Belehrung über die Möglichkeit enthalten, einen Rechtsbehelf nach Artikel 243 einzulegen.“ 4 Titel VII des Zollkodex über die Zollschuld enthält ein Kapitel 3, das die Erhebung des Zollschuldbetrags behandelt. Der Abschnitt 1 dieses Kapitels 3, der die Überschrift „Buchmäßige Erfassung des Zollschuldbetrags und Mitteilung an den Zollschuldner“ trägt, umfasst die Art. 217 bis 221 des Zollkodex. 5 Art. 219 Abs. 1 des Zollkodex sieht vor: „Die in Artikel 218 genannten Fristen für die buchmäßige Erfassung können verlängert werden a) aus Gründen, die mit der Verwaltungsorganisation der Mitgliedstaaten zusammenhängen, insbesondere bei zentraler Buchführung, oder b) bei Vorliegen besonderer Umstände, die die Zollbehörden an der Einhaltung der genannten Fristen hindern. Die derart verlängerten Fristen dürfen 14 Tage nicht überschreiten.“ 6 Art. 220 Abs. 1 des Zollkodex bestimmt: „Ist der einer Zollschuld entsprechende Abgabenbetrag nicht nach den Artikeln 218 und 219 buchmäßig erfasst oder mit einem geringeren als dem gesetzlich geschuldeten Betrag buchmäßig erfasst worden, so hat die buchmäßige Erfassung des zu erhebenden Betrags oder des nachzuerhebenden Restbetrags innerhalb von zwei Tagen nach dem Tag zu erfolgen, an dem die Zollbehörden diesen Umstand feststellen und in der Lage sind, den gesetzlich geschuldeten Betrag zu berechnen sowie den Zollschuldner zu bestimmen (nachträgliche buchmäßige Erfassung). Diese Frist kann nach Artikel 219 verlängert werden.“ 7 In Art. 221 des Zollkodex heißt es: „(1)   Der Abgabenbetrag ist dem Zollschuldner in geeigneter Form mitzuteilen, sobald der Betrag buchmäßig erfasst worden ist. … (3)   Die Mitteilung an den Zollschuldner darf nach Ablauf einer Frist von drei Jahren nach dem Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld nicht mehr erfolgen. Diese Frist wird ab dem Zeitpunkt ausgesetzt, in dem ein Rechtsbehelf gemäß Artikel 243 eingelegt wird, und zwar für die Dauer des Rechtsbehelfs. …“ 8 Die Art. 243 bis 245 des Zollkodex gehören zu Titel VIII („Rechtsbehelf“). Art. 243 sieht vor: „(1)   Jede Person kann einen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen der Zollbehörden auf dem Gebiet des Zollrechts einlegen, die sie unmittelbar und persönlich betreffen. … Der Rechtsbehelf ist in dem Mitgliedstaat einzulegen, in dem die Entscheidung getroffen oder beantragt wurde. (2)   Ein Rechtsbehelf kann eingelegt werden: a) auf einer ersten Stufe bei der von den Mitgliedstaaten dafür bestimmten Zollbehörde; b) auf einer zweiten Stufe bei einer unabhängigen Instanz; dabei kann es sich nach dem geltenden Recht der Mitgliedstaaten um ein Gericht oder eine gleichwertige spezielle Stelle handeln.“ 9 Art. 244 des Zollkodex sieht vor: „Durch die Einlegung des Rechtsbehelfs wird die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung nicht ausgesetzt. Die Zollbehörden setzen jedoch die Vollziehung der Entscheidung ganz oder teilweise aus, wenn sie begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung haben oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte. Bewirkt die angefochtene Entscheidung die Erhebung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben, so wird die Aussetzung der Vollziehung von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht. Diese Sicherheitsleistung braucht jedoch nicht gefordert zu werden, wenn eine derartige Forderung aufgrund der Lage des Schuldners zu ernsten Schwierigkeiten wirtschaftlicher oder sozialer Art führen könnte.“ 10 Art. 245 des Zollkodex lautet: „Die Einzelheiten des Rechtsbehelfsverfahrens werden von den Mitgliedstaaten erlassen.“ Niederländisches Recht 11 Gemäß Art. 4:8 Abs. 1 des Allgemeinen Verwaltungsrechtsgesetzes (Algemene wet bestuursrecht, im Folgenden: Awb) gibt eine Behörde, bevor sie eine Entscheidung erlässt, die einen Betroffenen, der den Erlass der Entscheidung nicht beantragt hat, voraussichtlich beschweren wird, diesem Betroffenen Gelegenheit, seinen Standpunkt vorzutragen, sofern die Entscheidung auf Informationen über Umstände und Belange beruht, die ihn berühren, und diese Informationen nicht vom Betroffenen selbst vorgetragen worden sind. 12 Art. 4:12 Abs. 1 Awb lautet wie folgt: „Die Behörde kann die Bestimmungen der Art. 4:7 und 4:8 bei einer Entscheidung zur Feststellung einer finanziellen Verpflichtung oder eines finanziellen Anspruchs unbeachtet lassen, wenn a) gegen diese Entscheidung Einspruch eingelegt oder eine Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben werden kann und b) die negativen Folgen der Entscheidung nach dem Einspruch oder der Klage vollständig beseitigt werden können.“ 13 Art. 6:22 Awb lautet: „Eine Entscheidung, gegen die Einspruch eingelegt oder Klage erhoben wird, kann trotz des Verstoßes gegen eine geschriebene oder ungeschriebene Rechtsregel oder einen allgemeinen Rechtsgrundsatz von dem Organ, das über den Einspruch oder die Klage entscheidet, aufrechterhalten werden, wenn anzunehmen ist, dass die Betroffenen dadurch nicht benachteiligt werden.“ 14 Art. 7:2 Awb sieht vor: „(1)   Bevor eine Behörde über den Einspruch entscheidet, gibt sie dem Betroffenen Gelegenheit zu einer Stellungnahme. (2)   Die Behörde informiert hierüber in jedem Fall denjenigen, der den Einspruch erhoben hat, sowie die Betroffenen, die im Rahmen der Vorbereitung der Entscheidung ihren Standpunkt vorgetragen haben.“ 15 Die Verwaltungsentscheidungen können anschließend Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens mit der Möglichkeit der Berufung und der Kassationsbeschwerde sein. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 16 In jedem der Ausgangsverfahren reichte ein Zollspediteur, nämlich Kamino in der Rechtssache C‑129/13 und Datema in der Rechtssache C‑130/13, in den Jahren 2002 und 2003 im Auftrag desselben Unternehmens Anmeldungen für die Abfertigung zum freien Verkehr für bestimmte Waren ein, die als „Gartenpavillons/Festzelte und Seitenwände“ bezeichnet wurden. Kamino und Datema meldeten diese Waren unter Position 6601 10 00 („Gartenschirme und ähnliche Waren“) der Kombinierten Nomenklatur an und entrichteten Zölle zu dem der Position entsprechenden Tarif von 4,7 v. H. 17 Infolge einer Kontrolle der niederländischen Behörden war der Belastingsinspecteur (Steuerinspektor) der Auffassung, dass diese Tarifierung falsch sei und die betreffenden Waren unter der Position 6306 99 00 der Kombinierten Nomenklatur („Zelte und Campingausrüstungen“) eingereiht werden müssten, für die der höhere Zollsatz von 12,2 v. H. gilt. 18 Daher stellte der Belastingsinspecteur mit Entscheidungen vom 2. und 28. April 2005 auf der Grundlage von Art. 220 Abs. 1 und Art. 221 Abs. 1 des Zollkodex eine Zahlungsaufforderung aus, um die von Kamino bzw. Datema geschuldeten zusätzlichen Zölle nachzuerheben. 19 Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren hatten nicht die Möglichkeit, vor dem Erlass dieser Zahlungsaufforderungen angehört zu werden. 20 Jede legte gegen die sie betreffende Zahlungsaufforderung beim Belastingsinspecteur Einspruch ein, der ihn nach Prüfung des Vorbringens ablehnte. 21 Die von den Klägerinnen der Ausgangsverfahren gegen diese ablehnenden Entscheidungen erhobenen Klagen wurden von der Rechtbank te Haarlem für unbegründet erklärt. Im Berufungsverfahren bestätigte der Gerechtshof te Amsterdam das Urteil der Rechtbank te Haarlem, soweit es den Klägerinnen der Ausgangsverfahren aufgab, den Verpflichtungen aus den betreffenden Zahlungsaufforderungen nachzukommen. 22 Kamino und Datema legten daher jeweils beim Hoge Raad der Nederlanden Kassationsbeschwerde ein. 23 In seinen Vorlageentscheidungen führt der Hoge Raad der Nederlanden aus, dass der Gerechtshof te Amsterdam im Berufungsverfahren im Hinblick auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Sopropé (C‑349/07, EU:C:2008:746) die Auffassung vertreten habe, dass der Belastingsinspecteur gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verstoßen habe, da er den Betroffenen vor dem Erlass der jeweiligen Zahlungsaufforderungen nicht Gelegenheit gegeben habe, zu den Tatsachen, die die Nacherhebung der Zölle rechtfertigten, Stellung zu nehmen. 24 Der Hoge Raad der Nederlanden stellt allerdings fest, dass weder der Zollkodex noch das anwendbare nationale Recht verfahrensrechtliche Bestimmungen enthielten, die die Zollbehörden verpflichteten, dem Zollschuldner vor der in Art. 221 Abs. 1 des Zollkodex genannten Mitteilung einer Zollschuld Gelegenheit zu geben, eine Stellungnahme zu den Gesichtspunkten abzugeben, auf die sich eine Nacherhebung stütze. 25 Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende in den Rechtssachen C‑129/13 und C‑130/13 gleichlautende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Eignet sich der unionsrechtliche Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung für eine unmittelbare Anwendung durch das nationale Gericht? 2. Falls die erste Frage bejaht wird: a) Ist der unionsrechtliche Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung so auszulegen, dass er verletzt ist, wenn der Adressat einer beabsichtigten Entscheidung zwar nicht angehört wurde, bevor die Verwaltung eine beschwerende Maßnahme gegen ihn erließ, aber in einem anschließenden verwaltungsrechtlichen (Einspruchs-)Verfahren, das der Erhebung einer Klage beim nationalen Gericht vorausgeht, nachträglich Gelegenheit zur Anhörung erhalten hat? b) Bestimmen sich die Rechtsfolgen einer Verletzung des unionsrechtlichen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung nach dem nationalen Recht? 3. Falls die Frage 2b) verneint wird: Welche Umstände kann das nationale Gericht bei der Bestimmung der Rechtsfolgen berücksichtigen, und kann es insbesondere berücksichtigen, ob anzunehmen ist, dass das Verfahren ohne die Verletzung des unionsrechtlichen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung einen anderen Verlauf genommen hätte? 26 Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 24. April 2013 sind die Rechtssachen C‑129/13 und C‑130/13 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Zu den Vorlagefragen Zur ersten Frage 27 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich der Einzelne auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung und den sich daraus für jedermann ergebenden Anspruch, vor Erlass jeder Entscheidung, die seine Interessen beeinträchtigen kann, gehört zu werden, wie diese im Rahmen des Zollkodex gelten, vor den nationalen Gerichten unmittelbar berufen kann. 28 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Wahrung der Verteidigungsrechte ein tragender Grundsatz des Unionsrechts ist, mit dem der Anspruch darauf, in jedem Verfahren gehört zu werden, untrennbar verbunden ist (Urteile Sopropé, EU:C:2008:746, Rn. 33 und 36, und M., C‑277/11, EU:C:2012:744, Rn. 81 und 82). 29 Der Anspruch darauf, in jedem Verfahren gehört zu werden, ist heute nicht nur durch die Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgt, die die Wahrung der Verteidigungsrechte sowie das Recht auf ein faires Verfahren im Rahmen jedes Gerichtsverfahrens gewährleisten, sondern auch durch Art. 41 der Charta der Grundrechte, der das Recht auf eine gute Verwaltung sicherstellt. Nach Art. 41 Abs. 2 der Charta umfasst das Recht auf eine gute Verwaltung insbesondere das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird (Urteil M., EU:C:2012:744, Rn. 82 und 83). Festzustellen ist aber, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, da sie am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, als solche auf die Verfahren, die zu Zahlungsaufforderungen vom 2. und 28. April 2005 geführt haben, nicht anwendbar ist (vgl. entsprechend Urteil Sabou, C‑276/12, EU:C:2013:678, Rn. 25). 30 Nach diesem Grundsatz, der anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme zu erlassen (Urteil Sopropé, EU:C:2008:746, Rn. 36), müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen (Urteil Sopropé, EU:C:2008:746, Rn. 37). 31 Diese Verpflichtung trifft die Behörden der Mitgliedstaaten, wenn sie Entscheidungen erlassen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbare Regelung eine solche Formalität nicht ausdrücklich vorsieht (vgl. Urteile Sopropé, EU:C:2008:746, Rn. 38, M., EU:C:2012:744, Rn. 86, sowie G. und R., C‑383/13 PPU, EU:C:2013:533, Rn. 32). 32 In den Ausgangsverfahren sehen weder der Zollkodex noch die geltenden nationalen Rechtsvorschriften im Rahmen eines Verfahrens der Nacherhebung von Einfuhrabgaben ein Recht vor, von der zuständigen Zollbehörde vor Erlass der Zahlungsaufforderungen gehört zu werden. Bei einem Verfahren zur Nacherhebung von Zöllen und somit bei einer Entscheidung, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, steht im Übrigen fest, dass der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte für die Mitgliedstaaten gilt. 33 Schließlich hat der Gerichtshof in Rn. 44 des Urteils in der Rechtssache Sopropé (EU:C:2008:746), in der er befragt worden war, ob eine Frist von acht bis 15 Tagen, die das nationale Recht für die Geltendmachung des Anspruchs des Steuerpflichtigen, vor Erlass einer Nacherhebungsentscheidung gehört zu werden, vorsah, mit den Erfordernissen des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte vereinbar ist, ausgeführt, dass es, wenn eine nationale Regelung dem nationalen Gericht eine Frist für die Entgegennahme der Erklärungen der Beteiligten setzt, Sache des nationalen Gerichts ist, sich unter gebührender Berücksichtigung der Eigenheiten der Rechtssache zu vergewissern, dass diese Frist der besonderen Situation der betreffenden Person oder des betreffenden Unternehmens entspricht und dass sie es ihnen ermöglicht, ihre Verteidigungsrechte unter Beachtung des Effektivitätsgrundsatzes wahrzunehmen. 34 Aus den vorstehenden Erwägungen geht nicht nur hervor, dass die nationalen Verwaltungen verpflichtet sind, die Verteidigungsrechte zu wahren, wenn sie Entscheidungen erlassen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, sondern auch, dass sich die Betroffenen unmittelbar auf die Wahrung dieser Rechte vor den nationalen Gerichten berufen können müssen. 35 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass sich der Einzelne auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung und den daraus für jedermann folgenden Anspruch, vor Erlass jeder Entscheidung, die seine Interessen beeinträchtigen kann, gehört zu werden, so wie diese im Rahmen des Zollkodex vorgesehen sind, vor den nationalen Gerichten unmittelbar berufen kann. Zur Frage 2a) 36 Mit seiner Frage 2a) möchte das nationale Gericht wissen, ob der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere der für jedermann bestehende Anspruch, vor Erlass einer nachteiligen individuellen Maßnahme angehört zu werden, dahin auszulegen sind, dass die Verteidigungsrechte des Adressaten einer im Rahmen eines Verfahrens zur Nacherhebung von Einfuhrabgaben in Durchführung des Zollkodex ergangenen Zahlungsaufforderung verletzt werden, wenn er nicht vor Erlass der Entscheidung angehört wurde, auch wenn er seinen Standpunkt auf einer späteren Stufe in einem verwaltungsrechtlichen Einspruchsverfahren geltend machen kann. 37 Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst auf das mit dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verfolgte Ziel hinzuweisen, insbesondere hinsichtlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör. 38 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll die Regel, wonach der Adressat einer beschwerenden Entscheidung in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor die Entscheidung getroffen wird, der zuständigen Behörde erlauben, alle maßgeblichen Gesichtspunkte angemessen zu berücksichtigen. Zur Gewährleistung eines wirksamen Schutzes der betroffenen Person oder des betroffenen Unternehmens soll die Regel diesen insbesondere ermöglichen, einen Fehler zu berichtigen oder individuelle Umstände vorzutragen, die für oder gegen den Erlass oder für oder gegen einen bestimmten Inhalt der Entscheidung sprechen (Urteil Sopropé, EU:C:2008:746, Rn. 49). 39 Nach ständiger Rechtsprechung garantiert der Anspruch auf rechtliches Gehör jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren und bevor ihr gegenüber eine möglicherweise für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird, sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen (vgl. Urteil M., EU:C:2012:744, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist dieses Recht auch dann zu wahren, wenn die anwendbare Regelung eine solche Formalität nicht ausdrücklich vorsieht (vgl. Urteil G. und R., EU:C:2013:533, Rn. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Hierzu steht fest, dass die Adressaten der Zahlungsaufforderungen in den Ausgangsverfahren vor Erlass der sie beschwerenden Entscheidungen nicht angehört wurden. 41 Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Erlass der Zahlungsaufforderungen auf der Grundlage von Art. 220 Abs. 1 und Art. 221 Abs. 1 des Zollkodex sowie des Verwaltungsverfahrens, das nach nationalen Rechtsvorschriften zur Durchführung von Art. 243 des Zollkodex wie denen der Ausgangsverfahren anwendbar ist, für die Adressaten dieser Zahlungsaufforderungen eine Beschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör mit sich bringt. 42 Doch sind nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung die Grundrechte, wie etwa die Wahrung der Verteidigungsrechte, nicht schrankenlos gewährleistet, sondern können Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen, die mit der fraglichen Maßnahme verfolgt werden, und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (Urteile G. und R., EU:C:2013:533, Rn. 33, sowie Texdata Software, C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 84). 43 Es ist zu prüfen, ob die Beschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, die in den Ausgangsverfahren in Frage steht, in einem Kontext wie dem der Ausgangsverfahren im Hinblick auf die in der vorhergehenden Randnummer angeführte Rechtsprechung gerechtfertigt werden kann. 44 Die niederländische Regierung macht geltend, dass, falls der Gerichtshof entscheiden sollte, dass die nationalen Behörden bei einer Nacherhebung grundsätzlich die Betroffenen vor Erlass einer Zahlungsaufforderung anzuhören hätten, Rechtfertigungsgründe bestünden, um von dieser Regel abzuweichen. Insbesondere sei es nicht vereinbar mit den zwingenden Regeln des Zollkodex über die Verbuchung und Erhebung, den Betroffenen vor Erlass der Zahlungsaufforderung anzuhören. Wegen der vom Zollkodex vorgeschriebenen Fristen sei es wichtig, dass die Zollbehörden, sobald sie die Zollschuld ermittelt hätten, diese buchmäßig erfassen und die Zahlungsaufforderung so schnell wie möglich erlassen könnten. Das damit verfolgte Gemeinwohl liege in der Verwaltungsvereinfachung und Straffung des Verfahrens. Aufgrund der sehr hohen Anzahl an Zahlungsaufforderungen sei eine vorherige Anhörung der Betroffenen nicht effizient. 45 Außerdem trägt diese Regierung vor, dass angesichts sämtlicher Eigenheiten des betroffenen nationalen Verwaltungsverfahrens die fehlende Anhörung vor Erlass einer Zahlungsaufforderung die Verteidigungsrechte in ihrem Wesensgehalt nicht antaste, weil die Adressaten der Zahlungsaufforderungen nach Art. 7:2 Awb die Möglichkeit hätten, im Laufe eines späteren Verfahrens im Rahmen des Einspruchs gegen diese Zahlungsaufforderungen angehört zu werden. Da dieselben Rechtsfolgen auf dem Wege des Einspruchs erreicht werden könnten und die Beschwer aufgeschoben werden könne, bleibe der Wesensgehalt des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte erhalten, der darin bestehe, eine bestimmte Entscheidung ohne späteren Schaden anfechten zu können. 46 In diesem Zusammenhang sind zum einen die Fristvoraussetzungen für die nachträgliche buchmäßige Erfassung der einer Zollschuld entsprechenden Abgaben, die der Zollkodex vorschreibt, und zum anderen die Eigenheiten des in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verwaltungsverfahrens zu beachten. 47 Was zunächst die vom Zollkodex vorgeschriebenen Fristen anbelangt, so sieht Art. 220 Abs. 1 des Zollkodex vor, dass dann, wenn der einer Zollschuld entsprechende Abgabenbetrag nicht nach den Art. 218 und 219 des Zollkodex buchmäßig erfasst oder mit einem geringeren als dem gesetzlich geschuldeten Betrag buchmäßig erfasst worden ist, die buchmäßige Erfassung des zu erhebenden Betrags oder des nachzuerhebenden Restbetrags innerhalb von zwei Tagen nach dem Tag zu erfolgen hat, an dem die Zollbehörden diesen Umstand feststellen und in der Lage sind, den gesetzlich geschuldeten Betrag zu berechnen sowie den Zollschuldner zu bestimmen. Diese Frist kann nach Art. 219 des Zollkodex aus besonderen Gründen verlängert werden, darf aber nicht mehr als 14 Tage betragen. Außerdem ist nach Art. 221 des Zollkodex der Abgabenbetrag dem Zollschuldner mitzuteilen, sobald der Betrag buchmäßig erfasst worden ist. 48 Nach Ansicht der niederländischen Regierung erscheint eine solche zwingende Frist von zwei Tagen schwerlich vereinbar mit der Verpflichtung, den Betroffenen vor Erlass einer Zahlungsaufforderung anzuhören. 49 Hierzu ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits in den Urteilen Kommission/Spanien (C‑546/03, EU:C:2006:132) und Kommission/Italien (C‑423/08, EU:C:2010:347) zur notwendigen Einhaltung der nach Art. 220 Abs. 1 des Zollkodex vorgesehenen Frist für die nachträgliche buchmäßige Erfassung des einer Zollschuld entsprechenden Abgabenbetrags durch die Mitgliedstaaten im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren Stellung genommen hat, in denen die betroffenen Mitgliedstaaten zur Rechtfertigung der Nichteinhaltung einer solchen Frist, die eine verspätete Bereitstellung der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaft zur Folge gehabt hatte, die Verpflichtung geltend gemacht hatten, die Verteidigungsrechte der Zollabgabenschuldner zu wahren. 50 In den Rn. 33 bzw. 45 der Urteile Kommission/Spanien (EU:C:2006:132) und Kommission/Italien (EU:C:2010:347) hat der Gerichtshof insoweit unterschieden zwischen dem Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union einerseits und dem Verhältnis zwischen dem Abgabenschuldner und den nationalen Zollbehörden, in dessen Rahmen die Verteidigungsrechte zu wahren sind, andererseits. 51 So hat der Gerichtshof entschieden, dass zwar der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte insbesondere in einem Nacherhebungsverfahren im Verhältnis zwischen einem Abgabenschuldner und einem Mitgliedstaat anwendbar ist, aber nicht im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten und der Union zur Folge haben darf, dass einem Mitgliedstaat die Missachtung seiner Verpflichtung erlaubt ist, innerhalb der unionsrechtlich vorgesehenen Fristen den Anspruch der Union auf Eigenmittel festzustellen (Urteile Kommission/Spanien, EU:C:2006:132, Rn. 33, und Kommission/Italien, EU:C:2010:347, Rn. 45). 52 Außerdem kann, wie die Europäische Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, die in Art. 220 Abs. 1 des Zollkodex vorgesehene Frist für die buchmäßige Erfassung des der Zollschuld entsprechenden Abgabenbetrags gemäß Art. 219 des Zollkodex verlängert werden. Gemäß Art. 219 Abs. 1 Buchst. b des Zollkodex kann die Frist für die buchmäßige Erfassung insbesondere bei Vorliegen besonderer Umstände, die die Zollbehörden an der Einhaltung der genannten Fristen hindern, verlängert werden, darf aber nicht mehr als 14 Tage betragen. 53 Schließlich hat der Gerichtshof in Rn. 46 des Urteils Kommission/Italien (EU:C:2010:347) darauf hingewiesen, dass die buchmäßige Erfassung und die Mitteilung der geschuldeten Zollabgaben sowie die Gutschrift der Eigenmittel den Zollschuldner nicht daran hindern, nach den Art. 243 ff. des Zollkodex die ihm auferlegte Verpflichtung unter Geltendmachung sämtlicher ihm zur Verfügung stehender Argumente anzufechten. 54 Was zweitens die Frage betrifft, ob die Verteidigungsrechte der Betroffenen der Ausgangsverfahren gewahrt wurden, auch wenn sie ihren Standpunkt erst im Rahmen des Einspruchsverfahrens geltend machen konnten, ist darauf hinzuweisen, dass es das allgemeine Interesse der Europäischen Union und insbesondere das Interesse der schnellstmöglichen Erhebung ihrer Eigenmittel erfordert, dass die Prüfungen rasch und wirksam durchgeführt werden können (Urteil Sopropé, EU:C:2008:746, Rn. 41). 55 Außerdem kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine nachträgliche Anhörung im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine nachteilige Entscheidung geeignet sein, die Wahrung des Rechts auf rechtliches Gehör zu gewährleisten (vgl. entsprechend Urteil Texdata Software, EU:C:2013:588, Rn. 85). 56 Was die Entscheidungen der Zollbehörden betrifft, so kann nach Art. 243 Abs. 1 des Zollkodex jede Person einen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen auf dem Gebiet des Zollrechts einlegen, die sie unmittelbar und persönlich betreffen. Wie das vorlegende Gericht und die Kommission betonen, wird jedoch durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs gemäß Art. 243 des Zollkodex nach Art. 244 Abs. 1 des Zollkodex die Vollziehung der angefochtenen Entscheidung grundsätzlich nicht ausgesetzt. Da dieser Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat, steht er der unmittelbaren Vollziehung dieser Entscheidung nicht entgegen. Art. 244 Abs. 2 des Zollkodex gestattet es jedoch den Zollbehörden, die Vollziehung dieser Entscheidung ganz oder teilweise auszusetzen, wenn diese Behörden begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung haben oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte. Außerdem schreibt Art. 244 Abs. 3 des Zollkodex in diesem Fall eine Sicherheitsleistung vor. 57 Wie aus Art. 245 des Zollkodex hervorgeht, werden die Einzelheiten des Rechtsbehelfsverfahrens von den Mitgliedstaaten erlassen. 58 Das in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Verwaltungsverfahren wird durch das Awb geregelt. Nach dem in Art. 4:8 Awb vorgesehenen Grundsatz sollen die Verwaltungsbehörden, bevor sie eine Entscheidung erlassen, die den Betroffenen, der die Entscheidung nicht beantragt hat, voraussichtlich beschweren wird, diesem Betroffenen Gelegenheit geben, seinen Standpunkt zu der beabsichtigten Entscheidung vorzutragen. 59 Nach Art. 4:12 Awb darf dieser Grundsatz jedoch bei Entscheidungen finanziellen Charakters unbeachtet bleiben, wenn zum einen gegen diese Entscheidung Einspruch eingelegt oder eine Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben werden kann und zum anderen die negativen Folgen der Entscheidung nach dem Einspruch oder der Klage vollständig beseitigt werden können. 60 Diese Bestimmung kam in den Ausgangsverfahren zur Anwendung. 61 Denn bevor die Betroffenen eine Klage bei Gericht mit der Möglichkeit der Berufung und der Kassationsbeschwerde erheben konnten, hatten sie die Möglichkeit, einen Einspruch bei der Stelle, die die Entscheidung erlassen hat, einzulegen und gemäß Art. 7:2 Awb im Rahmen dieses Einspruchs angehört zu werden. 62 Außerdem ergibt sich aus den schriftlichen Erklärungen der niederländischen Regierung, dass dieser Einspruch auf der Grundlage der einschlägigen rechtlichen Bestimmungen und Tatsachen erfolgt, wie sie sich zu dem Zeitpunkt darstellen, zu dem die Entscheidung über den Einspruch erlassen wird, so dass die negativen Folgen der ursprünglichen Entscheidung am Ende des Einspruchsverfahrens beseitigt werden können. Im vorliegenden Fall können die eventuellen negativen Folgen von Zahlungsaufforderungen wie den in den Ausgangsverfahren streitigen nachträglich beseitigt werden, da die Zahlung im Fall eines Einspruchs aufgeschoben und der Zahlungsaufforderungsbescheid bis zur Entscheidung über den Einspruch (und der Klage) nach den nationalen Vorschriften ausgesetzt werden kann. 63 In der mündlichen Verhandlung hat die niederländische Regierung allerdings ausgeführt, dass die Aussetzung der Vollziehung des Zahlungsaufforderungsbescheids nicht automatisch erfolge, sondern vom Adressaten der angefochtenen Zahlungsaufforderung mit dem Einspruch beantragt werden müsse. Außerdem macht die niederländische Regierung geltend, dass die Aussetzung zwar im Regelfall gewährt werde, diese grundsätzliche Gewährung aber nur in einem Ministerialerlass vorgesehen sei. 64 Somit bewirkt das Einspruchsverfahren nicht automatisch, dass die Vollziehung der beschwerenden Entscheidung ausgesetzt und diese sofort außer Kraft gesetzt wird. 65 Aus dem Urteil Texdata Software (EU:C:2013:588, Rn. 85) ergibt sich, dass der letztgenannte Umstand bei der Prüfung einer eventuellen Rechtfertigung einer Beschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor einer beschwerenden Entscheidung von gewisser Bedeutung sein kann. 66 So hat der Gerichtshof in diesem Urteil entschieden, dass die Verhängung einer Zwangsstrafe ohne vorherige Aufforderung und ohne die Möglichkeit, vor Verhängung der Sanktion angehört zu werden, nicht geeignet ist, den Wesensgehalt des betreffenden Grundrechts zu berühren, da die Erhebung eines begründeten Einspruchs gegen die Zwangsstrafverfügung diese sofort außer Kraft setzt und ein ordentliches Verfahren auslöst, in dem der Anspruch auf rechtliches Gehör gewahrt werden kann (Urteil Texdata Software, EU:C:2013:588, Rn. 85). 67 Aus der in der vorhergehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass bei fehlender Anhörung vor Erlass einer Zahlungsaufforderung die Einlegung eines Einspruchs oder die Erhebung einer Klage vor dem Verwaltungsgericht gegen diese Zahlungsaufforderung zwangsläufig zur Folge haben muss, dass die Vollziehung dieser Zahlungsaufforderung automatisch ausgesetzt wird, um den Anspruch auf rechtliches Gehör im Rahmen dieses Einspruchs oder dieser Klage zu gewährleisten. 68 Angesichts des in Rn. 54 des vorliegenden Urteils erwähnten allgemeinen Interesses der Union, ihre Eigenmittel schnellstmöglich zu erheben, sieht Art. 244 Abs. 2 des Zollkodex vor, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Zahlungsaufforderung nur dann die Aussetzung der Vollziehung dieser Zahlungsaufforderung bewirkt, wenn begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen oder wenn dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte. 69 Es ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung Unionsrechtsbestimmungen wie die des Zollkodex im Licht der Grundrechte auszulegen sind, die nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Österreichischer Rundfunk u. a., C‑465/00, C‑138/01 und C‑139/01, EU:C:2003:294, Rn. 68, sowie Google Spain und Google, C‑131/12, EU:C:2014:317, Rn. 68). 70 Vor diesem Hintergrund müssen die nationalen Vorschriften, mit denen die in Art. 244 Abs. 2 des Zollkodex für die Gewährung einer Aussetzung der Vollziehung vorgeschriebenen Voraussetzungen umgesetzt werden, bei fehlender vorheriger Anhörung sicherstellen, dass diese Voraussetzungen, nämlich das Bestehen von begründeten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung oder ein zu befürchtender unersetzbarer Schaden für den Beteiligten, nicht restriktiv angewendet oder ausgelegt werden. 71 In den Ausgangsverfahren wird die Aussetzung der Vollziehung der Zahlungsaufforderungen im Fall eines Einspruchs in Durchführung eines Ministerialerlasses gewährt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dieser Erlass geeignet ist, den Adressaten von Zahlungsaufforderungen bei fehlender vorheriger Anhörung die Erlangung der Aussetzung ihrer Vollziehung bis zu einer etwaigen Abänderung der Entscheidung zu ermöglichen, um dem Recht, eine solche Aussetzung der Vollziehung zu erlangen, Wirksamkeit zu verleihen. 72 Jedenfalls darf das nationale Verwaltungsverfahren, das Art. 244 Abs. 2 des Zollkodex durchführt, die Gewährung einer solchen Aussetzung nicht einschränken, wenn begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen oder dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte. 73 Vor diesem Hintergrund ist auf die Frage 2a) zu antworten, dass der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere das Recht jeder Person, vor Erlass einer nachteiligen individuellen Maßnahme angehört zu werden, dahin auszulegen sind, dass in einem Fall, in dem der Adressat einer Zahlungsaufforderung im Rahmen eines Verfahrens zur Nacherhebung von Einfuhrabgaben gemäß dem Zollkodex vor Erlass dieser Entscheidung nicht von der Verwaltung angehört worden ist, seine Verteidigungsrechte verletzt sind, auch wenn er die Möglichkeit hat, seinen Standpunkt auf einer späteren Stufe in einem verwaltungsrechtlichen Einspruchsverfahren geltend zu machen, sofern es die nationale Regelung im Fall der fehlenden vorherigen Anhörung den Adressaten solcher Zahlungsaufforderungen nicht ermöglicht, die Aussetzung von deren Vollziehung bis zu ihrer etwaigen Abänderung zu erlangen. So verhält es sich jedenfalls, wenn das nationale Verwaltungsverfahren, das Art. 244 Abs. 2 des Zollkodex durchführt, die Gewährung einer solchen Aussetzung in einem Fall einschränkt, in dem begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen oder dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte. Zur Frage 2b) und zur dritten Frage 74 Mit seiner Frage 2b) und der dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich die Rechtsfolgen des Verstoßes gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung nach nationalem Recht richten und welche Umstände vom nationalen Gericht im Rahmen seiner Prüfung berücksichtigt werden können. Es fragt insbesondere, ob das nationale Gericht den Fall berücksichtigen kann, dass das Ergebnis der Entscheidungsfindung das gleiche gewesen wäre, wenn der Anspruch auf eine vorherige Anhörung gewahrt worden wäre. 75 Hierzu hat der Gerichtshof bereits ausgeführt, dass sich, wenn weder die Bedingungen, unter denen die Wahrung der Verteidigungsrechte zu gewährleisten ist, noch die Folgen der Missachtung dieser Rechte unionsrechtlich festgelegt sind, diese Bedingungen und Folgen nach nationalem Recht richten, sofern die in diesem Sinne getroffenen Maßnahmen denen entsprechen, die für den Einzelnen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. Urteil G. und R., EU:C:2013:533, Rn. 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 76 Diese Beurteilung ist auf den Zollbereich anzuwenden, da Art. 245 des Zollkodex ausdrücklich auf das nationale Recht verweist, indem er klarstellt, dass „[d]ie Einzelheiten des Rechtsbehelfsverfahrens … von den Mitgliedstaaten erlassen [werden]“. 77 Wenn es den Mitgliedstaaten somit auch freisteht, die Ausübung der Verteidigungsrechte nach denselben Modalitäten zu erlauben, wie sie für innerstaatliche Sachverhalte festgelegt sind, müssen diese Modalitäten doch im Einklang mit dem Unionsrecht stehen und dürfen insbesondere die praktische Wirksamkeit des Zollkodex nicht in Frage stellen (Urteil G. und R., EU:C:2013:533, Rn. 36). 78 Wie die Kommission ausgeführt hat, hat die dem nationalen Gericht obliegende Verpflichtung, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, jedoch nicht zur Folge, dass eine angefochtene Entscheidung, weil sie unter Verletzung der Verteidigungsrechte, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör, erlassen wurde, in sämtlichen Fällen für nichtig erklärt werden muss. 79 Denn nach dem Unionsrecht führt eine Verletzung der Verteidigungsrechte, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör, nur dann zur Nichtigerklärung der Entscheidung, die am Ende des fraglichen Verwaltungsverfahrens erlassen wird, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können (vgl. in diesem Sinne Urteile Frankreich/Kommission, C‑301/87, EU:C:1990:67, Rn. 31, Deutschland/Kommission, C‑288/96, EU:C:2000:537, Rn. 101, Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware/Rat, C‑141/08 P, EU:C:2009:598, Rn. 94, und Storck/HABM, C‑96/11 P, EU:C:2012:537, Rn. 80, und G. und R., EU:C:2013:533, Rn. 38). 80 Daher führt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte nur dann zur Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung, wenn das Verfahren ohne diesen Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. 81 Es ist darauf hinzuweisen, dass in den Ausgangsverfahren die Betroffenen selbst einräumen, dass das Einspruchsverfahren nicht zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, wenn sie vor der streitigen Entscheidung angehört worden wären, da sie die von der Abgabenverwaltung vorgenommene tarifliche Einreihung nicht beanstanden. 82 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die Frage 2b) und die dritte Frage zu antworten, dass sich die Bedingungen, unter denen die Wahrung der Verteidigungsrechte sichergestellt werden muss, und die Folgen der Missachtung dieser Rechte nach nationalem Recht richten, sofern die in diesem Sinne getroffenen Maßnahmen denen entsprechen, die für den Einzelnen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Da das nationale Gericht verpflichtet ist, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, muss es, wenn es die Folgen eines Verstoßes gegen die Verteidigungsrechte, insbesondere gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, würdigt, berücksichtigen, dass ein solcher Verstoß nur dann zur Nichtigerklärung der das Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung führt, wenn ohne diese Unregelmäßigkeit dieses Verfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Kosten 83 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: 1. Der Einzelne kann sich auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung und den daraus für jedermann folgenden Anspruch, vor Erlass jeder Entscheidung, die seine Interessen beeinträchtigen kann, gehört zu werden, so wie diese im Rahmen der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 geänderten Fassung vorgesehen sind, vor den nationalen Gerichten unmittelbar berufen. 2. Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere das Recht jeder Person, vor Erlass einer nachteiligen individuellen Maßnahme angehört zu werden, sind dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem der Adressat einer Zahlungsaufforderung im Rahmen eines Verfahrens zur Nacherhebung von Einfuhrabgaben gemäß der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung vor Erlass dieser Entscheidung nicht von der Verwaltung angehört worden ist, seine Verteidigungsrechte verletzt sind, auch wenn er die Möglichkeit hat, seinen Standpunkt auf einer späteren Stufe in einem verwaltungsrechtlichen Einspruchsverfahren geltend zu machen, sofern es die nationale Regelung im Fall der fehlenden vorherigen Anhörung den Adressaten solcher Zahlungsaufforderungen nicht ermöglicht, die Aussetzung von deren Vollziehung bis zu ihrer etwaigen Abänderung zu erlangen. So verhält es sich jedenfalls, wenn das nationale Verwaltungsverfahren, das Art. 244 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung durchführt, die Gewährung einer solchen Aussetzung in einem Fall einschränkt, in dem begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen oder dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte. 3. Die Bedingungen, unter denen die Wahrung der Verteidigungsrechte sichergestellt werden muss, und die Folgen der Missachtung dieser Rechte richten sich nach nationalem Recht, sofern die in diesem Sinne getroffenen Maßnahmen denen entsprechen, die für den Einzelnen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). Da das nationale Gericht verpflichtet ist, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, muss es, wenn es die Folgen eines Verstoßes gegen die Verteidigungsrechte, insbesondere gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, würdigt, berücksichtigen, dass ein solcher Verstoß nur dann zur Nichtigerklärung der das Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung führt, wenn ohne diese Unregelmäßigkeit dieses Verfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 5. September 2024.#Novo Banco SA - Sucursal en España u. a. gegen C.F.O. u. a.#Vorabentscheidungsersuchen des Tribunal Supremo.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten – Richtlinie 2001/24/EG – Art. 3 und 6 – Gegenüber einem Kreditinstitut ergriffene Sanierungsmaßnahme – Übertragung von Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken dieses Kreditinstituts auf eine ‚Brückenbank‘ vor Erhebung einer Klage auf Begleichung einer Forderung gegenüber diesem Kreditinstitut – Rückübertragung bestimmter Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken auf das gleiche Kreditinstitut – Recht des Mitgliedstaats, in dem das betreffende Verfahren eröffnet wird (lex concursus) – Auswirkungen einer Sanierungsmaßnahme in anderen Mitgliedstaaten – Gegenseitige Anerkennung – Auswirkungen einer Verletzung der Pflicht zur öffentlichen Bekanntmachung der Sanierungsmaßnahme – Art. 17, 21, 38 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Eigentumsrecht – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Verbraucherschutz – Richtlinie 93/13/EG – Art. 6 Abs. 1 – Missbräuchliche Klauseln – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – Passivlegitimation der ‚Brückenbank‘.#Verbundene Rechtssachen C-498/22 bis C-500/22.
62022CJ0498
ECLI:EU:C:2024:686
2024-09-05T00:00:00
Gerichtshof, Richard de la Tour
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62022CJ0498 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 5. September 2024 (*1) (i ) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten – Richtlinie 2001/24/EG – Art. 3 und 6 – Gegenüber einem Kreditinstitut ergriffene Sanierungsmaßnahme – Übertragung von Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken dieses Kreditinstituts auf eine ‚Brückenbank‘ vor Erhebung einer Klage auf Begleichung einer Forderung gegenüber diesem Kreditinstitut – Rückübertragung bestimmter Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken auf das gleiche Kreditinstitut – Recht des Mitgliedstaats, in dem das betreffende Verfahren eröffnet wird (lex concursus) – Auswirkungen einer Sanierungsmaßnahme in anderen Mitgliedstaaten – Gegenseitige Anerkennung – Auswirkungen einer Verletzung der Pflicht zur öffentlichen Bekanntmachung der Sanierungsmaßnahme – Art. 17, 21, 38 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Eigentumsrecht – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Verbraucherschutz – Richtlinie 93/13/EG – Art. 6 Abs. 1 – Missbräuchliche Klauseln – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes – Passivlegitimation der ‚Brückenbank‘“ In den verbundenen Rechtssachen C‑498/22 bis C‑500/22 betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) mit Entscheidung vom 19. Juli 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 21. und 22. Juli 2022, in den Verfahren Novo Banco SA – Sucursal en España, Banco de Portugal, Fundo de Resolução gegen C. F. O. (C‑498/22), J. M. F. T., M. H. D. S. (C‑499/22), Proyectos, Obras y Servicios de Badajoz SL (C‑500/22) erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin), Generalanwalt: J. Richard de la Tour, Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Oktober 2023, unter Berücksichtigung der Erklärungen – der Novo Banco SA – Sucursal en España, vertreten durch B. Fiestas Muñoz, N. Rodríguez Fernández und A. Suberviola Pagola, Abogados, – der Banco de Portugal und des Fundo de Resolução, vertreten durch C. García Vega und J. M. Rodríguez Cárcamo, Abogados, – von C. F. O., vertreten durch J. M. Arroyo Lorenzo, Abogado, und I. C. Covadonga Juliá Corujo, Procuradora, – von J. M. F. T und M. H. D. S., vertreten durch J. A. Ballesteros Garrido, Abogado, – der Proyectos, Obras y Servicios de Badajoz SL, vertreten durch J. M. Aguado Maestro, Abogado, – der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz und A. Gavela Llopis als Bevollmächtigte, – der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, M. Esménio und A. Rodrigues als Bevollmächtigte im Beistand von R. Esteves de Oliveira und P. Pinheiro, Advogados, – des Europäischen Parlaments, vertreten durch J. Etienne, P. López-Carceller und A. Tamás als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch G. Rugge und A. Westerhof Löfflerová als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch J. L. Buendía Sierra, A. Nijenhuis, N. Ruiz García und D. Triantafyllou als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. März 2024 folgendes Urteil 1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 der Richtlinie 2001/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten (ABl. 2001, L 125, S. 15), von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29), von Art. 17, 21, 38 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. 2 Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Novo Banco SA – Sucursal en España (im Folgenden: Novo Banco), unterstützt durch die Banco de Portugal (portugiesische Zentralbank) und den Fundo de Resolução (Abwicklungsfonds, Portugal) auf der einen Seite und mehreren Kunden von Novo Banco auf der anderen Seite über die Auswirkungen von Sanierungsmaßnahmen, die gegenüber der Banco Espíritu Santo SA (BES), einem portugiesischen Kreditinstitut, und ihrer spanischen Zweigstelle (im Folgenden: BES Spanien) – deren Rechtsnachfolge Novo Banco angetreten hat – ergriffen wurden, auf verschiedene Verträge über Finanzprodukte und ‑dienstleistungen. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2001/24 3 In den Erwägungsgründen 3, 4, 6, 7, 11, 12 und 16 der Richtlinie 2001/24 heißt es: „(3) Diese Richtlinie fügt sich in den gemeinschaftsrechtlichen Rahmen ein, der durch die Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute [(ABl. 2000, L 126, S. 1)] geschaffen wurde. Daraus folgt, dass das Kreditinstitut und seine Zweigstellen während der Dauer ihrer Tätigkeit eine Einheit bilden, die der Aufsicht der zuständigen Behörden des Staates unterliegt, in dem die gemeinschaftsweit gültige Zulassung erteilt wurde. (4) Es wäre besonders unangebracht, auf diese Einheit, die das Kreditinstitut und seine Zweigstellen bilden, zu verzichten, wenn Sanierungsmaßnahmen zu ergreifen sind oder ein Liquidationsverfahren zu eröffnen ist. … (6) Den Behörden oder Gerichten des Herkunftsmitgliedstaats muss die alleinige Befugnis zur Anordnung und Durchführung von Sanierungsmaßnahmen gemäß den geltenden Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten dieses Mitgliedstaats übertragen werden. Da die Harmonisierung der Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten schwierig ist, empfiehlt sich die Einführung der gegenseitigen Anerkennung durch die Mitgliedstaaten im Falle von Maßnahmen, die ein einzelner Mitgliedstaat trifft, um die Lebensfähigkeit der von ihm zugelassenen Kreditinstitute wiederherzustellen. (7) Es ist unbedingt sicherzustellen, dass die von den Behörden oder Gerichten des Herkunftsmitgliedstaats angeordneten Maßnahmen zur Sanierung von Kreditinstituten und die Maßnahmen, die von den durch diese Behörden oder Gerichte mit der Durchführung der Sanierungsmaßnahmen beauftragten Personen oder Organen ergriffen werden, in allen Mitgliedstaaten wirksam werden; dazu gehören auch Maßnahmen, die eine Aussetzung der Zahlungen, die Aussetzung von Vollstreckungsmaßnahmen oder eine Kürzung der Forderungen erlauben, sowie alle anderen Maßnahmen, die die bestehenden Rechte Dritter beeinträchtigen könnten. … (11) Eine öffentliche Bekanntmachung zur Unterrichtung Dritter über die Durchführung von Sanierungsmaßnahmen ist in den Mitgliedstaaten, in denen sich Zweigstellen befinden, notwendig, wenn diese Maßnahmen die Ausübung einiger ihrer Rechte beeinträchtigen könnten. (12) Der Grundsatz der Gleichbehandlung der Gläubiger in Bezug auf ihre Möglichkeit, Rechtsbehelfe einzulegen, macht es erforderlich, dass die Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats die notwendigen Maßnahmen ergreifen, damit die Gläubiger des Aufnahmemitgliedstaats ihr Recht auf Einlegung von Rechtsbehelfen innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist wahrnehmen können. … (16) Die Gleichbehandlung der Gläubiger erfordert, dass das Kreditinstitut nach den Grundsätzen der Einheit und Universalität liquidiert wird, was die ausschließliche Zuständigkeit der Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats sowie die Anerkennung ihrer Entscheidungen voraussetzt, die in den übrigen Mitgliedstaaten ohne weitere Formalität die gleichen Wirkungen wie im Herkunftsmitgliedstaat entfalten können müssen, sofern [diese] Richtlinie nichts anderes vorsieht.“ 4 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/24 bestimmt: „Diese Richtlinie findet Anwendung auf Kreditinstitute und deren in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Sitzmitgliedstaat errichtete Zweigstellen im Sinne von Artikel 1 Nummern 1 und 3 der Richtlinie 2000/12… vorbehaltlich der dort in Artikel 2 Absatz 3 vorgesehenen Voraussetzungen und Ausnahmen.“ 5 Gemäß Art. 2 siebter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/24 gelten als „Sanierungsmaßnahmen“„Maßnahmen, mit denen die finanzielle Lage eines Kreditinstituts gesichert oder wiederhergestellt werden soll und die die bestehenden Rechte Dritter beeinträchtigen könnten, einschließlich der Maßnahmen, die eine Aussetzung der Zahlungen, eine Aussetzung der Vollstreckungsmaßnahmen oder eine Kürzung der Forderungen erlauben“. 6 Titel II („Sanierungsmaßnahmen“) dieser Richtlinie umfasst ihre Art. 3 bis 8. 7 Art. 3 („Entscheidung über Sanierungsmaßnahmen – Anwendbares Recht“) der Richtlinie 2001/24 sieht vor: „(1)   Allein die Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats sind befugt, über die Durchführung einer oder mehrerer Sanierungsmaßnahmen in einem Kreditinstitut, einschließlich seiner Zweigstellen in anderen Mitgliedstaaten, zu entscheiden. (2)   Die Sanierungsmaßnahmen werden gemäß den im Herkunftsmitgliedstaat geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren durchgeführt, sofern diese Richtlinie nichts anderes bestimmt. Sie sind nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats in der gesamten Gemeinschaft ohne weitere Formalität uneingeschränkt wirksam, und zwar auch gegenüber Dritten in anderen Mitgliedstaaten, selbst wenn nach den für diese geltenden Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats solche Maßnahmen nicht vorgesehen sind oder ihre Durchführung von Voraussetzungen abhängig gemacht wird, die nicht erfüllt sind. Die Sanierungsmaßnahmen sind in der gesamten Gemeinschaft wirksam, sobald sie in dem Mitgliedstaat, in dem sie getroffen wurden, wirksam sind.“ 8 Art. 6 („Öffentliche Bekanntmachung“) dieser Richtlinie lautet: „(1)   Kann die Durchführung der gemäß Artikel 3 Absätze 1 und 2 beschlossenen Sanierungsmaßnahmen die Rechte von Dritten in einem Aufnahmemitgliedstaat beeinträchtigen und können in dem Herkunftsmitgliedstaat Rechtsbehelfe gegen die Entscheidung, die diese Maßnahme anordnet, eingelegt werden, so veröffentlichen die Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats, der Verwalter oder jede andere im Herkunftsmitgliedstaat dazu ermächtigte Person im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften und in zwei überregionalen Zeitungen jedes Aufnahmemitgliedstaats einen Auszug aus der Entscheidung, um vor allem das rechtzeitige Einlegen der Rechtsbehelfe zu ermöglichen. (2)   Der in Absatz 1 genannte Auszug aus der Entscheidung ist so rasch wie möglich und auf dem geeignetsten Wege an das Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften und an die zwei überregionalen Zeitungen jedes Aufnahmemitgliedstaats zu senden. (3)   Das Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht den Auszug spätestens zwölf Tage nach seiner Versendung. (4)   In dem zu veröffentlichenden Auszug aus der Entscheidung sind in der Amtssprache oder den Amtssprachen der betroffenen Mitgliedstaaten insbesondere Gegenstand und Rechtsgrundlage der Entscheidung, die Rechtsbehelfsfristen, vor allem eine leicht verständliche Angabe des Zeitpunkts, zu dem diese Fristen enden, und die genauen Anschriften der Behörden oder des Gerichts anzugeben, von denen/dem die Rechtsbehelfe zu prüfen sind. (5)   Die Sanierungsmaßnahmen finden unabhängig von den in den Absätzen 1 bis 3 vorgesehenen Maßnahmen Anwendung und sind gegenüber den Gläubigern uneingeschränkt wirksam, sofern die Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats oder dessen einschlägige Rechtsvorschriften nicht etwas anderes bestimmen.“ 9 Art. 32 („Anhängige Rechtsstreitigkeiten“) der Richtlinie 2001/24 bestimmt: „Für die Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme oder eines Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit über einen Vermögensgegenstand oder ein Recht der Masse gilt ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Rechtsstreit anhängig ist.“ Richtlinie 2014/59/EU 10 Im 65. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2014, L 173, S. 190) heißt es: „Als ein vollständig oder teilweise im Besitz einer oder mehrerer öffentlicher Stellen oder unter der Kontrolle der Abwicklungsbehörde stehendes Institut hätte ein Brückeninstitut als Hauptaufgabe, sicherzustellen, dass die wichtigsten Finanzdienstleistungen für die Kunden des ausfallenden Instituts weiter erbracht und die wichtigsten Finanztätigkeiten weiter ausgeübt werden. Das Brückeninstitut sollte als tragfähiges Geschäft fortgeführt und innerhalb des in dieser Richtlinie angegebenen Zeitraums, wenn die Bedingungen dafür geeignet sind, an den Markt zurückgeführt oder für den Fall, dass es nicht überlebensfähig ist, liquidiert werden.“ 11 Art. 83 („Verfahrenspflichten der Abwicklungsbehörden“) der Richtlinie 2014/59 sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Abwicklungsbehörden, sobald dies nach dem Ergreifen einer Abwicklungsmaßnahme praktisch möglich ist, den Anforderungen der Absätze 2, 3 und 4 nachkommen. … (4)   Die Abwicklungsbehörde veröffentlicht eine Abschrift der Anordnung bzw. des Instruments zur Durchführung der Abwicklungsmaßnahme oder eine Bekanntmachung, in der die Auswirkungen der Abwicklungsmaßnahme, insbesondere die Auswirkungen auf die Kleinanleger sowie gegebenenfalls die Bedingungen und die Dauer der Aussetzung oder Beschränkung im Sinne der Artikel 69, 70 und 71, zusammengefasst werden, oder sie veranlasst deren Veröffentlichung, und zwar: a) auf ihrer offiziellen Website, b) auf der Website der zuständigen Behörde (sofern es nicht dieselbe Behörde wie die Abwicklungsbehörde ist) und auf der Website der [Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA)], c) auf der Website des in Abwicklung befindlichen Instituts, d) wenn die Anteile oder andere Eigentumstitel oder Schuldtitel des in Abwicklung befindlichen Instituts zum Handel an einem geregelten Markt zugelassen sind, unter Nutzung der Mittel für die Bekanntgabe der vorgeschriebenen Informationen über das in Abwicklung befindliche Institut im Einklang mit Artikel 21 Absatz 1 der Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 15. Dezember 2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG (ABl. 2004, L 390, S. 38)]. …“ 12 Art. 117 („Änderung der Richtlinie 2001/24/EG“) Nr. 1 der Richtlinie 2014/59 sieht die Erweiterung von Art. 1 der Richtlinie 2001/24 um einen fünften Absatz vor, wonach „Artikel 4 und 7 dieser Richtlinie … keine Anwendung [finden,] sofern Artikel 83 der Richtlinie 2014/59… gilt“. 13 Gemäß Art. 130 Abs. 1 der Richtlinie 2014/59 endete die Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie am 31. Dezember 2014. 14 Nach ihrem Art. 131 trat diese Richtlinie am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft, also am 2. Juli 2014. Richtlinie 93/13 15 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestimmt: „Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“ 16 Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“ 17 In Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie heißt es: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“ Spanisches Recht 18 Mit der Ley 6/2005 sobre saneamiento y liquidación de las entidades de crédito (Gesetz 6/2005 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten) vom 22. April 2005 (BOE Nr. 97 vom 23. April 2005, S. 13912) wurde die Richtlinie 2001/24 in spanisches Recht umgesetzt. 19 Art. 19 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor: „Wenn gegenüber einem Kreditinstitut, das in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zugelassen ist und mindestens eine Zweigstelle in Spanien hat oder dort Dienstleistungen erbringt, eine Sanierungsmaßnahme getroffen oder ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde, ist diese Maßnahme oder dieses Verfahren in Spanien ohne weitere Formalität uneingeschränkt wirksam, sobald dies in dem Mitgliedstaat der Fall ist, in dem die Maßnahme getroffen oder das Verfahren eröffnet wurde.“ Portugiesisches Recht 20 Die Artikel 145‑C ff. des Regime Geral das Instituições de Crédito e Sociedades Financeiras (Allgemeine Vorschriften für Kreditinstitute und Finanzunternehmen), gebilligt durch das Decreto-Lei [que] Aprova o Regime Geral das Instituições de Crédito e Sociedades Financeiras (gesetzesvertretende Verordnung zur Billigung der Allgemeinen Vorschriften für Kreditinstitute und Finanzunternehmen) vom 31. Dezember 1992 (Diário da República, Serie I‑A, no 301‑A/1992, im Folgenden: RGICSF), wurden durch das Decreto-Lei no 31‑A/2012 (gesetzesvertretende Verordnung Nr. 31‑A/2012) vom 10. Februar 2012 (Diário da República, Erste Serie, Nr. 30 vom 10. Februar 2012) eingeführt. Sie regeln die Maßnahmen zur Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Finanzunternehmen. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen Rechtssache C‑498/22 21 Am 11. Dezember 2006 schloss C. F. O., ein Verbraucher, mit BES Spanien einen hypothekarisch besicherten Darlehensvertrag ab, der eine sogenannte Floor-Klausel enthielt, die einen Mindestzinssatz von 2 % festlegte. 22 Mit Urteil vom 9. Mai 2013 stellte das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) fest, dass eine derartige Klausel aufgrund mangelnder Transparenz missbräuchlich sei. C. F. O. forderte BES Spanien in der Folge auf, die betreffende Klausel nicht mehr anzuwenden. BES Spanien stellte die Anwendung dieser Klausel ab Juni 2013 ein. 23 In Anwendung des RGICSF und im Kontext der ernsten finanziellen Schwierigkeiten von BES erließ der Verwaltungsrat der portugiesischen Zentralbank mit Entscheidung vom 3. August 2014, die durch Entscheidung vom 11. August 2014 geändert wurde (im Folgenden: Entscheidung von August 2014), Maßnahmen zur Abwicklung dieses Kreditinstituts (sogenannte „Abwicklungsmaßnahmen“). 24 Mit der Entscheidung von August 2014 beschloss die portugiesische Zentralbank, eine „Brückenbank“ (bzw. ein „Brückeninstitut“) – Novo Banco – zu errichten, auf die die in Anhang 2 dieser Entscheidung beschriebenen Aktiva, Passiva und anderen, nicht zu den Vermögenswerten gehörenden Bestandteile von BES übertragen wurden. 25 In diesem Anhang 2 wurden bestimmte Passiva aufgeführt, die jedoch von der Übertragung auf Novo Banco ausgenommen waren und daher im Vermögen von BES verblieben. Zu diesen Passiva gehörten die in Anhang 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v aufgeführten, nämlich „insbesondere … Verbindlichkeiten oder Eventualverbindlichkeiten, die auf Betrug oder der Verletzung regulatorischer, strafrechtlicher oder administrativer Bestimmungen oder Entscheidungen beruhen“. 26 Infolge der oben in Rn. 24 beschriebenen Übertragung wurde Novo Banco zur Hypothekengläubigerin des am 11. Dezember 2006 abgeschlossenen Darlehensvertrags und begann, C. F. O. die monatlichen Raten für die Rückzahlung des Darlehens in Rechnung zu stellen. 27 Am 3. Oktober 2014 veröffentlichte die Banco de España (spanische Zentralbank) eine Bekanntmachung im Boletín del Estado, in der mitgeteilt wurde, dass die portugiesische Zentralbank durch die Entscheidung von August 2014 gegenüber BES eine Abwicklungsmaßnahme ergriffen habe, die in der teilweisen Übertragung des Geschäftsbetriebs dieser Bank auf Novo Banco bestehe; diese werde den normalen Geschäftsbetrieb von BES ohne Unterbrechung weiterführen, wobei diese Maßnahme als Sanierungsmaßnahme im Sinne von Art. 2 der Richtlinie 2001/24 gelte. 28 Am 29. Dezember 2015 erließ die portugiesische Zentralbank zwei Entscheidungen zur Änderung und Klarstellung von Anhang 2 der Entscheidung von August 2014 (im Folgenden: Entscheidungen vom 29. Dezember 2015). 29 In diesen Entscheidungen wurde u. a. klargestellt, dass „ab diesem Tag insbesondere folgende Passiva von BES nicht an Novo Banco abgetreten wurden: … v) sämtliche Forderungen und Entschädigungen im Zusammenhang mit der angeblichen Nichtigkeit bestimmter Klauseln von Darlehensverträgen, in denen BES der Darlehensgeber war“. 30 Nach Verkündung des Urteils vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a. (C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980), forderte C. F. O. im Januar 2017 die Rückerstattung der Beträge, die BES Spanien in Anwendung der Mindestzinsklausel seines Hypothekendarlehens eingezogen hatte. 31 Mit Schreiben vom 21. März 2017 wies Novo Banco diese Forderung mit der Begründung zurück, dass BES Spanien hinsichtlich der Informationen über die Mindestzinsklausel, die am 24. November 2006 als Teil des unterzeichneten Angebots übermittelt worden seien, volle Transparenz habe walten lassen. 32 Am 4. Mai 2017 erhob C. F. O. gegen Novo Banco Klage auf Feststellung der Nichtigkeit der betreffenden Klausel, da diese missbräuchlich sei, sowie auf Verurteilung von Novo Banco, ihm die Beträge zurückzuerstatten, die er in Anwendung dieser Klausel zu Unrecht gezahlt habe. 33 Novo Banco machte die Unzulässigkeit dieser Klage geltend und begründete diese Einrede damit, dass sie nicht passivlegitimiert sei, da die möglicherweise zugunsten von C. F. O. entstandene Forderung, die in der Rückerstattung der Beträge bestehe, die BES Spanien im Rahmen der Anwendung der betreffenden Mindestzinsklausel eingezogen habe, durch die von der portugiesischen Zentralbank gegenüber BES ergriffenen Sanierungsmaßnahmen nicht auf sie übergegangen sei. 34 Sowohl das Gericht des ersten Rechtszugs als auch die Audiencia Provincial (Provinzgericht, Spanien), das Berufungsgericht, wiesen die von Novo Banco erhobene Einrede zurück und gaben der Klage von C. F. O. statt. 35 Novo Banco legte beim Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof), dem vorlegenden Gericht, ein Rechtsmittel ein. Dieses gab dem Antrag der portugiesischen Zentralbank und des Abwicklungsfonds auf Zulassung als Streithelfer zur Unterstützung dieses Rechtsmittels statt. 36 Das vorlegende Gericht weist erstens darauf hin, dass die im Hinblick auf BES getroffenen Sanierungsmaßnahmen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fielen, wie vom Gerichtshof bereits im Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a. (C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 28 bis 30), festgestellt, so dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta zu betrachten sei. 37 Zweitens führt es aus, dass die Entscheidung von August 2014 und die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015, auch wenn sie, wie vom Gerichtshof im Urteil vom 29. April 2021, Banco de Portugal u. a. (C‑504/19, EU:C:2021:335), entschieden, als Sanierungsmaßnahmen im Sinne der Richtlinie 2001/24 gelten würden und Dritte berühren könnten, entgegen Art. 6 Abs. 1 bis 4 dieser Richtlinie nicht öffentlich bekannt gemacht worden seien. Die von der portugiesischen Zentralbank auf ihrer Website in englischer und portugiesischer Sprache bereitgestellten sowie den spanischen Medien übermittelten Informationen über die Krise von BES und die Gründung von Novo Banco seien insoweit sehr allgemein gehalten gewesen und hätten es den betroffenen Kunden nicht ermöglicht, die von der Vermögensübertragung ausgeschlossenen Verbindlichkeiten zu identifizieren und sich der Einschränkung ihrer Rechte, die dieser Ausschluss mit sich bringe, bewusst zu werden. Die Mitteilungen von Novo Banco an ihre Kunden hätten im Übrigen eher darauf abgezielt, jegliche mögliche Betroffenheit der Kunden durch die betreffenden Sanierungsmaßnahmen auszuschließen. Überdies erfülle auch die von der spanischen Zentralbank veröffentlichte, in Rn. 27 dieses Urteils erwähnte Bekanntmachung nicht die in dieser Bestimmung geforderten Voraussetzungen. 38 Das Fehlen einer öffentlichen Bekanntmachung in der von Art. 6 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 2001/24 geforderten Form habe nahezu sämtliche in Spanien ansässigen Kunden der betroffenen Bank daran gehindert, gegen die Entscheidungen der portugiesischen Zentralbank zu klagen, und sie veranlasst, Klagen gegen Novo Banco zu erheben, gegen die sich diese jedoch mit einer Einrede der Unzulässigkeit gewandt habe, die sie damit begründet habe, dass die Verpflichtung, die von den betroffenen Kunden aufgrund der Anwendung einer missbräuchlichen Klausel gezahlten Beträge zurückzuerstatten, durch die betreffenden Sanierungsmaßnahmen nicht übertragen worden sei. 39 Das vorlegende Gericht führt aus, dass Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2001/24, wonach Sanierungsmaßnahmen unabhängig von den in den Abs. 1 bis 3 dieser Bestimmung vorgesehenen Bekanntmachungsmaßnahmen Anwendung fänden und wirksam seien, kein längeres Versäumnis abdecken könne, Einschränkungen oder den Entzug von Rechten, die diese Maßnahmen für die Kunden des betreffenden Unternehmens mit sich brächten, sowie die ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe und deren Modalitäten im Aufnahmemitgliedstaat bekannt zu machen. 40 Daher bezweifelt es, dass die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 festgelegte Verpflichtung, die Wirkungen der im Herkunftsmitgliedstaat ergriffenen Sanierungsmaßnahmen im Aufnahmemitgliedstaat anzuerkennen, mit dem in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, dem in deren Art. 21 Abs. 2 vorgesehenen Verbot jeglicher Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit und dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang stehen könne, wenn solche Maßnahmen nicht in der nach Art. 6 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie erforderlichen Weise öffentlich bekannt gemacht worden seien. 41 Drittens weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Novo Banco inhaltlich auf die von C. F. O. geforderte Rückerstattung geantwortet habe, und betont, dass die „Bank volle Transparenz [habe] walten lassen“. Demnach habe C. F. O. seine Klage mit der zuversichtlichen Einschätzung erhoben, dass Novo Banco als Bankinstitut, das von einer in Anwendung des Unionsrechts handelnden Behörde kontrolliert werde, im Zusammenhang mit seinem Vertrag sämtliche Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken von BES Spanien übernommen habe. 42 Folglich fragt sich das vorlegende Gericht, ob die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 festgelegte Verpflichtung zur Anerkennung der Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen in einem Fall, in dem ein Verbraucher, der seinen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat hat, ein berechtigtes Vertrauen in das Verhalten der von einer Behörde des Herkunftsmitgliedstaats kontrollierten Brückenbank setzen konnte, mit Art. 47 der Charta und dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang steht. 43 Viertens hegt das vorlegende Gericht schließlich Zweifel daran, ob die sich aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sanierungsmaßnahmen ergebende „Aufspaltung“ des Vertragsverhältnisses im Hinblick auf das Unionsrecht, insbesondere Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13, rechtmäßig ist. Während nämlich der betroffene Verbraucher gegenüber Novo Banco an seine Verpflichtungen gebunden sei und ihr die monatlichen Raten für das ursprünglich mit BES Spanien abgeschlossene Hypothekendarlehen zahle, sei Novo Banco von der Verpflichtung befreit, die Beträge zurückzuerstatten, die BES Spanien in Anwendung der betreffenden Mindestzinsklausel eingezogen habe, was dazu führe, dass die finanziellen Folgen einer missbräuchlichen Klausel allein diesen Verbraucher träfen, da er die Beträge angesichts der Insolvenz von BES von dieser jedenfalls nicht zurückerlangen könne. 44 In diesem Zusammenhang hält es das vorlegende Gericht für nicht nachvollziehbar, dass die Verbraucherrechte nicht über der Stabilität des Finanzsystems stünden. Es verweist dabei auf das Urteil vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a. (C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980), in dem der Gerichtshof eine Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof), die die Restitutionswirkungen der Nichtigerklärung von Mindestzinssatzklauseln in Hypothekendarlehensverträgen zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher beschränkte, um die Stabilität des spanischen Finanzsystems zu gewährleisten, das sich seinerzeit in einer schweren Krise befand, als gegen Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 verstoßend beurteilt habe. 45 Im Übrigen könne die Anerkennung der Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen, die es dem betroffenen Verbraucher in der Praxis unmöglich mache, das Recht auf Rückerstattung der aufgrund der Anwendung einer missbräuchlichen Klausel getätigten Zahlungen in Anspruch zu nehmen, obwohl er weiterhin verpflichtet sei, die monatlichen Raten des von ihm aufgenommenen Hypothekendarlehens vollständig zu entrichten, einen gegen Art. 17 der Charta verstoßenden unverhältnismäßigen Eingriff in das Eigentumsrecht dieses Verbrauchers darstellen. 46 Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 47 der Charta, dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit sowie dem Gleichheitsgrundsatz und dem Verbot jeglicher Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit nach Art. 21 Abs. 2 der Charta eine Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 vereinbar, die zur Anerkennung der Wirkungen einer Entscheidung der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats, die nicht gemäß den Vorgaben von Art. 6 Abs. 1 bis 4 dieser Richtlinie öffentlich bekannt gemacht worden ist, in einem Aufnahmemitgliedstaat führt? 2. Ist mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 47 der Charta und dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit eine Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 vereinbar, die zur Anerkennung der Wirkungen einer Entscheidung der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats in einem Aufnahmemitgliedstaat führt, wenn diese Entscheidung von der Übertragung der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit und einer Reihe von Vermögenswerten der zu sanierenden Bank auf eine „Brückenbank“ bestimmte Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken ausgeschlossen hat und das spätere Verhalten der „Brückenbank“, die unter der Kontrolle einer das Unionsrecht anwendenden Behörde steht, bei den Kunden im Aufnahmemitgliedstaat das berechtigte Vertrauen begründet hat, sie habe die Passiva (Haftungsrisiken und Verbindlichkeiten) der zu sanierenden Bank gegenüber diesen Kunden übernommen? 3. Ist mit dem Grundrecht auf Eigentum aus Art. 17 der Charta, mit dem Grundsatz eines hohen Verbraucherschutzniveaus nach Art. 38 der Charta, mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 und mit dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit eine Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 vereinbar, die in einem Aufnahmemitgliedstaat zur Anerkennung der Wirkungen einer Entscheidung der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats führt, durch die eine „Brückenbank“ in die Gläubigerstellung eines Hypothekendarlehensvertrags eintritt, jedoch die Verpflichtung zur Rückerstattung der von der Bank aufgrund der Anwendung einer missbräuchlichen Klausel eingezogenen Beträge an den Darlehensnehmer (Verbraucher) bei der zahlungsunfähigen Bank verbleibt? Rechtssache C‑499/22 47 J. M. F. T. und M. H. D. S. eröffneten ein Wertpapierkonto und schlossen mit BES Spanien einen Vertrag über die Verwaltung von Anlageportfolios ab. 48 Am 3. Oktober 2007 schlossen sie mit BES Spanien einen atypischen Finanzkontrakt (atypical financial contract, im Folgenden: AFC) ab, ein komplexes Finanzprodukt mit hohem Risiko mit variablem, an die Entwicklung des Aktienkurses anderer Kreditinstitute gebundenem Zinssatz. Der AFC lief am 11. Oktober 2014 aus und wurde von Novo Banco, die zwischenzeitlich die Rechtsnachfolge von BES Spanien angetreten hatte, am gleichen Tag mit Verlust aufgelöst und abgewickelt. 49 Darüber hinaus schlossen J. M. F. T. und M. H. D. S. am 28. April 2008 mit BES Spanien einen Vertrag über ein strukturiertes Finanzprodukt ab, das am 28. April 2013 fällig wurde und von BES Spanien mit Verlust abgewickelt wurde. 50 Im August 2014 erhielt J. M. F. T. mehrere Mitteilungen von Novo Banco, in denen infolge der von der portugiesischen Zentralbank gegenüber BES getroffenen Entscheidungen auf die Kontinuität der Bankbeziehungen zwischen den Kunden von BES Spanien und dem neuen Institut – Novo Banco – verwiesen sowie auf den Finanzstatus des AFC eingegangen wurde. 51 Am 17. April 2017 erhoben J. M. F. T. und M. H. D. S. Klage gegen Novo Banco und beantragten in erster Linie die Nichtigerklärung der beiden Finanzverträge wegen Irrtums beim Vertragsschluss aufgrund mangelhafter Aufklärung durch BES Spanien sowie die Rückerstattung der Beträge, die BES Spanien von den beiden Klägern erhalten habe, und zwar zuzüglich Zinsen ab dem Datum der jeweiligen Zahlung. Hilfsweise beantragten J. M. F. T. und M. H. D. S., Novo Banco zur Leistung von Schadensersatz für die durch den Erwerb der beiden betroffenen Finanzprodukte erlittenen Verluste zuzüglich Zinsen zum gesetzlichen Zinssatz ab Zustellung der Klage zu verurteilen. 52 Novo Banco wandte die Unzulässigkeit dieser Klage ein, da die möglicherweise zugunsten von J. M. F. T. und M. H. D. S. entstandene Forderung, die in der Rückerstattung der von diesen für die Finanzprodukte gezahlten Beträge aufgrund der möglichen Nichtigkeit der betroffenen Verträge oder in der Entschädigung für die Verluste bestehe, die dadurch entstanden seien, dass die Kunden nicht über die Risiken der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzinstrumente aufgeklärt worden seien, im Rahmen der von der portugiesischen Zentralbank gegenüber BES ergriffenen Sanierungsmaßnahmen nicht auf Novo Banco übertragen worden sei. 53 Der Klage wurde im ersten Rechtszug stattgegeben. 54 Die Audiencia Provincial (Provinzgericht) gab der Berufung von Novo Banco statt, soweit sie den am 28. April 2008 geschlossenen Vertrag betraf, weil dieser von BES Spanien am 28. April 2013 abgewickelt worden sei, also vor der Gründung von Novo Banco im Rahmen der Maßnahmen zur Sanierung von BES. Die Wirkungen des betreffenden Geschäfts seien somit bereits im Vorfeld dieser Maßnahmen erschöpft gewesen, so dass keine Verpflichtung oder Haftungsrisiken aus diesem Vertrag auf die Brückenbank übertragen worden sei. 55 Was hingegen den von Novo Banco verwalteten und von ihr im Oktober 2014 abgewickelten AFC betrifft, bestätigte die Audiencia Provincial (Provinzgericht) das Urteil aus dem ersten Rechtszug. Darüber hinaus stellte sie fest, dass mit der Entscheidung von August 2014 keine strukturierten Produkte wie der AFC von der Übertragung ausgeschlossen worden seien, sondern von BES‑Instituten ausgegebene Schuldinstrumente. 56 Befasst mit Rechtsmitteln gegen dieses Urteil, darunter jenes von Novo Banco, das von der portugiesischen Zentralbank und dem Abwicklungsfonds unterstützt wird, stellt sich das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) – im Wesentlichen aus den gleichen Gründen wie denen, die in den Rn. 37 bis 42 dieses Urteils zusammengefasst sind und sich auf die Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑498/22 beziehen – die Frage, ob die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 festgelegte Verpflichtung, die Wirkungen von im Herkunftsmitgliedstaat ergriffenen Sanierungsmaßnahmen im Aufnahmemitgliedstaat anzuerkennen, im Hinblick auf die in jener Vorlageentscheidung genannten Bestimmungen und Grundsätze des Unionsrechts, ausgenommen die Richtlinie 93/13, rechtmäßig ist. 57 Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 47 der Charta, dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit sowie dem Gleichheitsgrundsatz und dem Verbot jeglicher Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit nach Art. 21 Abs. 2 der Charta eine Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 vereinbar, die zur Anerkennung der Wirkungen einer Entscheidung der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats, die nicht gemäß den Vorgaben von Art. 6 Abs. 1 bis 4 dieser Richtlinie öffentlich bekannt gemacht worden ist, in einem Aufnahmemitgliedstaat führt? 2. Ist mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 47 der Charta und dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit eine Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 vereinbar, die zur Anerkennung der Wirkungen einer Entscheidung der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats in einem Aufnahmemitgliedstaat führt, wenn diese Entscheidung von der Übertragung der gewöhnlichen Geschäftstätigkeit und einer Reihe von Vermögenswerten der zu sanierenden Bank auf eine „Brückenbank“ bestimmte Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken ausgeschlossen hat und das spätere Verhalten der „Brückenbank“, die unter der Kontrolle einer das Unionsrecht anwendenden Behörde steht, bei den Kunden im Aufnahmemitgliedstaat das berechtigte Vertrauen begründet hat, sie habe die Passiva (Haftungsrisiken und Verbindlichkeiten) der zu sanierenden Bank gegenüber diesen Kunden übernommen? 3. Ist mit dem Grundrecht auf Eigentum aus Art. 17 der Charta, dem Grundsatz eines hohen Verbraucherschutzniveaus nach Art. 38 der Charta und dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit eine Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 vereinbar, die in einem Aufnahmemitgliedstaat zur Anerkennung der Wirkungen einer Entscheidung der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats führt, durch die eine „Brückenbank“ in die jeweilige Gläubigerposition der von der zu sanierenden Bank eingegangenen Vertragsbeziehungen eintritt, während die Verpflichtung zur Rückerstattung der vom Kunden gezahlten Beträge, wenn Verträge wegen Irrtums beim Vertragsabschluss aufgrund mangelhafter Aufklärung durch die Bank für nichtig erklärt werden, bei der zahlungsunfähigen Bank verbleibt? Rechtssache C‑500/22 58 Am 17. November 2014 erwarb die Proyectos, Obras y Servicios de Badajoz SL (im Folgenden: POSB) auf dem Sekundärmarkt für 100000 Euro eine vorrangige Schuldverschreibung mit der Bezeichnung „Senior Bond NB 6,875 % maturity July 2016“, die am 15. Juli 2016 auslief. 59 Diese Schuldverschreibung war von BES ausgegeben worden; zum Zeitpunkt ihres Erwerbs durch POSB über eine dritte Investmentfirma gehörte das nicht nachrangige Schuldinstrument aber zum Vermögen von Novo Banco, auf die es gemäß der Entscheidung von August 2014 übertragen worden war. 60 Im Juli 2015 zahlte Novo Banco POSB für den Zeitraum 2014–2015 Zinsen aus der Schuldverschreibung. 61 Als die Laufzeit dieser Schuldverschreibung endete, zahlte Novo Banco POSB weder die Zinsen für den Zeitraum 2015–2016 noch erstattete sie ihr den Nennwert der Schuldverschreibung. 62 Auf Beschwerde von POSB hin erklärte Novo Banco, dass ihre Zahlungsverweigerung auf den Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 beruhe, mit denen die portugiesische Zentralbank die mit dieser Schuldverschreibung verbundenen Passiva von Novo Banco auf BES „rückübertragen“ habe. Diese Entscheidungen sähen nämlich u. a. die „Rückübertragung“ nicht nachrangiger Schuldverschreibungen von Novo Banco auf BES vor, darunter die Rechte und Haftungsrisiken, die sich aus den in Anhang 2B dieser Entscheidungen aufgelisteten, nicht nachrangigen Schuldtiteln – einschließlich des „Senior Bond NB 6,875 % maturity July 2016“ – ergäben. 63 Am 25. Juni 2017 erhob POSB gegen Novo Banco Klage auf Zahlung der Zinsen aus dieser Schuldverschreibung für das Laufzeitjahr 2015–2016 sowie auf Rückzahlung des Betrags, der dem Nennwert der Schuldverschreibung entspricht. 64 Novo Banco wandte die Unzulässigkeit dieser Klage ein, da sie aufgrund des Umstands, dass die mit dieser Schuldverschreibung verbundenen Passiva auf BES „rückübertragen“ worden seien, nicht passivlegitimiert sei. 65 Sowohl das im ersten Rechtszug angerufene Gericht als auch die Audiencia Provincial (Provinzgericht), das Berufungsgericht, wiesen die von Novo Banco erhobene Einrede zurück und gaben der Klage statt. 66 Befasst mit einem Rechtsmittel von Novo Banco, das von der portugiesischen Zentralbank und dem Abwicklungsfonds unterstützt wird, stellt sich das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) als Erstes – im Wesentlichen aus den gleichen Gründen wie denen, die in den Rn. 37 bis 40 dieses Urteils zusammengefasst sind und sich auf die Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑498/22 beziehen – die Frage, ob die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 festgelegte Verpflichtung, die Wirkungen von im Herkunftsmitgliedstaat ergriffenen Sanierungsmaßnahmen im Aufnahmemitgliedstaat anzuerkennen, im Hinblick auf Art. 47 der Charta, den Grundsatz der Rechtssicherheit, den Gleichheitsgrundsatz und das Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 21 Abs. 2 der Charta rechtmäßig ist. 67 Als Zweites weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass POSB den Schutz des in Art. 17 der Charta anerkannten Grundrechts auf Eigentum genieße, da sie eine nicht nachrangige Schuldverschreibung halte. Eine „Rückübertragung“ der mit dieser Schuldverschreibung verbundenen Haftungsrisiken und Verbindlichkeiten auf BES würde in der Praxis zu einem Entzug ihres Eigentumsrechts führen, da es sich bei BES um eine zahlungsunfähige Bank handle, der ihre Aktiva entzogen worden seien. 68 Das vorlegende Gericht führt zwar aus, sich voll und ganz darüber im Klaren zu sein, dass das in Art. 17 der Charta verankerte Grundrecht kein absolutes Recht sei und dass dem Inhaber eines solchen Rechts sein Eigentum aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums entzogen werden könne. 69 Es führt aus, dass die Lage von Anteilseignern und Gläubigern im Zusammenhang mit Abwicklungsmaßnahmen, die in Bezug auf eine nicht überlebensfähige Bank getroffen würden, zu diesen Fällen zähle. POSB sei aber weder Anteilseignerin noch Gläubigerin von BES, sondern zum Zeitpunkt des Erwerbs der nicht nachrangigen Schuldverschreibung Gläubigerin einer solventen, kapitalisierten Bank – Novo Banco – geworden. 70 Folglich geht das vorlegende Gericht davon aus, dass der Entzug des Eigentums von POSB ohne rechtzeitige und gerechte Entschädigung auf der Grundlage von der portugiesischen Zentralbank eingeräumten Befugnissen zur „Rückübertragung“ durch eine Entscheidung ebendieser Behörde, die nicht wie gemäß der Richtlinie 2001/24 erforderlich öffentlich bekannt gemacht worden sei, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht auf Eigentum gemäß Art. 17 der Charta darstellen könne. 71 Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. Ist mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 47 der Charta, dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit sowie dem Gleichheitsgrundsatz und dem Verbot jeglicher Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit nach Art. 21 Abs. 2 der Charta eine Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 vereinbar, die zur Anerkennung der Wirkungen einer Entscheidung der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats, die nicht gemäß den Vorgaben von Art. 6 Abs. 1 bis 4 dieser Richtlinie öffentlich bekannt gemacht worden ist, in einem Aufnahmemitgliedstaat führt? 2. Ist mit dem Grundrecht auf Eigentum aus Art. 17 der Charta und dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit eine Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 vereinbar, die in einem Aufnahmemitgliedstaat zur Anerkennung der Wirkungen einer Entscheidung der zuständigen Behörde des Herkunftsmitgliedstaats führt, mit der einer zahlungsunfähigen Bank, gegen die Abwicklungsmaßnahmen angeordnet wurden, die Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken aus einer nicht nachrangigen Schuldverschreibung rückübertragen worden sind, die ein Dritter zu einem Zeitpunkt erworben hatte, als sich diese Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken noch im Vermögen der „Brückenbank“ befanden? Verfahren vor dem Gerichtshof 72 Der Präsident des Gerichtshofs hat am 27. September 2022 gemäß Art. 54 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beschlossen, die Rechtssachen C‑498/22 bis C‑500/22 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung zu verbinden. Zu den Vorlagefragen Zur jeweils ersten Frage in den Rechtssachen C‑498/22 bis C‑500/22 73 Mit der jeweils ersten Frage in den Rechtssachen C‑498/22 bis C‑500/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 der Richtlinie 2001/24 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 2 und Art. 47 Abs. 1 der Charta sowie dem Grundsatz der Rechtssicherheit dahin auszulegen sind, dass sie im Fall der unterbliebenen öffentlichen Bekanntmachung gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie dem entgegenstehen, dass ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats als des Herkunftsmitgliedstaats die Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme anerkennt, die vor Anrufung dieses Gerichts gegenüber einem Kreditinstitut ergriffen wurde und zu einer teilweisen Übertragung der Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken dieses Kreditinstituts auf eine Brückenbank geführt hat. 74 Wie vom vorlegenden Gericht ausgeführt, ist unstreitig, dass die Entscheidung von August 2014 und die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015, die die portugiesische Zentralbank gegenüber BES ergriffen hat und mit denen ein Teil der Aktiva und der Passiva dieses Kreditinstituts auf eine Brückenbank – Novo Banco – übertragen wurde, Sanierungsmaßnahmen im Sinne der Richtlinie 2001/24 darstellen. 75 Diese Richtlinie beruht, wie insbesondere aus ihren Erwägungsgründen 4 und 16 hervorgeht, auf den Grundsätzen der Einheit und der Universalität und stellt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Sanierungsmaßnahmen und ihren Wirkungen auf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Banco de Portugal u. a., C‑504/19, EU:C:2021:335, Rn. 33), ohne eine Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften auf diesem Gebiet anzustreben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2022, Banka Slovenije, C‑45/21, EU:C:2022:670, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung). 76 Nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 werden nämlich die Sanierungsmaßnahmen grundsätzlich nach dem Recht des Herkunftsmitgliedstaats durchgeführt. Zum einen ergibt sich aus Unterabs. 2 dieser Bestimmung, dass solche Maßnahmen nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats in der gesamten Union ohne weitere Formalität wirksam sind, und zwar auch gegenüber Dritten in anderen Mitgliedstaaten, selbst wenn nach den für diese geltenden Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats solche Maßnahmen nicht vorgesehen sind oder ihre Durchführung von Voraussetzungen abhängig gemacht wird, die nicht erfüllt sind. Zum anderen sind die Sanierungsmaßnahmen nach Unterabs. 3 dieser Bestimmung in der gesamten Union wirksam, sobald sie im Herkunftsmitgliedstaat wirksam sind. 77 Diese Bestimmungen sehen somit vor, dass grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird (lex concursus), die Maßnahmen zur Sanierung von Kreditinstituten und ihre Wirkungen regelt, abgesehen von bestimmten, in der Richtlinie 2001/24 ausdrücklich vorgesehenen Fällen, in denen sich eine Abschwächung des Prinzips, dass das Recht des Herkunftsmitgliedstaats maßgeblich ist, als unerlässlich erweist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Banco de Portugal u. a., C‑504/19, EU:C:2021:335, Rn. 34 und 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 78 Was die öffentliche Bekanntmachung solcher Sanierungsmaßnahmen betrifft, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2001/24 in Fällen, in denen die Durchführung der gemäß Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie beschlossenen Sanierungsmaßnahmen die Rechte von Dritten in einem Aufnahmemitgliedstaat beeinträchtigen kann und in denen in dem Herkunftsmitgliedstaat Rechtsbehelfe gegen die Entscheidung, die diese Maßnahmen anordnet, eingelegt werden können, die Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats, der Verwalter oder jede andere in diesem Mitgliedstaat dazu ermächtigte Person im Amtsblatt der Europäischen Union und in zwei überregionalen Zeitungen jedes Aufnahmemitgliedstaats einen Auszug aus der Entscheidung veröffentlichen, um vor allem das rechtzeitige Einlegen der Rechtsbehelfe zu ermöglichen. 79 Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2001/24 besteht die Pflicht zur Bekanntmachung von Sanierungsmaßnahmen also nur, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen müssen diese Maßnahmen geeignet sein, die Rechte von Dritten im Aufnahmemitgliedstaat zu beeinträchtigen, und zum anderen muss im Herkunftsmitgliedstaat ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung eingelegt werden können, mit der diese Maßnahmen angeordnet werden. 80 Diese Voraussetzungen scheinen in Bezug auf die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sanierungsmaßnahmen erfüllt zu sein; auch das vorlegende Gericht neigt zu dieser Betrachtung. Wie von der portugiesischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen bestätigt und entsprechend den Bestimmungen des RGICSF kann nämlich zum einen in Portugal ein Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung der portugiesischen Zentralbank, mit der solche Maßnahmen ergriffen werden, eingelegt werden, sofern die Voraussetzungen erfüllt sind, die in den für verwaltungsrechtliche Streitigkeiten maßgeblichen Rechtsvorschriften vorgesehen sind. Zum anderen können sich diese Maßnahmen auf die Betroffenen der Ausgangsverfahren auswirken, die alle im Aufnahmemitgliedstaat ansässig oder niedergelassen und Kunden des Kreditinstituts sind, gegen das sich diese Maßnahmen richten. 81 Es ist daher nicht erforderlich, im Rahmen der vorliegenden Vorlageentscheidungsersuchen die Gültigkeit solcher Voraussetzungen im Hinblick auf Art. 47 der Charta zu prüfen. 82 Sodann ist es gemäß Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 2001/24 Sache der zuständigen Behörden des Herkunftsmitgliedstaats, den Auszug, den Gegenstand und die Rechtsgrundlage der entsprechenden Entscheidung, die Rechtsbehelfsfristen, vor allem eine leicht verständliche Angabe des Zeitpunkts, zu dem diese Fristen enden, und die genauen Anschriften der Behörden oder des Gerichts zu veröffentlichen, von denen/dem die Rechtsbehelfe zu prüfen sind. 83 Da die Verpflichtung der zuständigen Behörden des Herkunftsmitgliedstaats, insbesondere Angaben zu den Rechtsbehelfsfristen zu veröffentlichen, logischerweise nur Rechtsbehelfe umfassen kann, die in diesem Mitgliedstaat eingelegt werden können, ist davon auszugehen, dass Art. 6 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 2001/24 die Unterrichtung der Gläubiger des betroffenen Kreditinstituts regeln soll, um es ihnen zu ermöglichen, im Einklang mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung dieser Gläubiger gemäß dem zwölften Erwägungsgrund dieser Richtlinie im Herkunftsmitgliedstaat ihr Recht auszuüben, gegen Entscheidungen, mit denen Maßnahmen zur Sanierung dieses Kreditinstituts angeordnet werden, einen Rechtsbehelf einzulegen. 84 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Sanierungsmaßnahmen gemäß Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2001/24 unabhängig von den in den Abs. 1 bis 3 vorgesehenen Maßnahmen zur öffentlichen Bekanntmachung Anwendung finden und gegenüber den Gläubigern uneingeschränkt wirksam sind, sofern die Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats oder dessen einschlägige Rechtsvorschriften nicht etwas anderes bestimmen. 85 Dass die im Herkunftsmitgliedstaat ergriffenen Sanierungsmaßnahmen nicht entsprechend den in Art. 6 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 2001/24 vorgesehenen Regeln und Modalitäten öffentlich bekannt gemacht wurden, führt also nicht dazu, dass die in Rn. 75 und 76 dieses Urteils genannten Grundsätze der Einheit und der Universalität sowie das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung der Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen in Frage gestellt werden. Die nicht erfolgte öffentliche Bekanntmachung bewirkt daher weder die Ungültigkeit dieser Maßnahmen noch nimmt sie ihnen ihre Wirkungen im Aufnahmemitgliedstaat. 86 Allerdings ist festzustellen, dass in der Richtlinie 2001/24 nur ausgeschlossen wird, dass die unterbliebene öffentliche Bekanntmachung der Sanierungsmaßnahmen zu ihrer Unwirksamkeit führt oder ihnen ihre Wirkungen im Aufnahmemitgliedstaat nimmt, ohne weitere Sanktionen anderer Art vorzusehen oder gar zu harmonisieren. Folglich ist es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes einzelnen Mitgliedstaats, die Verfahrensmodalitäten zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die entsprechenden innerstaatlichen Rechtsbehelfe (Äquivalenzgrundsatz), und sie dürfen die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 20. September 2018, Rudigier, C‑518/17, EU:C:2018:757, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). 87 Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten haben, dass das in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt ist, der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt (Urteil vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände], C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 43). 88 Wie in Rn. 83 dieses Urteils ausgeführt, besteht das Ziel der in Art. 6 der Richtlinie 2001/24 vorgesehenen öffentlichen Bekanntmachung darin, im Herkunftsmitgliedstaat den Schutz des Rechts der Betroffenen sicherzustellen, gegen Entscheidungen, mit denen Maßnahmen zur Sanierung eines Kreditinstituts angeordnet werden, einen Rechtsbehelf einzulegen, und zwar insbesondere das Recht der im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Gläubiger dieses Kreditinstituts. 89 Daraus folgt, dass das Recht des Herkunftsmitgliedstaats in Fällen, in denen die Sanierungsmaßnahmen nicht gemäß den Anforderungen von Art. 6 der Richtlinie 2001/24 öffentlich bekannt gemacht wurden, Personen, deren durch das Unionsrecht gewährleisteten Rechte durch diese Maßnahmen beeinträchtigt werden und die im Aufnahmemitgliedstaat ansässig oder niedergelassen sind, die Möglichkeit gewähren muss, einen Rechtsbehelf gegen diese Maßnahmen zu ergreifen, und zwar innerhalb einer angemessenen Frist ab dem Zeitpunkt, zu dem sie über diese Maßnahmen informiert wurden, davon Kenntnis erlangt haben oder vernünftigerweise davon hätten wissen müssen. 90 Insoweit hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Betroffenen und die Behörde schützt, mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. März 2009, Danske Slagterier, C‑445/06, EU:C:2009:178, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Gerichtshof sieht es insbesondere nicht als übermäßiges Erschwernis an, den Lauf einer Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs von dem Zeitpunkt abhängig zu machen, zu dem der Betreffende von den ihn beschwerenden Maßnahmen Kenntnis erlangt hat oder zumindest hätte Kenntnis erlangen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2019, Flausch u. a., C‑280/18, EU:C:2019:928, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 91 So hat das vorlegende Gericht zum einen bei der Bestimmung des Zeitpunkts, ab dem die Kunden in den Ausgangsverfahren von den Entscheidungen der portugiesischen Zentralbank Kenntnis erlangt hatten oder hätten erlangen müssen, die von den portugiesischen Behörden gemäß Art. 83 Abs. 4 der Richtlinie 2014/59 veröffentlichten Informationen sowie die von BES und/oder Novo Banco übermittelten Informationen zu berücksichtigen, und zwar unabhängig davon, dass – wie vom Generalanwalt in den Nrn. 77 und 86 seiner Schlussanträge ausgeführt – die Bestimmungen der Richtlinie 2014/59 nicht auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbar sind. Zum anderen hat das vorlegende Gericht die Ausführungen der portugiesischen Regierung zu berücksichtigen, gegebenenfalls bestätigt durch die Rechtsprechung der Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats, wonach das portugiesische Verfahrensrecht gewährleiste, dass für den Fall, dass ein Verwaltungsrechtsakt wie eine Entscheidung der portugiesischen Zentralbank über die Sanierung eines Kreditinstituts nicht öffentlich bekannt gemacht werde, ab dem Zeitpunkt, zu dem die geschädigten Personen von diesem Rechtsakt oder seiner Durchführung Kenntnis hätten oder hätten haben müssen – je nachdem, was zuerst eintrete –, ein Rechtsbehelf gegen diesen Verwaltungsakt eingelegt werden könne. 92 Im Übrigen steht Art. 47 Abs. 1 der Charta dem nicht entgegen, dass für die Anfechtung einer Entscheidung einer nationalen Behörde, mit der Unionsrecht umgesetzt wird und die eines der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte verletzen kann, angemessene Rechtsbehelfsfristen gesetzt werden. 93 Ferner verlangen weder Art. 47 der Charta noch der Effektivitätsgrundsatz, dass der im Recht des Herkunftsmitgliedstaats vorgesehene Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung, mit der eine nationale Behörde eine Sanierungsmaßnahme ergreift, aufschiebende Wirkung hat, wodurch die Wirkungen dieser Entscheidung von Rechts wegen bis zur Entscheidung über einen solchen Rechtsbehelf ausgesetzt würden. 94 Was sodann das in Art. 21 Abs. 2 der Charta verankerte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit betrifft, ist weder vorgetragen noch nachgewiesen worden, dass die gemäß Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 zu erfolgende Anerkennung der Wirkungen der Sanierungsmaßnahmen im Aufnahmemitgliedstaat je nach Staatsangehörigkeit des betroffenen Bürgers unterschiedlich gehandhabt würde. 95 Was schließlich den Grundsatz der Rechtssicherheit angeht, ist darauf hinzuweisen, dass dieser nach ständiger Rechtsprechung gebietet, dass Rechtsvorschriften – vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können – klar und bestimmt sowie in ihrer Anwendung für den Einzelnen vorhersehbar sind. Im Einzelnen verlangt dieser Grundsatz, dass eine Regelung es den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Banco de Portugal u. a., C‑504/19, EU:C:2021:335, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 96 Im vorliegenden Fall muss zum einen der Aufnahmemitgliedstaat nach den Bestimmungen der Richtlinie 2001/24 sicherstellen, dass die Wirkungen der im Herkunftsmitgliedstaat ergriffenen Sanierungsmaßnahmen in seinem Hoheitsgebiet ohne weitere Formalitäten anerkannt werden, und zwar ungeachtet dessen, dass diese Maßnahmen nicht Gegenstand der in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen öffentlichen Bekanntmachung waren. Zum anderen ist festzustellen, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kunden von Novo Banco im Lauf des Jahres 2017 ihre jeweiligen Klagen bei den spanischen Gerichten einlegten, die Sanierungsmaßnahmen auf verschiedene Arten bekannt gemacht worden waren, und zwar sowohl von den portugiesischen als auch von den spanischen Behörden. Daraus folgt, dass vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfung die Kunden von Novo Banco zum Zeitpunkt der Einreichung ihrer jeweiligen Klagen über alle erforderlichen Informationen verfügten, um in voller Kenntnis der Sachlage eine Entscheidung über die Einreichung dieser Klagen zu treffen und mit Sicherheit zu ermitteln, gegen wen diese Klagen zu richten waren. 97 Vor diesem Hintergrund ist auf die jeweils erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 der Richtlinie 2001/24 in Verbindung mit Art. 21 Abs. 2 und Art. 47 Abs. 1 der Charta sowie dem Grundsatz der Rechtssicherheit dahin auszulegen sind, dass sie im Fall der unterbliebenen öffentlichen Bekanntmachung gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie dem nicht entgegenstehen, dass ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats als des Herkunftsmitgliedstaats die Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme anerkennt, die vor Anrufung dieses Gerichts gegenüber einem Kreditinstitut ergriffen wurde und zu einer teilweisen Übertragung der Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken dieses Kreditinstituts auf eine Brückenbank geführt hat. Zur jeweils zweiten Frage in den Rechtssachen C‑498/22 und C‑499/22 98 Mit der jeweils zweiten Frage in den Rechtssachen C‑498/22 und C‑499/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta sowie dem Grundsatz der Rechtssicherheit dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass im Aufnahmemitgliedstaat die Wirkungen einer im Herkunftsmitgliedstaat gegenüber einem Kreditinstitut ergriffenen Sanierungsmaßnahme anerkannt werden, mit der die Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken dieses Instituts teilweise auf eine Brückenbank übertragen wurden, die von einer das Unionsrecht anwendenden Behörde kontrolliert wird, wenn die Kunden dieser Brückenbank behaupten, angesichts deren späteren Verhaltens berechtigtes Vertrauen in den Umstand gesetzt zu haben, dass die Brückenbank auch sämtliche Passiva im Zusammenhang mit den ihnen gegenüber bestehenden Haftungsrisiken und Verbindlichkeiten der zu sanierenden Bank übernommen habe. 99 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass diese Frage auf der Prämisse beruht, dass sich Kunden einer Brückenbank wie Novo Banco, deren Kapital im Hinblick auf deren spätere Privatisierung vorübergehend von einer Behörde eines Mitgliedstaats gehalten wurde, gegenüber dieser Brückenbank auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen können. 100 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gehört der Grundsatz des Vertrauensschutzes zu den tragenden Grundsätzen der Union (Urteil vom 26. Juli 2017, Europa Way und Persidera, C‑560/15, EU:C:2017:593, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung) und muss sowohl von den Organen der Union als auch von den Mitgliedstaaten beachtet werden, wenn sie Maßnahmen zur Durchführung des Unionsrechts erlassen, insbesondere bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Unionsrichtlinien einräumen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Juli 2017, Europa Way und Persidera, C‑560/15, EU:C:2017:593, Rn. 79, und vom 17. November 2022, Avicarvil Farms, C‑443/21, EU:C:2022:899, Rn. 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 101 Auf diesen Grundsatz kann sich jeder berufen, bei dem eine Verwaltungsbehörde aufgrund bestimmter Zusicherungen, die sie ihm gegeben hat, begründete Erwartungen geweckt hat (Urteile vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean, C‑183/14, EU:C:2015:454, Rn. 44, und vom 20. Januar 2022, Air Berlin, C‑165/20, EU:C:2022:42, Rn. 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 102 Der Gerichtshof hat es hingegen für unzulässig gehalten, diesen Grundsatz gegenüber einem privatrechtlichen Wirtschaftsteilnehmer heranzuziehen, um ein Recht auf Vorsteuerabzug geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Februar 2018, Kreuzmayr, C‑628/16, EU:C:2018:84, Rn. 47), oder sich im Rahmen eines Rechtsstreits darauf zu stützen, in dem sich ausschließlich nationale Verwaltungsbehörden gegenüberstanden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. März 2022, Smetna palata na Republika Bulgaria, C‑195/21, EU:C:2022:239, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Recht des Einzelnen, sich auf diesen Grundsatz zu berufen, besteht im Unionsrecht somit nur im Zusammenhang mit präzisen Zusicherungen, die er von einer Behörde erhalten hat. 103 Wie der Generalanwalt in Nr. 98 seiner Schlussanträge ausführt: Im vorliegenden Fall eine Brückenbank wie Novo Banco als eine Unionsrecht durchführende Verwaltungsbehörde anzusehen, obwohl sie als privatrechtliches Kreditinstitut ohne jegliche über das allgemeine Recht hinausgehende Befugnisse zur Erfüllung eines öffentlich-rechtlichen Auftrags gegründet worden ist, würde über die Fälle hinausgehen, in denen sich der Einzelne auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen kann. Der Umstand, dass das Gesellschaftskapital dieses Kreditinstituts im Hinblick auf seine Privatisierung vorübergehend von einer Behörde wie dem Abwicklungsfonds gehalten wurde, ändert daran nichts. Diese Tatsache allein vermag ein auf dem wettbewerbsorientierten Markt der Bank- und Finanzdienstleistungen tätiges Kreditinstitut nicht in eine nationale Verwaltungsbehörde umzuwandeln. 104 Auf die jeweils zweite Frage in den Rechtssachen C‑498/22 und C‑499/22 ist daher zu antworten, dass Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta und dem Grundsatz der Rechtssicherheit dahin auszulegen ist, dass sich Einzelne gegenüber einer Brückenbank – einer privatrechtlichen Einrichtung ohne jegliche über das allgemeine Recht hinausgehenden Befugnisse, die im Rahmen von Maßnahmen zur Sanierung eines Kreditinstituts gegründet wurde, dessen Kunden sie ursprünglich waren – nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen können, um die Haftung dieser Brückenbank für vorvertragliche und vertragliche Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit Verträgen auszulösen, die zuvor mit diesem Kreditinstitut abgeschlossen worden waren. Die Tatsache allein, dass dieses Kreditinstitut im Hinblick auf seine Privatisierung vorübergehend von einer Behörde kontrolliert wurde, macht dieses auf dem wettbewerbsorientierten Markt der Bank- und Finanzdienstleistungen tätige Kreditinstitut nicht zu einer nationalen Verwaltungsbehörde. Zur jeweils dritten Frage in den Rechtssachen C‑498/22 und C‑499/22 sowie zur zweiten Frage in der Rechtssache C‑500/22 105 Mit der jeweils dritten Frage in den Rechtssachen C‑498/22 und C‑499/22 sowie mit der zweiten Frage in der Rechtssache C‑500/22 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 17 der Charta und der Grundsatz der Rechtssicherheit dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass im Aufnahmemitgliedstaat die Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen anerkannt werden, die im Herkunftsmitgliedstaat in Anwendung der Richtlinie 2001/24 ergriffen wurden und die Gründung einer Brückenbank sowie den Verbleib der Verpflichtung zur Rückerstattung der aufgrund einer vorvertraglichen oder vertraglichen Haftung geschuldeten Beträge auf der Passivseite der Bank vorsehen, gegen die sich diese Maßnahmen richteten. In den Rechtssachen C‑498/22 und C‑499/22 stellt sich das vorlegende Gericht außerdem die Frage, ob eine solche Anerkennung mit Art. 38 der Charta sowie, in der Rechtssache C‑498/22, mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vereinbar ist. 106 Vorab ist das insbesondere von Novo Banco vorgebrachte Argument zurückzuweisen, dass die dritte Frage in der Rechtssache C‑499/22 unzulässig sei, da sie nur den in Art. 38 der Charta verankerten Grundsatz betreffe und im vorliegenden Fall keine Bestimmungen des abgeleiteten Rechts im Bereich des Verbraucherschutzes, einschließlich der Richtlinie 93/13, anwendbar seien. Im Aufnahmemitgliedstaat die Wirkungen einer im Herkunftsmitgliedstaat ergriffenen Maßnahme zur Sanierung eines Kreditinstituts anzuerkennen, mit der die in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 vorgesehene Verpflichtung umgesetzt wird, stellt zum einen nämlich eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar. Die Charta ist also auf den Ausgangsrechtsstreit in der Rechtssache C‑499/22 anwendbar und diese Frage ist inhaltlich zu beantworten. Zum anderen ergibt sich jedenfalls aus dem Wortlaut dieser Frage, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht nur zur Achtung des in Art. 38 der Charta verankerten Grundsatzes befragt, sondern auch zur Wahrung des Rechts auf Eigentum gemäß Art. 17 der Charta. 107 Es ist daher nacheinander zu prüfen, ob Art. 17 der Charta, der Grundsatz der Rechtssicherheit, Art. 38 der Charta und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass sie der Anerkennung der Wirkungen von im Herkunftsmitgliedstaat in Anwendung der Richtlinie 2001/24 ergriffenen Sanierungsmaßnahmen entgegenstehen, die die Gründung einer Brückenbank und den Verbleib der Verpflichtung zur Rückerstattung der aufgrund einer vorvertraglichen oder vertraglichen Haftung geschuldeten Beträge auf der Passivseite der Bank vorsehen, gegen die sich diese Maßnahmen richteten. Zu Art. 17 der Charta 108 Nach Art. 17 Abs. 1 der Charta hat jede Person das Recht, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen und unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, sowie gegen eine rechtzeitige angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist. Außerdem können nach Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen der Ausübung der in der Charta verankerten Rechte und Freiheiten wie des Eigentumsrechts vorgenommen werden, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten, unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 109 Was als Erstes den durch Art. 17 Abs. 1 der Charta gewährten Schutz betrifft, so bezieht sich dieser nach ständiger Rechtsprechung auf vermögenswerte Rechte, aus denen sich im Hinblick auf die betreffende Rechtsordnung eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. August 2022, HOLD Alapkezelő, C‑352/20, EU:C:2022:606, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung). So hat der Gerichtshof anerkannt, dass Anteile oder auf den Kapitalmärkten handelbare Anleihen solche Rechte darstellen und vom Schutz des Art. 17 Abs. 1 der Charta umfasst sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a., C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 40 und 43). 110 Es ist daher zu prüfen, ob der im jeweiligen Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende Sachverhalt ein vermögenswertes Recht betrifft, aus dem sich eine gesicherte Rechtsposition ergibt, die eine selbständige Ausübung dieser Rechte durch und zugunsten ihres Inhabers ermöglicht. 111 Was zunächst die vorrangige Schuldverschreibung betrifft, die POSB auf dem sekundären Kapitalmarkt erworben hat und die in der Rechtssache C‑500/22 in Rede steht, steht angesichts der oben in Rn. 109 wiedergegebenen Rechtsprechung außer Zweifel, dass eine solche vorrangige Schuldverschreibung, insbesondere dadurch, dass sie grundsätzlich mit der Zahlung der jährlichen Zinsen und am Ende der Laufzeit der Rückzahlung ihres Nennwerts verbunden ist, einen Vermögenswert hat und ihrem Inhaber eine gesicherte Rechtsposition verleiht, die eine selbständige Ausübung der sich aus ihr ergebenden Rechte ermöglicht. 112 Was sodann die Forderung betrifft, die im der Rechtssache C‑498/22 zugrunde liegenden Rechtsstreit in Rede steht, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet in Paris am 20. März 1952, dass der Begriff „Eigentum“ sowohl „aktuelle Eigentumspositionen“ als auch „Vermögenswerte“ einschließlich Forderungen umfassen kann, zu denen der Betroffene zumindest das Bestehen einer „berechtigten Erwartung“ behaupten kann, in den tatsächlichen Genuss eines Eigentumsrechts zu gelangen. Gehört das betroffene Vermögensinteresse zu den Forderungen, kann es nur als „Vermögenswert“ angesehen werden, wenn es eine hinreichende Rechtsgrundlage hat, u. a. wenn es durch eine gefestigte Rechtsprechung bestätigt wird (vgl. in diesem Sinne EGMR, 28. September 2004, Kopecký/Slowakei, CE:ECHR:2004:0928JUD004491298, §§ 35 und 52, sowie EGMR, 20. März 2018, Radomilja u. a./Kroatien, CE:ECHR:2018:0320JUD003768510, § 142). 113 Wie vom Generalanwalt in Nr. 111 seiner Schlussanträge ausgeführt, hängt die Forderung, die in dem der Rechtssache C‑498/22 zugrunde liegenden Rechtsstreit in Rede steht, mit der grundsätzlichen Verpflichtung eines Kreditinstituts zusammen, die Zinsen zurückzuerstatten, die aufgrund einer für missbräuchlich erklärten Mindestzinsklausel in einem mit einem Verbraucher geschlossenen Hypothekendarlehensvertrag eingezogen wurden, ohne dass die Rückerstattung dieser Zinsen auf den Zeitraum nach Feststellung der Missbräuchlichkeit dieser Klausel beschränkt werden kann, wie sich aus der Rechtsprechung zur Auslegung von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a., C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980, Rn. 61 und 62, sowie vom 15. Juni 2023, Bank M. [Folgen der Nichtigerklärung des Vertrags], C‑520/21, EU:C:2023:478, Rn. 57 und 58). Daraus folgt, dass der Gläubiger dieser Forderung zumindest eine „berechtigte Erwartung“ behaupten könnte, in den tatsächlichen Genuss eines Eigentumsrechts zu gelangen, so dass er den Schutz von Art. 17 Abs. 1 der Charta in Anspruch nehmen kann. 114 Was schließlich die Forderung betrifft, die in dem der Rechtssache C‑499/22 zugrunde liegenden Rechtsstreit in Rede steht, nämlich die Forderung im Zusammenhang mit der Mangelhaftigkeit der vorvertraglichen Informationen betreffend die Risiken des von J. M. F. T. und M. H. D. S. bei BES erworbenen Finanzinstruments, ist in jedem der vorliegenden Fälle anhand der Umstände des Einzelfalls gerichtlich zu überprüfen, ob die vorvertraglichen Informationen ausreichten, und zwar im Hinblick darauf, ob sie überhaupt erteilt wurden und, wenn ja, welchen Umfang sie hatten. Dabei ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Forderung die in Rn. 110 dieses Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt, und insbesondere, ob die nationale Rechtsprechung, nach der für Kreditinstitute eine Pflicht zur vorvertraglichen Information besteht, hinreichend gefestigt ist, damit die Person, die einen Verstoß gegen diese Verpflichtung geltend macht, eine „berechtigte Erwartung“ behaupten kann, in den tatsächlichen Genuss eines Eigentumsrechts zu gelangen. 115 Als Zweites hat der Gerichtshof zur Frage, ob es im Hinblick auf diese Forderungen zu einer Entziehung von Eigentum im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der Charta führt oder einer Regelung der Nutzung von Eigentum im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Satz 3 der Charta gleichkommt, wenn die Wirkungen der im Herkunftsmitgliedstaat gemäß Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 ergriffenen Maßnahmen zur Sanierung von BES im Aufnahmemitgliedstaat anerkannt werden, entschieden, dass der Erlass dieser Sanierungsmaßnahmen durch den Herkunftsmitgliedstaat, die u. a. die Übertragung von Aktiva eines Kreditinstituts auf eine Brückenbank vorsehen, eine Regelung der Nutzung von Eigentum im Sinne dieser Bestimmung darstellt, die geeignet ist, das Eigentumsrecht von Gläubigern dieses Kreditinstituts wie den Inhabern von Schuldverschreibungen, deren Forderungen nicht auf das Brückeninstitut übertragen wurden, zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a., C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 50). 116 Wie der Generalanwalt in Nr. 117 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ändert der Umstand, dass die Wirkungen der Sanierungsmaßnahmen aufgrund der Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung dieser Maßnahmen gemäß Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 im Aufnahmemitgliedstaat für anwendbar erklärt wurden, nichts an dieser Beurteilung. 117 Es bleibt zu prüfen, ob gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 der Charta die im Aufnahmemitgliedstaat eintretenden Wirkungen der Sanierungsmaßnahmen, mit denen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Forderungen der Passivseite von BES Spanien zugeordnet wurden, gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt des Eigentumsrechts achten und verhältnismäßig sind, wobei darüber zu wachen ist, dass der in Art. 52 Abs. 1 der Charta verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf das Allgemeininteresse, das zur Rechtfertigung solcher Sanierungsmaßnahmen herangezogen wird, gewahrt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen], C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 88 und 89). 118 Zunächst ergeben sich im vorliegenden Fall die Beschränkungen der Rechte der Gläubiger des Kreditinstituts, die die betreffenden Sanierungsmaßnahmen und die Anerkennung ihrer Wirkungen im Aufnahmemitgliedstaat mit sich bringen, sowohl aus den Bestimmungen der Richtlinie 2001/24 als auch aus den nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie, sei es in Portugal das RGICSF, das diesen Maßnahmen zugrunde liegt, sei es in Spanien das Gesetz 6/2005, auf dessen Grundlage die Wirkungen dieser Maßnahmen in diesem Mitgliedstaat anerkannt wurden. Im Übrigen trifft es zwar zu, dass die im Ausgangsverfahren der Rechtssache C‑500/22 in Rede stehende Forderung, die BES durch die Entscheidung von August 2014 entzogen wurde, durch die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 rückwirkend erneut der Passivseite von BES zugeordnet wurde, jedoch ist die Möglichkeit einer rückwirkenden Änderung dieser Maßnahmen nicht nur in den einschlägigen Bestimmungen des RGICSF ausdrücklich vorgesehen, sondern auch in der Entscheidung von August 2014, ohne dass nach der Rechtsprechung die Richtlinie 2001/24 den Herkunftsmitgliedstaat an einer solchen Änderung hindern würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Banco de Portugal u. a., C‑504/19, EU:C:2021:335, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt, dass die Beschränkung der Rechte der Gläubiger des betroffenen Kreditinstituts im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sind. 119 Sodann können die Maßnahmen zur Sanierung des betroffenen Kreditinstituts und die Anerkennung ihrer Wirkungen im Aufnahmemitgliedstaat, da sie keine Entziehung von Eigentum darstellen, sondern – wie oben in Rn. 115 dargelegt – eine Regelung seiner Nutzung, nicht in den Wesensgehalt des Eigentumsrechts eingreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a., C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 53). 120 Außerdem ist festzustellen, dass der Erlass dieser Maßnahmen und die Anerkennung ihrer Wirkungen im Aufnahmemitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2001/24 im Sinne von Art. 17 Abs. 1 Satz 3 und Art. 52 Abs. 1 der Charta von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entsprechen. Wie bereits vom Gerichtshof eingeräumt, entspricht der Erlass solcher Maßnahmen im Bankensektor nämlich einem dem Gemeinwohl dienenden Ziel der Union, und zwar dem, die Stabilität des Bankensystems, insbesondere jenes des Euro-Währungsgebiets, insgesamt sicherzustellen und ein systemisches Risiko zu vermeiden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2016, Ledra Advertising u. a./Kommission und EZB, C‑8/15 P bis C‑10/15 P, EU:C:2016:701, Rn. 71 und 72, sowie vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a., C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). 121 Schließlich ist in Bezug auf die Frage, ob die mit den Sanierungsmaßnahmen sowie der Anerkennung ihrer Wirkungen im Aufnahmemitgliedstaat verbundenen Einschränkungen der Ausübung der in Art. 17 Abs. 1 der Charta genannten Rechte über das hinausgehen, was zur Erreichung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden dem Gemeinwohl dienenden Ziele erforderlich ist, zum einen darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung des besonderen wirtschaftlichen Kontexts über ein weites Ermessen bei Entscheidungen auf wirtschaftlichem Gebiet verfügen und dass sie am besten in der Lage sind, die Maßnahmen zu bestimmen, die zur Verwirklichung des angestrebten Ziels geeignet sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a., C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 122 Wie im Wesentlichen vom Generalanwalt in Nr. 119 seiner Schlussanträge ausgeführt, ergeben Sanierungsmaßnahmen insoweit nur Sinn, wenn eine Sichtung der Aktiv- und Passivposten des nicht überlebensfähigen Kreditinstituts – in diesem Fall BES – erfolgt, um die mit diesen Maßnahmen verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziele zu erreichen, nämlich die Stabilität des Bankensystems zu gewährleisten und ein systemisches Risiko zu vermeiden. 123 Zum anderen scheinen, wie von der spanischen und der portugiesischen Regierung im Wesentlichen in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt, diese Maßnahmen sowie die Anerkennung ihrer Wirkungen im Aufnahmemitgliedstaat mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar zu sein, da gemäß den Bestimmungen des RGICSF Gläubiger, deren Forderungen nicht auf die Brückenbank übertragen wurden, Anspruch darauf haben, einen Betrag zu erhalten, der nicht unter dem liegt, den sie voraussichtlich erhalten hätten, wenn das betroffene Kreditinstitut nach den normalen Insolvenzverfahren liquidiert worden wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a., C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 58). 124 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in der Rechtssache C‑500/22 in Rede stehende Forderung auf einen Kaufvertrag zurückgeht, der nicht mit BES, sondern mit Novo Banco geschlossen wurde und eine Schuldverschreibung zum Gegenstand hatte, die zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Vertrags gemäß der Entscheidung von August 2014 zum Vermögen von Novo Banco gehörte, da die mit dieser Schuldverschreibung verbundenen Passiva erst mit Wirkung der Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 zu Passiva von BES wurden. 125 Zwar hindert, wie oben in Rn. 118 ausgeführt, die Richtlinie 2001/24 den Herkunftsmitgliedstaat nicht daran, die auf Sanierungsmaßnahmen anwendbaren Regelungen auch rückwirkend zu ändern. 126 Daraus folgt jedoch nicht automatisch, dass solche rückwirkenden Sanierungsmaßnahmen keinesfalls gegen das in Art. 17 der Charta verankerte Eigentumsrecht verstoßen können. Gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta und wie oben in Rn. 117 ausgeführt, müssen diese Sanierungsmaßnahmen nämlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren, wobei über die Wahrung dieses Grundsatzes im Hinblick auf das Allgemeininteresse, das zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen herangezogen wird, zu wachen ist. 127 In diesem Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, unter Beachtung insbesondere zum einen des Umstands, dass Abs. 2 in Anhang 2 der Entscheidung von August 2014 ausdrücklich die Möglichkeit der Übertragung oder „Rückübertragung“ bestimmter Aktiva oder Passiva zwischen Novo Banco und BES vorsieht, sowie zum anderen des Umstands, dass es sich bei dem in Rede stehenden Gläubiger in der Rechtssache C‑500/22 um einen Gewerbetreibenden handelt, zu prüfen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist. Zum Grundsatz der Rechtssicherheit 128 Zur geltend gemachten Verletzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit – die entsprechenden Voraussetzungen wurden oben in Rn. 95 dargelegt – ist darauf hinzuweisen, dass Sanierungsmaßnahmen gemäß Art. 2 siebter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/24 Maßnahmen sind, mit denen die finanzielle Lage eines Kreditinstituts gesichert oder wiederhergestellt werden soll und die die bestehenden Rechte Dritter beeinträchtigen könnten, einschließlich der Maßnahmen, die eine Kürzung von Forderungen erlauben. Diese Maßnahmen sind gemäß Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie ergriffen wurden, in der gesamten Union ohne weitere Formalität wirksam, und zwar auch gegenüber Dritten in anderen Mitgliedstaaten. 129 Da unstreitig ist, dass es sich bei der Entscheidung von August 2014 und den Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 um Sanierungsmaßnahmen im Sinne der Richtlinie 2001/24 handelt, die in Anwendung des RGICSF ergriffen wurden und zu einer Sichtung der Aktiva und Passiva des nicht überlebensfähigen Kreditinstituts führten, konnten die Gläubiger der Ausgangsverfahren davon ausgehen, dass bestimmte Haftungsrisiken wie etwa die, die sich aus der Mangelhaftigkeit der von BES übermittelten vorvertraglichen Informationen ergeben und die im Ausgangsverfahren der Rechtssache C‑499/22 in Rede stehen, oder bestimmte Eventualverbindlichkeiten wie jene, um die es in den Ausgangsverfahren der Rechtssachen C‑498/22 und C‑500/22 geht, nicht auf die betroffene Brückenbank übertragen würden. Anhang 2 Abs. 1 Buchst. b Ziff. v der Entscheidung von August 2014 ist im Übrigen zu entnehmen, dass „Verbindlichkeiten oder Eventualverbindlichkeiten, die auf Betrug oder der Verletzung regulatorischer, strafrechtlicher oder administrativer Bestimmungen oder Entscheidungen beruhen“, im Vermögen von BES verblieben. 130 Allerdings wurde BES, wie in Rn. 118 des vorliegenden Urteils ausgeführt, mit der Entscheidung von August 2014 die in der Rechtssache C‑500/22 in Rede stehende Forderung entzogen, und sie wurde erst durch die Entscheidungen vom 29. Dezember 2015 rückwirkend wieder Teil der Passiva von BES, im Einklang mit den einschlägigen Bestimmungen des RGICSF. 131 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, steht der Grundsatz der Rechtssicherheit der rückwirkenden Anwendung einer neuen Regelung entgegen; etwas anderes gilt nur, wenn ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist (Urteil vom 25. Januar 2022, VYSOČINA WIND, C‑181/20, EU:C:2022:51, Rn. 49 und 59). 132 In diesem Fall kann die rückwirkende Änderung der Person des Schuldners der in der Rechtssache C‑500/22 in Rede stehenden Forderung vernünftigerweise mit dem im allgemeinen Interesse liegenden Ziel gerechtfertigt werden, die Stabilität des Bankensystems zu gewährleisten und ein systemisches Risiko zu vermeiden. Angesichts der Erwägungen in Rn. 127 dieses Urteils ist nicht ausgeschlossen, dass das berechtigte Vertrauen des Gläubigers in dieser Rechtssache gebührend beachtet wurde; dies ist jedenfalls vom vorlegenden Gericht zu prüfen. Art. 38 der Charta und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 133 Schließlich sind die Fragen zu prüfen, die das vorlegende Gericht in den Rechtssachen C‑498/22 und C‑499/22 zur Vereinbarkeit der betroffenen Sanierungsmaßnahmen und der Anerkennung ihrer Wirkungen im Aufnahmemitgliedstaat mit dem Verbraucherschutz gestellt hat. 134 Erstens ist zur Rechtssache C‑499/22 darauf hinzuweisen, dass die Fragen ausschließlich die Auslegung von Art. 38 der Charta betreffen, nach dem die Politik der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherstellt. Das vorlegende Gericht stellt jedoch nicht klar, ob es sich bei den Kunden von Novo Banco, auf die diese Rechtssache zurückgeht, um Verbraucher im Sinne eines Unionsrechtsakts handelt, aus dem sie gegebenenfalls Rechte ableiten könnten. 135 Unter diesen Umständen liefe die Beantwortung dieses Teils der dritten Frage in der Rechtssache C‑499/22 darauf hinaus, dass der Gerichtshof unter Missachtung der Aufgabe, die ihm im Rahmen der mit Art. 267 AEUV eingeführten Zusammenarbeit zugewiesen ist, ein Gutachten zu einer hypothetischen Frage abgäbe (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Stichting Rookpreventie Jeugd u. a., C‑160/20, EU:C:2022:101, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung). 136 Zweitens verhält es sich hinsichtlich des Ausgangsrechtsstreits in der Rechtssache C‑498/22 dagegen anders. Aus der Begründung des Vorabentscheidungsersuchens ergibt sich nämlich, dass im Rahmen dieses Rechtsstreits C. F. O. als Verbraucher gemäß der Richtlinie 93/13 die Rückerstattung der Beträge fordert, die er in Anwendung der gerichtlich für missbräuchlich erklärten Mindestzinsklausel des ursprünglich mit BES Spanien geschlossenen Hypothekendarlehensvertrags, der aufgrund der in Spanien anerkannten Sanierungsmaßnahmen auf Novo Banco übertragen wurde, zu Unrecht gezahlt hatte. Konkret macht C. F. O. geltend, dass angesichts der vom Gerichtshof im Urteil vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a. (C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980), vorgenommenen Auslegung von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 die Missbräuchlichkeit der Mindestzinsklausel für sämtliche Beträge, die er aufgrund dieser Klausel zu Unrecht gezahlt habe, zu einer Restitutionswirkung zulasten von Novo Banco führe. 137 Insoweit ist daran zu erinnern, dass das Gebot der Sicherstellung eines hohen Verbraucherschutzniveaus in der Politik der Union gemäß Art. 38 der Charta insbesondere für die Umsetzung der Richtlinie 93/13 gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Bondora, C‑453/18 und C‑494/18, EU:C:2019:1118, Rn. 40). 138 Die Richtlinie 93/13 verpflichtet daher die Mitgliedstaaten im Hinblick auf Natur und Bedeutung des öffentlichen Interesses am Schutz der Verbraucher, angemessene und wirksame Mittel vorzusehen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern ein Ende gesetzt wird. Hierfür haben die nationalen Gerichte missbräuchliche Klauseln für unanwendbar zu erklären, damit sie den betroffenen Verbraucher nicht binden, sofern der Verbraucher dem nicht widerspricht (Urteil vom 15. Juni 2023, Bank M. [Folgen der Nichtigerklärung des Vertrags], C‑520/21, EU:C:2023:478, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung). 139 Eine für missbräuchlich erklärte Vertragsklausel ist grundsätzlich als von Anfang an nicht existent anzusehen, so dass sie gegenüber dem betroffenen Verbraucher keine Wirkungen haben kann. Folglich muss die gerichtliche Feststellung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel grundsätzlich dazu führen, dass die Sach- und Rechtslage wiederhergestellt wird, in der sich der Verbraucher ohne diese Klausel befunden hätte (Urteile vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a., C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980, Rn. 61, und vom 15. Juni 2023, Bank M. [Folgen der Nichtigerklärung des Vertrags], C‑520/21, EU:C:2023:478, Rn. 57). 140 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Verpflichtung des nationalen Gerichts, eine missbräuchliche Vertragsklausel, nach der Beträge zu zahlen sind, die sich als rechtsgrundlos herausstellen, für nichtig zu erklären, im Hinblick auf diese Beträge grundsätzlich Restitutionswirkung entfaltet, da ohne diese Restitutionswirkung der Abschreckungseffekt in Frage gestellt werden könnte, der sich nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit deren Art. 7 Abs. 1 an die Feststellung der Missbräuchlichkeit von Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit Verbrauchern geschlossen hat, knüpfen soll (Urteil vom 15. Juni 2023, Bank M. [Folgen der Nichtigerklärung des Vertrags], C‑520/21, EU:C:2023:478, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). 141 Trotz dieser grundsätzlichen Feststellungen hat der Gerichtshof auch anerkannt, dass der Verbraucherschutz nicht absolut ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a., C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980, Rn. 68). 142 Außerdem hat er zwar eingeräumt, dass ein eindeutiges öffentliches Interesse daran besteht, in der gesamten Union einen wirksamen und einheitlichen Schutz der Investoren und Gläubiger zu gewährleisten, jedoch kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieses Interesse in jedem Fall Vorrang vor dem öffentlichen Interesse an der Gewährleistung der Stabilität des Bankensystems hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. November 2016, Dowling u. a., C‑41/15, EU:C:2016:836, Rn. 54, und vom 5. Mai 2022, Banco Santander [Bankenabwicklung Banco Popular], C‑410/20, EU:C:2022:351, Rn. 36). 143 Wie in Rn. 120 dieses Urteils festgestellt, entsprechen der Erlass von Sanierungsmaßnahmen und die Anerkennung ihrer Wirkungen im Aufnahmemitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2001/24 einem von der Union verfolgten Ziel des Gemeinwohls, nämlich der Gewährleistung der Stabilität des Bankensystems und der Vermeidung eines systemischen Risikos. 144 Im vorliegenden Fall führt die Anerkennung der Wirkungen der Sanierungsmaßnahmen im Aufnahmemitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2001/24 dazu, dass die Verbindlichkeiten und Eventualverbindlichkeiten im Zusammenhang mit der Anwendung zu hoher Zinsen für den Zeitraum der Anwendung des Hypothekendarlehensvertrags, der vor Erlass der Entscheidung von August 2014 liegt, bei BES verbleiben. Der Schutz des Verbrauchers vor der Verwendung missbräuchlicher Klauseln in Verträgen mit einem Gewerbetreibenden, wie er sich aus Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 ergibt, kann aber nicht so weit gehen, dass die Aufteilung der finanziellen Haftung zwischen dem notleidenden Kreditinstitut und der Brückenbank, die im Rahmen der vom Herkunftsmitgliedstaat erlassenen Sanierungsmaßnahmen festgelegt wurde, außer Acht gelassen wird. 145 Würde nämlich der durch die Richtlinie 93/13 gewährte Schutz es jedem Verbraucher des Aufnahmemitgliedstaats, der Gläubiger des ausfallenden Kreditinstituts ist, erlauben, der Anerkennung der Maßnahmen entgegenzuwirken, mit denen der Herkunftsmitgliedstaat über die Aufteilung der finanziellen Haftung zwischen dem Kreditinstitut und der Brückenbank entschieden hat, bestünde die Gefahr, dass dem Eingreifen der Behörden dieses Mitgliedstaats, das den Schutz der Stabilität des Bankensystems gewährleisten soll, in allen Mitgliedstaaten, in denen das ausfallende Kreditinstitut Zweigstellen hat, die praktische Wirksamkeit genommen würde. 146 Insoweit ist noch klarzustellen, dass sich die vorliegenden Rechtssachen unter Berücksichtigung zum einen des mit diesen Maßnahmen verfolgten Ziels und der Anerkennung ihrer Wirkungen in den anderen Mitgliedstaaten, nämlich zu verhindern, dass der Ausfall eines Kreditinstituts angesichts der starken Integration der Bankenmärkte in der Union möglicherweise indirekt zu systemischen Schäden führt, die die Stabilität dieser Märkte bzw. allgemeiner jene des Binnenmarkts beeinträchtigen, und zum anderen des Umstands, dass im vorliegenden Fall die zuständige portugiesische Behörde in Bezug auf BES Sanierungsmaßnahmen ergriffen hat, deutlich von der Rechtssache unterscheiden, in der das Urteil vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a. (C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980), ergangen ist. 147 Nach alledem ist auf die jeweils dritte Frage in den Rechtssachen C‑498/22 und C‑499/22 sowie auf die zweite Frage in der Rechtssache C‑500/22 zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 in Verbindung mit Art. 38 der Charta, Art. 17 der Charta und der Grundsatz der Rechtssicherheit dahin auszulegen sind, dass sie grundsätzlich dem nicht entgegenstehen, dass im Aufnahmemitgliedstaat die Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen anerkannt werden, die im Herkunftsmitgliedstaat in Anwendung der Richtlinie 2001/24 ergriffen wurden und die Gründung einer Brückenbank sowie den Verbleib der Verpflichtung zur Rückerstattung von aufgrund einer vertraglichen oder vorvertraglichen Haftung geschuldeten Beträgen auf der Passivseite des Kreditinstituts vorsehen, gegen das sich diese Maßnahmen richteten. Kosten 148 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 der Richtlinie 2001/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten in Verbindung mit Art. 21 Abs. 2 und Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie dem Grundsatz der Rechtssicherheit sind dahin auszulegen, dass sie im Fall der unterbliebenen öffentlichen Bekanntmachung gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie dem nicht entgegenstehen, dass ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats als des Herkunftsmitgliedstaats die Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme anerkennt, die vor Anrufung dieses Gerichts gegenüber einem Kreditinstitut ergriffen wurde und zu einer teilweisen Übertragung der Verbindlichkeiten und Haftungsrisiken dieses Kreditinstituts auf eine Brückenbank geführt hat. 2. Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/24 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte und dem Grundsatz der Rechtssicherheit ist dahin auszulegen, dass sich Einzelne gegenüber einer Brückenbank – einer privatrechtlichen Einrichtung ohne jegliche über das allgemeine Recht hinausgehenden Befugnisse, die im Rahmen von Maßnahmen zur Sanierung eines Kreditinstituts gegründet wurde, dessen Kunden sie ursprünglich waren – nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen können, um die Haftung dieser Brückenbank für vorvertragliche und vertragliche Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit Verträgen auszulösen, die zuvor mit diesem Kreditinstitut abgeschlossen worden waren. Die Tatsache allein, dass dieses Kreditinstitut im Hinblick auf seine Privatisierung vorübergehend von einer Behörde kontrolliert wurde, macht dieses auf dem wettbewerbsorientierten Markt der Bank- und Finanzdienstleistungen tätige Kreditinstitut nicht zu einer nationalen Verwaltungsbehörde. 3. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen in Verbindung mit Art. 38 der Charta der Grundrechte, Art. 17 der Charta und der Grundsatz der Rechtssicherheit sind dahin auszulegen, dass sie grundsätzlich dem nicht entgegenstehen, dass im Aufnahmemitgliedstaat die Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen anerkannt werden, die im Herkunftsmitgliedstaat in Anwendung der Richtlinie 2001/24 ergriffen wurden und die Gründung einer Brückenbank sowie den Verbleib der Verpflichtung zur Rückerstattung von aufgrund einer vertraglichen oder vorvertraglichen Haftung geschuldeten Beträgen auf der Passivseite des Kreditinstituts vorsehen, gegen das sich diese Maßnahmen richteten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Spanisch. (i ) Die vorliegende Sprachfassung ist in Rn. 104 und in Tenor 2 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 6. Juli 2022 (Auszüge).#Zhejiang Hangtong Machinery Manufacture Co. Ltd und Ningbo Hi-Tech Zone Tongcheng Auto Parts Co. Ltd gegen Europäische Kommission.#Dumping – Einfuhren von Stahlrädern mit Ursprung in China – Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls und endgültige Vereinnahmung des vorläufigen Zolls – Art. 17 Abs. 4 sowie Art. 18 und 20 der Verordnung (EU) 2016/1036 – Mangelnde Bereitschaft zur Mitarbeit – Übermittlung unzureichender Informationen an die Kommission.#Rechtssache T-278/20.
62020TJ0278
ECLI:EU:T:2022:417
2022-07-06T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62020TJ0278 URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer) 6. Juli 2022 (*1) „Dumping – Einfuhren von Stahlrädern mit Ursprung in China – Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls und endgültige Vereinnahmung des vorläufigen Zolls – Art. 17 Abs. 4 sowie Art. 18 und 20 der Verordnung (EU) 2016/1036 – Mangelnde Bereitschaft zur Mitarbeit – Übermittlung unzureichender Informationen an die Kommission“ In der Rechtssache T‑278/20, Zhejiang Hangtong Machinery Manufacture Co. Ltd mit Sitz in Taizhou (China), Ningbo Hi-Tech Zone Tongcheng Auto Parts Co. Ltd mit Sitz in Ningbo (China), vertreten durch die Rechtsanwälte K. Adamantopoulos und P. Billiet, Klägerinnen, gegen Europäische Kommission, vertreten durch K. Blanck und G. Luengo als Bevollmächtigte, Beklagte, erlässt DAS GERICHT (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten H. Kanninen, der Richterin O. Porchia (Berichterstatterin) sowie des Richters M. Stancu, Kanzler: I. Pollalis, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, auf die mündliche Verhandlung vom 14. Dezember 2021 folgendes Urteil (1 ) [nicht wiedergegeben] Vorgeschichte des Rechtsstreits [nicht wiedergegeben] 3 Bei den Klägerinnen handelt es sich um zwei Gesellschaften chinesischen Rechts mit Sitz in China. Zusammen mit der Gesellschaft Ningbo Wheelsky Company Limited (im Folgenden: WS), einer Gesellschaft samoanischen Rechts, bilden HT und TC die Hangtong-Gruppe (im Folgenden: HT-Gruppe). Diese drei Gesellschaften sind verbundene Unternehmen. 4 Innerhalb dieser Gruppe stellt HT Stahlräder her, die sowohl auf dem chinesischen Inlandsmarkt verkauft als auch ausgeführt werden. TC fungiert als Händlerin und WS nimmt die Zahlungen für Verkäufe an einführende Kunden entgegen. Für bestimmte Ausfuhrgeschäfte nutzt die HT-Gruppe die Dienste der Ningbo Ningdian International Trade Co., Ltd (im Folgenden: ND), einer Zollagentin, die nicht mit den Klägerinnen verbunden ist. [nicht wiedergegeben] Anträge der Parteien 25 Die Klägerinnen beantragen, – die angefochtene Verordnung für nichtig zu erklären, soweit sie sie betrifft; – der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 26 Die Kommission beantragt, – die Klage als unbegründet abzuweisen; – den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen. Rechtliche Würdigung [nicht wiedergegeben] Zum zweiten Klagegrund: offensichtlicher Beurteilungsfehler und Verstoß gegen Art. 2 Abs. 6a, 8, 10 und 11, Art. 3, Art. 6, Art. 9 Abs. 6 und Art. 18 Abs. 1 und 3 der Grundverordnung sowie gegen Anhang II Abs. 3 des Antidumping-Übereinkommens der WTO zum einen und Verstoß gegen Art. 2, Art. 3, Art. 6 Abs. 6 und 8, Art. 9 Abs. 4 und Art. 18 Abs. 1 und 3 der Grundverordnung sowie gegen Anhang II Abs. 3 des Antidumping-Übereinkommens der WTO zum anderen 31 Der zweite Klagegrund gliedert sich in drei Teile. 32 Mit dem ersten Teil machen die Klägerinnen im Wesentlichen geltend, dass die Kommission zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass die Informationen zum Ausfuhrpreis, die sie von den Klägerinnen erhalten habe, nicht zuverlässig seien. Mit dem zweiten Teil werfen sie der Kommission vor, die Bemühungen der Klägerinnen, zum Erfolg der Untersuchung beizutragen, nicht berücksichtigt und den Ausfuhrpreis nicht auf der Grundlage der Informationen berechnet zu haben, die von ihnen übermittelt worden seien, auch wenn diese Daten nicht in jeder Hinsicht vollkommen gewesen seien. Mit dem dritten Teil rügen die Klägerinnen, dass die Kommission von der Berechnung des Normalwerts abgesehen und für die Ermittlung der Dumpingspanne der Klägerinnen die verfügbaren Informationen verwendet habe. – Zum ersten und zum zweiten Teil des zweiten Klagegrundes: offensichtlicher Beurteilungsfehler und Verstoß gegen Art. 2 Abs. 6a, 8, 9, 10 und 11, Art. 3, Art. 6, Art. 9 Abs. 6 und Art. 18 Abs. 1 und 3 der Grundverordnung sowie gegen Anhang II Abs. 3 des Antidumping-Übereinkommens der WTO 33 Mit den ersten beiden Teilen des zweiten Klagegrundes, die zusammen zu prüfen sind, machen die Klägerinnen als Erstes geltend, dass die Informationen, die sie der Kommission übermittelt hätten, ausreichend gewesen seien, um der Kommission die Ermittlung eines zuverlässigen Ausfuhrpreises zu ermöglichen. 34 Insoweit weisen die Klägerinnen darauf hin, dass die in der Buchführung von HT und TC enthaltenen Verkaufspreise der Stahlräder mit den in den Mehrwertsteuerrechnungen und den Zollanmeldungen von HT an TC angeführten Preisen übereinstimmten und dass diese Preise 90 % der von der HT-Gruppe während des Untersuchungszeitraums getätigten Ausfuhren von Stahlrädern in die Union entsprächen. 35 Nur bei 10 % der gesamten Ausfuhren der Klägerinnen in die Union habe es einen Unterschied zwischen den Beträgen in den Mehrwertsteuerrechnungen von HT an TC und den Beträgen in den Zollanmeldungen für Ausfuhren aus China gegeben, so dass es der Kommission im Einklang mit ihrer allgemeinen Praxis möglich gewesen wäre, diese restlichen 10 % nicht zu berücksichtigen. 36 Die Ausführungen der Kommission in den Erwägungsgründen 35 und 40 der angefochtenen Verordnung sind nach Ansicht der Klägerinnen in dieser Hinsicht widersprüchlich. Die Kommission könne nämlich nicht einerseits feststellen, dass eine grundsätzliche Unsicherheit hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Rechnungsführungsdaten der Klägerinnen bestehe, und andererseits einräumen, dass die Informationen über den Normalwert zuverlässig und überprüft seien, und das, obwohl der Normalwert – wie von ihr eingeräumt – 50 % der Berechnung der Dumpingspanne darstelle. 37 Die Klägerinnen machen geltend, dass auch ohne die – nicht vorliegenden – Buchführungsdaten von WS, der Ausfuhrpreis der in die Union verkauften Waren auf der Grundlage der Auswertung der DMSAL-Liste (sales in the domestic market; Liste der Verkäufe auf dem Inlandsmarkt), in der sämtliche Verkäufe von HT an TC zum Zweck der Ausfuhr von Waren in die Union verzeichnet und identifiziert seien, ermittelt werden könne. Die Angaben dieser Liste könnten ohne Probleme mit den Zollformularen der in die Union ausgeführten Waren, mit den Mehrwertsteuerrechnungen für Ausfuhren in die Union und mit den Zahlungsnachweisen der Kunden in der Union, die sich aus den Bankauszügen von WS ergäben, abgeglichen werden. 38 Die Klägerinnen bestreiten die Feststellungen der Kommission, nach denen es dieser unmöglich gewesen sei, den Ausfuhrpreis mit Sicherheit zu bestimmen, obwohl sie selbst festgestellt habe, dass der angemeldete Zollwert der ursprünglichen Handelsrechnung entspreche, unabhängig davon, dass für das gleiche Geschäft möglicherweise zwei Rechnungen existierten – eine von HT an TC und die andere von TC an ND. Dies impliziere, dass die Kommission auf der Grundlage der von HT an TC oder an ND verrechneten Preise einen Ausfuhrpreis feststellen und ihn ihrer üblichen Praxis entsprechend anpassen könnte, wenn sie über zuverlässige Daten zum Normalwert verfüge. 39 Diese Daten könnten außerdem mit den chinesischen Zollstatistiken verglichen werden, die, anders als es die Kommission anhand des Dokuments in Anlage B2 zur Klagebeantwortung nachweisen wolle, richtig seien. Die behauptete Unzuverlässigkeit dieser Daten beruhe nämlich darauf, dass die Kommission die Berichtigungen, die von den Klägerinnen in dem Dokument in Anlage C4 zur Erwiderung vorgenommen worden seien, nicht berücksichtigt habe. Diese Angaben stimmten mit der RLSALUR-Liste (re-sales of related parties to independent customers in the EU; Liste der Wiederverkäufe durch verbundene Unternehmen an unabhängige Kunden in der EU) überein, die die Klägerinnen geändert hätten und die sämtliche Verkäufe von verbundenen Parteien an unabhängige Kunden in der Union enthalte. 40 Die Klägerinnen werfen der Kommission vor, sich nicht die Mühe gemacht zu haben, die Aufzeichnungen der unabhängigen Kunden und die Rechnungen über die Ausfuhrmehrwertsteuer durchzugehen, um die gesamten Ausfuhrverkäufe von Stahlrädern zu prüfen – wozu sie sich aber in der Mitteilung verpflichtet habe, die sie den Klägerinnen gleichzeitig mit der Unterrichtung über die vorläufige Verordnung übermittelt habe –, obwohl sieben der acht Kunden der Klägerinnen in der Union bereit gewesen wären, mit der Kommission zusammenzuarbeiten. 41 Die Klägerinnen führen aus, dass es ihnen jedenfalls gelungen sei, auf der Grundlage der Bankauszüge von WS 98 % ihrer Ausfuhren in die Union und auf der Grundlage der Zollformulare für die Einfuhr in die Union 65 % der Ausfuhren in die Union zu belegen. 42 Insoweit weisen die Klägerinnen hinsichtlich der Angaben, die sich auf die Formulare für die Einfuhr von Waren in die Union beziehen, darauf hin, dass sie der Kommission, wie ihr in der Stellungnahme der Klägerinnen vom 27. August 2019 mitgeteilt worden sei, die Eusales-Liste übermittelt hätten, aus der ihre acht Kunden in der Union ersichtlich seien; außerdem hätten sie eine aktualisierte Liste dieser Kunden mit ihren Kontakten und für den Großteil der Fälle den Nachweis über die Entrichtung der Zölle für die Einfuhr in die Union übermittelt. Dadurch werde für den wesentlichen Teil der Geschäfte die Bezahlung der in Rechnung gestellten Ausfuhrpreise bestätigt. Der Rest, für den keine Nachweise vorlägen, sei darauf zurückzuführen, dass einige ihrer Kunden nicht bereit gewesen seien, die Unterlagen über die von ihnen getätigten Einfuhren zu übermitteln. 43 Die Klägerinnen bringen außerdem vor, dass die Kommission ihnen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs und der WTO zur Rechtfertigung der Ablehnung der Ermittlung des Ausfuhrpreises nicht entgegenhalten könne, dass sie keine klare Aufteilung der Ausfuhren in die Union und an Orte außerhalb der Union nachgewiesen hätten, da sie keine Übersicht über die Aufteilung der Ausfuhren vorgelegt hätten; eine solche Übersicht sei nämlich nie von ihnen verlangt worden. Jedenfalls ermögliche die Nutzung der DMSAL-Tabelle, aus der sich eine solche Aufteilung ergebe, eine Unterscheidung zwischen Verkäufen an Einführer in der Union und Verkäufen an in Drittstaaten ansässige Einführer. 44 Insoweit weisen die Klägerinnen darauf hin, dass sie innerhalb der verbundenen Unternehmen für Ausfuhren in die Union ein Dreieckssystem für die Rechnungsstellung verwenden würden. Aufgrund dieses Systems sei es möglich und oft auch der Fall, dass sich die Verkaufspreise der Waren aus China, die in den Rechnungen an Unionskunden aufgeführt würden, von den Preisen unterschieden, die bei den Zollbehörden der Union zum Zeitpunkt der Einfuhr für diese Waren angemeldet würden. 45 Da der Transaktionswert einen Ausfuhrverkauf widerspiegle und nicht unter dem Marktwert und den Kosten der in Rede stehenden Waren liege, inklusive der Kosten für Fracht und Versicherung an der Unionsgrenze, werde dieser Transaktionswert rechtmäßig für die Zollwertermittlung in der Union verwendet. 46 Die Klägerinnen machen geltend, dass es sich bei den Informationen, die sie der Kommission übermittelt hätten, mit Abstand um die besten verfügbaren Informationen über die Ausfuhrverkäufe von Stahlrädern im Sinne von Anhang II des Antidumping-Übereinkommens der WTO handele. Die Anhörungsbeauftragte habe dies in ihrem ersten Bericht im Übrigen auch festgestellt. Sie habe in diesem Bericht darauf hingewiesen, dass die Klägerinnen nach besten Kräften gehandelt hätten. 47 Die Klägerinnen schließen daraus, dass die Kommission keinen gerechten Vergleich der Preise anhand der Ausfuhrpreise vorgenommen habe, wie in Art. 2 Abs. 11 der Grundverordnung vorgesehen, da sie die ihr übermittelten Informationen zurückgewiesen habe, es unterlassen habe, die Maßnahmen durchzuführen, zu denen sie sich in der gemeinsam mit der Unterrichtung über die vorläufige Verordnung übermittelten Mitteilung verpflichtet habe, und ihre Schlussfolgerungen auf Angaben gestützt habe, um deren Übermittlung sie die Klägerinnen nicht ersucht habe. 48 Als Zweites tragen die Klägerinnen vor, dass die Kommission hinsichtlich des Ausfuhrpreises Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung hätte anwenden müssen. Dazu hätte sie die Verkäufe „ab Werk“ von HT an TC und ND heranziehen müssen, um den Preis und die Menge der Ausfuhren in die Union während des Untersuchungszeitraums zu berechnen, so dass sie gemäß Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung die die Klägerinnen betreffenden Dumping- und Schadensspannen genau hätte bestimmen können, ohne die Geschäfte von WS miteinzubeziehen. Dies würde der maßgeblichen Rechtsprechung, insbesondere den Rn. 120 und 121 des Urteils vom 19. März 2015, City Cycle Industry/Rat (T‑413/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:164), entsprechen. 49 Die Klägerinnen machen insoweit geltend, dass die Kommission die Preise, die TC und ND von HT in Rechnung gestellt worden seien, und den Wert der Stahlräder, der von den Klägerinnen anlässlich der Einfuhr in die Union bei den Zollbehörden angemeldet worden sei, nie beanstandet habe. Außerdem stehe die Bestimmung des Ausfuhrpreises auf der Grundlage solcher Daten mit den Bestimmungen von Art. 2 Abs. 8 und 9 der Grundverordnung im Einklang. 50 Das Vorbringen der Kommission zur Ablehnung der Ermittlung des Ausfuhrpreises auf der Grundlage der Abrechnung zwischen HT und TC sei nicht stichhaltig. Es sei nämlich erwiesen, dass diese Preise niedriger seien als die den Kunden in der Union tatsächlich in Rechnung gestellten Preise. Die Ermittlung des Ausfuhrpreises auf der Grundlage dieser Daten sei somit geeignet, zu strengeren Antidumpingzöllen zu führen, als dies bei der Ermittlung des Ausfuhrpreises auf der Grundlage der den Unionseinführern tatsächlich in Rechnung gestellten Preise der Fall gewesen wäre. 51 Zum Einwand der Kommission, dass die Verwendung ungewisser Werte aufgrund von Art. 9 Abs. 6 der Grundverordnung nicht möglich sei, machen die Klägerinnen geltend, dass diese Bestimmungen auch dann anwendbar seien, wenn die Kommission in Bezug auf die für die Stichprobe ausgewählten Hersteller von Art. 18 der Grundverordnung Gebrauch mache. Die Spannen der betroffenen Hersteller würden dann bei der Berechnung der gewogenen durchschnittlichen Dumpingspanne für die nicht in die Stichprobe einbezogenen Hersteller nicht berücksichtigt. 52 Jedenfalls lege die Kommission nicht dar, inwiefern die Einbeziehung der Klägerinnen in die Stichprobe unabhängig von der Anwendung von Art. 9 Abs. 6 der Grundverordnung die Ergebnisse der Untersuchung signifikant hätte beeinträchtigen können. 53 Schließlich sei die Kommission nach den WTO-Regeln nicht berechtigt gewesen, die Bestimmungen von Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung unangewendet zu lassen. 54 Die Kommission beantragt, dieses Vorbringen zurückzuweisen. 55 Insoweit ist, um auf das Vorbringen der Klägerinnen zu antworten, in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die übermittelten Dokumente wie die DMSAL-Liste oder die Zollanmeldungen hinreichend zuverlässig waren, um der Kommission die Ermittlung eines Ausfuhrpreises zu ermöglichen. In einem zweiten Schritt ist festzustellen, ob die Kommission Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung für die Ermittlung des Ausfuhrpreises hätte verwenden können, sofern von den Klägerinnen alle ihnen vorliegenden Dokumente übermittelt wurden. 56 Was zunächst die Frage der Zuverlässigkeit der Angaben zur Ermittlung des Ausfuhrpreises betrifft, ist vorab darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Kommission im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik, besonders im Bereich handelspolitischer Schutzmaßnahmen, wegen der Komplexität der von ihr zu prüfenden wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Sachverhalte über ein weites Ermessen verfügt. Die gerichtliche Kontrolle einer solchen Beurteilung ist daher auf die Prüfung der Frage zu beschränken, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten wurden, ob der Sachverhalt, der der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegt wurde, zutreffend festgestellt ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Beurteilung dieses Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen (vgl. Urteil vom 14. Dezember 2017, EBMA/Giant [China], C‑61/16 P, EU:C:2017:968, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung). 57 Zudem hat der Gerichtshof entschieden, dass die vom Gericht vorgenommene Kontrolle der Beweise, auf die die Kommission ihre Feststellungen stützt, keine die Beurteilung der Kommission ersetzende neue Beurteilung des Sachverhalts darstellt. Sie greift nicht in das weite Ermessen der Kommission im Bereich der Handelspolitik ein, sondern ist auf die Feststellung beschränkt, ob die Beweise geeignet waren, die von der Kommission gezogenen Schlussfolgerungen zu stützen. Das Gericht hat daher nicht nur die sachliche Richtigkeit der angeführten Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz zu prüfen, sondern auch zu kontrollieren, ob diese Beweise alle relevanten Daten darstellen, die bei der Beurteilung einer komplexen Situation heranzuziehen sind, und ob sie die daraus gezogenen Schlussfolgerungen zu stützen vermögen (vgl. Urteil vom 14. Dezember 2017, EBMA/Giant [China], C‑61/16 P, EU:C:2017:968, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung). 58 Außerdem sind die von der Antidumpinguntersuchung betroffenen Unternehmen im Rahmen der Grundverordnung verpflichtet, der Kommission die für die Ermittlung ihrer Dumpingspanne erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Werden solche Auskünfte nicht erteilt, besteht für diese Unternehmen die Gefahr, dass nach Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung andere als die von ihnen übermittelten Informationen herangezogen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2006, Shandong Reipu Biochemicals/Rat, T‑413/03, EU:T:2006:211, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). 59 Hierzu ist festzustellen, dass die Prüfung des Dokuments der Kommission in Anlage B1 zur Klagebeantwortung, das von den Klägerinnen nicht beanstandet wurde, erstens deutlich macht, dass in jedem der sieben von der HT-Gruppe für die Ausfuhr ihrer Waren genutzten Vertriebskanäle die Bezahlung der verkauften Waren durch die Einführer an WS erfolgte, die über keine Buchführung verfügte. Folglich kommt den Bankauszügen von WS unabhängig davon, dass das samoanische Körperschaftsteuergesetz keine verpflichtende beglaubigte Buchführung vorsieht, kein Beweiswert zu. 60 Zweitens sind über alle Vertriebskanäle Verkäufe an Einführer erfolgt, ohne dass die auf ihre Namen ausgestellten Rechnungen bei der HT‑Gruppe verbucht worden wären. Entweder verbuchte TC in ihrer Buchführung Rechnungen mit einem Betrag, der niedriger war als der auf den an die Einführer adressierten Rechnungen ausgewiesene Betrag, und erstellte auf der Grundlage dieser ersten Rechnungen für die Zollbehörden falsche Erklärungen über den Ausfuhrpreis (Kanal 1), oder TC erstellte Rechnungen auf die Namen der Einführer, ohne diese in ihre Buchführung aufzunehmen (Kanal 2 und 3), oder WS erstellte Rechnungen, die nicht verbucht wurden, da Unternehmen nach samoanischem Recht keine beglaubigte Buchhaltung führen müssen (Kanal 4 und 5), oder aber die Rechnungen wurden von ND erstellt, einem Unternehmen außerhalb der Gruppe, von dem die Kommission keinerlei Auskünfte erlangen konnte, da es im Rahmen der Untersuchung nicht mit ihr zusammenarbeitete (Kanal 6 und 7). 61 Drittens erfolgten die Verkäufe von auszuführenden Waren in allen Vertriebskanälen, ausgenommen dem ersten, nach dem Verkauf der Ware durch HT oder TC an ND, was aus den oben in Rn. 60 genannten Gründen dazu führte, dass die Kommission nicht in der Lage war, den von den europäischen Einführern tatsächlich bezahlten Verkaufspreis zu bestimmen. 62 Zusammengenommen lassen die in den Rn. 59 bis 61 dargelegten Umstände nicht darauf schließen, dass die Kommission durch die Feststellung, dass die den Ausfuhrpreis betreffenden Informationen völlig unzuverlässig seien, einen offensichtlichen Fehler begangen hat. 63 Dies bedeutet, dass das Vorbringen der Klägerinnen, sie hätten 98 % der Zahlungen der europäischen Einführer auf der Grundlage der Bankauszüge von WS, 90 % der Verkaufspreise auf der Grundlage der von HT ausgestellten Mehrwertsteuerrechnungen und 65 % der Ausfuhrgeschäfte in die Union auf der Grundlage der Zollanmeldungen dieser Einführer nachgewiesen, ebenso wie ihr Vorbringen, die Kommission habe das von den Klägerinnen genutzte System des Dreieckshandels nicht berücksichtigt, als bloße Behauptungen zu betrachten sind. 64 Diese Unstimmigkeiten sind im Übrigen in der mündlichen Verhandlung aufgezeigt worden, in der die Klägerinnen eingeräumt haben, dass es für die Kommission nicht möglich gewesen sei, sich auf die Buchführung von WS zu stützen, dass die Rechnungen von TC an die europäischen Einführer nicht verbucht worden seien und dass es im vorliegenden Fall folglich schwierig sei, einen zuverlässigen Ausfuhrpreis zu ermitteln. 65 Folglich ist als Erstes zu prüfen, ob dieser Ausfuhrpreis, wie von den Klägerinnen ausgeführt, auf der Grundlage der DMSAL-Liste oder basierend auf den von HT an TC ausgestellten Mehrwertsteuerrechnungen ermittelt werden könnte und ob die Kommission zu Unrecht angenommen hat, dass die Ermittlung eines Ausfuhrpreises unmöglich sei, weil eine Übersicht fehlte, in der zwischen den Ausfuhren in die Union und den anderen Ausfuhren unterschieden wird, deren Übermittlung im Rahmen der Untersuchung nicht verlangt worden sei. 66 Was zunächst die DMSAL-Liste und die von HT an TC ausgestellten Mehrwertsteuerrechnungen betrifft, ist festzustellen, dass diese Beweise, wie von der Kommission in der mündlichen Verhandlung dargelegt, Verkäufe von HT an TC, also Verkäufe innerhalb der Gruppe und im Inland betreffen, deren Preis sich folglich von dem Preis unterscheidet, der von den europäischen Einführern tatsächlich bezahlt wurde. Zudem war es der Kommission, wie in der mündlichen Verhandlung bestätigt wurde, nicht möglich, zu überprüfen, ob die von den Klägerinnen angemeldeten Ausfuhren in die Union tatsächlich stattgefunden hatten, da es zu diesen Ausfuhren keine glaubwürdige Buchführung gab. 67 Hierzu ist zu dem Vorbringen der Klägerinnen zu der nicht vorgelegten Übersicht, in der zwischen den Ausfuhren in die Union und anderen Ausfuhren unterschieden worden sei, festzustellen, dass die Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung zunächst angegeben haben, dass eine solche Übersicht nicht sachdienlich sei, da alle Informationen, die darin enthalten wären, bereits Teil der DMSAL-Liste seien, und anschließend bestätigt haben, dass sie eine solche Übersicht hätten übermitteln können, wenn die Kommission darum gebeten hätte. Dies geht aus der Stellungnahme vom 25. Oktober 2019 hervor, die im Anschluss an die Unterrichtung über die vorläufige Verordnung erfolgte. Schließlich haben sie eingeräumt, dass sie keine derartige Übersicht übermittelt hätten, weil sie befürchtet hätten, dass die Kommission ihnen einen Mangel an Glaubwürdigkeit der Übersicht vorhalten würde, da diese Ausfuhren nicht durch Rechnungen belegt werden könnten. 68 Diese widersprüchlichen Aussagen zeigen, dass es sich beim Vorbringen der Klägerinnen, dass die Kommission die Außerachtlassung der Angaben der Klägerinnen zum Ausfuhrpreis nicht darauf stützen könne, dass sie keine Übersicht über die Ausfuhren in die Union vorgelegt hätten, um ein konstruiertes Scheinargument handelt. 69 Dass die Kommission diese Angaben zu den Ausfuhren nicht berücksichtigt hat, liegt nämlich nicht nur daran, dass keine derartige Übersicht vorliegt, sondern – wie sich aus den Erwägungsgründen 32, 35 und 40 der angefochtenen Verordnung ergibt – daran, dass sie sich mit einer „grundsätzlichen Unzuverlässigkeit der Aufzeichnungen“ konfrontiert sah und es ihr unmöglich war, mit Sicherheit Typ und Menge der in die Union ausgeführten Waren festzustellen, so dass die Kommission auf der Grundlage der von HT an TC ausgestellten Mehrwertsteuerrechnungen keinen Ausfuhrpreis ermitteln konnte. Diese Feststellungen stehen keineswegs im Widerspruch dazu, dass die Kommission davon ausgegangen ist, dass die Angaben zum Normalwert zuverlässig seien; diese wurden nämlich, im Gegensatz zu den Angaben zu den Ausfuhrpreisen, regelmäßig in der Buchführung von HT verbucht. 70 Zudem sind die Verordnungen, auf die sich die Klägerinnen beziehen, um darzutun, dass die Kommission von ihrer üblichen Praxis in Bezug auf die Anpassung der Ausfuhrpreise abgewichen sei, nicht einschlägig, da die Rechtmäßigkeit einer Verordnung zur Einführung von Antidumpingzöllen unter Berücksichtigung der Rechtsvorschriften und vor allem der Vorschriften der Grundverordnung zu beurteilen ist und nicht auf der Grundlage einer angeblichen früheren Entscheidungspraxis der Kommission (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Oktober 2016, Crown Equipment [Suzhou] und Crown Gabelstapler/Rat, T‑351/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:616, Rn. 107). 71 Als Zweites ist zum Vorbringen der Klägerinnen zum angeblichen Mangel an Sorgfalt der Ermittler in Bezug auf die europäischen Einführer und auf die diese Einführer betreffenden Dokumente zunächst festzustellen, dass sich die Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen niemals verpflichtet hat, bei diesen Einführern eine Untersuchung an Ort und Stelle durchzuführen, um den Ausfuhrpreis zu ermitteln. Aus der spezifischen Mitteilung an die Klägerinnen, die zusammen mit der vorläufigen Verordnung übermittelt wurde, geht nämlich hervor, dass die Kommission lediglich einen dahin gehenden Vorschlag aus einem Schreiben der Klägerinnen vom 27. August 2019 (Anlage A 21 zur Klageschrift) zur Kenntnis genommen hat. 72 Sodann ist – abgesehen davon, dass die Klägerinnen den im 33. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung dargelegten Umstand, dass nur drei Unionseinführer zur Zusammenarbeit mit der Kommission bereit waren, nicht bestreiten – festzustellen, dass sich die angegebene Zahl dieser Einführer im Lauf der Untersuchung geändert hat, und zwar von acht, wie es aus dem als Anlage A 21 zur Klageschrift beigefügten Schreiben vom 27. August 2019 hervorgeht, auf zwölf im Januar 2020, wie sich aus den Dokumenten in Anlage A 28 zur Klageschrift ergibt. 73 Eine solche Abweichung bei der Zahl der Unionseinführer impliziert, dass die Kommission – wie von ihr in der mündlichen Verhandlung bestätigt – zu Recht davon ausgehen konnte, dass die Zuverlässigkeit der von den Klägerinnen zu diesen Einführern übermittelten Informationen ungewiss sei, so dass ihr nicht zur Last gelegt werden kann, diese Informationen nicht berücksichtigt zu haben oder hinsichtlich dieser Einführer nichts unternommen zu haben. Der Kommission kann daher kein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 4 der Grundverordnung vorgeworfen werden. 74 Was als Drittes das Vorbringen zu den chinesischen Zollstatistiken betrifft, ergeben sich aus den Übersichtstabellen der Zollpapiere zum einen Ungereimtheiten, die von der Kommission in Anlage B2 zur Klagebeantwortung aufgezeigt wurden. Dies hat die Klägerinnen veranlasst, diese Tabellen anzupassen, was jedoch die ermittelnden Dienststellen nicht überzeugt hat, da es ihnen nicht möglich war, diese Daten mit den Buchführungs- und Steuerangaben der Klägerinnen in Einklang zu bringen. Zum anderen wurde der Referenzwert der Waren in diesen Dokumenten in Kilogramm ausgedrückt und wurden die Gesamtbeträge der Zahlungen in US-Dollar angeführt, so dass die Kommission nicht in der Lage war, Typ und Menge der in die Union ausgeführten Waren sowie die Einheitsbeträge für Verkäufe zu ermitteln; diese sind jedoch für die Ermittlung eines Ausfuhrpreises erforderlich. Schließlich stammten diese Dokumente zum Teil von ND, einem Unternehmen, das mit den Klägerinnen nicht verbunden ist, so dass die Kommission die sachliche Richtigkeit und damit die Beweiskraft dieser Dokumente nicht überprüfen konnte. 75 Was schließlich die Rüge der Klägerinnen betrifft, die Kommission habe gegen Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung verstoßen, ist darauf hinzuweisen, dass der Zweck von Art. 18 der Grundverordnung darin besteht, der Kommission zu ermöglichen, die Untersuchung auch dann fortzusetzen, wenn die Parteien die Zusammenarbeit verweigern oder die Zusammenarbeit unzureichend ist. Das Ausmaß der Zusammenarbeit der Parteien ist anhand des in diesem Artikel verwendeten Begriffs „erforderliche Informationen“ zu beurteilen, da die Parteien, damit von einer Zusammenarbeit ausgegangen wird, der Kommission die Informationen zu übermitteln haben, die es ihr ermöglichen, die Feststellungen zu treffen, die im Rahmen der Antidumpinguntersuchung geboten sind, wobei die „Erforderlichkeit“ einer Information im Einzelfall zu beurteilen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2017, EBMA/Giant [China], C‑61/16 P, EU:C:2017:968, Rn. 53 und 55). 76 So ist auch bereits entschieden worden, dass das Ausmaß der Bemühungen, die eine interessierte Partei im Hinblick auf die Übermittlung bestimmter Auskünfte unternimmt, nicht unbedingt mit der Qualität der gewährten Auskünfte zusammenhängt und auf jeden Fall nicht das einzig maßgebliche Kriterium ist. Die Kommission ist daher, wenn sie die erbetenen Auskünfte letztlich nicht erhalten hat, berechtigt, auf verfügbare Daten zu den erbetenen Auskünften zurückzugreifen (vgl. in Bezug auf Nr. 6.8 des Antidumping-Kodex der WTO den von einem WTO-Panel erstellten und am 1. Oktober 2002 angenommenen Bericht mit dem Titel „Ägypten – endgültige Antidumpingmaßnahmen für die Einfuhr von Stahlbewehrungsstäben mit Ursprung in der Türkei“, Nr. 7.242) (Urteil vom 4. März 2010, Sun Sang Kong Yuen Shoes Factory/Rat, T‑409/06, EU:T:2010:69, Rn. 104). 77 Nach ständiger Rechtsprechung bleiben nach Art. 18 Abs. 3 der Grundverordnung die von einer interessierten Partei übermittelten Informationen, auch wenn sie sich nicht in jeder Hinsicht als vollkommen erweisen, dennoch nicht unberücksichtigt, sofern die Mängel nicht derart sind, dass sie angemessene und zuverlässige Feststellungen über Gebühr erschweren, und sofern die Informationen fristgerecht übermittelt werden, nachprüfbar sind und die interessierte Partei nach besten Kräften gehandelt hat. Die vier Voraussetzungen sind, wie sich aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ergibt, kumulativ anzuwenden. Die Nichterfüllung einer von ihnen steht daher der Anwendung der Vorschrift und somit der Berücksichtigung der fraglichen Informationen entgegen (vgl. Urteil vom 19. März 2015, City Cycle Industries/Rat, T‑413/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:164, Rn. 120 und die dort angeführte Rechtsprechung). 78 Hierzu ist festzustellen, dass die Kommission aus den bereits oben in den Rn. 59 bis 62 genannten Gründen zur Bestimmung des Ausfuhrpreises zu Recht von Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung Gebrauch machen konnte, da es die von den Klägerinnen übermittelten mangelhaften Informationen über Gebühr erschwerten, angemessene und zuverlässige Feststellungen zu treffen. 79 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Kommission weder einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen noch gegen Art. 18 Abs. 1 und 3 und in weiterer Folge gegen Art. 9 Abs. 6 der Grundverordnung oder gegen Anhang II Abs. 3 des Antidumping-Übereinkommens der WTO verstoßen hat, als sie in den Erwägungsgründen 29 bis 41 der angefochtenen Verordnung im Wesentlichen festgestellt hat, dass unabhängig von der Frage, ob die Klägerinnen nach besten Kräften gehandelt hatten, das Hauptproblem im Rahmen der Untersuchung darin bestanden habe, dass kein vollständiger und überprüfbarer Datensatz zu den Ausfuhrgeschäften vorgelegen habe, insbesondere einschließlich der ausgeführten Waren, Mengen und der entsprechenden Werte, so dass sie zu dem Schluss kam, dass sie diese Daten nicht ordnungsgemäß und unabhängig kontrollieren könne, diese Informationen insgesamt zurückwies und sich gemäß Art. 18 Abs. 1 der Grundverordnung auf die verfügbaren Informationen stützte. 80 Schließlich ist festzustellen, dass die bloße Bezugnahme auf einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 6a, 8, 9, 10 und 11 sowie die Art. 3 und 6 der Grundverordnung, abgesehen davon, dass sie pauschal erfolgt, nicht ausreichen kann, um die Stichhaltigkeit eines angeblichen Verstoßes gegen diese Bestimmungen darzutun und folglich eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verordnung in dieser Hinsicht nachzuweisen. 81 Der erste und der zweite Teil des zweiten Klagegrundes sind daher zurückzuweisen. – Zum dritten Teil des zweiten Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 2, Art. 3, Art. 6 Abs. 6 und 8, Art. 9 Abs. 4 und Art. 18 Abs. 1 und 3 der Grundverordnung sowie gegen Anhang II Abs. 3 des Antidumping-Übereinkommens der WTO 82 Mit dem dritten Teil des zweiten Klagegrundes machen die Klägerinnen im Wesentlichen geltend, die Kommission habe gegen Art. 18 Abs. 1 und 3 der Grundverordnung, gegen Anhang II Abs. 3 des Antidumping-Übereinkommens der WTO und gegen Art. 2, Art. 3, Art. 6 Abs. 6 und 8 sowie gegen Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung verstoßen, indem sie die von den Klägerinnen übermittelten Informationen nicht zur Ermittlung des Normalwerts herangezogen habe, obwohl sie diese als zuverlässig betrachtet habe. Außerdem habe die Kommission nicht ausreichend erläutert, aus welchen Gründen sie diese Daten nicht zur Ermittlung des Normalwerts verwendet habe. 83 Die Klägerinnen machen geltend, dass die Kommission von ihrer üblichen Praxis abgewichen sei, nur in jenen Fällen auf die verfügbaren Informationen zurückzugreifen, in denen die Daten nicht vollständig überprüfbar und zuverlässig seien. 84 Diese Praxis stehe im Einklang mit der WTO-Rechtsprechung. 85 Die Kommission habe nicht hinreichend erläutert, warum sie den Normalwert nicht berechnet habe, obwohl sie dazu über zuverlässige Informationen verfügt habe, wie sich aus den Erwägungsgründen 42 und 44 der angefochtenen Verordnung ergebe. 86 Die Klägerinnen machen geltend, dass die Kommission ihren Normalwert hätte verwenden können, um ihn mit dem Preis für die Ausfuhr in die Union, mit ihren rechnerisch ermittelten Ausfuhrpreisen in die Union oder zumindest mit den Ausfuhrpreisen des einzigen in die Stichprobe einbezogenen Herstellers, der zur Mitarbeit bereit gewesen sei, mit den Preisen der anderen ausführenden Hersteller, die eine individuelle Ermittlung gemäß Art. 17 Abs. 3 der Grundverordnung beantragt hätten, oder mit den Preisen der anderen interessierten Parteien zu vergleichen. 87 Eine solche Vorgehensweise hätte dem Umstand Rechnung getragen, dass sie während der gesamten Untersuchung umfassend mit der Kommission zusammengearbeitet hätten, was im Übrigen von der Anhörungsbeauftragten hervorgehoben und von der Kommission nicht bestritten worden sei. 88 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. 89 Insoweit ist zunächst zu dem oben in Rn. 87 ausgeführten Vorbringen der Klägerinnen festzustellen, dass die Anhörungsbeauftragte im ursprünglichen Anhörungsbericht vom 17. September 2019 angesichts der von den Klägerinnen unternommenen Anstrengungen zwar die Auffassung vertreten hat, dass deren Einstufung als „nicht kooperierend“ aufgrund des Umstands, dass sie falsche oder irreführende Angaben gemacht hätten, nicht die beste Vorgangsweise sei und dass daher die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 18 der Grundverordnung zu präzisieren seien. Im zweiten und letzten Anhörungsbericht vom 7. Februar 2020 äußerte sich dieselbe Anhörungsbeauftragte jedoch nicht mehr zur Anwendung dieses Artikels durch die Kommission, so dass aus diesen beiden Dokumenten keine Schlüsse über das Ausmaß der Mitarbeit der Klägerinnen gezogen werden können. 90 Was die Verordnungen betrifft, auf die die Klägerinnen das Bestehen einer angeblichen Praxis der Kommission stützen, die darin bestehe, nur dann auf die verfügbaren Informationen zurückzugreifen, wenn die Daten nicht vollständig überprüfbar und zuverlässig seien, genügt es, dieses Vorbringen auf der Grundlage der oben in Rn. 70 genannten Rechtsprechung zurückzuweisen. 91 Zum Antidumping-Übereinkommen der WTO und insbesondere zu dessen Anhang II sowie zu der dazu ergangenen Rechtsprechung, die Gegenstand einer schriftlichen Frage zur Beantwortung in der mündlichen Verhandlung war, ist festzustellen, dass Art. 18 der Grundverordnung nach Möglichkeit im Licht dieser Dokumente auszulegen ist, da er die Umsetzung dieser Bestimmungen in das Unionsrecht darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2014, Guangdong Kito Ceramics u. a./Rat, T-633/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:271, Rn. 40). 92 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das WTO-Panel in den Nrn. 7.354 ff. seines Berichts vom 16. November 2007, EG, Antidumpingmaßnahmen für Zuchtlachs (WT/DS 337/R), auf die sich die Klägerinnen berufen, anlässlich der Zurückweisung eines Beweismittels für die Ermittlung des Normalwerts durch die Europäischen Gemeinschaften dargelegt hat, dass die Untersuchungsbehörde nach Art. 6.8 des Antidumping-Übereinkommens der WTO und nach Anhang II Abs. 3 dieses Übereinkommens die „überprüfbaren“ Informationen zu verwenden habe, die ihr von den Parteien übermittelt worden seien. 93 Außerdem vertrat das WTO-Panel in der Rechtssache Vereinigte Staaten – Antidumping- und Ausgleichsmaßnahmen für Stahlbleche aus Indien (WT/DS 206/R), auf die sich die Klägerinnen ebenfalls berufen, in den Nrn. 7.60 ff. seines Berichts im Wesentlichen zwar ebenfalls die Ansicht, dass sich die Untersuchungsbehörden bemühen müssten, die ihnen von den Parteien übermittelten Informationen so weit wie möglich zu verwenden, da eines der grundlegenden Ziele des Antidumping-Übereinkommens der WTO in seiner Gesamtheit darin bestehe, nach Möglichkeit objektive Feststellungen auf der Grundlage von Tatsachen zu treffen. 94 In den Nrn. 7.62 und 7.64 des genannten Berichts wies das WTO-Panel jedoch auch darauf hin, dass nicht der Schluss gezogen werden könne, dass die Untersuchungsbehörde Informationen verwenden müsse, die beispielsweise nicht überprüfbar seien oder nicht rechtzeitig übermittelt worden seien, oder dass sie diese unabhängig von den damit verbundenen Schwierigkeiten verwenden müsse. 95 Außerdem ist, wie von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, ohne dass die Klägerinnen dem widersprochen hätten, festzustellen, dass sich die Rechtssachen, die diesen beiden WTO-Berichten zugrunde liegen, von diesem Fall darin unterscheiden, dass das Hauptproblem der Ermittler nicht wie im vorliegenden Fall in der Ermittlung des Ausfuhrpreises bestand, da nicht alle zuverlässigen Informationen zu den Ausfuhren übermittelt wurden, insbesondere zu den ausgeführten Warentypen und ihrem Preis, sondern in der Ermittlung des Normalwerts. 96 Aus diesen beiden Berichten ergibt sich, dass sich die zuständige Untersuchungsbehörde zwar grundsätzlich bemühen muss, die von den Parteien übermittelten Informationen, die überprüfbar sind, zu verwenden, dass sie dies aber nur im Rahmen des Möglichen tun muss. Die Behörde kann also Auskünfte unberücksichtigt lassen, die letztlich geeignet sind, zu Ergebnissen zu führen, die keine angemessenen und zuverlässigen Feststellungen ermöglichen. 97 Vor dem Hintergrund der vorliegenden Rechtssache wäre jedoch jede Ermittlung des Normalwerts überflüssig gewesen, da – wie sich aus den vorstehenden Rn. 56 bis 81 ergibt – ohne die Möglichkeit der Ermittlung eines Ausfuhrpreises in Bezug auf die Klägerinnen keine Dumpingspanne hätte festgestellt werden können. 98 Dieses Ergebnis wird nicht durch das Vorbringen der Klägerinnen in Frage gestellt, dass es möglich gewesen wäre, ihren Normalwert zu ermitteln, um ihn mit dem für andere Hersteller errechneten Ausfuhrpreis zu vergleichen. Wie nämlich von der Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, hätte die Anwendung einer solchen Methode in Ermangelung jeglicher Gewissheit über die Identität und die Menge der ausgeführten Warentypen, wie sich aus Rn. 69 oben ergibt, unweigerlich dazu geführt, dass Werte in Beziehung gesetzt worden wären, die sich nicht entsprechen und folglich asymmetrisch sind, so dass die Feststellungen zur Dumpingspanne letztlich nicht angemessen und zuverlässig gewesen wären. 99 Zur Rüge, dass die Kommission nicht ausreichend begründet habe, warum sie von der Berechnung des Normalwerts abgesehen habe, ist festzustellen, dass das Gericht bereits entschieden hat, dass die in Art. 296 AEUV vorgeschriebene Begründung die Überlegungen des Organs, das den angefochtenen Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen muss, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können, damit sie ihre Rechte verteidigen können und das Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. In der Begründung brauchen jedoch nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt werden, da die Frage, ob sie den Erfordernissen des Art. 296 AEUV genügt, nicht nur anhand ihres Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand ihres Kontextes sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (vgl. Urteil vom 10. Oktober 2012, Shanghai Biaowu High-Tensile Fastener und Shanghai Prime Machinery/Rat, T‑170/09, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:531, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen ist die Begründung der angefochtenen Verordnung unter Berücksichtigung insbesondere der der Klägerin mitgeteilten Informationen und ihrer Stellungnahme im Verwaltungsverfahren zu beurteilen (Urteil vom 4. März 2010, Sun Sang Kong Yuen Shoes Factory/Rat, T‑409/06, EU:T:2010:69, Rn. 150). Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass in der Begründung von Antidumping-Verordnungen die verschiedenen, manchmal sehr zahlreichen und komplexen tatsächlichen und rechtlichen Einzelheiten dargelegt werden, die deren Gegenstand sind, wenn diese Verordnungen sich im systematischen Rahmen des Maßnahmenbündels halten, zu dem sie gehören. Es genügt insoweit, wenn die Gedankenführung der Organe in den Verordnungen klar und eindeutig zum Ausdruck kommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 1998, Industrie des poudres sphériques/Rat, T‑2/95, EU:T:1998:242, Rn. 357). 100 Hierzu ist festzustellen, dass entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen die von der Kommission in der angefochtenen Verordnung dargelegten Gründe es ermöglichen, nachzuvollziehen, warum sie der Ansicht ist, dass die Informationen zum Normalwert nicht annähernd die für die Ermittlung einer Dumpingspanne erforderlichen Informationen darstellen. 101 Wie von der Kommission im 42. Erwägungsgrund der angefochtenen Verordnung klar und eindeutig ausgeführt, hätte die Ermittlung des Normalwerts im vorliegenden Fall nämlich keine Auswirkungen gehabt, da die Informationen, die für die Ermittlung des Ausfuhrpreises übermittelt wurden, der wiederum für die Ermittlung der Dumpingspanne von grundlegender Bedeutung ist, mangels Überprüfbarkeit nicht zuverlässig waren. 102 Außerdem ist festzustellen, dass diese Begründung den Klägerinnen ermöglicht hat, zu verstehen, warum die Kommission ihren Normalwert im vorliegenden Fall nicht ermittelt hat, sowie die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung in Frage zu stellen, wie aus den insbesondere im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes vorgebrachten Argumenten hervorgeht. Eine solche Begründung ermöglicht es den Unionsgerichten auch, die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verordnung zu überprüfen. 103 Schließlich ist der geltend gemachte Verstoß gegen Art. 2, Art. 3, Art. 6 Abs. 6 und 8 sowie gegen Art. 9 Abs. 4 der Grundverordnung aus den gleichen Gründen wie oben in Rn. 80 dargelegt zurückzuweisen. 104 Nach alledem ist der dritte Teil des zweiten Klagegrundes und damit der zweite Klagegrund insgesamt zurückzuweisen. [nicht wiedergegeben] Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Zhejiang Hangtong Machinery Manufacture Co. Ltd und Ningbo Hi-Tech Zone Tongcheng Auto Parts Co. Ltd tragen die Kosten. Kanninen Porchia Stancu Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 6. Juli 2022. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Englisch. (1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 16. März 2022.#Bromine Science Environnemental Forum (BSEF) gegen Europäische Kommission.#Rechtssache T-113/20.
62020TJ0113
ECLI:EU:T:2022:142
2022-03-16T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0113 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0113 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0113 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 10. Oktober 2019.#ZM u. a. gegen Rat der Europäischen Union.#Öffentlicher Dienst – Beamte – Bedienstete auf Zeit – Dienstbezüge – Familienzulagen – Erziehungszulage – Verweigerung der Erstattung der durch den Schulbesuch entstandenen Kosten – Art. 3 Abs. 1 des Anhangs VII des Statuts.#Rechtssache T-632/18.
62018TJ0632
ECLI:EU:T:2019:732
2019-10-10T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62018TJ0632 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62018TJ0632 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62018TJ0632 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 11. Juli 2018.#Coalition for Life and Family (CLF) gegen Europäisches Parlament.#Institutionelles Recht – Europäisches Parlament – Beschluss, mit dem einer politischen Partei eine Finanzhilfe gewährt wird – Vorfinanzierung in Höhe von 33 % des Höchstbetrags der gewährten Finanzhilfe – Obliegenheit, eine Bankbürgschaft für die Vorfinanzierung zu stellen – Haushaltsordnung – Anwendungsbestimmungen für die Haushaltsordnung – Verordnung (EG) Nr. 2004/2003 über die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihre Finanzierung – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung.#Rechtssache T-54/17.
62017TJ0054
ECLI:EU:T:2018:426
2018-07-11T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62017TJ0054 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62017TJ0054 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62017TJ0054 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil vom 20. Juni 2018, České dráhy/Kommission
62016TJ0325
ECLI:EU:T:2018:368
2018-06-20T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62016TJ0325 URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer) 20. Juni 2018 (*1) „Wettbewerb – Verwaltungsverfahren – Beschluss, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird – Verhältnismäßigkeit – Fehlen von Willkür – Begründungspflicht – Hinreichend ernsthafte Indizien – Rechtssicherheit – Vertrauensschutz – Recht auf Achtung des Privatlebens – Verteidigungsrechte“ In der Rechtssache T‑325/16, České dráhy, a.s. mit Sitz in Prag (Tschechische Republik), vertreten durch die Rechtsanwälte K. Muzikář, J. Kindl und V. Kuča, Klägerin, gegen Europäische Kommission, vertreten durch P. Rossi, A. Biolan, G. Meessen, P. Němečková und M. Šimerdová als Bevollmächtigte, Beklagte, wegen einer Klage nach Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2016) 2417 final der Kommission vom 18. April 2016 in einem Verfahren nach Art. 20 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, der sich an České dráhy sowie an alle von dieser direkt oder indirekt kontrollierten Gesellschaften richtet und mit dem ihnen die Duldung einer Nachprüfung aufgegeben wird (Sache AT.40156 – Falcon), erlässt DAS GERICHT (Achte Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten A. M. Collins sowie der Richter R. Barents und J. Passer (Berichterstatter), Kanzler: L. Grzegorczyk, Verwaltungsrat, auf das schriftliche Verfahren und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Oktober 2017 folgendes Urteil Vorgeschichte des Rechtsstreits 1 Die Klägerin, die České dráhy, a.s., ist eine Aktiengesellschaft. Sie ist der nationale tschechische Frachtführer im Schienenverkehr und steht im Eigentum des tschechischen Staates. Sie hat vor allem auf den Märkten für die Bereitstellung von Personenbeförderungsdiensten und für die Bereitstellung von Leistungen der Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur in der Tschechischen Republik eine beherrschende Stellung. Verfahren vor der tschechischen Wettbewerbsbehörde 2 In den Jahren 2011 und 2012 begannen zwei andere Frachtführer, die RegioJet a.s. und die LEO Express a.s., Beförderungsdienste für den Schienenpersonenverkehr auf der Strecke zwischen Prag (Tschechische Republik) und Ostrava, einer Stadt im Nordosten der Tschechischen Republik, anzubieten. 3 Seit 2011 ist das Verhalten der Klägerin, die unter dem Verdacht steht, ihre beherrschende Stellung zu missbrauchen, indem sie auf der Strecke Prag–Ostrava Beförderungsleistungen für den Schienenpersonenverkehr zu Verdrängungspreisen mit Verlust anbietet, Gegenstand einer Untersuchung durch die tschechische Wettbewerbsbehörde, das Úřad pro ochranu hospodářské soutěže (Amt für den Schutz des Wettbewerbs, Tschechische Republik). 4 Am 24. Januar 2012 eröffnete die tschechische Wettbewerbsbehörde nach einer Voruntersuchung gegen die Klägerin ein Verwaltungsverfahren nach Art. 11 Abs. 1 des Zákon č. 143/2001 Sb., o ochraně hospodářské soutěže (Gesetz Nr. 143/2001 über den Schutz des Wettbewerbs). 5 Am 25. Januar 2012 führte die tschechische Wettbewerbsbehörde in den Geschäftsräumen der Klägerin eine Nachprüfung durch. 6 Die von der tschechischen Wettbewerbsbehörde durchgeführte Untersuchung war noch im Gange, als der Beschluss erlassen wurde, der Gegenstand der vorliegenden Klage ist. Verfahren vor den tschechischen Gerichten 7 Zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt erhoben die beiden Mitbewerberinnen der Klägerin, RegioJet und LEO Express, bei den tschechischen Gerichten Klagen gegen Letztere, um den Ersatz des Schadens zu verlangen, der ihnen aufgrund des angeblich wettbewerbswidrigen Verhaltens der Klägerin auf der Strecke Prag‑Ostrava entstanden sein soll. 8 Mit Urteil vom 10. Dezember 2015 wies das Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag, Tschechische Republik) die Klage von Leo Express ab. Diese legte gegen dieses Urteil Rechtsmittel beim Vrchní soud v Praze (Obergericht Prag, Tschechische Republik) ein. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses, der Gegenstand der vorliegenden Klage ist, war dieses Verfahren noch nicht abgeschlossen. 9 Zu diesem Zeitpunkt hatte auch das Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag) noch nicht über die Klage der RegioJet entschieden. Untersuchung der Kommission 10 Am 18. April 2016 erließ die Europäische Kommission den Beschluss C(2016) 2417 final in einem Verfahren nach Art. 20 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, der sich an die Klägerin sowie an alle von dieser direkt oder indirekt kontrollierten Gesellschaften richtet und mit dem ihnen die Duldung einer Nachprüfung aufgegeben wird (Sache AT.40156 – Falcon) (im Folgenden: angefochtener Beschluss). 11 In den Erwägungsgründen 2 bis 9 des angefochtenen Beschlusses heißt es: „(2) Die Europäische Kommission (im Folgenden: Kommission) hat Informationen erhalten, aus denen hervorgeht, dass [die Klägerin] unter anderem auf den Märkten für die Bereitstellung von Personenbeförderungsdiensten und für die Bereitstellung von Leistungen der Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur in der Tschechischen Republik marktbeherrschend in Sinne von Art. 102 AEUV ist. (3) Die Kommission verfügt über Informationen, die darauf schließen lassen, dass [die Klägerin] für bestimmte Eisenbahnstrecken, insbesondere (aber nicht nur) für die Strecke Prag-Ostrava, Preise unter den Gestehungskosten anbieten kann (predatory pricing [Verdrängungspreise]). Dieses Verhalten könnte Teil einer Strategie der [Klägerin] sein, die im Widerspruch zu den Wettbewerbsregeln steht, um ihre Stellung auf dem Markt für die Bereitstellung von Personenbeförderungsdiensten zu schützen und die Entwicklung des Wettbewerbs auf dem Markt zu beschränken. (4) Die Kommission hat Informationen erhalten, die darauf schließen lassen, dass diese angebliche Zuwiderhandlung zumindest seit 2011 begangen worden sein musste, als eine private Mitbewerberin begann, Dienstleistungen auf der Strecke Prag-Ostrava anzubieten, oder sogar früher, und dass dieses Verhalten noch andauern muss. (5) Das oben genannte Verhalten würde eine oder mehrere Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV darstellen, wenn es nachgewiesen wird. (6) Diese behaupteten Zuwiderhandlungen würden unter strenger Geheimhaltung begangen. Die vorhandenen Unterlagen über die behaupteten Zuwiderhandlungen seien auf ein Minimum begrenzt und würden an Orten und in einer Form aufbewahrt, die ihre Verheimlichung, ihre Aufbewahrung oder ihre Vernichtung im Fall eines Auskunftsverlangens oder angekündigter Kontrollen erleichtere. (7) Damit die Kommission alle relevanten Umstände in Bezug auf mögliche Zuwiderhandlungen und den Zusammenhang, in dem sie stattfinden, feststellen kann, ist eine Nachprüfung in den Geschäftsräumen der [Klägerin] in Anwendung von Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 vorzunehmen. Um die Wirksamkeit dieser Nachprüfung zu gewährleisten, ist es notwendig, dass sie bei dem der Zuwiderhandlung verdächtigten Unternehmen ohne Vorwarnung durchgeführt wird. (8) Deshalb ist ein Beschluss nach Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 zu fällen, mit dem die [Klägerin] aufgefordert wird, eine Nachprüfung zu dulden, und ist dieser Beschluss unmittelbar vor der Nachprüfung bekannt zu geben. (9) Die Kommission ist sich der Tatsache bewusst, dass die zuständige Wettbewerbsbehörde des Mitgliedstaats, das Úřad pro ochranu hospodářské soutěže (im Folgenden: ÚOHS), ein Verwaltungsverfahren über dieselbe Zuwiderhandlung eröffnet hat und im Jahr 2012 eine Nachprüfung in den Geschäftsräumen [der Klägerin] vorgenommen hat. Die Kommission hat die entsprechenden Unterlagen des ÚOHS geprüft.“ 12 Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses sieht vor: „Mit dem vorliegenden Beschluss werden [die Klägerin] sowie alle von ihr direkt oder indirekt kontrollierten Gesellschaften aufgefordert, eine Nachprüfung betreffend ihre mögliche Beteiligung an einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV auf dem Gebiet der Bereitstellung von Diensten für den Schienenpersonenverkehr in der Tschechischen Republik zu dulden. Die Zuwiderhandlung umfasst insbesondere die Praxis von Preisen unter den Gestehungskosten, die geeignet sind, den Zugang von Dritten zum Markt oder ihre Entwicklung auf dem Markt der Beförderungsdienste für den Schienenpersonenverkehr zu beschränken sowie alle Strategien mit gleicher Wirkung.“ 13 Nach Art. 2 des angefochtenen Beschlusses „[sollte d]ie Nachprüfung … am 26. April 2016 oder kurz danach beginnen“. 14 Art. 3 des angefochtenen Beschlusses bestimmt, dass „[d]er vorliegende Beschluss … an die Klägerin sowie alle von ihr direkt oder indirekt kontrollierten Gesellschaften gerichtet [ist und dass] der Beschluss [der Klägerin] gemäß Art. 297 Abs. 2 AEUV unmittelbar vor der Nachprüfung bekannt gegeben [wird]“. 15 Die Nachprüfung fand vom 26. bis 29. April 2016 statt. Verfahren und Anträge der Beteiligten 16 Mit Klageschrift, die am 24. Juni 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben. 17 Gemäß Art. 89 seiner Verfahrensordnung hat das Gericht die Kommission aufgefordert, bestimmte Unterlagen vorzulegen. Die Kommission ist dieser Aufforderung fristgerecht nachgekommen. 18 Die Klägerin beantragt, – den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären; – der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 19 Die Kommission beantragt, – die Klage abzuweisen; – der Klägerin die Kosten aufzuerlegen. Rechtliche Würdigung 20 Zur Stützung ihrer Klage macht die Klägerin folgende sechs Klagegründe geltend: – willkürlicher und unverhältnismäßiger Charakter des angefochtenen Beschlusses und der fraglichen Nachprüfung (erster Klagegrund); – Verstoß gegen die Begründungspflicht (zweiter Klagegrund); – Fehlen hinreichend ernsthafter Anhaltspunkte, die den Erlass des angefochtenen Beschlusses und die Durchführung einer Nachprüfung rechtfertigen könnten (dritter Klagegrund); – fehlende Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten und fehlende beherrschende Stellung der Klägerin auf dem Binnenmarkt oder einem erheblichen Teil desselben (vierter Klagegrund); – Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (fünfter Klagegrund); – Verstoß gegen die durch die Art. 7 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und durch die Art. 6 und 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) gewährleisteten Rechte (sechster Klagegrund). 21 Vorab ist festzustellen, dass der mit der vorliegenden Klage angefochtene Rechtsakt zwar der Beschluss ist, mit dem die fragliche Nachprüfung angeordnet wird, und dass alle von der Klägerin geltend gemachten Klagegründe nur auf die Aufhebung dieses Beschlusses abzielen, dass jedoch bestimmte im Rahmen des schriftlichen Verfahrens von der Klägerin vorgetragene Anmerkungen und Argumente auf den Ablauf der Nachprüfung Bezug nehmen, die die Kommission in Durchführung dieses Beschlusses vorgenommen hat. Darauf deutet im Übrigen auch die Art hin, wie die Klägerin den ersten und dritten Klagegrund betitelt hat. 22 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Art und Weise der Durchführung eines Beschlusses, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird, keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des die Nachprüfung anordnenden Beschlusses hat (vgl. Urteil vom 6. September 2013, Deutsche Bahn u. a./Kommission, T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung) und dass sich daher ein Unternehmen zur Stützung seiner Nichtigkeitsanträge gegen die Entscheidung, auf deren Grundlage die Kommission diese Nachprüfung vorgenommen hat, nicht auf die angebliche Rechtswidrigkeit des Ablaufs des Nachprüfungsverfahrens berufen kann (vgl. Urteil vom 17. September 2007, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission, T‑125/03 und T‑253/03, EU:T:2007:287, Rn. 55 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 23 Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, sie habe nicht versucht, sich zur Stützung ihrer Anträge auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung auf die mutmaßliche Rechtswidrigkeit des Ablaufs des Nachprüfungsverfahrens zu berufen. Die Anmerkungen und Argumente betreffend den Ablauf der fraglichen Nachprüfung seien ausschließlich als „Auslegungshilfe“ für das dem angefochtenen Beschluss zugrunde liegende Ziel gedacht. 24 Bei der Prüfung der Gründe für die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses sind diese Anmerkungen und Argumente daher unter diesem Gesichtspunkt zu würdigen. 25 Darüber hinaus ist diese Prüfung mit der Untersuchung des zweiten und des dritten Klagegrundes zu beginnen, da sich diese Analyse auf die Analyse der übrigen Klagegründe auswirken kann. Zum zweiten und zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht und Fehlen hinreichend ernsthafter Indizien für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln 26 Mit dem dritten Klagegrund wirft die Klägerin der Kommission zunächst vor, im angefochtenen Beschluss keine Beweise für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln angeführt zu haben. 27 Jedenfalls ist die Klägerin überzeugt, dass die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses keine (auch nur mittelbaren) ernsthaften Beweise für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln haben konnte. Vielmehr sprächen die im Rahmen des Verfahrens vor der tschechischen Wettbewerbsbehörde gesammelten Beweise, darunter das Gutachten von Herrn Krabec vom 16. Dezember 2013 und jenes der Univerzita Pardubice (Universität Pardubice, Tschechische Republik) vom 25. August 2015 dafür, dass sich die Klägerin nicht wettbewerbswidrig verhalten habe. Zudem zeigten die gleichen Beweise, dass die Preise der Klägerin im Durchschnitt höher als jene ihrer Mitbewerberinnen geblieben seien und dass ihre Einnahmen auf der Strecke Prag–Ostrava stets höher als die variablen Kosten gewesen seien. Das Fehlen hinreichend ernsthafter Indizien werde durch die Entwicklung auf der Strecke Prag–Ostrava untermauert, die durch ein hohes Maß an Wettbewerb gekennzeichnet sei. Es sei daher sehr wahrscheinlich, dass der angefochtene Beschluss nur auf einer Beschwerde beruhe, die von einem konkurrierenden Transportunternehmen eingereicht worden sei, und nicht auf einer angemessenen Überprüfung der tatsächlichen Gegebenheiten. 28 Insoweit ersucht die Klägerin das Gericht um eine inhaltliche Überprüfung der Indizien, über die die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses verfügte, und um eine Beurteilung, inwiefern sie die Akten der tschechischen Wettbewerbsbehörde geprüft hat. 29 Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht die Klägerin geltend, der angefochtene Beschluss sei unzureichend begründet und fasse den Gegenstand und den Zweck der Nachprüfung zu weit, indem er praktisch auf jedes Verhalten der Klägerin auf dem Gebiet des Schienenpersonenverkehrs in der Tschechischen Republik abziele. 30 Der Zweck der Nachprüfung sei aus räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Sicht zu weit gefasst. Aus räumlicher Sicht ziele der dritte Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses auf eine mögliche Zuwiderhandlung insbesondere auf der Strecke Prag–Ostrava ab, beschränke sich aber nicht darauf. Was die zeitliche Abgrenzung angehe, so beziehe sich die verwendete Formulierung zwar auf den Beginn des untersuchten Verhaltens im Jahr 2011, schließe jedoch eine Prüfung früherer Zeiträume und des gesamten nachfolgenden Zeitraums durch die Kommission nicht aus. In materieller Hinsicht sehe der angefochtene Beschluss vor, dass es bei der vermuteten Zuwiderhandlung „unter anderem“ um die Praxis von Preisen unter den Gestehungskosten gehe, womit auch alle anderen Formen von Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV umfasst seien. Darüber hinaus grenze die Kommission den fraglichen Markt nicht ab. 31 Zudem würden im angefochtenen Beschluss die Tatsachen und Vermutungen nicht konkret beschrieben, die die Kommission zu prüfen beabsichtigt habe, und würden dort auch keine Indizien angeführt, die ihren Verdacht gerechtfertigt hätten (zu dieser letztgenannten Rüge vgl. oben, Rn. 26). 32 So habe es der angefochtene Beschluss der Kommission ermöglicht, „Daten auszuforschen“, und sich nicht nur für die Unterlagen betreffend den Einstieg von konkurrierenden Transportunternehmen auf der Strecke Prag–Ostrava zu interessieren, sondern auch für andere Unterlagen. Auf diese Unterlagen, die bei der betreffenden Nachprüfung (Falcon) sichergestellt worden seien, die jedoch keinen Bezug zur Strecke Prag–Ostrava hätten, habe sich die Kommission gestützt, als sie eine zweite Nachprüfung (Twins) angeordnet habe, die Gegenstand der unter dem Aktenzeichen T‑621/16, České dráhy/Kommission, eingetragenen Rechtssache sei. 33 Die Kommission beantragt die Zurückweisung dieser beiden Klagegründe. 34 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis eines Schutzes vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person einen allgemeinen Grundsatz des Rechts der Europäischen Union darstellt (vgl. Urteil vom 25. November 2014, Orange/Kommission, T‑402/13, EU:T:2014:991, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). 35 Zur Wahrung dieses allgemeinen Grundsatzes muss daher eine Nachprüfungsmaßnahme auf die Erlangung von Unterlagen gerichtet sein, die erforderlich sind, um die Richtigkeit und die Tragweite einer bestimmten Sach- und Rechtslage zu prüfen, in Bezug auf die die Kommission bereits über Erkenntnisse verfügt, die hinreichend ernsthafte Indizien beinhalten, die für den Verdacht eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln ausreichen (vgl. Urteil vom 25. November 2014, Orange/Kommission, T‑402/13, EU:T:2014:991, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Mit anderen Worten ist der Besitz hinreichend ernsthafter Indizien, die für den Verdacht eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln ausreichen, eine conditio sine qua non, damit die Kommission eine Nachprüfung gemäß Art. 20 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) anordnen kann. 37 Ebenso darf der Wortlaut eines Beschlusses, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird, stets unter Wahrung dieses allgemeinen Grundsatzes, nicht über den Umfang der Zuwiderhandlung, die aufgrund solcher Indizien vermutet werden kann, hinausgehen. 38 Zwar braucht die Kommission grundsätzlich dem Adressaten eines solchen Beschlusses weder alle Informationen zu geben, über die sie im Zusammenhang mit vermuteten Zuwiderhandlungen verfügt, noch den relevanten Markt genau abzugrenzen, eine exakte rechtliche Qualifizierung der Zuwiderhandlungen vorzunehmen oder den Zeitraum ihrer mutmaßlichen Begehung anzugeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2013, Deutsche Bahn u. a./Kommission, T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, Rn. 170 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 39 Dagegen muss sie möglichst genau angeben, welche Verdachtsmomente sie erhärten will, d. h., wonach gesucht wird und auf welche Punkte sich die Nachprüfung beziehen soll. Zu diesem Zweck muss die Kommission in einem Nachprüfungsbeschluss außerdem die wesentlichen Merkmale der behaupteten Zuwiderhandlung beschreiben, indem sie den ihrer Ansicht nach relevanten Markt und die Natur der behaupteten Wettbewerbsbeschränkungen bezeichnet, indem sie erläutert, wie das von der Nachprüfung betroffene Unternehmen in die Zuwiderhandlung verwickelt sein soll, und indem sie angibt, welche Befugnisse die Prüfer der Union haben (vgl. Urteil vom 6. September 2013, Deutsche Bahn u. a./Kommission, T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, Rn. 170 und 171 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 40 Eine äußerst knappe, vage und allgemein gehaltene sowie in mancher Hinsicht mehrdeutige Begründung kann im Übrigen nicht den Begründungserfordernissen genügen, unter denen nach Art. 18 Abs. 3 der Verordnung Nr. 1/2003 ein Auskunftsverlangen gerechtfertigt ist, das mehr als zwei Jahre nach den ersten Nachprüfungen ergangen ist, nachdem die Kommission bereits mehrere Auskunftsverlangen an die der Teilnahme an einer Zuwiderhandlung verdächtigten Unternehmen gerichtet hatte und mehrere Monate nach dem Beschluss über die Einleitung des Verfahrens, und der betreffende Beschluss wurde daher erlassen, als die Kommission bereits über Informationen verfügte, die es ihr ermöglicht hätten, die Verdachtsmomente für eine Zuwiderhandlung der betreffenden Unternehmen mit größerer Bestimmtheit zu formulieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2016, HeidelbergCement/Kommission, C‑247/14 P, EU:C:2016:149, Rn. 39). 41 Soweit die Begründung eines Nachprüfungsbeschlusses die den Kommissionsbediensteten verliehenen Befugnisse eingrenzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2015, Deutsche Bahn u. a./Kommission, C‑583/13 P, EU:C:2015:404, Rn. 60), steht der oben in Rn. 34 genannte allgemeine Grundsatz jedenfalls Formulierungen in einem Nachprüfungsbeschluss entgegen, die diese Befugnisse über das hinaus erweitern, was sich aus den hinreichend ernsthaften Indizien ergibt, über die die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses eines solchen Beschlusses verfügt. 42 In Anwendung dieses allgemeinen Grundsatzes hat das Gericht den fraglichen Beschluss in der Rechtssache, in der das Urteil vom 14. November 2012, Nexans France und Nexans/Kommission (T‑135/09, EU:T:2012:596), ergangen ist, für nichtig erklärt, soweit er andere Stromkabel als Hochspannungssee‑ und ‑erdkabel und das zu diesen anderen Kabeln gehörende Material betraf, nachdem es festgestellt hatte, dass die Kommission zwar zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses über hinreichend ernsthafte Indizien verfügte, um eine Nachprüfung über die Hochspannungssee‑ und ‑erdkabel und das dazugehörige Material anzuordnen, dass sie jedoch nicht über hinreichend ernsthafte Indizien verfügte, um eine Nachprüfung über die Gesamtheit der Stromkabel und das dazugehörige Material anzuordnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2012, Nexans France und Nexans/Kommission, T‑135/09, EU:T:2012:596, Rn. 91 bis 94). 43 Im vorliegenden Fall ist daher zum einen zu prüfen, ob die Kommission über hinreichend ernsthafte Indizien verfügte, die den Verdacht eines Verstoßes der Klägerin gegen die Wettbewerbsregeln zuließen, und zum anderen, ob sich die im angefochtenen Beschluss eingegrenzte Nachprüfung auf die Zuwiderhandlung beschränkte, die die Kommission aufgrund solcher Indizien vermuten durfte. 44 Insoweit wirft die Klägerin der Kommission vor allem vor, im angefochtenen Beschluss keinen konkreten Beweis angeführt zu haben, auf den sich der Verdacht des ihr vorgeworfenen wettbewerbswidrigen Verhaltens gründen konnte. 45 Doch auch wenn die Kommission, um darzutun, dass die Nachprüfung gerechtfertigt ist, in dem Beschluss, mit dem eine Nachprüfung angeordnet wird, substantiiert darlegen muss, dass sie über ernsthafte Informationen und Hinweise verfügt, aufgrund deren sie das von der Nachprüfung betroffene Unternehmen der vermuteten Zuwiderhandlung verdächtigt (vgl. Urteil vom 6. September 2013, Deutsche Bahn u. a./Kommission, T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, Rn. 172 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), kann von ihr nicht verlangt werden, im Stadium des Abschnitts der Voruntersuchung außer den mutmaßlichen Zuwiderhandlungen, denen sie nachzugehen beabsichtigt, auch die Indizien anzugeben, d. h. die Gesichtspunkte, aufgrund deren sie die Möglichkeit eines Verstoßes gegen Art. 102 AEUV in Betracht zieht. Eine solche Verpflichtung würde nämlich das durch die Rechtsprechung geschaffene Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Wirksamkeit der Untersuchung und dem Schutz der Verteidigungsrechte des betroffenen Unternehmens in Frage stellen (Urteil vom 25. November 2014, Orange/Kommission, T‑402/13, EU:T:2014:991, Rn. 81). 46 Zum einen beginnt der Abschnitt der Voruntersuchung, wenn die Kommission in Ausübung der ihr durch die Art. 18 und 20 der Verordnung Nr. 1/2003 verliehenen Befugnisse Maßnahmen trifft, die mit dem Vorwurf verbunden sind, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben, und erhebliche Auswirkungen auf die Situation der unter Verdacht stehenden Unternehmen haben. Zum anderen wird das betroffene Unternehmen erst zu Beginn des kontradiktorischen Abschnitts des Verwaltungsverfahrens durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte über alle wesentlichen Gesichtspunkte informiert, auf die sich die Kommission in diesem Verfahrensstadium stützt, und dass es zur Sicherstellung der wirksamen Ausübung seiner Verteidigungsrechte über ein Recht auf Zugang zu den Akten verfügt. Folglich kann das betroffene Unternehmen seine Verteidigungsrechte erst nach Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte umfassend geltend machen. Durch die Erstreckung dieser Rechte auf den Zeitraum vor Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte würde nämlich die Effizienz der von der Kommission geführten Untersuchung beeinträchtigt, da das betroffene Unternehmen schon im Abschnitt der Voruntersuchung erfahren würde, welche Informationen der Kommission bekannt sind und welche mithin noch vor ihr verborgen werden können (Urteil vom 25. November 2014, Orange/Kommission, T‑402/13, EU:T:2014:991, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Daher kann der Kommission nicht vorgeworfen werden, im angefochtenen Beschluss schlicht festgestellt zu haben, dass sie über Informationen verfüge, die darauf schließen ließen, „dass [die Klägerin] … für bestimmte Eisenbahnstrecken, insbesondere (aber nicht nur) für die Strecke Prag–Ostrava, Preise unter den Gestehungskosten anbieten kann (predatory pricing [Verdrängungspreise]),“ und „dass diese angebliche Zuwiderhandlung zumindest seit 2011 begangen worden sein musste, als eine private Mitbewerberin begann, Dienstleistungen auf der Strecke Prag–Ostrava anzubieten, oder sogar früher, und dass dieses Verhalten noch andauern muss“. 48 Wenn der Unionsrichter, wie im vorliegenden Fall, eine Kontrolle des Nachprüfungsbeschlusses vornimmt, um zu prüfen, ob dieser nicht willkürlich erlassen worden ist, muss er sich vergewissern, dass ernsthafte Indizien vorliegen, die für den Verdacht eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln durch das betroffene Unternehmen ausreichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2012, Nexans France und Nexans/Kommission, T‑135/09, EU:T:2012:596, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 49 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass, zumindest wenn die Unternehmen, an die eine Entscheidung nach Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 ergeht, bestimmte Umstände darlegen, welche die hinreichende Ernsthaftigkeit der Indizien, die der Kommission für den Erlass der Entscheidung vorlagen, in Frage stellen, der Unionsrichter diese Indizien untersuchen und prüfen muss, ob sie hinreichend ernsthaft sind (Urteil vom 14. November 2012, Nexans France und Nexans/Kommission, T‑135/09, EU:T:2012:596, Rn. 72). 50 Jedoch stellt die Überprüfung, ob die Kommission im Besitz hinreichend ernsthafter Indizien war, die es erlaubten, vor dem Erlass eines Nachprüfungsbeschlusses eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln zu vermuten, nicht das einzige Mittel dar, das es dem Gericht ermöglicht, sich zu vergewissern, dass diese Entscheidung nicht willkürlich ist (Urteil vom 25. November 2014, Orange/Kommission, T‑402/13, EU:T:2014:991, Rn. 87). 51 Die Kontrolle der Begründung eines Beschlusses erlaubt es dem Richter nämlich auch, über die Beachtung des Grundsatzes des Schutzes vor willkürlichen und unverhältnismäßigen Maßnahmen zu wachen, indem sie es ermöglicht, die Berechtigung des beabsichtigten Eingriffs in den betroffenen Unternehmen aufzuzeigen (vgl. Urteil vom 25. November 2014, Orange/Kommission, T‑402/13, EU:T:2014:991, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Gericht kann auf das Fehlen von Willkür bei einem Nachprüfungsbeschluss schließen, ohne dass es erforderlich ist, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Nachprüfungsbeschlusses im Besitz der Kommission befindlichen Indizien inhaltlich zu überprüfen, wenn es feststellt, dass die Vermutungen, denen die Kommission nachzugehen beabsichtigt, und die Punkte, auf die sich die Nachprüfung beziehen soll, hinreichend genau bestimmt sind (Urteil vom 25. November 2014, Orange/Kommission, T‑402/13, EU:T:2014:991, Rn. 91). 52 Im vorliegenden Fall hat die Kommission im angefochtenen Beschluss ausgeführt, dass – sie erstens im Besitz von „Informationen [ist], die darauf schließen lassen, dass die Klägerin … für bestimmte Eisenbahnstrecken, insbesondere (aber nicht nur) für die Strecke Prag–Ostrava, Preise unter den Gestehungskosten anbieten kann (predatory pricing [Verdrängungspreise])“ (dritter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses); – sie zweitens „Informationen erhalten [hat], die darauf schließen lassen, dass diese angebliche Zuwiderhandlung zumindest seit 2011 begangen worden sein musste, als eine private Mitbewerberin begann, Dienstleistungen auf der Strecke Prag–Ostrava anzubieten, oder sogar früher“ (vierter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses); – drittens die im angefochtenen Beschluss angesprochene Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV „… insbesondere die Praxis von Preisen unter den Gestehungskosten, die geeignet sind, den Zugang von Dritten zum Markt oder ihre Entwicklung auf dem Markt der Beförderungsdienste für den Schienenpersonenverkehr zu beschränken sowie alle Strategien mit gleicher Wirkung [umfasst]“ (Art. 1 des angefochtenen Beschlusses). 53 Somit bezieht der angefochtene Beschluss in die Nachprüfung nicht nur einen möglichen Verstoß gegen Art. 102 AEUV mit ein, der darin besteht, auf der Strecke Prag–Ostrava seit 2011 Verdrängungspreise anzubieten, sondern auch andere Formen von Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV, andere Strecken in der Tschechischen Republik als die Strecke Prag–Ostrava und den Zeitraum vor 2011. 54 Die Begründung des angefochtenen Beschlusses liefert als solche keinen Grund für die Annahme, dass die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Beschlusses tatsächlich über hinreichend ernsthafte Indizien für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV der oben in Rn. 53 beschriebenen Art verfügte. 55 Unter diesen Umständen ist als Erstes und in Ansehung anderer relevanter Faktoren zu prüfen, ob die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses über hinreichend ernsthafte Indizien verfügte, die für den Verdacht einer im Anbieten von Verdrängungspreisen auf der Strecke Prag–Ostrava seit 2011 bestehenden Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV ausreichten. 56 Als Zweites ist zu prüfen, ob die Kommission zum selben Zeitpunkt auch über hinreichend ernsthafte Indizien für andere Formen von Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV auf anderen Strecken und für den Zeitraum vor 2011 verfügte. Zur angeblichen Praxis von Verdrängungspreisen auf der Strecke Prag–Ostrava seit 2011 57 In ihrer Erwiderung hat die Kommission drei Arten von Informationen angeführt, aufgrund deren sie den angefochtenen Beschluss erlassen habe: vom Beschwerdeführer erhaltene Informationen, Informationen von öffentlich zugänglichen Quellen und die Akte der tschechischen Wettbewerbsbehörde, darunter das Gutachten der Universität Pardubice. 58 Hinsichtlich der dritten Art von Informationen hat die Kommission insbesondere die Rn. 128 bis 130 und 155 bis 157 des Gutachtens der Universität Pardubice zitiert. Aus diesen Randnummern des Gutachtens sei insbesondere hervorgegangen, dass die vorgelegten Informationen (vgl. Rn. 3 des Gutachtens) nicht den Schluss zuließen, dass die Zahlen in Bezug auf die betreffenden Kosten die Situation angemessen widerspiegelten. Das Gutachten habe auch die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit einer Verfälschung der Daten der Klägerin gelenkt. 59 Zu den von der Kommission zitierten Randnummern des Gutachtens der Universität Pardubice macht die Klägerin vor allem geltend, die darin enthaltenen Vorbehalte seien nur marginal. Es handle sich um gängige Formulierungen, mit denen die Sachverständigen für gewöhnlich sicherstellen wollten, dass ihr Gutachten nicht angreifbar sei und dass ihre mögliche Haftung ausgeschlossen werde. 60 Vorab ist festzustellen, dass sich aus der Akte des vorliegenden Falles ergibt, dass die tschechische Wettbewerbsbehörde eine Untersuchung über eine mögliche Praxis von Verdrängungspreisen durch die Klägerin auf der Strecke Prag–Ostrava seit 2011 durchführt, also über dasselbe Verhalten, um das es im angefochtenen Beschluss in erster Linie geht. 61 Aus dieser Akte ergibt sich auch, dass die tschechische Wettbewerbsbehörde im Lauf dieser Untersuchung Tausende von Seiten von Beweisen gesammelt hat, die vor allem von der Klägerin und den konkurrierenden Transportunternehmen (RegioJet und LEO Express) stammen. 62 Was das Gutachten der Universität Pardubice anbelangt, ist erstens festzustellen, dass in den von der Kommission angeführten Rn. 128 bis 130 dieses Gutachtens unter der Überschrift „Kostentransfer zwischen den verschiedenen Auftraggebern im öffentlichen Schienenverkehr“ wie folgt argumentiert wird: – „[vertraulich]“, – „[vertraulich]“, – „[vertraulich]“. 63 Zweitens heißt es in den von der Kommission auch angeführten Rn. 155 bis 157 des Gutachtens der Universität Pardubice unter der Überschrift „Feststellung bestimmter Widersprüche in den Ausführungen der [Klägerin]“: – „[vertraulich]“, – „[vertraulich]“; insoweit wird im Gutachten folgendes Zitat wiedergegeben: „[vertraulich]“. 64 Drittens heißt es in den Rn. 158 bis 161 des Gutachtens der Universität Pardubice unter der Überschrift „Widersprüche in den Ausführungen der [Klägerin] zum Anteil der variablen Kosten und der Fixkosten“, dass „[vertraulich]“ und „[vertraulich]“. 65 Es ist festzustellen, dass die obigen Anmerkungen entgegen dem Vorbringen der Klägerin, wonach sie nur übliche Formulierungen seien, mit denen die Sachverständigen sicherstellen wollten, dass ihr Gutachten nicht angreifbar sei und dass ihre mögliche Haftung ausgeschlossen werde, zeigen, wenn auch nur mittelbar, dass die Kommission gute Gründe für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV durch die Klägerin hatte und dass sie daher berechtigt war, die fragliche Nachprüfung anzuordnen. 66 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es für die Rechtfertigung von Überprüfungen nicht erforderlich ist, dass die der Kommission zur Verfügung stehenden Informationen so beschaffen sind, dass das Vorliegen der in der angefochtenen Entscheidung festgestellten Zuwiderhandlung damit ohne jeden vernünftigen Zweifel bewiesen werden konnte. Ein solches Beweisniveau ist nämlich bei Entscheidungen der Kommission erforderlich, in denen sie das Vorliegen einer Zuwiderhandlung feststellt und Geldbußen verhängt. Hingegen reicht es für den Erlass einer Nachprüfungsentscheidung nach Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 aus, dass sie über ernsthafte Informationen und Hinweise verfügt, die bei ihr den Verdacht begründen, dass eine Zuwiderhandlung vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. März 2014, Cementos Portland Valderrivas/Kommission, T‑296/11, EU:T:2014:121, Rn. 43, und vom 29. Februar 2016, EGL u. a./Kommission, T‑251/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:114, Rn. 149). 67 Angesichts der vorstehenden Ausführungen hat die Kommission ersichtlich über solche Indizien verfügt. 68 Im Übrigen genügt selbst dann, wenn man davon ausgeht, dass das Vorbringen der Klägerin, wonach die von der tschechischen Wettbewerbsbehörde gesammelten Beweise zeigten, dass ihre Einnahmen auf der Strecke Prag–Ostrava stets höher als die variablen Kosten gewesen seien, begründet ist, der Hinweis, dass nach der Rechtsprechung auch Preise, die unter den durchschnittlichen Gesamtkosten – das heißt Fixkosten plus variable Kosten –, jedoch über den durchschnittlichen variablen Kosten liegen, mit Art. 102 AEUV unvereinbar sind, wenn sie im Rahmen eines Plans festgesetzt wurden, der die Ausschaltung eines Konkurrenten zum Ziel hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juli 1991, AKZO/Kommission, C‑62/86, EU:C:1991:286, Rn. 72). 69 Zum Vorbringen der Klägerin, wonach das Fehlen von hinreichend ernsthaften Indizien auch durch die Entwicklung der Lage auf der Strecke Prag–Ostrava untermauert werde, die durch ein hohes Maß an Wettbewerb gekennzeichnet sei, merkt die Kommission zu Recht an, dass die Tatsache, dass die Strategie eines Unternehmens mit einer beherrschenden Stellung nicht den erwarteten Erfolg gebracht habe, nicht bedeute, dass die Verdrängungspraxis zu keiner Wettbewerbsverzerrung geführt habe. 70 Nach alledem ist die Rüge des Fehlens hinreichend ernsthafter Indizien für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV durch die Klägerin, die im Anbieten von Verdrängungspreisen auf der Strecke Prag–Ostrava seit 2011 bestand, zurückzuweisen. 71 Da sich jedoch die von der tschechischen Wettbewerbsbehörde durchgeführte Untersuchung nur auf die angebliche Praxis von Verdrängungspreisen auf der Strecke Prag–Ostrava seit 2011 bezieht, kann diese Schlussfolgerung auf dieser alleinigen Grundlage nicht auf andere Formen von Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV, andere Strecken als die Strecke Prag–Ostrava und den Zeitraum vor 2011 übertragen werden. 72 Folglich sind nunmehr die Indizien zu prüfen, über die die Kommission in diesem Zusammenhang verfügte, und ist dabei ihre Antwort auf die prozessleitenden Maßnahmen zu berücksichtigen. Andere Formen von Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV, andere Strecken als die Strecke Prag–Ostrava und der Zeitraum vor 2011 – Zu anderen Formen von Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV 73 Erstens hat die Kommission in ihrer Antwort auf die vorgenannten prozessleitenden Maßnahmen zugegeben, dass sie über keine Indizien für den Verdacht anderer Formen von Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV verfügte. 74 Zweitens hat sie betont, dass sie nach ständiger Rechtsprechung im Fall einer Anwendung von Art. 102 AEUV die Geschäftsstrategie der Gesellschaft prüfen müsse, die Gegenstand der Untersuchung sei, möglicherweise für das Bestehen einer Absicht oder eines Plans zum Ausschluss des Wettbewerbs aufschlussreich sei. 75 In ihrer Stellungnahme zur Antwort der Kommission auf die prozessleitenden Maßnahmen ist die Klägerin letzterer Argumentation entgegengetreten. Die Tatsache, dass die Kommission ihre Geschäftsstrategie prüfen müsse, könne jedenfalls nicht die Ausdehnung des Gegenstands der fraglichen Nachprüfung auf Formen von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln rechtfertigen, für die sie über keine hinreichend ernsthaften Indizien verfüge. 76 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass zur Beurteilung der Zulässigkeit der von einem beherrschenden Unternehmen angewandten Preispolitik grundsätzlich auf Preiskriterien abzustellen ist, die sich auf die dem beherrschenden Unternehmen entstandenen Kosten und seine Strategie stützen (vgl. Urteil vom 17. Februar 2011, TeliaSonera Sverige, C‑52/09, EU:C:2011:83, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). 77 Ebenso geht aus der Rechtsprechung hervor, dass auch Preise, die unter den durchschnittlichen Gesamtkosten – das heißt Fixkosten plus variable Kosten –, jedoch über den durchschnittlichen variablen Kosten liegen, mit Art. 102 AEUV unvereinbar sind, wenn sie im Rahmen eines Plans festgesetzt wurden, der die Ausschaltung eines Konkurrenten zum Ziel hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Juli 1991, AKZO/Kommission, C‑62/86, EU:C:1991:286, Rn. 72). 78 Wenn die Kommission daher über hinreichend ernsthafte Indizien für den Verdacht einer im Anbieten von Verdrängungspreisen bestehenden Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV verfügt, kann im Rahmen ihrer Untersuchung die Strategie des betreffenden Unternehmens geprüft werden. Im Übrigen folgt die Kommission am Ende von Art. 1 Abs. 1 des angefochtenen Beschlusses dieser Argumentation, wenn sie ausführt, dass abgesehen von der Praxis von Preisen unter den Gestehungskosten, die geeignet seien, den Zugang von Dritten zum Markt oder ihre Entwicklung auf dem Markt der Beförderungsdienste für den Schienenpersonenverkehr zu beschränken, in die Nachprüfung auch „alle Strategien mit gleicher Wirkung“ einbezogen würden. Dies wurde übrigens von der Klägerin niemals in Frage gestellt. 79 Hingegen macht die Klägerin zu Recht geltend, dass diese Argumentation keinen triftigen Grund für die Erweiterung des Gegenstands der fraglichen Nachprüfung auf andere Formen von Zuwiderhandlungen darstelle. 80 Angesichts des oben in Rn. 34 angeführten allgemeinen Grundsatzes kann mit dieser Argumentation nämlich nicht der Wortlaut von Art. 1 des angefochtenen Beschlusses gerechtfertigt werden, wonach die Zuwiderhandlung „insbesondere“ die Praxis von Preisen unter den Gestehungskosten „umfasst“, wodurch in die betreffende Nachprüfung auch jede andere Form von Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV einbezogen werden konnte, obwohl die Kommission insoweit über keine Indizien verfügte. – Zu anderen Strecken als der Strecke Prag–Ostrava 81 Insoweit hat die Kommission zum einen in ihrer Antwort auf die prozessleitenden Maßnahmen des Gerichts zwei an sie gerichtete Beschwerden der LEO Express vom 17. Oktober 2014 bzw. vom 1. März 2016 vorgelegt. 82 Die beiden Beschwerden enthielten Indizien betreffend die Strecke Prag-Košice, eine im Osten der Slowakischen Republik liegende Stadt. Zudem enthielt die Beschwerde vom 1. März 2016 Indizien betreffend zwei andere Strecken im Inland, nämlich Ostrava-Kolín und Olomouc-Kolín. 83 Zum anderen hat die Kommission darauf hingewiesen, dass auch Unterlagen, die sich nicht auf die Strecke Prag–Ostrava bezögen, nützliche Hinweise für die Untersuchung wettbewerbswidriger Praktiken betreffend letztere Strecke enthielten, weil sie die Frage der Kosten auf anderen Eisenbahnstrecken behandelten und daher einen Maßstab für die gewöhnliche Aufteilung der Kosten auf die verschiedenen Strecken darstellten. 84 In ihrer Stellungnahme zur Antwort der Kommission auf die prozessleitenden Maßnahmen hat die Klägerin diese Anhaltspunkte beanstandet. Ihrer Ansicht nach enthalten die von der Kommission vorgelegten Dokumente keine Indizien für den Verdacht eines wettbewerbswidrigen Verhaltens ihrerseits auf der Strecke Prag-Košice. Zu den Strecken Ostrava-Kolín und Olomouc-Kolín macht sie geltend, dass diese Strecken in Wirklichkeit ein integraler Bestandteil der Strecke Prag–Ostrava seien. 85 Erstens ist festzustellen, dass die beiden Beschwerden zwar Informationen über die Strecke Prag-Košice enthalten, dass diese Informationen jedoch keine hinreichend ernsthaften Indizien für den Verdacht einer Praxis von Verdrängungspreisen auch auf dieser Strecke darstellen. Es wird dort nur angegeben, die Klägerin habe ihre marktbeherrschende Stellung missbraucht, als sie beschlossen habe, ihre Züge SC Pendolino als Reaktion auf entsprechende Absichten der LEO Express auf dieser Strecke wieder einzuführen, obwohl sie den Betrieb dieser Züge auf ebendieser Strecke aufgrund von schwacher Auslastung eingestellt gehabt habe. 86 Insoweit ist darauf zu verweisen, dass die Kommission eingeräumt hat, dass sie nur über Indizien für den Verdacht eines Verstoßes verfügt habe, der darin bestanden habe, Verdrängungspreise anzubieten. 87 Selbst wenn man davon ausgeht, dass die fraglichen Informationen mittelbar ein Hinweis auf die Praxis von Verdrängungspreisen auch auf der Strecke Prag-Košice sein können, ist die Aufnahme dieser Strecke in den Gegenstand der Nachprüfung Falcon jedenfalls mit Art. 1 dieses Beschlusses unvereinbar, der seinen Gegenstand auf das Hoheitsgebiet der Tschechischen Republik beschränkt. 88 Zweitens reicht es hinsichtlich der Strecken Ostrava-Kolín und Olomouc-Kolín, mit der Klägerin darauf hinzuweisen, dass diese ein integraler Bestandteil der Strecke Prag–Ostrava sind. Die Städte Kolín und Olomouc befinden sich auf der Strecke Prag–Ostrava, zwischen diesen beiden Städten. Daraus folgt, dass die Strecken Ostrava-Kolín und Olomouc-Kolín bereits vom Wortlaut des angefochtenen Beschlusses erfasst sind, der sich ausdrücklich auf die Strecke Prag–Ostrava bezieht. 89 Daher ist der Schluss zu ziehen, dass die Kommission nicht über hinreichend ernsthafte Indizien für den Verdacht verfügte, dass die Klägerin auf anderen Strecken als der Strecke Prag–Ostrava Verdrängungspreise anbiete. 90 Im Übrigen bestätigt die Kommission diese Schlussfolgerung selbst, zumindest implizit, wenn sie die Wichtigkeit der Informationen über andere Strecken für die Prüfung des Falles der Strecke Prag–Ostrava betont. 91 Jedenfalls ermöglicht es letztere Argumentation, auch wenn man davon ausgeht, dass sie begründet ist, der Kommission nicht, im angefochtenen Beschluss zu behaupten, dass sie über Informationen verfügt habe, wonach die Klägerin „für bestimmte Eisenbahnstrecken, insbesondere (aber nicht nur) für die Strecke Prag–Ostrava“, Verdrängungspreise angeboten habe, obwohl sie nur für letztere Strecke über hinreichend ernsthafte Indizien verfügte. – Zum Zeitraum vor 2011 92 Insoweit ergibt sich aus der Akte, dass die wichtigste Mitbewerberin der Klägerin, RegioJet, erst im September 2011 begonnen hat, die Strecke Prag–Ostrava zu bedienen und dass die tschechische Wettbewerbsbehörde erst seit diesem Zeitpunkt das angeblich missbräuchliche Verhalten der Klägerin auf dieser Strecke prüft. 93 Gleichwohl hat die Kommission in ihrer Antwort auf die prozessleitenden Maßnahmen des Gerichts ein mit dem 4. Oktober 2010 datiertes Dokument vorgelegt. 94 Nach Ansicht der Klägerin enthält dieses Dokument, nämlich eine Beschwerde der RegioJet, nichts Relevantes. Es handle sich bloß um Spekulationen Letzterer. 95 Es ist jedoch festzustellen, dass das von der Kommission vorgelegte Dokument zwar nur eine von einer Mitbewerberin der Klägerin eingelegte Beschwerde ist, dass es jedoch kohärent formuliert ist und für den Zeitraum vor 2011 das gleiche Verhalten rügt, für das die Kommission für den Zeitraum ab 2011 über hinreichend ernsthafte Indizien verfügte. 96 Wenngleich es im Übrigen zutrifft, dass die wichtigste Mitbewerberin der Klägerin, RegioJet, erst 2011 begann, die Strecke Prag–Ostrava zu befahren, und die zweite, LEO Express, erst im Jahr 2012, schließt dies an sich die Möglichkeit eines missbräuchlichen Verhaltens der Klägerin vor diesem Zeitpunkt nicht aus. Es kann nämlich vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass ein Unternehmen in beherrschender Stellung, um gegen neue Mitbewerber gewappnet zu sein, nicht auf den Eintritt des Mitbewerbers auf den fraglichen Markt wartet, sondern vor diesem Eintritt tätig wird, um dies zu verhindern oder zu erschweren. 97 Unter diesen Umständen konnte die Kommission im angefochtenen Beschluss den Zeitraum „zumindest seit 2011“ als wahrscheinlichen Zeitraum der mutmaßlichen Zuwiderhandlung anführen. – Zwischenergebnis 98 Nach alledem ist der Schluss zu ziehen, dass die Kommission zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses nicht über hinreichend ernsthafte Indizien für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV durch die Klägerin verfügte, die in einer Form erfolgte, die nichts mit der angeblichen Praxis von Verdrängungspreisen zu tun hatte, oder die andere Strecken als die Strecke Prag–Ostrava betraf. Hingegen führte sie zu Recht als wahrscheinlichen Zeitraum für die fragliche Zuwiderhandlung den Zeitraum an, der „zumindest“ im Jahr 2011 begann. Ergebnis betreffend den zweiten und den dritten Klagegrund 99 Unter diesen Umständen ist dem zweiten und den dritten Klagegrund der vorliegenden Klage teilweise stattzugeben und der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären, soweit die behauptete Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV auf anderen Strecken als der Strecke Prag–Ostrava und andere Formen der Zuwiderhandlung als die mutmaßliche Praxis von Verdrängungspreisen betrifft. 100 Im Licht dieses Ergebnisses sind nun die anderen Klagegründe zu prüfen. Zum ersten Klagegrund: Willkürlicher und unverhältnismäßiger Charakter des angefochtenen Beschlusses 101 Die Klägerin macht geltend, der angefochtene Beschluss stelle einen willkürlichen und unverhältnismäßigen Eingriff dar. 102 Die Kommission habe mehrere Tausend Seiten von Beweisen aus dem Verfahren vor der tschechischen Wettbewerbsbehörde zur Verfügung gehabt. Zudem habe diese bereits selbst eine überraschende Nachprüfung am Sitz der Klägerin durchgeführt. Im Übrigen habe die Klägerin mit dieser Behörde während des von ihr durchgeführten Verwaltungsverfahrens bestmöglich zusammengearbeitet. Folglich sei die für die Untersuchung der Kommission entscheidende Sachlage detailliert in der Akte dieser Behörde protokolliert und habe die Kommission nicht erwarten können, bei der fraglichen Nachprüfung zusätzliche relevante Beweise zu finden. 103 Sodann sei es der Klägerin möglich gewesen, das gleiche Ergebnis auf weniger einschneidende Art und Weise zu erreichen, beispielsweise durch ein Auskunftsverlangen. 104 Darüber hinaus sei das fragliche Verhalten bereits Gegenstand zweier von den beiden Mitbewerberinnen RegioJet und LEO Express eingeleiteter Gerichtsverfahren. 105 Schließlich verletze der angefochtene Beschluss den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da der Gegenstand der Nachprüfung zu weit gefasst sei. 106 Die Kommission beantragt, diesen Klagegrund zurückzuweisen. 107 Der erste Teil dieses Klagegrundes, mit dem der willkürliche Charakter des angefochtenen Beschlusses gerügt wird, ist von vornherein zurückzuweisen. 108 Aus der Rechtsprechung ergibt sich nämlich, dass ein Nachprüfungsbeschluss nur willkürlich ist, wenn er ohne Vorliegen von Tatsachen, die eine Nachprüfung rechtfertigen könnten, erlassen worden ist. Dies ist nicht der Fall, wenn er auf die Erlangung von Unterlagen gerichtet ist, die erforderlich sind, um die Richtigkeit und die Tragweite einer bestimmten Sach- und Rechtslage zu überprüfen, in Bezug auf die die Kommission bereits über hinreichend ernsthafte Indizien für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verfügt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. November 2012, Nexans France und Nexans/Kommission, T‑135/09, EU:T:2012:596, Rn. 43 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 109 Allerdings ergibt sich aus der Prüfung des zweiten und des dritten Klagegrundes, dass die Kommission zum einen über hinreichend ernsthafte Indizien für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV verfügte, die in der Praxis von Verdrängungspreisen auf der Strecke Prag–Ostrava zumindest seit 2011 bestand, und dass zum anderen der angefochtene Beschluss insoweit für nichtig zu erklären ist, als er andere Formen von Zuwiderhandlungen gegen Art. 102 AEUV und andere Strecken betrifft, da insoweit hinreichend ernsthafte Indizien fehlten. 110 Unter diesen Umständen hat der angefochtene Beschluss keinen willkürlichen Charakter. 111 Der erste Teil des ersten Klagegrundes ist daher zurückzuweisen. 112 Was den zweiten Teil des ersten Klagegrundes angeht, mit dem die Unverhältnismäßigkeit des angefochtenen Beschlusses gerügt wird, ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen dürfen (Art. 5 Abs. 4 EUV). 113 Daher dürfen nach diesem Grundsatz die Handlungen der Unionsorgane nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. Urteil vom 6. September 2013, Deutsche Bahn u. a./Kommission, T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, Rn. 192 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 114 Die von der Kommission zu treffende Wahl zwischen einer Nachprüfung durch schlichten Auftrag oder Auskunftsverlangen und einer durch Beschluss angeordneten Nachprüfung hängt allerdings nicht von Umständen wie dem besonderen Ernst der Lage, der außerordentlichen Dringlichkeit oder der Notwendigkeit absoluter Geheimhaltung ab, sondern von den Erfordernissen einer den Besonderheiten des Einzelfalls angemessenen Untersuchung. Folglich verletzt ein Nachprüfungsbeschluss nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn er es der Kommission nur erlauben soll, die nötigen Anhaltspunkte für die Beurteilung der Frage einer Verletzung des Vertrags zusammenzutragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2013, Deutsche Bahn u. a./Kommission, T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, Rn. 193 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 115 Es ist grundsätzlich Sache der Kommission, zu beurteilen, ob eine Auskunft zur Ermittlung einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln erforderlich ist; selbst wenn ihr hierfür bereits Indizien oder gar Beweise vorliegen, kann sie daher zu der Annahme berechtigt sein, dass die Anordnung zusätzlicher Nachprüfungen erforderlich ist, um es ihr zu ermöglichen, die Zuwiderhandlung oder ihre Dauer genauer zu bestimmen (vgl. Urteil vom 6. September 2013, Deutsche Bahn u. a./Kommission, T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, Rn. 194 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 116 Daher kann das Argument der Klägerin nicht greifen, wonach die Kommission unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit weniger einschneidende Mittel, wie ein Auskunftsverlangen nach Art. 18 der Verordnung Nr. 1/2003, hätte anwenden müssen, und zwar umso weniger, als unter den Umständen des vorliegenden Falles die Beurteilung des Verhaltens der Klägerin offensichtlich von Informationen abhängt, die der Kommission sicherlich nicht freiwillig übermittelt worden wären und die sie sich daher nicht anders als durch eine Nachprüfung verschaffen konnte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. März 2007, France Télécom/Kommission, T‑340/04, EU:T:2007:81, Rn. 150 und 153, sowie vom 12. Juli 2007, CB/Kommission, T‑266/03, nicht veröffentlicht, EU:T:2007:223, Rn. 65). 117 Soweit der angefochtene Beschluss zum Teil auf Informationen beruht, die in der Akte der tschechischen Wettbewerbsbehörde enthalten sind, die das gleiche Verhalten der Klägerin untersucht und an sie mehrere Auskunftsverlangen gestellt hatte, ist es im Übrigen wahrscheinlich, dass die Akte dieser Behörde bereits alle Informationen enthielt, die auf diesem Wege erlangt werden konnten. 118 Im Licht der insbesondere oben in Rn. 115 angeführten Rechtsprechung kann auch das Vorbringen der Klägerin nicht greifen, wonach sich die Kommission mit den Informationen hätte zufriedengeben müssen, die in der Akte der tschechischen Wettbewerbsbehörde enthalten sind. 119 Was das Argument angeht, dass das gleiche Verhalten der Klägerin bereits Gegenstand einer Verwaltungsuntersuchung und zweier Gerichtsverfahren auf nationaler Ebene sei, genügt der Hinweis, dass sich nach der Rechtsprechung aus den Bestimmungen der Verordnung Nr. 1/2003 nicht herleiten lässt, dass der bloße Umstand, dass eine nationale Wettbewerbsbehörde Ermittlungen über besondere Tatsachen eingeleitet hat, die Kommission unmittelbar daran hindert, in dem betreffenden Fall tätig zu werden oder sich im Anfangsstadium dafür zu interessieren. Ganz im Gegenteil können diese beiden Behörden zumindest im Anfangsstadium wie bei den Ermittlungen nebeneinander tätig werden und behält die Kommission die Möglichkeit, ein Verfahren zum Erlass eines Beschlusses einzuleiten, selbst wenn eine nationale Behörde bereits in dem Fall tätig ist. Erst recht muss die Kommission in der Lage sein, eine Nachprüfung vorzunehmen, da eine Entscheidung, durch die eine Nachprüfung angeordnet wird, nur eine Handlung zur Vorbereitung der Sachbehandlung des Falles ist, die keine förmliche Einleitung des Verfahrens im Sinne von Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2007, France Télécom/Kommission, T‑340/04, EU:T:2007:81, Rn. 129 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dieser Grundsatz wurde in Fällen anerkannt, in denen die nationale Wettbewerbsbehörde die Art. 101 oder 102 AEUV angewandt hat. Er gilt erst recht in Fällen, in denen die von der nationalen Wettbewerbsbehörde durchgeführte Untersuchung nur auf nationalem Recht beruht. Genau dies trifft hier zu. 120 Ebenso ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung, dass die Kommission bei der Erfüllung der ihr durch den Vertrag zugewiesenen Aufgabe nicht an eine Entscheidung gebunden sein kann, die ein nationales Gericht in Anwendung der Art. 101 Abs. 1 und Art. 102 AEUV erlässt. Sie ist somit befugt, jederzeit Einzelentscheidungen zur Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zu treffen, auch wenn eine Vereinbarung oder Verhaltensweise bereits Gegenstand einer Entscheidung eines nationalen Gerichts ist und der von der Kommission ins Auge gefasste Beschluss dazu im Widerspruch steht (vgl. Urteil vom 6. September 2013, Deutsche Bahn u. a./Kommission, T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, Rn. 200 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 121 Folglich können auch die laufenden Verfahren vor den tschechischen Gerichten die Kommission nicht daran hindern, eine überraschende Nachprüfung durchzuführen, wie jene, die mit dem angefochtenen Beschluss angeordnet wird. 122 Im Übrigen ist hinsichtlich der oben in Rn. 8 erwähnten Entscheidung des Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag) vom 10. Dezember 2015 festzustellen, dass der angefochtene Beschluss nicht im Widerspruch zu dieser Entscheidung steht. Mit seiner Entscheidung hat der Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag) die Schadensersatzklage der LEO Express gegen die Klägerin mit der Begründung abgewiesen, dass LEO Express den Kausalzusammenhang zwischen dem erlittenen Schaden und dem angeblich wettbewerbswidrigen Verhalten der Klägerin nicht nachgewiesen habe. Jedoch war es nach dieser Feststellung nicht mehr notwendig, die Frage des wettbewerbswidrigen Charakters des Verhaltens Letzterer zu behandeln und daher hat der Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag) dies auch nicht getan. 123 Was das Vorbringen der Klägerin zum Urteil vom 25. November 2014, Orange/Kommission (T‑402/13, EU:T:2014:991), angeht, in dem das Gericht festgestellt hat, dass die Untersuchung der im Besitz der Behörde befindlichen Akte keine Alternative zum Rückgriff auf eine Nachprüfungsmaßnahme darstellte, weil die Behörde keine Nachprüfung in den Räumlichkeiten des betreffenden Unternehmens durchgeführt hatte und weil ihre Entscheidung somit nur auf der Grundlage von Informationen getroffen worden war, die von der Klägerin freiwillig herausgegeben worden waren, ist anzumerken, dass das Gericht diese Überlegung angestellt hat, um darüber hinwegzukommen, dass sich die Kommission in dieser Rechtssache für eine Nachprüfungsmaßnahme entschieden hatte, ohne vorher die Auskünfte zu überprüfen, die die nationale Wettbewerbsbehörde im Hinblick auf ähnliche Verhaltensweisen hatte einholen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. November 2014, Orange/Kommission, T‑402/13, EU:T:2014:991, Rn. 55 und 56). Im vorliegenden Fall stellt das Gericht jedoch fest, dass die Kommission Einsicht in die Akten der tschechischen Wettbewerbsbehörde genommen und erst danach den angefochtenen Beschluss erlassen hat. 124 Was schließlich die Rüge betrifft, dass der Gegenstand der fraglichen Nachprüfung im angefochtenen Beschluss zu weit gefasst gewesen sei, ist anzumerken, dass dies bereits im Rahmen des zweiten und dritten Klagegrundes geprüft worden ist und dass nach Abschluss dieser Prüfung der Schluss gezogen worden ist, dass der angefochtene Beschluss insoweit für nichtig zu erklären ist, als er andere Strecken als die Strecke Prag–Ostrava und ein anderes Verhalten als die angebliche Praxis von Verdrängungspreisen betrifft. 125 Was hingegen den Wortlaut des angefochtenen Beschlusses betrifft, wonach der Zeitraum, im Laufe dessen die Zuwiderhandlung begangen worden sei, der „zumindest seit 2011“ gewesen sei, hat das Gericht im Rahmen der Prüfung des zweiten und dritten Klagegrundes festgestellt, dass die Kommission über Indizien nicht nur für den Zeitraum ab 2011, sondern auch für den Zeitraum vor 2011 verfügte. 126 Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die Kommission nicht verpflichtet ist, den Zeitraum anzugeben, in dem die Zuwiderhandlung begangen worden sein soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2013, Deutsche Bahn u. a./Kommission, T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, Rn. 170 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 127 Unter diesen Umständen kann der angefochtene Beschluss nicht mit der Begründung als unverhältnismäßig angesehen werden, dass der Gegenstand der Nachprüfung zu weit gefasst sei. 128 Folglich ist auch der zweite Teil des ersten Klagegrundes und somit dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen. Zum vierten Klagegrund: Fehlende Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten und fehlende beherrschende Stellung der Klägerin auf dem Binnenmarkt oder einem erheblichen Teil desselben 129 Nach Ansicht der Klägerin war die Kommission zum Erlass des angefochtenen Beschlusses und zur Durchführung der Nachprüfung nicht befugt. Da die Strecke Prag–Ostrava mit einer Länge von 356 Kilometern auf der Ebene des europäischen Eisenbahnnetzes vernachlässigbar sei, sei das angeblich wettbewerbswidrige Verhalten der Klägerin nicht geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen. Zudem habe die Klägerin keine beherrschende Stellung auf dem Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben. Angesichts seiner marginalen Bedeutung auf europäischer Ebene könne der Eisenbahnverkehr auf der Strecke Prag–Ostrava nicht als wesentlicher Teil des Binnenmarkts angesehen werden. 130 Die Klägerin fügt hinzu, dass dieser Klagegrund den zweiten Klagegrund vervollständige und umgekehrt, insbesondere was die geografische Tragweite der fraglichen Nachprüfung betreffe. 131 Die Kommission beantragt, diesen Klagegrund zurückzuweisen. 132 Nach Art. 102 AEUV ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten. 133 Insoweit ist vorab darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzung, wonach eine Vereinbarung oder eine wettbewerbswidrige Praxis nur dann verboten ist, wenn sie geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, den Geltungsbereich des Unionsrechts von dem des Rechts der Mitgliedstaaten abgrenzen soll. Nur soweit eine Vereinbarung oder eine Praxis den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen vermag, unterliegt die durch sie hervorgerufene Wettbewerbsstörung den unionsrechtlichen Verboten; andernfalls fällt sie nicht darunter (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 1966, Consten und Grundig/Kommission, 56/64 und 58/64, EU:C:1966:41, S. 389). 134 Insbesondere geht schon aus dem Titel der Verordnung Nr. 1/2003 hervor, dass die Befugnisse, die der Kommission durch die Verordnung übertragen werden, die Durchführung der in den Art. 101 und 102 AEUV niedergelegten Wettbewerbsregeln zum Gegenstand haben. Diese beiden Artikel untersagen bestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen, soweit sie geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, und sofern sie eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt bezwecken oder bewirken. Daher kann die Kommission ihre Nachprüfungsbefugnisse nur für die Aufdeckung solcher Verhaltensweisen einsetzen (Urteil vom 14. November 2012, Nexans France und Nexans/Kommission, T‑135/09, EU:T:2012:596, Rn. 99). 135 Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung behauptet die Kommission zu Unrecht, dass die Voraussetzung, wonach eine Vereinbarung oder eine wettbewerbswidrige Praxis nur dann verboten sei, wenn sie geeignet sei, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, nur Sachaspekte betreffe, nämlich die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines möglichen endgültigen Beschlusses der Kommission, und dass sie daher nicht für eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Beschlusses in Betracht komme. 136 Mithin ist zu prüfen, ob diese Voraussetzung (im Folgenden: erste Voraussetzung) in Bezug auf die vermutete Zuwiderhandlung erfüllt ist, und zwar unter Berücksichtigung der Feststellung im Rahmen der Prüfung des zweiten und dritten Klagegrundes, wonach die Kommission nicht über hinreichend ernsthafte Indizien für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln auf anderen Strecken als der Strecke Prag–Ostrava verfügte. 137 Zudem ist angesichts der Tatsache, dass es sich bei der von der Kommission im vorliegenden Fall vermuteten Zuwiderhandlung um eine Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV handelt, auch die Voraussetzung zu prüfen, wonach die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben verboten ist (im Folgenden: zweite Voraussetzung). 138 Zur ersten Voraussetzung ist vorab darauf hinzuweisen, dass zwar Verhaltensweisen, deren Auswirkungen sich auf das Gebiet eines einzigen Mitgliedstaats beschränken, unter den Geltungsbereich der nationalen Rechtsordnung und nicht unter den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Mai 1979, Hugin Kassaregister und Hugin Cash Registers/Kommission, 22/78, EU:C:1979:138, Rn. 17), dass jedoch dann, wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen Konkurrenten den Zugang zum Markt verwehrt, der Umstand, dass sich dieses Verhalten auf das Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats beschränkt, keine Rolle spielt, wenn es Auswirkungen auf die Handelsströme und auf den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts haben kann (Urteil vom 9. November 1983, Nederlandsche Banden‑Industrie-Michelin/Kommission, 322/81, EU:C:1983:313, Rn. 103). 139 Im Übrigen verlangt Art. 102 AEUV nicht den Nachweis, dass das missbräuchliche Verhalten den Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar beeinträchtigt hat, sondern den Nachweis, dass dieses Verhalten geeignet ist, eine derartige Wirkung zu entfalten (Urteil vom 9. November 1983, Nederlandsche Banden‑Industrie-Michelin/Kommission, 322/81, EU:C:1983:313, Rn. 104). 140 Ein Beschluss, eine Vereinbarung oder eine Verhaltensweise kann den Handel zwischen Mitgliedstaaten nur dann beeinträchtigen, wenn sich anhand einer Gesamtheit objektiver rechtlicher oder tatsächlicher Umstände mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lässt, dass sie unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell die Handelsströme zwischen Mitgliedstaaten in einer Weise beeinflussen, die die Verwirklichung eines einheitlichen Marktes zwischen den Mitgliedstaaten hemmen könnte (vgl. Urteil vom 16. April 2015, Prezes Urzędu Komunikacji Elektronicznej und Telefonia Dialog, C‑3/14, EU:C:2015:232, Rn. 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 141 Im vorliegenden Fall ist es zwischen den Parteien erstens unstreitig, dass die Strecke Prag–Ostrava als eine der wichtigsten Strecken der Tschechischen Republik gilt, insbesondere deshalb, weil es keine direkte Autobahn zwischen Prag und Ostrava, einer Stadt, die etwa zehn Kilometer von der polnischen Grenze und einige Dutzend Kilometer von der slowakischen Grenze entfernt liegt, gibt, und zweitens, dass die konkurrierenden Transportunternehmen auf der Strecke Prag–Ostrava auch in anderen Mitgliedstaaten, vor allem in der Slowakischen Republik, tätig sind, und drittens, dass die Strecke Prag–Ostrava insbesondere zu den in diesen Mitgliedstaat führenden Strecken konkurrierender Transportunternehmen gehört. 142 Es ist festzustellen, dass in einem solchen Zusammenhang ein wettbewerbswidriges Verhalten wie jenes, das die Kommission im vorliegenden Fall vermutet, offensichtlich geeignet ist, Auswirkungen auf die Handelsströme und auf den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarkts zu haben. Ein solcher Missbrauch kann nämlich die wirtschaftliche Stellung von konkurrierenden Transportunternehmen, die in mehreren Mitgliedstaaten tätig sind, beeinträchtigen und daher den Wettbewerb nicht nur auf der Strecke Prag–Ostrava in der Tschechischen Republik, sondern zumindest indirekt auch auf breiterer Ebene in Mitteleuropa, insbesondere in der Slowakei, beeinträchtigen. 143 Zwar wäre, wäre die mutmaßliche Zuwiderhandlung, wie die Klägerin vorträgt, auf den fünf Kilometer langen Abschnitt begrenzt, der Choceň (Tschechische Republik) mit Brandýs nad Orlicí (Tschechische Republik) verbindet und Teil der Strecke Prag–Ostrava ist, ihre Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten wahrscheinlich gering. Die vermeintliche Zuwiderhandlung ist jedoch nicht auf diesen Abschnitt begrenzt. Sie erstreckt sich auf die gesamte Strecke Prag–Ostrava mit einer Länge von 356 Kilometern. 144 Daraus folgt, dass die erste Voraussetzung erfüllt ist. 145 Was die zweite Voraussetzung angeht, genügt der Hinweis, dass es zwischen den Parteien unstreitig ist, dass die Klägerin insbesondere auf den Märkten für die Bereitstellung von Personenbeförderungsdiensten und für die Bereitstellung von Leistungen der Verwaltung der Eisenbahninfrastruktur in der Tschechischen Republik eine beherrschende Stellung hat (zweiter Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses). 146 In der Rechtsprechung wird die zweite Voraussetzung auch dann als erfüllt angesehen, wenn sich die beherrschende Stellung des betreffenden Unternehmens auf ein Gebiet innerhalb eines Mitgliedstaats (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2001, Ambulanz Glöckner, C‑475/99, EU:C:2001:577, Rn. 38) oder auf einen Hafen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 1991, Merci convenzionali porto di Genova, C‑179/90, EU:C:1991:464, Rn. 15) beschränkt. 147 Diese Voraussetzung ist erst recht als erfüllt anzusehen, wenn sich die beherrschende Stellung des betreffenden Unternehmens auf das gesamte Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats wie die Tschechische Republik erstreckt. 148 Im Übrigen irrt die Klägerin, wenn sie davon ausgeht, dass der Schienenverkehr auf der Strecke Prag–Ostrava einen wesentlichen Teil des Binnenmarkts ausmachen müsse. Für die Anwendbarkeit von Art. 102 AEUV müssen nämlich zwei verschiedene Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein. Zum einen muss das missbräuchliche Verhalten geeignet sein, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Zum anderen muss der Urheber des missbräuchlichen Verhaltens eine beherrschende Stellung auf dem Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben haben. Daraus folgt, dass Art. 102 AEUV auch dann anwendbar ist, wenn ein Unternehmen, das eine beherrschende Stellung auf dem Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben hat, diese beherrschende Stellung nur auf einem Segment des Marktes missbräuchlich ausübt, das keinen wesentlichen Teil des Binnenmarkts darstellt, jedoch unter der Voraussetzung, dass dieser Missbrauch geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass letztere Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt ist. 149 Die zweite Voraussetzung ist daher auch erfüllt. 150 Daher ist der vierte Klagegrund zurückzuweisen. Zum fünften Klagegrund: Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes 151 Die Klägerin macht geltend, die Tatsache, dass die tschechische Wettbewerbsbehörde das gleiche Verhalten seit 2011 untersuche, habe bei ihr ein berechtigtes Vertrauen entstehen lassen, dass die Untersuchung von dieser Behörde geführt werde. 152 Dieses berechtigte Vertrauen sei durch den Wortlaut der Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden (ABl. 2004, C 101, S. 43) und durch die Tatsache verstärkt worden, dass die Kommission zwischen 2013, dem Zeitpunkt, zu dem sie die Beschwerde erhalten habe, aufgrund deren sie den angefochtenen Beschluss erlassen habe, und 2016, dem Zeitpunkt der Durchführung der fraglichen Nachprüfung, völlig untätig gewesen sei. 153 Die Kommission tritt diesem Vorbringen entgegen. 154 Insoweit kann aus den Vorschriften der Verordnung Nr. 1/2003 nicht abgeleitet werden, dass die Kommission unmittelbar daran gehindert ist, in einem Fall tätig zu werden oder sich im Anfangsstadium dafür zu interessieren, in dem eine nationale Wettbewerbsbehörde Ermittlungen über einen besonderen Sachverhalt eingeleitet hat. Ganz im Gegenteil können diese beiden Behörden zumindest im Anfangsstadium wie bei den Ermittlungen nebeneinander tätig werden und behält die Kommission die Möglichkeit, ein Verfahren zum Erlass eines Beschlusses einzuleiten, auch wenn eine nationale Behörde bereits in dem Fall tätig ist. Erst recht muss die Kommission in der Lage sein, eine Nachprüfung vorzunehmen, da ein Beschluss, durch den eine Nachprüfung angeordnet wird, nur eine Handlung zur Vorbereitung der Sachbehandlung des Falles ist, die keine förmliche Einleitung des Verfahrens im Sinne von Art. 11 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2007, France Télécom/Kommission, T‑340/04, EU:T:2007:81, Rn. 129 und die dort angeführte Rechtsprechung). 155 Zudem kann die Kommission nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich nicht an eine Entscheidung gebunden sein, die ein nationales Gericht oder eine nationale Behörde in Anwendung der Art. 101 Abs. 1 und Art. 102 AEUV erlässt. Sie ist somit befugt, jederzeit Einzelentscheidungen zur Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zu treffen, auch wenn eine Vereinbarung oder Verhaltensweise bereits Gegenstand einer Entscheidung eines nationalen Gerichts ist und der von der Kommission ins Auge gefasste Beschluss dazu im Widerspruch steht (vgl. Urteil vom 25. November 2014, Orange/Kommission, T‑402/13, EU:T:2014:991, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). 156 Folglich kann die von der tschechischen Wettbewerbsbehörde durchgeführte Untersuchung jedenfalls bei der Klägerin kein legitimes Vertrauen entstehen lassen, dass die Kommission nicht tätig werden würde. 157 Zudem ist festzustellen, dass die tschechische Wettbewerbsbehörde ihre Untersuchung nicht auf der Grundlage des Unionsrechts, sondern auf der Grundlage des nationalen Rechts durchführt. 158 Die Tatsache, dass die Kommission den angefochtenen Beschluss erst im Jahr 2016 erlassen hat, während die tschechische Wettbewerbsbehörde ihre Untersuchung seit 2011 durchgeführt hat, und dass die Kommission eine Beschwerde über das Verhalten der Klägerin im Jahr 2013 erhalten hat, entkräftet nicht die Schlussfolgerung, dass die Klägerin sich im vorliegenden Fall nicht auf ein berechtigtes Vertrauen berufen kann. 159 Insoweit genügt der Hinweis, dass die Kommission das Recht hat, den ihr vorliegenden Beschwerden unterschiedliche Priorität zuzuweisen (vgl. Urteil vom 14. September 2016, Trajektna luka Split/Kommission, T‑57/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:470, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). 160 Was die Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Wettbewerbsbehörden betrifft, so ist mit der Kommission anzumerken, dass sie nur dann anwendbar ist, wenn die nationale Wettbewerbsbehörde Art. 101 oder 102 AEUV anwendet. Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Daher konnte auch diese Bekanntmachung bei der Klägerin kein berechtigtes Vertrauen entstehen lassen. 161 Daraus folgt, dass der fünfte Klagegrund zurückzuweisen ist. Zum sechsten Klagegrund: Verletzung des Rechts auf Achtung der Privatsphäre und der Verteidigungsrechte 162 Nach Ansicht der Klägerin ist keine der drei Voraussetzungen erfüllt, damit der Eingriff in das durch Art. 7 der Charta und durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht durch den angefochtenen Beschluss als gerechtfertigt angesehen werden kann. So sei der Eingriff gesetzlich nicht vorgesehen, verfolge er keinen legitimen Zweck, insbesondere aufgrund des Fehlens von hinreichend ernsthaften Indizien für den Verdacht einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln durch die Klägerin, und sei er in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig, insbesondere angesichts der von der tschechischen Wettbewerbsbehörde durchgeführten Untersuchung und der beiden laufenden Gerichtsverfahren. 163 Zudem verletze der angefochtene Beschluss das durch Art. 48 der Charta und durch Art. 6 EMRK gewährleistete Recht, insbesondere das Recht der Klägerin, in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden. Was die Art der Beschuldigung betreffe, sei der angefochtene Beschluss nämlich zu weit gefasst und was den Grund der Beschuldigung betreffe, enthalte er keine konkreten Beweise. 164 Die Kommission beantragt, diesen Klagegrund zurückzuweisen. Zum ersten Teil des sechsten Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 7 der Charta und gegen Art. 8 EMRK 165 Nach Art. 7 der Charta hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation. 166 Insoweit sieht Art. 52 Abs. 1 der Charta vor, dass jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten muss. Zudem dürfen Einschränkungen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 167 In Bezug auf Art. 8 EMRK sieht Art. 52 Abs. 3 der Charta vor: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird.“ 168 Auch die Erläuterungen zur Charta (ABl. 2007, C 303, S. 17) stellen in Bezug auf Art. 7 der Charta klar: „Nach Artikel 52 Absatz 3 der Charta haben diese Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die Rechte aus dem entsprechenden Artikel der EMRK. Ihre möglichen legitimen Einschränkungen sind daher diejenigen, die der genannte Artikel 8 gestattet: ‚… 2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.‘“ 169 Da sich aus der Rechtsprechung ergibt, dass die Ausübung der der Kommission durch Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 übertragenen Nachprüfungsbefugnisse bei einem Unternehmen einen offensichtlichen Eingriff in dessen Recht auf Achtung seiner Privatsphäre, seiner Räumlichkeiten und seiner Korrespondenz darstellt (Urteil vom 6. September 2013, Deutsche Bahn u. a./Kommission, T‑289/11, T‑290/11 und T‑521/11, EU:T:2013:404, Rn. 65), ist daher zu prüfen, ob der angefochtene Beschluss die in Art. 52 Abs. 1 der Charta und in Art. 8 Abs. 2 EMRK festgelegten Bedingungen erfüllt. 170 Nach diesen Bedingungen muss die Einschränkung zunächst gesetzlich vorgesehen sein. Die betreffende Maßnahme muss also eine Rechtsgrundlage haben (vgl. entsprechend Urteil vom 28. Mai 2013, Trabelsi u. a./Rat, T‑187/11, EU:T:2013:273, Rn. 79 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 171 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem angefochtenen Beschluss, dass er auf der Grundlage von Art. 20 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1/2003 erlassen wurde, wobei diese Bestimmung die Befugnis der Kommission zur Anordnung von Nachprüfungen vorsieht, zu deren Duldung die Unternehmen und Unternehmensvereinigungen verpflichtet sind. 172 Die Bedingung, dass jeder Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens „gesetzlich vorgesehen“ sein muss, ist somit erfüllt. 173 Was sodann die Bedingung betrifft, dass unter Achtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Einschränkungen nur vorgenommen werden dürfen, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen, ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die der Kommission in Art. 20 der Verordnung Nr. 1/2003 eingeräumten Befugnisse ihr die Erfüllung des ihr in den Verträgen erteilten Auftrags ermöglichen, über die Einhaltung der Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt zu wachen. Diese Regeln sollen Wettbewerbsverfälschungen zum Schaden des öffentlichen Interesses, der einzelnen Unternehmen und der Verbraucher vermeiden helfen. Die Ausübung der der Kommission in der Verordnung Nr. 1/2003 übertragenen Befugnisse dient der Aufrechterhaltung der vom Vertrag gewollten Wettbewerbsordnung, die Unternehmen zu achten haben. Somit wird das durch Art. 7 der Charta und Art. 8 EMRK verliehene Recht nicht dadurch gefährdet, dass der Kommission in der Verordnung Nr. 1/2003 Befugnisse zur Durchführung von Nachprüfungen ohne vorherige Mitteilung eingeräumt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juni 1980, National Panasonic/Kommission, 136/79, EU:C:1980:169, Rn. 20). 174 Unter Berücksichtigung der Analyse der anderen Klagegründe, auf die die Klägerin in diesem Zusammenhang verweist, entspricht der angefochtene Beschluss, der auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1/2003 erlassen wurde, daher auch den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen. 175 Was schließlich die Frage angeht, ob der angefochtene Beschluss über das für die Erreichung des oben in Rn. 173 genannten Ziels erforderliche Maß hinausgeht, genügt der Hinweis, dass diese Frage bereits im Rahmen des ersten Klagegrundes behandelt worden ist. Am Ende dieser Beurteilung wurde der Schluss gezogen, dass der angefochtene Beschluss unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Prüfung des zweiten und dritten Klagegrundes sehr wohl unter Achtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erlassen worden war. 176 Unter diesen Umständen ist der erste Teil des sechsten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen Art. 7 der Charta und gegen Art. 8 EMRK gerügt wird, zurückzuweisen. Zum zweiten Teil des sechsten Klagegrundes: Verstoß gegen Art. 48 der Charta und gegen Art. 6 EMRK 177 Nach Art. 48 Abs. 2 der Charta „[wird j]edem Angeklagten die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet“. 178 In den Erläuterungen zur Charta heißt es in Bezug auf Art. 6 EMRK: „Artikel 48 entspricht Artikel 6 Absätze 2 und 3 EMRK … Nach Artikel 52 Absatz 3 hat dieses Recht dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite wie das durch die EMRK garantierte Recht.“ 179 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsverfahren nach der Verordnung Nr. 1/2003 vor der Kommission in zwei unterschiedliche, aufeinander folgende Abschnitte unterteilt ist, die jeweils einer eigenen inneren Logik folgen, nämlich einen Abschnitt der Voruntersuchung und einen kontradiktorischen Abschnitt. Der Abschnitt der Voruntersuchung, in dem die Kommission von ihren in der Verordnung Nr. 1/2003 vorgesehenen Untersuchungsbefugnissen Gebrauch macht und der bis zur Mitteilung der Beschwerdepunkte währt, soll es der Kommission ermöglichen, alle relevanten Elemente zusammenzutragen, durch die das Vorliegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsvorschriften bestätigt oder nicht bestätigt wird, und eine erste Position zur Ausrichtung und zum Gang des Verfahrens einzunehmen. Dagegen hat es der zweite Abschnitt, der sich von der Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zum Erlass der abschließenden Entscheidung erstreckt, der Kommission zu ermöglichen, sich abschließend zu der gerügten Zuwiderhandlung zu äußern (vgl. Urteil vom 8. Juli 2008, AC‑Treuhand/Kommission, T‑99/04, EU:T:2008:256, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 180 Was zum einen den Abschnitt der Voruntersuchung anbelangt, hat der Gerichtshof ausgeführt, dass dieser Abschnitt beginnt, wenn die Kommission in Ausübung der ihr durch die Art. 18 und 20 der Verordnung Nr. 1/2003 verliehenen Befugnisse Maßnahmen trifft, die mit dem Vorwurf verbunden sind, eine Zuwiderhandlung begangen zu haben, und erhebliche Auswirkungen auf die Situation der unter Verdacht stehenden Unternehmen haben. Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das betroffene Unternehmen erst zu Beginn des kontradiktorischen Abschnitts des Verwaltungsverfahrens durch die Mitteilung der Beschwerdepunkte über alle wesentlichen Gesichtspunkte informiert wird, auf die sich die Kommission in diesem Verfahrensstadium stützt, und zur Sicherstellung der wirksamen Ausübung seiner Verteidigungsrechte über ein Recht auf Zugang zu den Akten verfügt. Folglich kann das betroffene Unternehmen seine Verteidigungsrechte erst nach Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte umfassend geltend machen. Durch die Erstreckung dieser Rechte auf den Zeitraum vor Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte würde nämlich die Effizienz der von der Kommission geführten Untersuchung beeinträchtigt, da das betroffene Unternehmen schon im Abschnitt der Voruntersuchung erfahren würde, welche Informationen der Kommission bekannt sind und welche damit noch vor ihr verborgen werden können (vgl. Urteil vom 8. Juli 2008, AC‑Treuhand/Kommission, T‑99/04, EU:T:2008:256, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 181 Gewiss implizieren die von der Kommission im Abschnitt der Voruntersuchung ergriffenen Ermittlungsmaßnahmen, insbesondere die Nachprüfungsmaßnahmen und die Auskunftsverlangen gemäß den Art. 18 und 20 der Verordnung Nr. 1/2003, naturgemäß den Vorwurf einer Zuwiderhandlung und können erhebliche Auswirkungen auf die Situation der unter Verdacht stehenden Unternehmen haben (Urteil vom 8. Juli 2008, AC‑Treuhand/Kommission, T‑99/04, EU:T:2008:256, Rn. 50). Denn auch wenn das betroffene Unternehmen aus formeller Sicht während des Abschnitts der Voruntersuchung nicht den Status eines „Beschuldigten“ hat, lässt sich die Einleitung einer Untersuchung gegen dieses Unternehmen, insbesondere dadurch, dass eine es betreffende Ermittlungsmaßnahme getroffen wird, aus materieller Sicht in aller Regel nicht vom Vorliegen eines Verdachts und damit von einem implizierten Vorwurf trennen, der es rechtfertigt, dass diese Maßnahme getroffen wird (Urteil vom 8. Juli 2008, AC‑Treuhand/Kommission, T‑99/04, EU:T:2008:256, Rn. 52). Folglich muss verhindert werden, dass die Verteidigungsrechte in diesem Abschnitt des Verwaltungsverfahrens in nicht wiedergutzumachender Weise beeinträchtigt werden können, da die getroffenen Ermittlungsmaßnahmen für die Erbringung von Beweisen für rechtswidrige Verhaltensweisen von Unternehmen, die geeignet sind, deren Haftung auszulösen, von entscheidender Bedeutung sein können (Urteil vom 8. Juli 2008, AC‑Treuhand/Kommission, T‑99/04, EU:T:2008:256, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt, dass die Kommission verpflichtet ist, das betroffene Unternehmen im Stadium der ersten gegen es ergriffenen Maßnahme über Gegenstand und Zweck der laufenden Ermittlungen zu informieren. Insoweit muss die Begründung das Unternehmen insbesondere in die Lage versetzen, den Zweck und den Gegenstand der Ermittlungen nachzuvollziehen, was voraussetzt, dass die vermutete Zuwiderhandlung benannt und in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen wird, dass das Unternehmen in Bezug auf diese eventuelle Zuwiderhandlung Vorwürfen ausgesetzt sein kann, damit es die Maßnahmen, die es zu seiner Entlastung für sachdienlich hält, ergreifen und somit seine Verteidigung im kontradiktorischen Abschnitt des Verwaltungsverfahrens vorbereiten kann (Urteil vom 8. Juli 2008, AC‑Treuhand/Kommission, T‑99/04, EU:T:2008:256, Rn. 56). 182 Unter Berücksichtigung der Prüfung des zweiten und des dritten Klagegrundes, nach deren Abschluss der Schluss gezogen worden ist, dass der angefochtene Beschluss insoweit für nichtig zu erklären ist, als er andere Strecken als die Strecke Prag–Ostrava und ein anderes Verhalten als die angebliche Praxis von Preisen unter den Gestehungskosten betrifft, ist festzustellen, dass überdies die Begründung des angefochtenen Beschlusses den sich aus der Verordnung Nr. 1/2003 und der Rechtsprechung ergebenden Anforderungen genügt. 183 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass der angefochtene, im Rahmen des Abschnitts der Voruntersuchung des Verwaltungsverfahrens nach der Verordnung Nr. 1/2003 ergangene Beschluss unter Wahrung der Verteidigungsrechte der Klägerin erlassen wurde. 184 Der zweite Teil des sechsten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen Art. 48 der Charta und gegen Art. 6 EMRK gerügt wird, ist daher ebenfalls zurückzuweisen. 185 Daher ist der sechste Klagegrund zurückzuweisen. 186 Aus alledem ergibt sich, dass erstens der angefochtene Beschluss insoweit für nichtig zu erklären ist, als er andere Strecken als die Strecke Prag–Ostrava und ein anderes Verhalten als die angebliche Praxis von Preisen unter den Gestehungskosten betrifft, und dass zweitens die Klage im Übrigen abzuweisen ist. Kosten 187 Nach Art. 134 Abs. 3 der Verfahrensordnung trägt jede Partei ihre eigenen Kosten, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt. Das Gericht kann jedoch entscheiden, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint. 188 Da die angefochtene Entscheidung teilweise aufzuheben ist, ist das Gericht im vorliegenden Fall der Ansicht, dass jeder Partei ihre eigenen Kosten aufzuerlegen sind. Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Achte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Der in einem Verfahren nach Art. 20 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 erlassene Beschluss C(2016) 2417 final der Kommission vom 18. April 2016, der sich an die České dráhy, a.s. sowie an alle von dieser direkt oder indirekt kontrollierten Gesellschaften richtet und mit dem ihnen die Duldung einer Nachprüfung aufgegeben wird (Sache AT.40156 – Falcon), wird insoweit für nichtig erklärt, als er andere Strecken als die Strecke Prag–Ostrava und ein anderes Verhalten als die angebliche Praxis von Preisen unter den Gestehungskosten betrifft. 2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 3. Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten. Collins Barents Passer Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. Juni 2018. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Tschechisch.
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 30. Januar 2018.#Przedsiębiorstwo Energetyki Cieplnej sp. z o.o. gegen Europäische Chemikalienagentur.#REACH – Gebühr für die Registrierung eines Stoffes – Ermäßigung für KMU – Fehler bei der Angabe der Unternehmensgröße – Entscheidung, mit der ein Verwaltungsentgelt erhoben wird – Einstellung der Herstellung des Stoffes – Kriterien für die Berechnung des Verwaltungsentgelts – Empfehlung 2003/361/EG – Rechtssicherheit – Vertrauensschutz – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung.#Rechtssache T-625/16.
62016TJ0625
ECLI:EU:T:2018:44
2018-01-30T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62016TJ0625 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62016TJ0625 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62016TJ0625 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 16. September 2013.#Animal Trading Company (ATC) BV u. a. gegen Europäische Kommission.#Außervertragliche Haftung – Gesundheitspolizei – Schutzmaßnahmen in einer Krisensituation – Maßnahmen zum Schutz gegen die Einschleppung der hoch pathogenen Aviären Influenza aus bestimmten Drittländern – Einfuhrverbot für in ihrer natürlichen Umgebung gefangene Wildvögel – Hinreichend qualifizierte Verletzung von Rechtsvorschriften, die Einzelnen Rechte einräumen – Offenkundige und erhebliche Überschreitung der Grenzen des Ermessens – Richtlinien 91/496/EG und 92/65/EG – Vorsichtsprinzip – Sorgfaltspflicht – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T‑333/10.
62010TJ0333
ECLI:EU:T:2013:451
2013-09-16T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62010TJ0333 URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer) 16. September 2013 (*1) „Außervertragliche Haftung — Tierseuchenrecht — Sicherungsmaßnahmen in Krisensituationen — Maßnahmen zum Schutz gegen die Einschleppung der hoch pathogenen Aviären Influenza aus bestimmten Drittländern — Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel — Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen Rechtsnormen, die dem Einzelnen Rechte verleihen — Offenkundige und erhebliche Überschreitung der Grenzen des Ermessens — Richtlinien 91/496/EG und 92/65/EG — Vorsorgeprinzip — Sorgfaltspflicht — Verhältnismäßigkeit“ In der Rechtssache T‑333/10 Animal Trading Company (ATC) BV mit Sitz in Loon op Zand (Niederlande), Avicentra NV mit Sitz in Malle (Belgien), Borgstein birds and Zoofood Trading vof mit Sitz in Wamel (Niederlande), Bird Trading Company Van der Stappen BV mit Sitz in Dongen (Niederlande), New Little Bird’s Srl mit Sitz in Anagni (Italien), Vogelhuis Kloeg mit Sitz in Zevenbergen (Niederlande), Giovanni Pistone, wohnhaft in Westerlo (Belgien), vertreten durch Rechtsanwälte M. Osse und J. Houdijk, Kläger, gegen Europäische Kommission, vertreten durch F. Jimeno Fernández und B. Burggraaf als Bevollmächtigte, Beklagte, wegen Ersatzes des Schadens, der den Klägern durch den Erlass der Entscheidung 2005/760/EG der Kommission vom 27. Oktober 2005 mit Maßnahmen zum Schutz gegen die Einschleppung der hoch pathogenen Aviären Influenza bei der Einfuhr von in Gefangenschaft gehaltenen Vögeln aus bestimmten Drittländern (ABl. L 285, S. 60) in ihrer jeweils verlängerten Fassung und später der Verordnung (EG) Nr. 318/2007 der Kommission vom 23. März 2007 zur Festlegung der Veterinärbedingungen für die Einfuhr bestimmter Vogelarten in die Gemeinschaft sowie der dafür geltenden Quarantänebedingungen (ABl. L 84, S. 7) angeblich entstanden ist, erlässt DAS GERICHT (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten J. Azizi, des Richters S. Frimodt Nielsen und der Richterin M. Kancheva (Berichterstatterin), Kanzler: J. Plingers, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. November 2012 folgendes Urteil Vorgeschichte des Rechtsstreits A – Vorstellung der Kläger 1 Die Kläger – die Animal Trading Company (ATC) BV, Avicentra NV, Borgstein birds and Zoofood Trading vof, die Bird Trading Company Van der Stappen BV, New Little Bird’s Srl, Vogelhuis Kloeg und Giovanni Pistone – führen gefangene und zur Zierde in Volieren bestimmte Vögel, u. a. Psittacidae wie Papageien, Sittiche und Kakadus sowie Singvögel, in die Europäische Union ein. Sie haben ihren Sitz oder Wohnsitz in den Niederlanden, Belgien und Italien. Sie sind Mitglieder der European Association of Im- and Exporters of Birds and Live Animals (Europäischer Verband der Im- und Exporteure von Vögeln und lebenden Tieren, im Folgenden: Europäischer Vogelhändlerverband). B – Zu den Richtlinien 91/496 und 92/65 2 Am 15. Juli 1991 erließ der Rat der Europäischen Gemeinschaften auf der Grundlage von Art. 37 EG, der die Gemeinsame Agrarpolitik regelt, die Richtlinie 91/496/EWG zur Festlegung von Grundregeln für die Veterinärkontrollen von aus Drittländern in die Gemeinschaft eingeführten Tieren und zur Änderung der Richtlinien 89/662/EWG, 90/425/EWG und 90/675/EWG (ABl. L 268, S. 56). 3 Gemäß Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 ist der Erlass von Sicherungsmaßnahmen unter folgenden Voraussetzungen erlaubt: „Kommt es im Gebiet eines Drittlandes zum Ausbruch oder zur Ausbreitung einer in der Richtlinie 82/894/EWG des Rates vom 21. Dezember 1982 über die Mitteilung von Viehseuchen in der Gemeinschaft aufgeführten Krankheit oder zu einer Zoonose oder besteht die Gefahr, dass die Tiere oder die menschliche Gesundheit aufgrund einer Krankheit oder aus einem anderen Grund ernsthaft gefährdet werden könnten, oder ist dies – insbesondere aufgrund der Feststellung der Veterinärsachverständigen der Kommission – aus anderen schwerwiegenden tierseuchenrechtlichen Gründen erforderlich, so trifft die Kommission von sich aus oder auf Antrag eines Mitgliedstaats unverzüglich je nach der Schwere der Lage eine der nachstehenden Maßnahmen: — Aussetzung der Einfuhren aus dem gesamten Gebiet oder einem Teilgebiet des betreffenden Drittlandes und gegebenenfalls des Durchfuhrlandes, — Festlegung besonderer Bedingungen für die Tiere aus dem gesamten Gebiet oder einem Teilgebiet des betreffenden Drittlandes.“ 4 Ferner bestimmt Art. 18 Abs. 7 der Richtlinie 91/496, dass Entscheidungen über die Änderung, Aufhebung oder Verlängerung einer aufgrund der Absätze 1 bis 3 und 6 dieser Richtlinie erlassenen Maßnahme nach dem Ausschussverfahren des Art. 17 der Richtlinie 89/662/EWG des Rates vom 11. Dezember 1989 zur Regelung der veterinärrechtlichen Kontrollen im innergemeinschaftlichen Handel im Hinblick auf den gemeinsamen Binnenmarkt (ABl. L 395, S. 13) erlassen werden. 5 Am 13. Juli 1992 erließ der Rat die Richtlinie 92/65/EWG über die tierseuchenrechtlichen Bedingungen für den Handel mit Tieren, Samen, Eizellen und Embryonen in der Gemeinschaft sowie für ihre Einfuhr in die Gemeinschaft, soweit sie diesbezüglich nicht den spezifischen Gemeinschaftsregelungen nach Anhang A Abschnitt I der Richtlinie 90/425/EWG unterliegen (ABl. L 268, S. 54). Diese Richtlinie legt besondere Anforderungen für das Ursprungsland und den Inhaber des Ursprungsbetriebs fest, sieht Vorschriften über Veterinärbescheinigungen vor, die mit den Tieren mitzuführen sind, und legt fest, welchen Untersuchungen die Tiere unterzogen werden müssen. 6 Art. 17 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 92/65 sieht u. a. und im Wesentlichen vor, dass nur Tiere, die aus einem Drittland stammen, das in einer Liste der Drittländer oder Teile von Drittländern aufgeführt ist, die Garantien bieten, die den für den Handel innerhalb der Union geltenden Anforderungen gleichwertig sind, in die Union eingeführt werden dürfen. C – Zur Entscheidung 2000/666 7 Die Entscheidung 2000/666/EG der Kommission vom 16. Oktober 2000 zur Festlegung der Veterinärbedingungen und Veterinärbescheinigungen sowie der Quarantänebedingungen für die Einfuhr von anderen Vogelarten als Geflügel (ABl. L 278, S. 26) erlaubte bei Beachtung bestimmter Regeln, darunter der Haltung in Quarantäne während eines Zeitraums von wenigstens 30 Tagen, Einfuhren von Vögeln aus Drittländern, die Mitglieder des Internationalen Tierseuchenamts (OIE, nunmehr Weltorganisation für Tiergesundheit) sind. D – Zum ersten Gutachten der EFSA 8 Am 14. und 15. September 2005 gab die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) auf ein Ersuchen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften aus dem Jahr 2004 ein wissenschaftliches Gutachten über Tiergesundheits- und Tierschutzaspekte der Aviären Influenza (The EFSA Journal [2005] 266, 1‑21, im Folgenden: Erstes Gutachten der EFSA) ab. 9 Unter Berücksichtigung des ihr erteilten Mandats äußerte sich die EFSA in diesem Gutachten ausschließlich zum Risiko einer Infektion des Geflügels der Union mit der Aviären Influenza. 10 In der Einleitung zu ihrem Gutachten wies die EFSA darauf hin, dass die Aviäre Influenza oder Vogelgrippe bei Geflügel in zwei verschiedenen klinischen Formen, der hoch pathogenen Aviären Influenza (im Folgenden: HPAI) und der gering pathogenen Aviären Influenza, auftrete. Die HPAI werde durch Viren der Subtypen H5 und H7 verursacht, die gewisse molekulare Eigenschaften aufwiesen, die eine systemische Infektion hervorrufen könnten und bei der gering pathogenen Aviären Influenza fehlten. Das H5N1-Virus sei einer dieser die HPAI auslösenden Virensubtypen. 11 Die EFSA führte weiter aus, dass die beträchtliche Virusverbreitung, die der Aviären Influenza in Asien zum Zeitpunkt der Abgabe ihres Gutachtens zugrunde liege, der Ursprung eines Pandemievirus für den Menschen sein könne und eine ganze Reihe von Fragen aufgeworfen worden sei, um ein Mittel zur Bekämpfung der gegenwärtigen AI-Krise zu finden. Die EFSA war auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Nachweise der Ansicht, sie könne in ihrem Gutachten zwar einige Schlussfolgerungen zu bestimmten, von ihrem Mandat erfassten Fragestellungen ziehen, diese Schlussfolgerungen schlössen die Aspekte der menschlichen Gesundheit im Zusammenhang mit AI-Infektionen jedoch nicht mit ein. 12 Die EFSA wies außerdem darauf hin, dass das H5N1-Virus infolge einer ungewöhnlichen Endemiesituation dieses Virus bei Geflügel in bestimmten asiatischen Ländern kurz vor Abgabe ihres Gutachtens die Wildvögelpopulation infiziert habe. Diese epidemiologische Situation, die bisher nie aufgetreten sei, könne unvorhersehbare Folgen haben. Unter Berücksichtigung fehlender Erkenntnisse über Infektionen von HPAI-Typen bei Wildvögeln war die EFSA jedoch der Ansicht, eine Lagebeurteilung und Prognosen über zukünftige Entwicklungen könnten nicht durch zureichende wissenschaftliche Daten belegt werden. Daher sei diese Infektion infolge der mit dem H5N1-Virus verbundenen HPAI-Epidemie in Südostasien auf die ansässige und die wandernde Wildvögelpopulation übergesprungen, über die das genannte Virus in die Union gelangen könnte. Zur Klärung der Wahrscheinlichkeit und der Auswirkungen einer solchen Hypothese bedürfe es allerdings disziplinübergreifender Bemühungen. 13 Hinsichtlich des Risikos, das in Käfigen gehaltene Vögel, zu denen insbesondere Ziervögel und Heimvögel gehörten, für das Geflügel der Union darstellten, war die EFSA der Ansicht, diese Vögel könnten mit AI-Viren, einschließlich solchen des Typs H5 und H7, infiziert werden und im Fall einer Einfuhr daher ein Risiko für die Einschleppung dieser Viren in die Union darstellen. Dieses Risiko sei im Fall rechtmäßig vermarkteter Vögel durch die geltenden Rechtsvorschriften über die Einfuhr anderer Vögel als Geflügel jedoch erheblich geschmälert. E – Zur Entscheidung 2005/760 14 Am 27. Oktober 2005 erließ die Kommission die Entscheidung 2005/760/EG mit Maßnahmen zum Schutz gegen die Einschleppung der [HPAI] bei der Einfuhr von in Gefangenschaft gehaltenen Vögeln aus bestimmten Drittländern (ABl. L 285, S. 60), mit der die Einfuhr lebender Vögel, mit Ausnahme von Geflügel, in die Union ausgesetzt wurde. 15 Diese Entscheidung erging, nachdem das H5N1-Virus der HPAI bei zwei eingeführten Vögeln nachgewiesen worden war, die sich seit September 2005 in einem in Essex im Vereinigten Königreich gelegenen Quarantänezentrum befanden. Von diesen Vögeln wurde angenommen, dass sie aus Taiwan bzw. aus Surinam stammten. 16 In den Erwägungsgründen 1 und 2 der Entscheidung 2005/760 begründete die Kommission diese Aussetzung zunächst damit, dass Aviäre Influenza (Geflügelpest) eine hoch infektiöse und von hoher Mortalität gekennzeichnete Viruserkrankung von Geflügel und Vögeln sei, die schnell epidemische Ausmaße annehmen und die Tiergesundheit und öffentliche Gesundheit ernsthaft gefährden sowie die Produktivität der Geflügelwirtschaft stark beeinträchtigen könne. Darüber hinaus bestehe die Gefahr, dass der Erreger über den internationalen Handel mit anderen lebenden Vögeln als Geflügel eingeschleppt werde. Infolge des Nachweises von Erregern der HPAI bei den im Vereinigten Königreich in Quarantäne befindlichen eingeführten Vögeln war die Kommission ferner der Ansicht, es empfehle sich, die Einfuhr von Vögeln aus bestimmten gefährdeten Gebieten auszusetzen und zur Abgrenzung der betreffenden Gebiete die einschlägigen Regionalkommissionen der OIE heranzuziehen. 17 In Art. 1 Abs. 1 der Entscheidung 2005/760 heißt es: „Die Mitgliedstaaten setzen die Einfuhr folgender Erzeugnisse aus den Drittländern oder Teilen dieser Länder, die den im Anhang aufgeführten OIE-Regionalkommissionen angehören, aus: a) ‚andere lebende Vögel als Geflügel‘ im Sinne von Artikel 1 dritter Gedankenstrich der Entscheidung 2000/666/EG … …“ 18 Der Anhang der Entscheidung 2005/760 sieht vor: „Drittländer gemäß Artikel 1, die folgenden OIE-Regionalkommissionen angehören: — Afrika, — Nord- und Südamerika, — Asien, Ferner Osten und Ozeanien, — Europa, — Naher Osten.“ 19 Gemäß Art. 6 der Entscheidung 2005/760 gilt diese bis zum 30. November 2005. F – Zum Bericht der nationalen epidemiologischen Notfallgruppe des Vereinigten Königreichs 20 Am 11. November 2005 veröffentlichte die National Emergency Epidemiology Group (nationale epidemiologische Notfallgruppe, Vereinigtes Königreich) ein Dokument, den „Epidemiological Report on Avian Influenza in Birds in a Quarantine Premises in Essex“ (Epidemiologischer Bericht über Aviäre Influenza bei Vögeln in einer Quarantänestation in Essex). Nach diesem Bericht war das H5N1-Virus im Quarantänezentrum von Essex ausschließlich bei Vögeln aus Taiwan in Asien und nicht aus Surinam in Südamerika nachgewiesen worden. Der Fehler in Bezug auf Surinam sei auf eine Vertauschung der im Quarantänezentrum entnommenen Proben zurückzuführen. G – Zu den ersten vier Verlängerungsentscheidungen 21 Mit der Entscheidung 2005/862/EG vom 30. November 2005 zur Änderung der Entscheidungen 2005/759/EG und 2005/760 hinsichtlich der Maßnahmen zur Bekämpfung der Aviären Influenza bei anderen Vögeln als Geflügel (ABl. L 317, S. 19) verlängerte die Kommission die mit der Entscheidung 2005/760 getroffenen Maßnahmen bis zum 31. Januar 2006. 22 Im vierten Erwägungsgrund der Entscheidung 2005/862 begründete die Kommission diese Verlängerung damit, dass, da in bestimmten Mitgliedsländern der OIE neue Fälle von Aviärer Influenza gemeldet worden seien, die Aussetzung der Verbringung von Heimvögeln und der Einfuhr von anderen Vögeln aus bestimmten Risikogebieten verlängert werden sollte. 23 Mit Schriftsätzen vom 7. Dezember 2005 sowie vom 3. und 18. Januar 2006 wies der europäische Vogelhändlerverband die Kommission auf die Auswirkungen des Verbots, das zu einem erhöhten Risiko einer Ausbreitung der Aviären Influenza in der Union führe, insbesondere auf das Risiko der Entwicklung eines Markts für illegale Einfuhren, hin. Darüber hinaus forderte er die Kommission auf, sich mit seinen Vertretern zu treffen und keine weiteren Verlängerungen des Verbots anzuordnen. Der genannte Verband fügte seinem Schreiben vom 3. Januar 2006 ein mit „Report on the Independent Review of Avian Quarantine“ (Bericht über die unabhängige Bewertung der im Vogelsektor angeordneten Quarantänemaßnahmen) überschriebenes Dokument des Ministeriums für Umwelt, Ernährung und Angelegenheiten des ländlichen Raums der Regierung des Vereinigten Königreichs vom 7. Dezember 2005 (im Folgenden: DEFRA-Bericht) bei. 24 Mit der Entscheidung 2006/79/EG vom 31. Januar 2006 zur Änderung der Entscheidungen 2005/759/EG und 2005/760 mit Blick auf eine Verlängerung ihrer Geltungsdauer (ABl. L 36, S. 48) verlängerte die Kommission die mit der Entscheidung 2005/760 getroffenen Maßnahmen bis zum 31. Mai 2006. 25 Im dritten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/79 begründete die Kommission die Verlängerung der beiden in Rede stehenden Entscheidungen damit, dass, da aus einer Reihe von Mitgliedsländern der OIE neue Fälle von Aviärer Influenza gemeldet worden seien, die Beschränkungen für die Verbringung von Heimvögeln und für die Einfuhr anderer Vögel aus bestimmten gefährdeten Gebieten weiterhin gelten sollten. 26 Mit Schreiben vom 16. Februar 2006 antwortete die Kommission auf die oben in Randnr. 23 erwähnten Schriftsätze. In diesem Schreiben legte die Kommission dar, immer mehr jüngere Beweise sprächen dafür, dass Wildvögel bei der Verbreitung der HPAI eine wichtige Rolle spielen könnten; der erste nachgewiesene Fall von HPAI asiatischer Abstammung, der in einem Quarantänezentrum in Europa im Oktober 2005 nachgewiesen worden sei, habe die Kommission veranlasst, alle Einfuhren anderer Vögel als Geflügel auszusetzen. Ferner teilte sie mit, dass diese Aussetzung aufgrund des Ausbruchs der Krankheit in der Türkei, wo sie sich schnell verbreitet habe, und der wenigen zur Verfügung stehenden Informationen über die Überwachung der Aviären Influenza durch die an die Türkei angrenzenden Staaten mit der Entscheidung 2006/79 bis zum 31. Mai 2006 verlängert worden sei. Schließlich fügte sie hinzu, dass es, auch wenn das Ausmaß des Problems in Bezug auf Wildvögel immer noch nicht klar sei, immer mehr Beweise dafür gebe, dass die Bedrohung nicht auf ein einziges Drittland beschränkt sei, weswegen die Einfuhr aus allen Drittländern ausgesetzt worden sei. 27 Mit Schreiben vom 7. März 2006 übermittelte der europäische Vogelhändlerverband der Kommission ergänzende Informationen über die Einfuhr von Wildvögeln aus Drittländern. 28 Mit der Entscheidung 2006/405/EG vom 7. Juni 2006 zur Änderung der Entscheidungen 2005/710/EG, 2005/734/EG, 2005/758/EG, 2005/759/EG, 2005/760/EG, 2006/247/EG und 2006/265/EG mit Schutzmaßnahmen wegen Verdacht auf [HPAI] (ABl. L 158, S. 14) verlängerte die Kommission die mit der Entscheidung 2005/760 getroffenen Maßnahmen bis zum 31. Juli 2006. 29 Im achten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/405 begründete die Kommission diese Verlängerung damit, dass die Bedrohung, die der asiatische Stamm des Vogelgrippe-Virus für die Union darstelle, nicht geringer geworden sei und es nach wie vor zu Ausbrüchen der Seuche bei Wildvögeln in der Union und bei Wildvögeln und Geflügel in mehreren Drittländern komme, auch solchen, die der OIE angehörten. Darüber hinaus scheine das genannte Virus in einigen Teilen der Welt immer endemischer zu werden. Im elften Erwägungsgrund dieser Entscheidung führte die Kommission weiter aus, im Interesse der Tiergesundheit sei es in Anbetracht der epidemiologischen Situation jedoch notwendig, die ununterbrochene Anwendung der Schutzmaßnahmen zu gewährleisten, die u. a. die Entscheidung 2005/760 vorsehe, so dass die Bestimmungen der Entscheidung 2006/405 rückwirkend gelten sollten. 30 Mit der Entscheidung 2006/522/EG vom 25. Juli 2006 zur Änderung der Entscheidungen 2005/759/EG und 2005/760/EG mit Maßnahmen zum Schutz gegen die [HPAI] und zur Regelung der Verbringung von bestimmten lebenden Vögeln in die Gemeinschaft (ABl. L 205, S. 28) verlängerte die Kommission die mit der Entscheidung 2005/760 getroffenen Maßnahmen bis zum 31. Dezember 2006. 31 Im ersten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/522 führte die Kommission aus, sie habe nach dem Ausbruch der Vogelgrippe in Südostasien im Jahr 2004, der durch einen hoch pathogenen Virenstamm hervorgerufen worden sei, mehrere Maßnahmen zum Schutz gegen diese Seuche, einschließlich der Entscheidung 2005/760, verabschiedet. Im siebten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/522 führte sie weiter aus, zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde eine ins Gewicht fallende Änderung der Regelungen der Entscheidung 2005/760 die Wirtschaftsteilnehmer und sonstige interessierte Kreise hinsichtlich der denkbaren zukünftigen Entwicklung der einschlägigen EU-Politik in die Irre führen. Angesichts der Tierseuchenlage bei der Aviären Influenza und in Erwartung der für Oktober 2006 vorgesehenen EFSA-Stellungnahme sollten die Beschränkungen für die Einfuhr von anderen Vogelarten als Geflügel weiterhin gelten; daher sei es angebracht, die Geltung der Entscheidung 2005/760 bis zum 31. Dezember 2006 zu verlängern. 32 Mit am 10. August 2006 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichter Antragsschrift stellten der europäische Vogelhändlerverband und drei weitere Kläger in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beim Gericht einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der Entscheidung 2006/522 und auf Erlass diesbezüglicher einstweiliger Anordnungen und erhoben mit gesondertem Schriftsatz gleichzeitig Klage auf Nichtigerklärung der erwähnten Entscheidung. Sowohl der Antrag als auch die Klage wurden mit Beschluss des Präsidenten des Gerichts vom 26. Oktober 2006, European Association of Im- and Exporters of Birds and live Animals u. a./Kommission (T‑209/06 R, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), bzw. mit Beschluss des Gerichts vom 11. Juni 2008, European Association of Im- and Exporters of Birds and live Animals u. a./Kommission (T‑209/06, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), zurückgewiesen. 33 Mit Schriftsatz vom 26. September 2006 wandte sich der europäische Vogelhändlerverband an die Kommission, hob im Wesentlichen hervor, das mit der Entscheidung 2005/760 und den Verlängerungsentscheidungen verhängte weltweite Einfuhrverbot sei unverhältnismäßig, und machte sie gleichzeitig auf die schwerwiegenden und irreversiblen Folgen dieser Entscheidungen für die Verbandsmitglieder aufmerksam. H – Zum zweiten Gutachten der EFSA 34 Am 27. Oktober 2006 gab die EFSA auf ein Ersuchen der Kommission vom 25. April 2005 hin das wissenschaftliche Gutachten bezüglich der Risiken für die Tiergesundheit und den Tierschutz im Zusammenhang mit der Einfuhr von Wildvögeln, mit Ausnahme von Geflügel, in die … Union (The EFSA Journal [2006] 410, 1‑55, im Folgenden: Zweites Gutachten der EFSA) ab. Dieses Gutachten formuliert verschiedene Empfehlungen für die Gesundheit und den Schutz gefangener Vögel. In ihm berücksichtigte die EFSA verschiedene Krankheitserreger für Vögel, darunter die Aviäre Influenza. 35 Hinsichtlich der Gesundheitsfragen war die EFSA der Auffassung, die Wahrscheinlichkeit, dass durch die Freilassung von in Gefangenschaft gehaltenen Wildvögeln Krankheitserreger in die Union eingeschleppt worden seien, variiere von unbedeutend bis sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelner in Gefangenschaft gehaltener Wildvogel bei seiner Freilassung infektiös sei, variiere von einer Vogelart zur anderen und hänge von der Wahrscheinlichkeit einer präklinischen Infektion ab. Diese Feststellungen veranlassten die EFSA zu der Empfehlung, dass die Notwendigkeit weiterer Einfuhren gefangener Wildvögel sorgfältig geprüft werden sollte. 36 Weiter stellte die EFSA fest, dass 95 % der in die Union eingeführten Vögel zu einer der drei Familien gehörten, die sich aus den Passeriformes (64 %), den Psittaciformes (17 %) bzw. den Galliformes (14 %) zusammensetzten. Darüber hinaus stammten nach diesem Gutachten im Jahr 2005 88 % der Einfuhren von Wildvögeln aus Afrika und 78 % aus fünf afrikanischen Staaten. 37 Die EFSA wies ferner darauf hin, dass Wildvögel durch eine laterale Kontamination von anderen infektiösen Wildvögeln, durch eine kontaminierte Umgebung oder durch infektiöses Geflügel infiziert sein könnten. 38 Speziell im Hinblick auf die Aviäre Influenza war die EFSA der Auffassung, die in größerer Anzahl eingeführten Vogelarten, nämlich Passeriformes und Psittaciformes, spielten bei der Epidemiologie der Vogelgrippe keine wesentliche Rolle. Außerdem hätten alle bei Vögeln vorkommenden Viren des Typs HPAI ein begrenztes zoonotisches Potenzial. Da das Genom des Virus der Aviären Influenza oder ein Teil dieses Genoms in der Vergangenheit jedoch an großen Pandemien beteiligt gewesen sei und zum Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens an der des H5N1-Virus, könne ein gutes Überwachungsprogramm verhindern, dass Viren der Aviären Influenza über rechtmäßig eingeführte Vögel in die Union eingeschleppt würden. Weiter stellte die EFSA fest, dass HPAI-Viren insbesondere bei Sperlings- und Hühnervögeln sehr kurze Inkubations- und klinische Zeiten hätten, was zu einer hohen Sterblichkeit innerhalb weniger Tage führe, während die Inkubationszeit bei Gänsevögeln sehr wohl länger sein könne. Im Übrigen zeige ein einzelner Vogel, der mit einem Virus der Aviären Influenza infiziert in Quarantäne genommen oder während der Quarantäne mit diesem Virus infiziert werde, unter Berücksichtigung der kurzen Inkubationszeit noch während der Quarantäne klinische Symptome. Daher sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Vogel aus der Quarantäne entlassen werde, ohne untersucht worden zu sein, gering, ja sogar zu vernachlässigen. Gleichwohl bestehe ein Risiko, dass Vögel, die infraklinischen Infektionen ausgesetzt seien, infiziert freigelassen würden. 39 Schließlich empfahl die EFSA, dass die Notwendigkeit weiterer Einfuhren von Wildvögeln sorgfältig geprüft und angesichts des Risikos, in großer Zahl Krankheitserreger in die Union einzuschleppen, die Einfuhr von Eiern vorgezogen werden sollte. Sie empfahl ferner, eine regelmäßige Bewertung des Risikos einer Einschleppung von Infektionskrankheiten vorzunehmen, um hochgefährdete Gebiete und Länder und hochgefährdete Arten identifizieren zu können, da diese mit der Zeit variierten. I – Zu den letzten beiden Verlängerungsentscheidungen 40 Mit Schriftsätzen vom 13. und 23. November und vom 9. Dezember 2006 sowie vom 8. Januar 2007 wandte sich der europäische Vogelhändlerverband erneut an die Kommission, hob im Wesentlichen hervor, das mit der Entscheidung 2005/760 und den Verlängerungsentscheidungen verhängte weltweite Einfuhrverbot sei unverhältnismäßig, und machte sie gleichzeitig auf die schwerwiegenden und irreversiblen Folgen dieser Entscheidungen für die Verbandsmitglieder aufmerksam. 41 Mit der Entscheidung 2007/21/EG vom 22. Dezember 2006 zur Änderung der Entscheidung 2005/760/EG mit Maßnahmen zum Schutz gegen die Einschleppung der [HPAI] bei der Einfuhr von anderen Vögeln als Geflügel in die Gemeinschaft (ABl. 2007, L 7, S. 44) verlängerte die Kommission die mit der Entscheidung 2005/760 getroffenen Maßnahmen bis zum 31. März 2007. 42 Im ersten Erwägungsgrund der Entscheidung 2007/21 wiederholte die Kommission, dass sie nach dem Ausbruch der durch einen hoch pathogenen Virusstamm verursachten Aviären Influenza 2004 in Südostasien die Entscheidung 2005/760 erlassen habe. Im vierten Erwägungsgrund der Entscheidung 2007/21 führte sie weiter aus, sie habe mit der Bewertung der zweiten Stellungnahme der EFSA unmittelbar nach deren Veröffentlichung begonnen. Damit jedoch die Mitgliedstaaten und die Kommission – in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten – diese Bewertung abschließen und die erforderlichen Maßnahmen festlegen könnten sowie angesichts der derzeitigen weltweiten Situation in Bezug auf die Aviäre Influenza sollten die in der Entscheidung 2005/760 festgelegten Beschränkungen während einer kurzen Übergangszeit aufrechterhalten werden. 43 Mit Schreiben vom 31. Januar 2007 antwortete die Kommission auf die oben in den Randnrn. 33 und 41 erwähnten Schriftsätze und wies darauf hin, dass Wildvögel bei der Ausbreitung der Aviären Influenza im Jahr 2006 eine wichtige Rolle gespielt hätten, während zuvor stets angenommen worden sei, dass sie aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate mit einem hoch pathogenen Virus infizierter Vögel nur eine untergeordnete Rolle spielten. Sie habe daher beschlossen, das weltweite Einfuhrverbot für Wildvögel bis zum 1. Juli 2007 zu verlängern. Darüber hinaus würden nach diesem Zeitpunkt andere Vorschriften gelten, mit denen die Einfuhr gefangener Vögel zwar nicht verboten werden solle, die aber strengere Einfuhrbedingungen vorsähen, um die Risiken für die Gesundheit möglichst gering zu halten. Die Kommission war schließlich der Ansicht, aus Gründen der Tiergesundheit sei es vorzugswürdig, die Zuchtprogramme innerhalb der Mitgliedstaaten der Union stattfinden zu lassen, als in Drittländern gezüchtete lebende Tiere in die Union einzuführen. Sie forderte den europäischen Vogelhändlerverband daher auf, diese Option stärker in Erwägung zu ziehen. 44 Mit der Entscheidung 2007/183/EG vom 23. März 2007 zur Änderung der Entscheidung 2005/760 (ABl. L 84, S. 44) verlängerte die Kommission die mit der Entscheidung 2005/760 getroffenen Maßnahmen schließlich bis zum 30. Juni 2007. In den Erwägungsgründen 4 bis 6 der Entscheidung 2007/183 begründete die Kommission diese Verlängerung zunächst damit, dass, da die neuen Veterinärbedingungen ihrer Verordnung (EG) Nr. 318/2007 vom 23. März 2007 zur Festlegung der Veterinärbedingungen für die Einfuhr bestimmter Vogelarten in die Gemeinschaft sowie der dafür geltenden Quarantänebedingungen (ABl. L 84, S. 7) strenger seien als die zum damaligen Zeitpunkt geltenden, die genannte Verordnung erst am 1. Juli 2007 in Kraft trete, damit die Mitgliedstaaten und diejenigen Drittländer, die solche Vögel in die Union einführten, Zeit für die Anpassung an die neuen Maßnahmen hätten. Sodann führte sie aus, im Licht der zweiten Stellungnahme der EFSA und der derzeitigen Weltlage in Bezug auf die Aviäre Influenza sollten keine Einfuhren solcher Vögel ohne strenge Einfuhrauflagen erfolgen. Daher sollten die Schutzmaßnahmen gemäß der Entscheidung 2005/760 bis zum 30. Juni 2007 weiter gelten. J – Zur Verordnung Nr. 318/2007 45 Am 23. März 2007 erließ die Kommission u. a. auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 3 Unterabs. 2 und von Art. 10 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 91/496 sowie von Art. 17 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3 und von Art. 18 Abs. 1 erster und vierter Gedankenstrich der Richtlinie 92/65 die Verordnung Nr. 318/2007, die nach ihrem Art. 20 am 1. Juli 2007 in Kraft getreten ist und nach ihrem Art. 19 sowohl die Entscheidung 2000/666 als auch die Entscheidung 2005/760 aufgehoben und ersetzt hat. 46 Im neunten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 318/2007 heißt es, dass die Einfuhr anderer Vogelarten als Geflügel angesichts der Rolle von Zugvögeln bei der Ausbreitung der Aviären Influenza von Asien nach Europa in den Jahren 2005 und 2006 auf in Gefangenschaft gezüchtete Vögel beschränkt werden sollte. 47 Der zehnte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 318/2007 lautet: „Gefangene Wildvögel und in Gefangenschaft gezüchtete Vögel sind nur selten mit Sicherheit voneinander zu unterscheiden. Methoden der Kennzeichnung können bei beiden Arten von Vögeln angewandt werden, ohne dass eine Unterscheidung zwischen ihnen möglich ist. Deshalb sollte die Einfuhr anderer Vogelarten als Geflügel auf Zuchtbetriebe beschränkt werden, die von der zuständigen Behörde des Ausfuhrdrittlandes zugelassen wurden, und es sollten bestimmte Mindestanforderungen für eine solche Zulassung festgelegt werden.“ 48 Art. 1 („Gegenstand“) der Verordnung Nr. 318/2007 sieht vor: „Die vorliegende Verordnung dient der Festlegung der Veterinärbedingungen für die Einfuhr bestimmter Vogelarten aus den in Anhang I aufgeführten Drittländern und Drittlandgebieten in die [Union] sowie der dafür geltenden Quarantänebedingungen.“ 49 Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 318/2007 hat folgenden Wortlaut: „Diese Verordnung gilt für Tiere von Vogelarten. Sie gilt jedoch nicht für a) Geflügel, Truthühner, Perlhühner, Enten, Gänse, Wachteln, Tauben, Fasane, Rebhühner und Laufvögel (Ratitae), die zu Zuchtzwecken, zur Fleisch- oder Eiererzeugung für den Verzehr oder zur Aufstockung der Wildgeflügelbestände (‚Geflügel‘) in Gefangenschaft aufgezogen oder gehalten werden; b) Vögel, die im Rahmen von Artenschutzprogrammen eingeführt werden, die von der zuständigen Behörde im Bestimmungsmitgliedstaat genehmigt wurden; c) Heimtiere gemäß Artikel 1 Absatz 3 der Richtlinie 92/65/EWG, die sich in Begleitung ihres Besitzers befinden; d) Vögel, die für Zoos, Zirkusse, Vergnügungsparks oder Tierversuche bestimmt sind; e) Vögel, die für gemäß Artikel 13 der Richtlinie 92/65/EWG zugelassene Einrichtungen, Institute oder Zentren bestimmt sind; f) Brieftauben, die in die [Union] aus einem benachbarten Drittland eingeführt werden, in dem sie normalerweise gehalten werden, und anschließend sofort in der Erwartung freigelassen werden, dass sie in dieses Drittland zurückfliegen; g) Vögel, die aus Andorra, Liechtenstein, Monaco, Norwegen, San Marino, der Schweiz oder dem Staat Vatikanstadt eingeführt werden.“ 50 Art. 5 („Einfuhrbedingungen“) der Verordnung Nr. 318/2007 bestimmt: „Für die Einfuhr von Vögeln aus gemäß Artikel 4 zugelassenen Zuchtbetrieben gelten folgende Bedingungen: a) die Vögel wurden in Gefangenschaft gezüchtet [definiert in Art. 3 Buchst. c dieser Verordnung als ‚Vögel, die nicht als Wildvögel gefangen wurden, sondern in Gefangenschaft geboren und aufgezogen wurden und von Elterntieren stammen, die sich in Gefangenschaft gepaart haben oder denen auf andere Weise in Gefangenschaft Gameten übertragen wurden‘]; b) die Vögel müssen aus den in Anhang I aufgeführten Drittländern oder Drittlandgebieten stammen; c) die Vögel wurden 7 bis 14 Tage vor dem Versand einer Laboruntersuchung auf das Virus der Aviären Influenza und der Newcastle-Krankheit mit negativen Ergebnissen unterzogen; d) die Vögel wurden nicht gegen Aviäre Influenza geimpft; e) den Vögeln liegt eine Veterinärbescheinigung nach dem Muster in Anhang III bei (im Folgenden ‚Veterinärbescheinigung‘ genannt); f) die Vögel sind durch eine individuelle Identifikationsnummer auf einem eindeutig gekennzeichneten, nahtlos verschlossenen Beinring oder einem Mikrochip … gekennzeichnet … i) die Vögel werden in neuen Behältern befördert, die außen einzeln mit einer Identifikationsnummer versehen sind, die mit der Identifikationsnummer in der Veterinärbescheinigung übereinstimmen muss.“ 51 Art. 11 („Quarantänevorschriften“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 318/2007 sieht vor: „Die Vögel müssen mindestens 30 Tage in einer zugelassenen Quarantäneeinrichtung oder ‑station unter Quarantäne gestellt werden (‚Quarantäne‘).“ 52 Anhang I („Liste der Drittländer, welche die Veterinärbescheinigung gemäß Anhang III verwenden dürfen“) der Verordnung Nr. 318/2007 lautet: „In den Spalten 1 und 3 der Tabelle in Anhang I Teil 1 zu der Entscheidung 2006/696/EG der Kommission aufgeführte Drittländer bzw. Drittlandgebiete; Spalte 4 der Tabelle enthält eine Musterveterinärbescheinigung für Zucht- oder Nutzgeflügel, ausgenommen Laufvögel.“ 53 Die in Anhang I der Verordnung Nr. 318/2007 erwähnte Entscheidung 2006/696/EG der Kommission vom 28. August 2006 zur Erstellung der Liste von Drittländern, aus denen die Einfuhr von Hausgeflügel, Bruteiern und Eintagsküken, von Fleisch von Hausgeflügel, Laufvögeln und Wildgeflügel sowie von Eiern, Eiprodukten und spezifiziert pathogenfreien Eiern in die [Union] und die Durchfuhr dieser Tiere und Erzeugnisse durch die [Union] zugelassen ist, zur Festlegung der diesbezüglichen Veterinärbescheinigungen und zur Änderung der Entscheidungen 93/342/EWG, 2000/585/EG und 2003/812/EG (ABl. L 295, S. 1) ist durch die Verordnung (EG) Nr. 798/2008 der Kommission vom 8. August 2008 zur Erstellung einer Liste von Drittländern, Gebieten, Zonen und Kompartimenten, aus denen die Einfuhr von Geflügel und Geflügelerzeugnissen in die [Union] und ihre Durchfuhr durch die [Union] zugelassen ist, und zur Festlegung der diesbezüglichen Veterinärbescheinigungen (ABl. L 226, S. 1) aufgehoben und ersetzt worden. Verfahren und Anträge der Parteien 54 Mit am 17. August 2010 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangener Klageschrift haben die Kläger die vorliegende Schadensersatzklage erhoben. 55 Sie beantragen, — die Union oder die Kommission zum Ersatz des Schadens zu verurteilen, den sie infolge des Erlasses der Entscheidung 2005/760 oder deren Verlängerung durch die Entscheidungen 2005/862, 2006/79, 2006/405, 2006/522, 2007/21 und 2007/183 sowie der Verordnung Nr. 318/2007 durch die Kommission erlitten haben; — der Union oder der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 56 Die Kommission beantragt, — die Schadensersatzklage als unbegründet abzuweisen; — den Klägern die Kosten aufzuerlegen. 57 Im Zuge einer Änderung der Besetzung der Kammern des Gerichts ist der Berichterstatter am 29. Mai 2012 der Ersten Kammer zugeteilt worden, der deshalb die vorliegende Rechtssache zugewiesen worden ist. 58 Das Gericht (Erste Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen. 59 Die Parteien haben in der Sitzung vom 20. November 2012 mündlich verhandelt und die mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet. Rechtliche Würdigung A – Zu den Voraussetzungen für die Auslösung der außervertraglichen Haftung der Union 60 Nach Art. 340 Abs. 2 AEUV ersetzt die Union im Bereich der außervertraglichen Haftung den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. 61 Nach ständiger Rechtsprechung wird die außervertragliche Haftung der Union im Sinne von Art. 340 Abs. 2 AEUV für ein rechtswidriges Verhalten ihrer Organe oder Einrichtungen nur dann ausgelöst, wenn mehrere kumulative Voraussetzungen erfüllt sind, und zwar muss das dem Organ oder der Einrichtung der Union vorgeworfene Verhalten rechtswidrig sein, es muss ein Schaden entstanden sein, und zwischen dem behaupteten Verhalten und dem geltend gemachten Schaden muss ein Kausalzusammenhang bestehen (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 9. November 2006, Agraz u. a./Kommission, C-243/05 P, Slg. 2006, I-10833, Randnr. 26, und Urteil des Gerichts vom 2. März 2010, Arcelor/Parlament und Rat, T-16/04, Slg. 2010, II-211, Randnr. 139 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Insbesondere in Bezug auf die erste Voraussetzung, die sich auf das dem betreffenden Organ oder der betreffenden Einrichtung vorgeworfene rechtswidrige Verhalten bezieht, verlangt die Rechtsprechung den Nachweis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung der Frage, ob ein Verstoß hinreichend qualifiziert ist, besteht darin, ob das betreffende Organ oder die betreffende Einrichtung der Union die Grenzen, die seinem bzw. ihrem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat. Nur wenn dieses Organ oder diese Einrichtung lediglich über einen erheblich verringerten oder gar auf null reduzierten Ermessensspielraum verfügt, kann die bloße Verletzung des Gemeinschaftsrechts ausreichen, um einen hinreichend qualifizierten Verstoß anzunehmen (Urteile des Gerichtshofs vom 4. Juli 2000, Bergaderm und Goupil/Kommission, C-352/98 P, Slg. 2000, I-5291, Randnrn. 42 bis 44, und vom 10. Dezember 2002, Kommission/Camar und Tico, C-312/00 P, Slg. 2002, I-11355, Randnr. 54; Urteile des Gerichts vom 12. Juli 2001, Comafrica und Dole Fresh Fruit Europe/Kommission, T-198/95, T-171/96, T-230/97, T-174/98 und T-225/99, Slg. 2001, II-1975, Randnr. 134, und Arcelor/Parlament und Rat, oben in Randnr. 61 angeführt, Randnr. 141). 63 Jedoch wird in dieser Rechtsprechung kein automatischer Zusammenhang zwischen dem mangelnden Ermessen des betreffenden Organs und der Qualifikation der Zuwiderhandlung als hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht anerkannt. Auch wenn nämlich der Umfang des Ermessens des betreffenden Organs bestimmenden Charakter hat, stellt er doch kein ausschließliches Kriterium dar. Dazu hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass das von ihm nach Art. 340 Abs. 2 AEUV entwickelte System daneben u. a. der Komplexität der zu regelnden Sachverhalte und den Schwierigkeiten bei der Anwendung oder Auslegung der Vorschriften Rechnung trage. Der Gerichtshof hat namentlich in Fällen, in denen der Wertungsspielraum der Kommission verringert oder erheblich verringert oder gar auf null reduziert war, die Richtigkeit der Prüfung des Gerichts bestätigt, bei der dieses die Komplexität der zu regelnden Sachverhalte im Hinblick auf die Beurteilung der Frage gewürdigt hat, ob der behauptete Verstoß gegen das Unionsrecht hinreichend qualifiziert war. Daraus folgt, dass nur die Feststellung einer Unregelmäßigkeit, die eine durchschnittlich umsichtige und sorgfältige Verwaltung unter ähnlichen Umständen nicht begangen hätte, die Haftung der Union auslösen kann. Es ist daher Sache des Unionsrichters, zunächst zu prüfen, ob das betreffende Organ über einen Wertungsspielraum verfügt hat, und sodann die Komplexität der zu regelnden Sachverhalte, die Schwierigkeiten bei der Anwendung oder Auslegung der Vorschriften, das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift und die Frage zu berücksichtigen, ob der Rechtsfehler vorsätzlich begangen wurde oder unentschuldbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 3. März 2010, Artegodan/Kommission, T-429/05, Slg. 2010, II-491, Randnrn. 59 bis 62 und die dort angeführte Rechtsprechung). 64 Zur Anwendung des Kriteriums des hinreichend qualifizierten Verstoßes im Kontext der vorliegenden Rechtssache ist festzustellen, dass ein etwaiger hinreichend qualifizierter Verstoß gegen die in Rede stehenden Rechtsnormen auf einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Grenzen des weiten Ermessens beruhen muss, über das der Unionsgesetzgeber bei der Ausübung der Befugnisse im Bereich der Gemeinsamen Agrarpolitik gemäß Art. 37 EG verfügt (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile des Gerichtshofs vom 12. Juli 2001, Jippes u. a., C-189/01, Slg. 2001, I-5689, Randnr. 80, vom9. September 2003, Monsanto Agricoltura Italia u. a., C-236/01, Slg. 2003, I-8105, Randnr. 135, und vom 15. Oktober 2009, Enviro Tech [Europe], C-425/08, Slg. 2009, I-10035, Randnr. 47; vgl. Urteile des Gerichts vom 11. September 2002, Pfizer Animal Health/Rat, T-13/99, Slg. 2002, II-3305, Randnr. 166, vom 26. November 2002, Artegodan u. a./Kommission, T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00, Slg. 2002, II-4945, Randnr. 201, und vom 10. Februar 2004, Afrikanische Frucht-Compagnie und Internationale Fruchtimport Gesellschaft Weichert/Rat und Kommission, T-64/01 und T-65/01, Slg. 2004, II-521, Randnr. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung). Bei der Ausübung dieses Ermessens geht es nämlich darum, dass der Unionsgesetzgeber komplexe und ungewisse ökologische, wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Entwicklungen vorhersehen und bewerten muss (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C-127/07, Slg. 2008, I-9895, Randnrn. 57 bis 59, und Urteil Arcelor/Parlament und Rat, oben in Randnr. 61 angeführt, Randnr. 143). 65 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass mit dem Erfordernis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Unionsrecht unabhängig von der Natur der beanstandeten rechtswidrigen Handlung verhindert werden soll, dass durch das Risiko, die von den betroffenen Unternehmen behaupteten Schäden tragen zu müssen, die Fähigkeit des fraglichen Organs eingeschränkt wird, seine Befugnisse im Rahmen seiner normativen oder seiner wirtschaftliche Entscheidungen einschließenden Tätigkeit wie auch in der Sphäre seiner Verwaltungszuständigkeit in vollem Umfang im Allgemeininteresse auszuüben, ohne dass dabei allerdings die Folgen offenkundiger und unentschuldbarer Pflichtverletzungen Dritten aufgebürdet werden (vgl. Urteil Artegodan/Kommission, oben in Randnr. 63 angeführt, Randnr. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 66 Im vorliegenden Fall machen die Kläger im Wesentlichen geltend, die Kommission habe einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen bestimmte Rechtsnormen begangen, die bezweckten, ihnen Rechte zu verleihen, wodurch ihnen ein tatsächlicher und sicherer Schaden entstanden sei, indem sie mit dem Erlass der Entscheidung 2005/760 zunächst ein vorläufiges Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel eingeführt, dieses Verbot mit Verlängerungsentscheidungen sodann fortgeführt und mit dem Erlass der Verordnung Nr. 318/2007 schließlich „de facto“ dauerhaft verankert habe. 67 Das Gericht hält es für angebracht, zunächst das Vorliegen eines rechtswidrigen Verhaltens der Kommission im Hinblick auf die oben in den Randnrn. 62 bis 65 dargelegten Grundsätze zu prüfen. B – Zum Vorliegen eines rechtswidrigen Verhaltens 68 In ihren Schriftsätzen behaupten die Kläger das Vorliegen dreier rechtswidriger Verhaltensweisen der Kommission, die erstens mit dem durch die Entscheidung 2005/760 verhängten Einfuhrverbot für gefangene Vögel, zweitens mit der Fortführung dieses Einfuhrverbots durch die Verlängerungsentscheidungen und drittens mit dem durch die Verordnung Nr. 318/2007 eingeführten „de facto“ endgültigen Einfuhrverbot zusammenhängen. 69 Für jede der behaupteten rechtswidrigen Verhaltensweisen bringen die Kläger im Wesentlichen drei Klagegründe vor. Mit diesen wird geltend gemacht, die Kommission sei erstens nicht befugt gewesen oder habe die Grenzen, die dem ihr durch die Rechtsgrundlagen für die Entscheidung 2005/760, die Verlängerungsentscheidungen bzw. die Verordnung Nr. 318/2007 (im Folgenden gemeinsam: angefochtene Rechtsakte) eingeräumten Ermessen gesetzt seien, offenkundig und erheblich überschritten, habe zweitens einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen Rechtsnormen begangen, die dem Einzelnen Rechte verliehen, und hafte drittens für einen Rechtsakt, durch den sie, obwohl er rechtmäßig gewesen sei, gleichwohl einen Schaden erlitten hätten. 70 Das Gericht hält es für angebracht, diese drei Klagegründe im Verhältnis zu jeder der behaupteten rechtswidrigen Verhaltensweisen der Kommission, also den angefochtenen Rechtsakten, gesondert zu prüfen. 1. Zum Fehlen einer Befugnis der Kommission oder zur offenkundigen und erheblichen Überschreitung der dem ihr durch die Rechtsgrundlagen für die angefochtenen Rechtsakte eingeräumten Ermessen gesetzten Grenzen a) Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2005/760 Zum ersten Klagegrund: offenkundige und erhebliche Überschreitung der dem der Kommission durch Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 eingeräumten Ermessen gesetzten Grenzen und Nichtbeachtung ihrer Sorgfaltspflicht – Zur Tragweite des ersten Klagegrundes 71 Mit ihrem ersten Klagegrund tragen die Kläger zum einen vor, die Kommission verfüge nicht über die Befugnis zum Erlass der angefochtenen Rechtsakte; in diesem Fall reiche der bloße Verstoß gegen das Unionsrecht aus, um das Vorliegen eines Rechtsverstoßes im Sinne der oben in Randnr. 62 angeführten Rechtsprechung anzunehmen. Zum anderen werfen die Kläger der Kommission vor, diese habe mit dem Erlass der Entscheidung 2005/760 die Grenzen, die dem ihr durch Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 eingeräumten Ermessen gesetzt seien, offenkundig und erheblich überschritten. 72 Zur Stützung dieser verschiedenen Rügen machen die Kläger im Wesentlichen geltend, die Kommission sei gemäß Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 nur in einem eng abgesteckten Rahmen und damit im Rahmen einer gebundenen Zuständigkeit zum Erlass von Sicherungsmaßnahmen berechtigt. Erstens könne die Kommission eine Maßnahme nur im Fall einer ernsthaften Gefahr für die Gesundheit von Mensch und Tier oder aus anderen schwerwiegenden tierseuchenrechtlichen Gründen treffen. Zweitens könne sie nur eine der beiden in dieser Vorschrift vorgesehenen Maßnahmen, nämlich entweder die Aussetzung der Einfuhren oder die Festlegung besonderer Bedingungen, wählen. Drittens seien diese Maßnahmen auf das gesamte Gebiet oder ein Teilgebiet des betreffenden Drittlands und gegebenenfalls des Durchfuhrlands beschränkt. Die Kommission habe jedoch die Grenzen ihrer Befugnisse überschritten, indem sie die Einfuhren aus sämtlichen den OIE-Regionalkommissionen angehörenden Ländern, einschließlich ganzer nicht von der Aviären Influenza betroffener Kontinente, ausgesetzt habe, anstatt sich auf besonders gefährdete Gebiete zu beschränken. Insoweit hätte sie in der genannten Entscheidung zwischen Ländern, in denen die Aviäre Influenza in diesem Stadium ausgebrochen sei und damit ein wirkliches Risiko bestanden habe, oder einer Durchfuhr aus oder in diese Länder, einerseits, und Ländern, in denen kein Fall einer Kontamination aufgetreten sei oder kein Risiko bestanden habe, das es rechtfertige, diese Länder einem Einfuhrverbot zu unterwerfen, andererseits, unterscheiden müssen. Daher hätten Einfuhren u. a. aus Zentral- und Südamerika und aus Ozeanien nicht ausgesetzt werden dürfen. Die Kommission habe dadurch, dass sie es unterlassen habe, die Situation und die Risiken in jedem Drittland oder Durchfuhrland zu prüfen, jedoch nicht nur die Grenzen ihrer Befugnisse offenkundig und erheblich überschritten und ausgesprochen willkürlich gehandelt, sondern sei auch ihrer Vorsichts- und Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen. 73 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen und macht im Wesentlichen geltend, sie verfüge bei der Durchführung u. a. von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 über ein weites Ermessen. 74 Das Gericht hält es für angebracht, in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die Kommission beim Erlass der angefochtenen Rechtsakte über ein weites Ermessen verfügte, und in einem zweiten Schritt, ob sie bei der Beachtung der Grenzen und der Ausübung eines solchen weiten Ermessens insgesamt ihrer Sorgfaltspflicht nachgekommen ist. – Zum Vorliegen eines weiten Ermessens gemäß Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 75 Vorab stellt das Gericht fest, dass die Entscheidung 2005/760 u. a. auf Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 gestützt wird. 76 Sodann geht sowohl aus dem Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes der Entscheidung 2005/760, wonach es sich „empfiehlt …, die Einfuhr von Vögeln aus bestimmten gefährdeten Gebieten auszusetzen“, als auch aus dem Kontext der Untersuchung von mit der HPAI infizierten eingeführten Vögeln im Quarantänezentrum von Essex im Oktober 2005 (vgl. oben, Randnr. 15) hervor, dass die Kommission in der vorliegenden Rechtssache als genaue Rechtsgrundlage den ersten in Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 genannten Fall, nämlich dass es im Gebiet eines Drittlands zum Ausbruch oder zur Ausbreitung einer Krankheit oder einer Zoonose kommt oder dass die Gefahr besteht, dass die Tiere oder die menschliche Gesundheit aufgrund einer Krankheit oder aus einem anderen Grund ernsthaft gefährdet werden könnten, gewählt hat und nicht den zweiten Fall, der andere schwerwiegende tierseuchenrechtliche Gründe betrifft. 77 Das Gericht ist ferner der Ansicht, dass Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496, insbesondere der Ausdruck „Gefahr …, dass die Tiere oder die menschliche Gesundheit … ernsthaft gefährdet werden könnten“, im Licht der für die Unionspolitik im Bereich des Schutzes der Gesundheit von Mensch und Tier geltenden Grundsätze, insbesondere des Vorsorgeprinzips, von dem diese Vorschrift eine besondere Ausprägung darstellt, auszulegen ist. 78 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Schutz der menschlichen Gesundheit, wie aus Art. 174 Abs. 1 und 2 EG hervorgeht, zu den Zielen der Unionspolitik im Bereich der Umwelt gehört, die auf ein hohes Schutzniveau abzielt und u. a. auf den Grundsätzen der Vorsorge und der Vorbeugung beruht. Die Erfordernisse dieser Politik müssen bei der Festlegung und Durchführung anderer Unionspolitiken einbezogen werden. Außerdem sind nach Art. 152 EG die Erfordernisse im Bereich des Gesundheitsschutzes Bestandteil der übrigen Unionspolitiken und ‑maßnahmen und müssen daher bei der Durchführung der gemeinsamen Agrarpolitik durch die Unionsorgane berücksichtigt werden. Das Vorsorgeprinzip findet Anwendung, wenn Unionsorgane im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier ergreifen (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 22. Dezember 2010, Gowan Comércio Internacional e Serviços, C-77/09, Slg. 2010, I-13533, Randnrn. 71 und 72 und die dort angeführte Rechtsprechung). 79 Der Vorsorgegrundsatz stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der sich aus Art. 3 Buchst. p EG, Art. 6 EG, Art. 152 Abs. 1 EG, Art. 153 Abs. 1 und 2 EG sowie Art. 174 Abs. 1 und 2 EG ergibt und der die betroffenen Behörden verpflichtet, im genauen Rahmen der Ausübung der ihnen durch die einschlägige Regelung zugewiesenen Befugnisse geeignete Maßnahmen zu treffen, um bestimmte potenzielle Risiken für die Gesundheit der Bevölkerung, die Sicherheit und die Umwelt auszuschließen, indem sie den mit dem Schutz dieser Interessen verbundenen Erfordernissen Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen einräumen (vgl. Urteil des Gerichts vom 9. September 2011, Dow AgroSciences u. a./Kommission, T-475/07, Slg. 2011, II-5937, Randnr. 144 und die dort angeführte Rechtsprechung). 80 Daher können die Organe, wenn wissenschaftliche Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit bestehen, nach dem Vorsorgegrundsatz Schutzmaßnahmen treffen, ohne abwarten zu müssen, bis das tatsächliche Vorliegen und die Schwere dieser Risiken in vollem Umfang nachgewiesen sind (vgl. Urteil Gowan Comércio Internacional e Serviços, oben in Randnr. 78 angeführt, Randnr. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung) oder bis die nachteiligen Wirkungen für die Gesundheit eintreten (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichts Pfizer Animal Health/Rat, oben in Randnr. 64 angeführt, Randnrn. 139 und 141, und vom 11. September 2002, Alpharma/Rat, T-70/99, Slg. 2002, II-3495, Randnrn. 152 und 154). 81 Wenn es sich als unmöglich erweist, das Bestehen oder den Umfang des behaupteten Risikos mit Sicherheit festzustellen, weil die Ergebnisse der durchgeführten Studien unzureichend, nicht schlüssig oder ungenau sind, die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Schadens für die öffentliche Gesundheit jedoch fortbesteht, falls das Risiko eintritt, rechtfertigt das Vorsorgeprinzip darüber hinaus den Erlass beschränkender Maßnahmen, wenn sie objektiv und nicht diskriminierend sind (vgl. Urteil Gowan Comércio Internacional e Serviços, oben in Randnr. 78 angeführt, Randnr. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung). 82 Aus den vorstehenden Grundsätzen ergibt sich, dass die Kommission, wenn sie beabsichtigt, auf der Grundlage des ersten Falls von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496, nämlich dann, wenn es zum Ausbruch oder zur Ausbreitung einer „Zoonose [kommt] oder … die Gefahr [besteht], dass die Tiere oder die menschliche Gesundheit aufgrund einer Krankheit oder aus einem anderen Grund ernsthaft gefährdet werden könnten“, eine Sicherungsmaßnahme zu treffen, nach dem Vorsorgeprinzip über ein weites Ermessen verfügt. Daher kann sie im Einklang mit besagtem Prinzip Sicherungsmaßnahmen treffen, um der potenziellen Ausbreitung derartiger Krankheiten vorzubeugen, wenn schwerwiegende tierseuchenrechtliche Gründe es rechtfertigen. Außerdem geht aus der Rechtsprechung hervor, dass die Unionsorgane auch in Bezug auf die Bestimmung des für die Gesellschaft für nicht hinnehmbar gehaltenen Risikograds bei der Anwendung des Vorsorgeprinzips, insbesondere beim Erlass von Sicherungsmaßnahmen, über ein weites Ermessen verfügen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteile Pfizer Animal Health/Rat, oben in Randnr. 64 angeführt, Randnr. 167, und Alpharma/Rat, oben in Randnr. 80 angeführt, Randnr. 178 und die dort angeführte Rechtsprechung). 83 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist die Rüge der Kläger, die Kommission verfüge gemäß Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 nicht über ein weites Ermessen und unterliege einer gebundenen Zuständigkeit, zurückzuweisen. – Zur Beachtung der Sorgfaltspflicht 84 Wenn ein Unionsorgan über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, kommt der Kontrolle der Einhaltung der Garantien, die die Unionsrechtsordnung für Verwaltungsverfahren vorsieht, jedoch wesentliche Bedeutung zu. Zu diesen Garantien gehört u. a. die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen und seine Entscheidung hinreichend zu begründen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 6. November 2008, Niederlande/Kommission, C-405/07 P, Slg. 2008, I-8301, Randnr. 56, das u. a. auf sein Urteil vom 21. November 1991, Technische Universität München, C-269/90, Slg. 1991, I-5469, Randnr. 14, Bezug nimmt; Urteil des Gerichts Dow AgroSciences u. a./Kommission, oben in Randnr. 79 angeführt, Randnr. 154). Die Beachtung der Pflicht der Kommission, die für die Ausübung ihres weiten Ermessens unerlässlichen Fakten sorgfältig zusammenzutragen, und ihre Überprüfung durch den Unionsrichter sind nämlich umso wichtiger, als die Ausübung des genannten Ermessens nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit unterliegt, die auf die Ermittlung eines offensichtlichen Fehlers beschränkt ist. Daher ist die Verpflichtung des zuständigen Organs, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen, eine unerlässliche Voraussetzung für die Überprüfung durch den Unionsrichter, ob die für die Ausübung dieses weiten Ermessens maßgeblichen sachlichen und rechtlichen Umstände vorlagen (vgl. in diesem Sinne Urteil Enviro Tech [Europe], oben in Randnr. 64 angeführt, Randnrn. 47 und 62; Urteile des Gerichts Pfizer Animal Health/Rat, oben in Randnr. 64 angeführt, Randnrn. 166 und 171, und vom 17. März 2005, Agraz u. a./Kommission, T-285/03, Slg. 2005, II-1063, Randnr. 49). 85 In diesem Zusammenhang hat die Rechtsprechung weiter ausgeführt, die Vornahme einer möglichst erschöpfenden wissenschaftlichen Risikobewertung auf der Grundlage wissenschaftlicher Gutachten, die auf den Grundsätzen der höchsten Fachkompetenz, der Transparenz und der Unabhängigkeit beruhe, stelle eine wichtige Verfahrensgarantie zur Gewährleistung der wissenschaftlichen Objektivität der Maßnahmen und zur Verhinderung des Erlasses willkürlicher Maßnahmen dar (Urteil Pfizer Animal Health/Rat, oben in Randnr. 64 angeführt, Randnr. 172). So ist entschieden worden, dass der erste Fall von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 gegeben sein könne, wenn neue Hinweise die Wahrnehmung der Gefahr, die eine Krankheit darstelle, erheblich änderten (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 22. Juni 2001, Denkavit Nederland u. a., C-346/09, Slg. 2001, I-5517, Randnr. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 86 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Kommission, da sie als Rechtsgrundlage die erste Alternative von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 gewählt hat, die ausdrücklich darauf Bezug nahm, dass es „im Gebiet eines Drittlandes“ zum Ausbruch oder zur Ausbreitung „einer Zoonose kommt oder … die Gefahr besteht, dass die Tiere oder die menschliche Gesundheit aufgrund einer Krankheit oder aus einem anderen Grund ernsthaft gefährdet werden könnten“, verpflichtet war, nachzuweisen, dass die getroffenen Sicherungsmaßnahmen einen hinreichend unmittelbaren Bezug zum „gesamten Gebiet oder einem Teilgebiet des betreffenden Drittlandes“, d. h. zu den Drittländern, in deren Gebiet die Fälle von Aviärer Influenza aufgetreten waren, „und gegebenenfalls [zum Durchfuhrland/zu den Durchfuhrländern]“ aufwiesen. Sie war umso mehr verpflichtet, dieser Beweislast nachzukommen und dieser Begründungspflicht zu genügen, als sie sich im zweiten Erwägungsgrund der Entscheidung 2005/760 ausdrücklich auf die Notwendigkeit bezogen hat, „die Einfuhr von Vögeln aus bestimmten gefährdeten Gebieten auszusetzen“. 87 Aus einer Zusammenschau des zweiten Erwägungsgrundes, des Art. 1 und des Anhangs der Entscheidung 2005/760 ergibt sich jedoch, dass die Kommission im Hinblick auf die beiden im September 2005 nachgewiesenen Fälle von HPAI, die angeblich aus Surinam und Taiwan stammten (vgl. oben, Randnr. 76), beschlossen hat, die Maßnahme zur Aussetzung aller Einfuhren von Vögeln auf sämtliche Drittländer, die den fünf OIE-Regionalkommissionen, nämlich Afrika, Nord- und Südamerika, Asien, einschließlich des Fernen Ostens und Ozeaniens, Europa und dem Nahen Osten, angehören, und damit auf die ganze Welt auszuweiten. 88 Obwohl die im Quarantänezentrum von Essex untersuchten infizierten Vögel in diesem Stadium als aus Surinam und Taiwan und damit aus in Südamerika bzw. Asien gelegenen Drittländern stammend galten, was es rechtfertigen konnte, Einfuhren aus diesen Kontinenten auszusetzen, geht jedoch weder aus den Gründen der Entscheidung 2005/760 noch aus den im laufenden Verfahren vorgelegten Schriftsätzen der Kommission hervor, dass diese sich in irgendeiner Form um Aufklärung über die Frage bemüht hätte, ob das Risiko oder die ernsthafte Gefahr für die Gesundheit, das bzw. die Vögeln aus diesen Drittländern zugeschrieben wurde, entsprechend in Drittländern eintreten konnte, die u. a. in Afrika oder in Ozeanien liegen. Den streitigen Akten lässt sich nämlich nichts dafür entnehmen, dass die Kommission beim Erlass der Entscheidung 2005/760 über einschlägige Informationen verfügte, aufgrund deren sie ihre Schlussfolgerungen zum Bestehen eines solchen Risikos oder einer solchen Gefahr in Bezug auf Einfuhren von Vögeln aus weit abgelegenen Gebieten der betreffenden Drittländer, sei es auch nur in ihrer Eigenschaft als Durchfuhrländer, verallgemeinern konnte, dass sie um solche Informationen nachgesucht oder ihr weites diesbezügliches Ermessen tatsächlich ausgeübt hatte. 89 Im ersten Gutachten der EFSA und damit dem einzigen einschlägigen wissenschaftlichen Gutachten, über das die Kommission in diesem Stadium verfügte, war nämlich eine ungewöhnliche endemische Situation des H5N1-Virus, das Wildvögel infiziert hatte, nur in „einigen asiatischen Ländern“ festgestellt und gleichzeitig eingeräumt worden, dass die Auswirkungen dieser Situation unter Berücksichtigung ihres neuartigen Charakters und der fehlenden Kenntnisse über dieses Phänomen weder hätten vorhergesehen werden können noch durch hinreichende wissenschaftliche Daten belegt seien (vgl. oben, Randnr. 12). Im Übrigen geht aus einem Bericht der OIE vom 19. August 2009, der eine Liste der Drittländer enthält, in denen seit 2004 bis Oktober 2005 Fälle von HPAI aufgetreten waren, darunter ausschließlich asiatische und einige europäische Länder, hervor, dass solche Informationen gleichwohl tatsächlich verfügbar und zum Nachweis dafür geeignet waren, dass andere Kontinente und Länder einer Ausbreitung der HPAI zum damaligen Zeitpunkt noch nicht ausgesetzt waren. Da die Kommission nur sehr vage und erst in der Klagebeantwortung vorträgt, sie habe in diesem Stadium nur über das erste Gutachten der EFSA verfügt, und es sei aufgrund des „Wildvogelzugs von einem Kontinent zum anderen und [der] Tatsache, dass die Flugrouten im Einzelnen nicht bekannt [gewesen seien]“, unmöglich gewesen, die gefährdeten Länder und Gebiete im Voraus festzulegen, genügt die Feststellung, dass die Kommission weder in den Gründen der Entscheidung 2005/760 noch im laufenden Verfahren einen durch wissenschaftliche Bewertungsberichte belegten Gesichtspunkt vorgebracht hat, der nachweisen könnte, dass ein Risiko eines Wildvogelzugs aus Surinam oder Taiwan bestand, von dem u. a. Afrika und Ozeanien hätten betroffen sein können, oder dass ein solcher Flugroutennachweis tatsächlich unmöglich war. Insoweit hat sich die Kommission nämlich darauf beschränkt, erst in der Klagebeantwortung den Wildvogelzug von einem Kontinent zum anderen geltend zu machen, und ohne einen Beweis zur Stützung vorgetragen, die Flugrouten seien nicht im Einzelnen bekannt gewesen, so dass es unmöglich gewesen sei, im Voraus eine realistische Zuordnung der Länder zu verschiedenen gefährdeten Gebieten vorzunehmen. Im Übrigen ist klarzustellen, dass die Kommission in einem an den Vogelhändlerverband gerichteten Schreiben vom 31. Januar 2007 selbst darauf hingewiesen hat, dass vor 2006 stets angenommen worden sei, dass Wildvögel aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate von mit den hoch pathogenen Viren infizierten Vögeln nur eine untergeordnete Rolle spielten. 90 Es ist jedoch festzustellen, dass die Kommission in Anbetracht der oben in Randnr. 84 angeführten Rechtsprechung bei der Anwendung der ersten Alternative von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 und der Ausübung ihres diesbezüglichen weiten Ermessens insgesamt im vorliegenden Fall nicht darauf verzichten konnte, zum einen die Frage, ob und in welchem Ausmaß sich die in diesem Stadium betroffenen Drittländer, nämlich Surinam und eine Reihe von asiatischen Ländern, größeren territorialen Zonen, die einer Ausbreitung der HPAI ausgesetzt sein konnten, d. h. u. a. den an die genannten Länder angrenzenden Ländern, einschließlich der Durchfuhrländer, zuordnen ließen, und zum anderen insbesondere die Frage aufzuklären und zu prüfen, ob und in welchem Ausmaß andere Drittländer, ja sogar andere Kontinente, außerhalb von Südamerika und Südostasien von einer solchen Ausbreitung betroffen oder an dieser beteiligt sein konnten. Insoweit kann die Kommission ebenso wenig geltend machen, sie habe bereits im April 2005 um ein zweites Gutachten der EFSA ersucht, um ihrer Aufklärungspflicht in dieser Hinsicht zu genügen. Das Mandat der EFSA, das Gegenstand dieses Ersuchens war, betraf nämlich nur eine qualitative Bewertung des Risikos für die Tiergesundheit und den Tierschutz im Zusammenhang mit der Einfuhr von Wildvögeln und weder eine quantitative Analyse oder eine solche, die sich auf – u. a. wegen der Zugvogelrouten – gefährdete Gebiete bezog, noch eine Analyse der Risiken für die menschliche Gesundheit und wies keinerlei Bezug zu den Ereignissen auf, die sich im Oktober 2005 im Quarantänezentrum von Essex zugetragen hatten. 91 Mangels einer Begründung und konkreter, aus wissenschaftlicher Sicht hinreichend belegter sachlicher Umstände (vgl. die oben in Randnr. 85 angeführte Rechtsprechung), die den globalen Ansatz in der Entscheidung 2005/760 hätten rechtfertigen können, und in Ermangelung diesbezüglicher Aufklärungsbemühungen der Kommission ist jedoch festzustellen, dass diese im vorliegenden Fall weder ihrer Sorgfalts- noch ihrer Begründungspflicht nachgekommen ist. Insoweit kann die Kommission ebenso wenig geltend machen, sie sei verpflichtet gewesen, eine Notstandsmaßnahme zu treffen. Zum einen führt die Kommission weder in der Entscheidung 2005/760 noch in ihren beim Gericht eingereichten Schriftsätzen einen solchen Dringlichkeitsgrund an, zum anderen kann der etwaige Dringlichkeitscharakter der in Rede stehenden Situation nicht rechtfertigen, dass die Kommission es ganz unterlässt, erstens eine sorgfältige und vollständige Prüfung der in diesem Stadium verfügbaren relevanten Gesichtspunkte vorzunehmen, um eine möglichst erschöpfende wissenschaftliche Risikobewertung zu erhalten, die wissenschaftliche Objektivität der beabsichtigten Maßnahme zu gewährleisten und den Erlass willkürlicher Maßnahmen zu verhindern, und zweitens in der fraglichen Entscheidung eine hinreichende Begründung zu liefern. 92 Insoweit kann die Kommission nicht erst in der Klagebeantwortung geltend machen, es sei erforderlich gewesen, die Bediensteten der Quarantänezentren gegen die HPAI zu schützen. Zum einen lässt sich den Akten nichts dafür entnehmen, dass die Kommission beim Erlass der Entscheidung 2005/760 tatsächlich von einem solchen Risiko ausgegangen ist. Zum anderen konnte die Kommission einem solchen Risiko – wenn es als erwiesen unterstellt wird – jedenfalls nur dadurch wirkungsvoll begegnen, dass sie vollständig davon absah, eingeführte Vögel unter Quarantäne zu stellen. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung 2005/760 hat die Kommission jedoch auch die Entscheidung 2005/759/EG mit Maßnahmen zum Schutz gegen die [HPAI] in bestimmten Drittländern und zur Regelung der Verbringung von Vögeln, die von ihren Besitzern aus Drittländern mitgeführt werden (ABl. L 285, S. 52), erlassen, in der sie die Quarantäneregelung für besagte Vögel gerade beibehalten hat. 93 Im Hinblick auf den Akteninhalt ist davon auszugehen, dass die Kläger nachgewiesen haben, dass die Kommission im vorliegenden Fall ihre Sorgfaltspflicht verletzt und damit gegen eine Rechtsnorm verstoßen hat, die dem Einzelnen Recht verleiht (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil des Gerichts vom 18. September 1995, Nölle/Rat und Kommission, T-167/94, Slg. 1995, II-2589, Randnr. 76), indem sie sich so verhalten hat, wie sich ein sorgfältiges Organ unter den gleichen Umständen wie denen, die vorherrschten, als die Kommission die Entscheidung 2005/760 erlassen hat, nicht verhalten hätte, was von der Kommission nicht widerlegt werden konnte. In Anbetracht dessen, dass die Kommission ihre Sorgfaltspflicht, die eine Vorbedingung für die Ausübung des ihr durch Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 und das Vorsorgeprinzip eingeräumten weiten Ermessens insgesamt ist, nicht beachtet hat, ist daher festzustellen, dass dieser Verstoß gegen das Sorgfaltsprinzip hinreichend qualifiziert ist, um die außervertragliche Haftung der Union für den rechtswidrigen Erlass der Entscheidung 2005/760 auszulösen. 94 Folglich ist dem ersten Klagegrund insoweit stattzugeben, als die Kläger der Kommission vorwerfen, diese habe ihre Sorgfaltspflicht verletzt, ohne dass es erforderlich ist, sich zu den übrigen Rügen und Argumenten, die die Kläger in diesem Zusammenhang vorgebracht haben, zu äußern. 95 Da die Kommission bei der Durchführung von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 nach Ansicht des Gerichts über ein weites Ermessen verfügte, ist auch der zweite Klagegrund zu würdigen, mit dem u. a. eine Überschreitung der Grenzen des besagten Ermessens aufgrund eines qualifizierten Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geltend gemacht wird. Zum zweiten Klagegrund: Überschreitung der Grenzen des Ermessens der Kommission aufgrund eines qualifizierten Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 96 Im Rahmen ihres zweiten Klagegrundes tragen die Kläger im Wesentlichen vor, die Kommission habe, auch wenn sie im Rahmen von Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 beim Erlass der Entscheidung 2005/760 möglicherweise über ein weites Ermessen verfügt habe, von diesem Ermessen, dessen Grenzen sie überschritten habe, insbesondere deshalb regelwidrig Gebrauch gemacht, weil sie gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen habe. Die rigorose Schließung der Grenzen für Einfuhren aller Wildvogelarten sei unter Berücksichtigung u. a. des reibungslosen Funktionierens der Kontrollen im Rahmen des Quarantänesystems, der Notwendigkeit, Anreize für den illegalen Handel mit Wildvögeln zu beseitigen, und der Unangemessenheit eines Einfuhrverbots zur Eindämmung des viel größeren Risikos einer Ansteckung von in Freiheit lebenden Zugvögeln nämlich eine offensichtlich unverhältnismäßige Maßnahme. Insoweit führen die Kläger im Wesentlichen aus, anstatt die Einfuhr von Wildvögeln aus 167 Ländern auszusetzen, obwohl von diesen keinerlei Risiko einer Ausbreitung der Aviären Influenza ausging, hätte die Kommission im Oktober 2005 in vielerlei Hinsicht deutlich weniger belastende Maßnahmen treffen können, um dieses Risiko zu beherrschen. So hätte sie Einfuhren aus bestimmten besonders gefährdeten Gebieten untersagen und gleichzeitig Einfuhren aus allen anderen Ländern erlauben können, in denen zum damaligen Zeitpunkt keine Infektion oder Gefahr einer Ausbreitung der Aviären Influenza bestanden und bei denen es sich auch nicht um Durchfuhrländer gehandelt habe. 97 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger insbesondere unter Berufung auf das ihr u. a. durch das Vorsorgeprinzip eingeräumte weite Ermessen entgegen und macht geltend, die mit der Entscheidung 2005/760 angeordnete Einfuhraussetzung sei nicht offensichtlich unverhältnismäßig. 98 Hierzu weist das Gericht darauf hin, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört und in Art. 5 Abs. 4 EUV verankert ist, die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 8. Juli 2010, Afton Chemical, C-343/09, Slg. 2010, I-7027, Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 99 Was die gerichtliche Kontrolle der Beachtung dieses Grundsatzes betrifft, kann aufgrund des weiten Ermessens, über das der Unionsgesetzgeber im Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik verfügt, die Rechtmäßigkeit einer in diesem Bereich erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des von dem zuständigen Organ verfolgten Ziels offensichtlich ungeeignet ist (Urteil des Gerichtshofs vom 12. Juli 2001, Jippes u. a., C-189/01, Slg. 2001, I-5689, Randnr. 82; vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil Gowan Comércio Internacional e Serviços, oben in Randnr. 78 angeführt, Randnr. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es geht somit nicht darum, ob die vom Unionsgesetzgeber erlassenen Maßnahmen die einzig möglichen oder die bestmöglichen Maßnahmen sind, sondern darum, ob sie zur Erreichung des verfolgten Ziels offensichtlich ungeeignet sind oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil Jippes u. a., Randnr. 83). 100 In Anbetracht der oben in Randnr. 62 angeführten Rechtsprechung ist zwecks Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ferner zu prüfen, ob der Unionsgesetzgeber die Grenzen, die seinem Ermessen gesetzt sind, offenkundig und erheblich überschritten hat. 101 Auch im Rahmen des Rückgriffs auf den Vorsorgegrundsatz, insbesondere im Rahmen der Risikobewertung, die voraussetzt, dass die Unionsorgane über eine wissenschaftliche Bewertung der Risiken verfügen und den Risikograd bestimmen, der als für die Gesellschaft nicht hinnehmbar angesehen wird, was eine politische Entscheidung impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteil Dow AgroSciences u. a./Kommission, oben in Randnr. 79 angeführt, Randnrn. 145 und 148 und die dort angeführte Rechtsprechung), muss die genannte Entscheidung mit dem Grundsatz des Vorrangs des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Sicherheit und der Umwelt vor wirtschaftlichen Interessen sowie mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Diskriminierungsverbot in Einklang stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile Artegodan u. a./Kommission, oben in Randnr. 64 angeführt, Randnr. 186, und vom 21. Oktober 2003, Solvay Pharmaceuticals/Rat, T-392/02, Slg. 2003, II-4555, Randnr. 125). 102 Im vorliegenden Fall stellt das Gericht fest, dass das mit der Aussetzung der Einfuhren von Wildvögeln gemäß der Entscheidung 2005/760 verfolgte Ziel darin bestand, die Tiergesundheit und die menschliche Gesundheit zu schützen, wie aus dem ersten Erwägungsgrund dieser Entscheidung hervorgeht. 103 Im Hinblick auf die oben in den Randnrn. 84 bis 94 dargelegten Erwägungen, mit denen festgestellt worden ist, dass die Kommission hinreichend qualifiziert gegen ihre Sorgfaltspflicht verstoßen hat und das ihr durch Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 und bei der Umsetzung des Vorsorgeprinzips eingeräumte weite Ermessen nicht angemessen ausgeübt hat, ist jedoch der Schluss zu ziehen, dass eine solche Maßnahme in Anbetracht des Fehlens wissenschaftlicher Beweise, die eine vorläufige Aussetzung der Einfuhren von Wildvögeln mit allgemeiner Tragweite rechtfertigen konnten, auch – jedenfalls in geografischer Hinsicht – offensichtlich unverhältnismäßig war. Mit anderen Worten: Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Kommission ihre Verpflichtung verletzt hat, die relevanten sachlichen Umstände, aufgrund deren sie die Aussetzungsmaßnahme auf Einfuhren aus allen im Anhang der Entscheidung 2005/760 aufgeführten Gebieten ausdehnen konnte, sorgfältig und unparteiisch zu prüfen, ja sogar ganz davon abgesehen hat, ihr diesbezügliches Ermessen auszuüben, hat sie auch nicht nachgewiesen, dass es keine weniger belastenden Maßnahmen, nämlich eine geografisch stärker eingegrenzte Einfuhraussetzung für Wildvögel, gab. Daher lässt sich nicht die Auffassung vertreten, im vorliegenden Fall sei die Aussetzung der Einfuhren von Wildvögeln aus sämtlichen den OIE-Regionalkommissionen angehörenden Drittländern zur Verfolgung des in der erwähnten Entscheidung genannten Ziels, nämlich des Schutzes der Tiergesundheit und der menschlichen Gesundheit, erforderlich und angemessen gewesen. 104 Demnach ist der Schluss zu ziehen, dass die Kommission beim Erlass der Entscheidung 2005/760 auch die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebenden Erfordernisse offenkundig und erheblich missachtet und damit die Grenzen des Ermessens überschritten hat, über das sie gemäß Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 und bei der Umsetzung des Vorsorgeprinzips verfügte. 105 Daher ist festzustellen, dass die Kommission einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begangen hat, der geeignet ist, die Haftung der Union auszulösen, und damit dem zweiten Klagegrund stattzugeben ist. 106 Unter diesen Umständen ist es nicht mehr erforderlich, sich zu den übrigen Rügen und Argumenten, die die Kläger im Rahmen des zweiten Klagegrundes in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2005/760 vorgebracht haben, oder zum hilfsweise vorgebrachten dritten Klagegrund zu äußern. 107 Sodann gilt es zu beurteilen, ob und in welchem Ausmaß die Rechtmäßigkeit der Verlängerungsentscheidungen durch die gleichen Rechtsverstöße beeinträchtigt wird, die die Entscheidung 2005/760 rechtswidrig machen. b) Zur Rechtmäßigkeit der Verlängerungsentscheidungen Zusammenfassung des Vorbringens der Parteien 108 Die Kläger tragen vor, die Kommission habe mit dem Erlass der Entscheidungen zur Verlängerung der Entscheidung 2005/760, nämlich den Entscheidungen 2005/862, 2006/79, 2006/405, 2006/522, 2007/21 und 2007/183, einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen Rechtsnormen begangen, die bezweckten, dem Einzelnen Rechte zu verleihen. Insoweit wiederholen sie ihr Vorbringen zur Entscheidung 2005/760 und machen im Wesentlichen die nachstehend wiedergegebenen zusätzlichen Ausführungen. 109 Erstens sei die zur Rechtfertigung des Erlasses der Entscheidung 2005/760 getroffene Grundannahme falsch, da der mit der HPAI infizierte Vogel des Typs Mesia, den das Quarantänezentrum von Essex untersucht habe, in Wirklichkeit aus Taiwan und nicht aus Surinam stamme. Dieser Fehler, den die Kommission seit der Veröffentlichung des DEFRA-Berichts am 11. November 2005 (vgl. oben, Randnr. 23) gekannt habe, könne die Verlängerungsentscheidungen daher nicht mehr rechtfertigen. Zweitens habe die Kommission, indem sie sich u. a. im vierten Erwägungsgrund der Entscheidung 2005/862 auf den Nachweis neuer Fälle von HPAI in der Union berufen habe, die Tatsache vernachlässigt, dass diese Kontamination nicht auf gefangene Wildvögel, deren Einfuhr seit der Entscheidung 2005/760 ausgesetzt gewesen sei, sondern auf Zugvögel zurückzuführen sei. Drittens habe die Kommission, als sie sich zur Begründung, dass alle Wildvögel ein Risiko für die Ausbreitung der HPAI darstellten, auf das erste und das zweite Gutachten der EFSA berufen habe, nicht die grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Arten hinsichtlich ihrer Empfänglichkeit für die HPAI berücksichtigt, die im zweiten Gutachten der EFSA vorgenommen worden sei. Viertens habe die Kommission dadurch versucht, den Erlass der Entscheidung 2005/760 nachträglich zu rechtfertigen, dass sie das Auftreten eines Falls von HPAI in Südostasien erstmals in der Verlängerungsentscheidung 2006/79 erwähnt habe. 110 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen. In Bezug auf die Verlängerungsentscheidungen beschränkt sie sich im Wesentlichen auf die Behauptung, dass die genannten Entscheidungen durch die anhaltende Gefahr, die die Aviäre Influenza für die Tiere dargestellt habe, gerechtfertigt gewesen seien. Zum damaligen Zeitpunkt sei die ganze Welt mit einer extrem instabilen und beispiellosen Situation konfrontiert gewesen. Vor den Verlängerungen seien nämlich Fälle von Aviärer Influenza in Djibouti, in Burkina Faso, im Niger, in Indien und in Rumänien gemeldet worden. Seit den Verlängerungen sei das Virus in Thailand und in Südostasien erneut aufgetreten. Im Übrigen hätten, so die Kommission, große Unsicherheiten in Bezug auf den Verlauf und die Ursachen der schnellen Ausbreitung des Virus sowie in Bezug auf das Risiko einer Mutation des Virus und die sich daraus ergebenden potenziellen Gefahren für die menschliche Gesundheit bestanden. Es habe eines zusätzlichen Zeitraums bedurft, um den Verlauf der Ausbreitung, die Ursachen, die Risiken und die Erfahrungen, die in den verschiedenen Ländern gemacht worden seien, zu studieren und zu analysieren, bevor eine Aufhebung des Einfuhrverbots habe in Betracht gezogen werden können. 111 Im vorliegenden Fall ist die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen 2005/862, 2006/79, 2006/405, 2006/522, 2007/21 und 2007/183 sowohl im Hinblick auf deren jeweilige Begründung als auch im Hinblick auf die relevanten Fakten, über die die Kommission bei ihrem Erlass verfügte oder verfügen konnte, d. h. unter Ausschluss von Gesichtspunkten aus der Zeit nach ihrem Erlass, gesondert zu prüfen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 15. April 2008, Nuova Agricast, C-390/06, Slg. 2008, I-2577, Randnr. 54). Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2005/862 112 Im vierten Erwägungsgrund der Entscheidung 2005/862 wird – u. a. und als zusätzlicher Gesichtspunkt im Hinblick auf die Begründung der Entscheidung 2005/760 – erläutert, dass „[i]n bestimmten Mitgliedsländern der OIE … neue Fälle von Aviärer Influenza gemeldet [wurden]“, was es rechtfertige, „[d]ie Aussetzung der Verbringung von Heimvögeln und der Einfuhr von anderen Vögeln aus bestimmten Risikogebieten“, d. h. aus allen Ländern, die den OIE-Regionalkommissionen angehören und in Anhang I Teil B der genannten Entscheidung aufgeführt sind, zu verlängern. 113 Allerdings ist zum einen festzustellen, dass die Kommission weder in den Gründen der Entscheidung 2005/862 noch in ihren Schriftsätzen vor dem Gericht die Länder im Einzelnen aufführt, die nach ihrer Auffassung zur maßgeblichen Zeit in diesen „Risikogebieten“ gelegen haben. Erst in der Klagebeantwortung trägt sie vor, vor den Verlängerungsentscheidungen seien Fälle von Aviärer Influenza in Djibouti, in Burkina Faso, im Niger, in Indien und in Rumänien gemeldet worden, bleibt dabei aber im Ungefähren und legt weder einen Urkundenbeweis zur Stützung vor noch benennt sie den Zeitpunkt des Ausbruchs oder den ihrer Kenntnisnahme von diesen Gesichtspunkten. Aus einem von den Klägern vorgelegten Bericht von Professor D., der sich auf – von der Kommission nicht bestrittene – Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stützt, geht jedoch hervor, dass zwischen Oktober 2005 und Ende 2005 Kuwait und die Ukraine die einzigen Drittländer waren, in denen neue Fälle einer Kontamination mit dem H5N1-Virus nachgewiesen worden waren. Selbst wenn unterstellt wird, dass die Kommission in diesem Stadium über die letztgenannten Informationen verfügte, hat sie es gleichwohl offensichtlich unterlassen, die einschlägigen empirischen und wissenschaftlichen Ursachen zu ermitteln und zu erläutern, die es rechtfertigten, dass die Verlängerung der Einfuhraussetzung zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung 2005/862 weiterhin alle Länder umfasste, die den OIE-Regionalkommissionen angehören. 114 Zum anderen ist mit den Klägern festzustellen, dass aus der Entscheidung 2005/862 auch nicht hervorgeht, dass die Kommission die Ergebnisse des Berichts der National Emergency Epidemiology Group (vgl. oben, Randnr. 20) berücksichtigt hat, in dem erläutert wurde, dass ein mit dem H5N1-Virus infizierter und im Quarantänezentrum von Essex untersuchter Vogel infolge einer Vertauschung der Proben zu Unrecht als aus Surinam in Südamerika stammend katalogisiert worden war, während er in Wirklichkeit aus Taiwan in Asien stammte. Trotz dieser für die korrekte Bestimmung der Risikogebiete gemäß Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 sehr relevanten Information hat es die Kommission sowohl in der Entscheidung 2005/862 als auch im laufenden Verfahren jedoch unterlassen, zu erläutern, warum sie es gleichwohl für erforderlich hielt, die Einfuhraussetzung für Wildvögel aus Südamerika, ja sogar aus dem gesamten amerikanischen Kontinent, aufrechtzuerhalten. 115 Daraus folgt, dass der Erlass der Entscheidung 2005/862 – ebenso wie der Erlass der Entscheidung 2005/760 – auf qualifizierte Art und Weise an einem Sorgfalts- und Begründungsmangel von Seiten der Kommission leidet. Im Übrigen ergibt sich daraus, dass, selbst wenn die Kommission ihre Aufklärungspflicht richtig wahrgenommen und ihr diesbezügliches Ermessen ausgeübt hätte, die Aufrechterhaltung der Einfuhraussetzung für Wildvögel aus allen Ländern, die den OIE-Regionalkommissionen angehören, im Hinblick auf die Informationen, über die sie in diesem Stadium verfügte oder verfügen konnte, offensichtlich unverhältnismäßig war. Angesichts des Fehlens eines Beweises für die Infektion von aus Südamerika eingeführten Vögeln und der Tatsache, dass sich die Epidemie des H5N1-Virus nur in Kuwait und in der Ukraine ausgebreitet hatte, war die Kommission ohne weitere empirische Informationen und einschlägige wissenschaftliche Beweise nämlich nicht berechtigt, die mit der Entscheidung 2005/760 angeordnete Einfuhraussetzung für Wildvögel aus allen Ländern, die den OIE-Regionalkommissionen angehören, zu verlängern. 116 Daher ist der Schluss zu ziehen, dass auch die Entscheidung 2005/862 hinreichend qualifiziert gegen die Grundsätze der Sorgfalt und der Verhältnismäßigkeit verstößt, was geeignet ist, die Haftung der Union auszulösen. Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2006/79 117 Im zweiten Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/79 heißt es u. a.: „Nach dem Ausbruch der durch einen hoch pathogenen H5N1-Virusstamm verursachten Aviären Influenza im Dezember 2003 in Südostasien hat die Kommission mehrere Maßnahmen zum Schutz gegen diese Seuche erlassen.“ Im dritten Erwägungsgrund der genannten Entscheidung heißt es weiter: „Da aus einer Reihe von Mitgliedsländern der [OIE] neue Fälle von Aviärer Influenza gemeldet worden sind, sollten die Beschränkungen für die Verbringung von Heimvögeln und für die Einfuhr anderer Vögel aus bestimmten gefährdeten Gebieten weiterhin gelten. Deshalb sollte die Geltungsdauer der Entscheidungen 2005/759 … und 2005/760 … verlängert werden.“ 118 Insoweit ist festzustellen, dass die Kommission außer der Bezugnahme auf den Ausbruch der durch einen hoch pathogenen H5N1-Virusstamm verursachten Aviären Influenza ab Dezember 2003 in Südostasien die geografische Herkunft dieser „neue[n] Fälle von Aviärer Influenza“ weder in den Gründen der Entscheidung 2006/79 noch in ihren Schriftsätzen präzisiert. Lediglich aus dem von den Klägern vorgelegten Schreiben der Kommission vom 16. Februar 2006, das überdies aus der Zeit nach dem Erlass der Entscheidung 2006/79 datiert, geht hervor, dass die Verlängerungsentscheidung hauptsächlich mit dem Ausbruch und der schnellen Ausbreitung des H5N1-Virus in der Türkei sowie damit begründet wird, dass nur wenige, um nicht zu sagen gar keine Informationen bezüglich der Überwachung der Aviären Influenza durch die an die Türkei angrenzenden Länder geliefert worden seien. In der von den Klägern vorgelegten Übersicht über die Berichte der OIE zwischen 2004 und 2007, deren Inhalt von der Kommission nicht in Frage gestellt worden ist, heißt es ferner, dass zwischen dem 30. November 2005 und dem 31. Januar 2006 in Drittländern – im vorliegenden Fall China, Kroatien, Indonesien, Rumänien, Russland, Thailand, Türkei, Ukraine und Hongkong – neue Fälle im Zusammenhang mit dem H5N1-Virus erfasst worden seien. 119 Selbst wenn unterstellt wird, dass sich die Kommission beim Erlass der Entscheidung 2006/79 auf die in der vorstehenden Randnummer aufgeführten Informationen gestützt hat, wenngleich sie weder nachgewiesen hat, dass sie über diese Informationen verfügte, noch, dass sie sie vor dem Erlass der fraglichen Verlängerungsentscheidung verwendet hatte, obwohl derartige Informationen ihre oben in Randnr. 113 angeführte vage Behauptung erklären können, hat sie es jedoch zum einen unterlassen, ihre Schlussfolgerung zu erläutern, wonach diese „neue[n] Fälle“ es rechtfertigten, das Einfuhrverbot für Wildvögel aus allen Ländern, die den OIE-Regionalkommissionen angehören, zu verlängern, und zum anderen, schlüssige Tatsachen zur Stützung dieser Schlussfolgerung vorzutragen. Insbesondere konnte die bloße Tatsache, dass sich die Epidemie in der Türkei verbreitet hatte, die Einfuhraussetzung für Wildvögel aus Südamerika und Ozeanien ohne weitere Erläuterungen und einschlägige Beweise nicht rechtfertigen. 120 Daher ist der Schluss zu ziehen, dass die Kommission auch beim Erlass der Entscheidung 2006/79 ihre Sorgfaltspflicht verletzt und auf eine Weise gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat, die geeignet ist, die Haftung der Union auszulösen. Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2006/405 121 Der achte Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/405 hat folgenden Wortlaut: „Die Bedrohung, die der asiatische Stamm des Vogelgrippe-Virus für die [Union] darstellt, ist nicht geringer geworden. Es kommt nach wie vor zu Ausbrüchen der Seuche bei Wildvögeln in der [Union] und bei Wildvögeln und Geflügel in mehreren Drittländern, auch solchen, die der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) angehören. Darüber hinaus scheint das Virus in einigen Teilen der Welt immer endemischer zu werden. Die Geltungsdauer der in den Entscheidungen … 2005/759 [und] 2005/760 … festgelegten Schutzmaßnahmen sollte daher verlängert werden.“ 122 Insoweit ist festzustellen, dass die Kommission erneut weder in der Entscheidung 2006/405 noch in ihren Schriftsätzen die betroffenen Länder benennt, wenn sie sich ausgesprochen vage auf „[mehrere Drittländer], auch [solche], die der [OIE] angehören“, bezieht. Aus der Übersicht über die Berichte der OIE zwischen 2004 und 2007 (vgl. oben, Randnr. 118) geht jedoch hervor, dass die zwischen dem 31. Januar und dem 31. Mai 2006 in Drittländern aufgetretenen neuen Fälle weder Nord- oder Südamerika noch Ozeanien betreffen. Daher hat die Kommission, selbst wenn unterstellt wird, dass sie zum maßgeblichen Zeitpunkt über diese Informationen verfügte, was ihre oben in Randnr. 113 wiedergegebene vage Behauptung erklären könnte, nicht den Beweis dafür erbracht, dass sie ihrer Sorgfaltspflicht nachgekommen war, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet hatte und folglich berechtigt war, die Aussetzung der Einfuhr von Wildvögeln aus allen Ländern, die den OIE-Regionalkommissionen angehören, aufrechtzuerhalten. 123 Unter diesen Umständen ist der Schluss zu ziehen, dass die von der Kommission seit dem Erlass der Entscheidung 2005/760 begangenen Rechtsverstöße mit dem Erlass der Entscheidung 2006/405 nicht abgestellt worden sind. Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2006/522 124 Zwecks Rechtfertigung einer weiteren Verlängerung der Einfuhraussetzung für Wildvögel bezieht sich der siebte Erwägungsgrund der Entscheidung 2006/522 auf „[die derzeitige] Tierseuchenlage bei der Aviären Influenza und [die] Erwartung der für Oktober vorgesehenen EFSA-Stellungnahme“. 125 Wie aus der Übersicht über die Berichte der OIE zwischen 2004 und 2007 (vgl. oben, Randnr. 118) hervorgeht, war zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung 2006/522 in bestimmten Teilen der Welt, darunter u. a. Südamerika und Ozeanien, kein neuer Fall von Vogelgrippe nachgewiesen worden. Darüber hinaus war die bloße Tatsache, dass die EFSA dabei war, eine zweite Stellungnahme auszuarbeiten und abzugeben, die nicht die Bestimmung der geografischen Reichweite des Risikos einer Ausbreitung der Vogelgrippe im Zusammenhang u. a. mit den Routen der Zugvögel zum Gegenstand hatte (vgl. oben, Randnr. 90), nicht geeignet, die Kommission ihrer Sorgfaltspflicht und ihrer Begründungsverpflichtung hinsichtlich der möglichen Gründe für die Aufrechterhaltung der Einfuhraussetzung für Wildvögel aus allen Ländern, die den OIE-Regionalkommissionen angehören, oder ihrer Verpflichtung zur Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu entheben. 126 Daher hat die Kommission die seit dem Erlass der Entscheidung 2005/760 begangenen Rechtsverstöße mit dem Erlass der Entscheidung 2006/522 nicht abgestellt. Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2007/21 127 Der zweite Erwägungsgrund der Entscheidung 2007/21 nimmt Bezug auf die Abgabe der zweiten Stellungnahme der EFSA am 27. Oktober 2006, die am 14. November 2006 veröffentlicht worden ist. Im vierten Erwägungsgrund der genannten Entscheidung heißt es: „Im Hinblick auf die in der Entscheidung 2005/760 … festgelegten Maßnahmen hat die Kommission mit der Bewertung der Stellungnahme unmittelbar nach deren Veröffentlichung begonnen, und eine erste Analyse der Stellungnahme sowie möglicher Änderungen der betreffenden Maßnahmen erfolgte durch eine Expertengruppe im Rahmen des Ständigen Ausschusses für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit am 14. November 2006 sowie auf der Sitzung des Ständigen Ausschusses für die Lebensmittelkette und Tiergesundheit am 27. November 2006. Damit jedoch die Mitgliedstaaten, wie in der Sitzung vom 27. November 2006 mitgeteilt, und die Kommission – in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten – diese Bewertung abschließen und die erforderlichen Maßnahmen festlegen können sowie angesichts der derzeitigen weltweiten Situation in Bezug auf die Aviäre Influenza sollten die in der Entscheidung 2005/760 … festgelegten Beschränkungen während einer kurzen Übergangszeit aufrechterhalten werden.“ 128 Unter Berücksichtigung des beschränkten Gegenstands der im Rahmen der Erstellung des zweiten Gutachtens der EFSA beantragten wissenschaftlichen Bewertung (vgl. oben, Randnr. 90) ist festzustellen, dass die vorläufige Beurteilung des Inhalts des genannten Gutachtens durch die Kommission die von ihr bis zu diesem Stadium begangenen Rechtsverstöße, die zur Aufrechterhaltung einer überzogenen Aussetzung der Einfuhren von Wildvögeln aus der ganzen Welt geführt haben, nicht rechtfertigen konnte. Daher kann die Kommission nicht geltend machen, sie sei mit der Analyse dieses Gutachtens ihrer Sorgfaltspflicht und der ihr obliegenden Beweislast dafür nachgekommen, dass die Voraussetzungen für eine solche totale Einfuhraussetzung, die u. a. Nord- und Südamerika sowie Ozeanien umfasste, erfüllt waren. Im Übrigen hat die Kommission weder in der Entscheidung 2007/21 noch im laufenden Verfahren Informationen geliefert, die es dem Gericht ermöglichen, den Gegenstand und die Erheblichkeit der von ihr im vierten Erwägungsgrund letzter Satz der erwähnten Entscheidung ausgesprochen vage angeführten „derzeitigen weltweiten Situation“ zu beurteilen. 129 Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Kommission in ihrem Schreiben vom 31. Januar 2007, also nach dem Erlass der Entscheidung 2007/21, darauf hingewiesen hat, dass Wildvögel bei der Ausbreitung der Aviären Influenza ab 2006 eine wichtige Rolle gespielt hätten, was der Anlass für die Verlängerung der Einfuhraussetzung für Wildvögel bis zum 1. Juli 2007 gewesen sein soll, hat sie es schließlich gleichwohl unterlassen, darzulegen, weshalb diese Feststellung es rechtfertigte, die weltweite Reichweite dieser Aussetzung unter Einschluss von Gebieten aufrechtzuerhalten, in denen kein Fall von Aviärer Influenza festgestellt worden war. 130 Demnach ist der Schluss zu ziehen, dass die Kommission mit dem Erlass der Entscheidung 2007/21 die hinreichend qualifizierten Verstöße gegen die Grundsätze der Sorgfalt und der Verhältnismäßigkeit nicht abgestellt hat. Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2007/183 131 Die Entscheidung 2007/183 nimmt in ihrem dritten Erwägungsgrund zunächst auf die zweite Stellungnahme der EFSA und in ihrem vierten Erwägungsgrund sodann auf die Verordnung Nr. 318/2007 Bezug, die neue Veterinärbedingungen beinhalte, die „strenger sind als die derzeit geltenden“ und deren Inkrafttreten ab dem 1. Juli 2007 vorgesehen sei. In den Erwägungsgründen 5 und 6 dieser Entscheidung heißt es, dass „[i]m Lichte der [zweiten] Stellungnahme [der EFSA] und der derzeitigen Weltlage in Bezug auf die Aviäre Influenza … keine Einfuhren solcher Vögel ohne strenge Einfuhrauflagen erfolgen [sollten]“, so dass „[d]ie Schutzmaßnahmen gemäß der Entscheidung 2005/760 … deshalb bis zum 30. Juni 2007 weitergelten [sollten]“. 132 Aus der in der vorstehenden Randnummer angeführten Begründung geht hervor, dass die Kommission es zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung 2007/183 offensichtlich versäumt hat, die seit dem Erlass der Entscheidung 2005/760 begangenen Rechtsverstöße abzustellen, da die Verlängerung der Aussetzung der Einfuhren von Wildvögeln aus der ganzen Welt nach wie vor ausgesprochen vage mit der zweiten Stellungnahme der EFSA, der „derzeitigen Weltlage“ und dem beabsichtigten Inkrafttreten der Verordnung Nr. 318/2007, die angeblich strengere Veterinärbedingungen vorsieht, begründet wird. Die Kommission hat jedoch nicht nachgewiesen, ob und in welchem Ausmaß die zweite Stellungnahme der EFSA sie insbesondere ermächtigte, eine solche – zumindest in geografischer Hinsicht – totale Aussetzung aufrechtzuerhalten. 133 Unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der Verordnung Nr. 318/2007 ist daher der Schluss zu ziehen, dass die Kommission die zuvor festgestellten hinreichend qualifizierten Verstöße gegen die Grundsätze der Sorgfalt und der Verhältnismäßigkeit mit dem Erlass der Entscheidung 2007/21 nicht abgestellt hat. c) Zur Rechtmäßigkeit der Verordnung Nr. 318/2007 Zum Umfang der Anfechtung der Verordnung Nr. 318/2007 134 Im Wesentlichen tragen die Kläger im ersten und im zweiten Teil des ersten Klagegrundes erstens vor, die Verordnung Nr. 318/2007 habe keine Rechtsgrundlage und könne nicht auf die zweite Stellungnahme der EFSA gestützt werden, im ersten und im zweiten Teil des hilfsweise vorgebrachten zweiten Klagegrundes zweitens, diese Verordnung sei unter Verstoß gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung einerseits, weil das Einfuhrverbot für Wildvögel kein geeignetes Mittel sei, um die Ausbreitung der Aviären Influenza zu verhindern, und die getroffenen Maßnahmen Wildvögel gegenüber anderen Vogelarten benachteiligten, sowie gegen das Eigentumsrecht und das Recht auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit andererseits erlassen worden, die in der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1) anerkannt worden seien, und im äußerst hilfsweise vorgebrachten dritten Klagegrund drittens, der Erlass der genannten Verordnung löse die Haftung der Union für eine rechtmäßige Handlung aus. 135 Zunächst ist der erste Teil des ersten Klagegrundes zu prüfen. Zum Bestehen einer hinreichenden Rechtsgrundlage für die Verordnung Nr. 318/2007 136 Die Kläger machen im Wesentlichen geltend, der Verordnung Nr. 318/2007 fehle es an einer Rechtsgrundlage. 137 Die Kommission tritt dieser Argumentation entgegen und weist sie im Wesentlichen als unerheblich zurück. Gemäß Art. 33 EG habe die gemeinsame Agrarpolitik nämlich u. a. die Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft, die Stabilisierung der Märkte und die Sicherstellung der Versorgung zum Ziel; die genannten Ziele könnten nur erreicht werden, wenn die von diesen Tätigkeiten betroffenen Tiere gegen ansteckende Krankheiten geschützt würden, was aus den Erwägungsgründen der Richtlinien 91/496 und 92/65 klar hervorgehe. Im Übrigen verweist sie auf die Bestimmungen des Art. 17 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3 Buchst. a und c der Richtlinie 92/65 und ist der Ansicht, diese und die Richtlinie 91/496 ermächtigten sie zum Erlass der Verordnung Nr. 318/2007. 138 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 318/2007, indem sie mit ihrem Art. 5 Buchst. a die Einfuhrgenehmigung auf in Gefangenschaft gezüchtete Vögel beschränkt (vgl. oben, Randnr. 50), auf ein implizites absolutes Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel hinausläuft, wie der neunte Erwägungsgrund der genannten Verordnung und die Aufhebung der Entscheidung 2000/666, mit der Einfuhren von Vögeln aus Mitgliedsländern der OIE in die Union ursprünglich genehmigt worden waren (vgl. oben, Randnrn. 45 und 46), gemäß Art. 19 dieser Verordnung bestätigen. Insoweit stellt das Gericht fest, dass, wie die Kommission in ihren Schriftsätzen bestätigt, jede Möglichkeit des Rückgriffs auf einen Quarantänemechanismus für gefangene Wildvögel, unabhängig davon, ob es sich um Zugvögel handelt oder nicht, ausgeschlossen worden ist. 139 Daher ist zu prüfen, ob die Verordnung Nr. 318/2007 auf einer ausreichenden Rechtsgrundlage beruht, soweit mit ihr ein absolutes und undifferenziertes Einfuhrverbot für gefangene Wildvögel eingeführt wird. 140 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Regelung, mit der die tierseuchenrechtlichen Bedingungen für den Handel mit und die Einfuhren von Tieren in die Union festgelegt werden und die u. a. durch die Richtlinie 92/65, insbesondere ihren Art. 17 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3 und ihren Art. 18 Abs. 1 erster und vierter Gedankenstrich, auf die die Verordnung Nr. 318/2007 gestützt wird (vgl. oben, Randnr. 45), eingeführt worden ist, auf dem Grundsatz beruht, dass jede Einfuhr von Tieren aus Drittländern aus tierseuchenrechtlichen und präventiven Gründen grundsätzlich verboten und nur vorbehaltlich einer mit der Erfüllung von Förmlichkeiten und der Durchführung obligatorischer Vorabkontrollen verknüpften ausdrücklichen Genehmigung erlaubt ist. 141 Mit dem Erlass einheitlicher tierseuchenrechtlicher Vorschriften für das Inverkehrbringen von Tieren im Unionsrecht, wie in den Erwägungsgründen 2 bis 4 der Richtlinie 92/65 vorgesehen, soll nämlich nicht nur der Handel mit Tieren und Erzeugnissen tierischen Ursprungs im Binnenmarkt liberalisiert werden, wie aus dem neunten Erwägungsgrund und aus Kapitel II („Vorschriften für den Handel“) der genannten Richtlinie hervorgeht, sondern es sollen auch die Voraussetzungen für Einfuhren von Tieren aus Drittländern in die Union festgelegt werden, wie sich aus den Vorschriften in Kapitel III („Vorschriften für die Einfuhr in die [Union]“) dieser Richtlinie ergibt. Daher waren mit der Entscheidung 2000/666 (vgl. oben, Randnr. 7), die auf denselben Bestimmungen der Richtlinie 92/65 beruhte wie die Verordnung Nr. 318/2007, entsprechend dem Grundsatz der vorherigen Genehmigung Einfuhren von Vögeln in die Union ausschließlich aus den Drittländern genehmigt worden, die nach dem Wortlaut ihres Anhangs D als Mitglieder der OIE gelistet waren und nach dem Wortlaut ihres vierten Erwägungsgrundes die Einhaltung der „allgemeinen Vorschriften betreffend die Ethik im Veterinärwesen und die Bescheinigung im Hinblick auf den internationalen Handel“ gewährleisteten. 142 Zweitens ist der Grundsatz der vorherigen Genehmigung jeder Einfuhr aus Drittländern in den Vorschriften für Einfuhren in die Union in Kapitel III der Richtlinie 92/65, insbesondere in deren Art. 17 Abs. 2, ausdrücklich verankert, in dem es u. a. heißt: „Es dürfen nur Tiere … in die [Union] eingeführt werden, die folgenden Anforderungen genügen: a) Sie stammen aus einem Drittland, das in einer nach Absatz 3 Buchstabe a) aufzustellenden Liste aufgeführt ist. b) Es wird für sie eine Gesundheitsbescheinigung mitgeführt …“ 143 Daraus folgt, dass eine Einfuhr in die Union nur vorbehaltlich der Beachtung der oben in den Randnrn. 141 und 142 erwähnten Erfordernisse, darunter des Erfordernisses, das sich auf die Herkunft aus einem Drittland bezieht, das in einer Liste aufgeführt ist, die die Kommission unter Einhaltung des sogenannten „Ausschussverfahrens“ nach Art. 26 der Richtlinie 92/65 in Verbindung mit Art. 17 der Richtlinie 89/662, der in seiner auf den vorliegenden Rechtsstreit anwendbaren Fassung die Anwendung von Art. 5 des Beschlusses 1999/468/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (ABl. L 184, S. 23) vorsah, der das Regelungsverfahren betrifft, aufstellen muss. Auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 92/65 ist die Kommission daher befugt, bestimmte Drittländer von dieser Liste auszuschließen oder zu streichen, was zur Folge hat, dass jede Einfuhr von Tieren aus den genannten Ländern automatisch verboten ist. 144 Drittens geht aus Art. 17 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 92/65 hervor, dass die Kommission darüber hinaus befugt ist, „die besonderen tierseuchenrechtlichen Bedingungen – insbesondere zum Schutz der [Union] gegen bestimmte exotische Krankheiten –“, darunter die Vogelgrippe, festzulegen. Im Übrigen können gemäß Art. 17 Abs. 4 Buchst. a erster Gedankenstrich dieser Richtlinie „[i]n die in Absatz 3 genannte Liste … nur die Drittländer oder Teilgebiete von Drittländern aufgenommen werden, … aus denen Einfuhren nicht … aufgrund einer der Krankheiten gemäß Anhang A oder sonstiger in Bezug auf die [Union] exotischer Krankheiten verboten sind“. 145 Gemäß Art. 18 Abs. 1 erster und vierter Gedankenstrich der Richtlinie 92/65 „[sorgen] [d]ie Mitgliedstaaten [auch] … dafür, dass Tiere … im Sinne dieser Richtlinie nur … [unter der Voraussetzung] in die [Union] eingeführt werden“, dass der Nachweis über die Ausstellung einer für die jeweiligen Arten festgelegten Bescheinigung durch den amtlichen Tierarzt erbracht worden ist und im Fall der in den Art. 5 bis 10 der erwähnten Richtlinie genannten Tiere, darunter Vögel, vor der Einfuhr eine Quarantäne eingehalten wird, deren Einzelheiten nach dem Verfahren des Art. 26 dieser Richtlinie festzulegen sind. Art. 7 Teil A der Richtlinie 92/65 sieht insoweit vor, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … dafür [sorgen], dass nicht unter die Richtlinie 90/539/EWG fallende Vögel[, d. h. Geflügel und Bruteier,] nur dann in den Handel gebracht werden können, wenn sie [bestimmten alternativen Anforderungen] genügen“, darunter u. a. der Tatsache, dass die Vögel aus einem Betrieb, in dem in den letzten 30 Tagen vor dem Versand keine Geflügelgrippe festgestellt worden ist, oder aus einem Gebiet stammen, das keinen Beschränkungen im Rahmen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Newcastle-Krankheit unterworfen ist, oder schließlich in dem Betrieb, in den sie nach der Verbringung in das Gebiet der Union aufgenommen worden sind, in Quarantäne verblieben sind. 146 Nach alledem verfügt die Kommission beim „[Erlass] „tierseuchenrechtliche[r] Vorschriften … für das Inverkehrbringen von … Tieren“ im Sinne des fünften Erwägungsgrundes der Richtlinie 92/65 über ein weites Ermessen, das zwangsläufig die Möglichkeit einschließt, die Einfuhr bestimmter Tierarten in die Union aus bestimmten Ländern, die die vorerwähnten Einfuhrbedingungen nicht erfüllen, nicht zu genehmigen. 147 Viertens ist, obwohl die Richtlinie 92/65 nur auf Art. 37 EG gestützt wird, der die gemeinsame Agrarpolitik betrifft, festzustellen, dass sie sich auch in den Rahmen der Durchführung der Unionspolitiken im Bereich des Gesundheitsschutzes und der Umwelt nach Art. 152 EG und Art. 174 EG einfügt und daher auch im Licht des Vorsorgeprinzips auszulegen ist (vgl. oben, Randnrn. 78 bis 80). Daher ist dem Schutz- und Präventionszweck, der dem Vorsorgeprinzip innewohnt, gemäß Art. 17 Abs. 3 Buchst. c dieser Richtlinie, der die Befugnis der Kommission zur Festlegung der „besonderen tierseuchenrechtlichen Bedingungen – insbesondere zum Schutz der [Union] gegen bestimmte exotische Krankheiten –“ erwähnt, Genüge getan. Unter Berücksichtigung des weiten Ermessens, über das die Kommission bei der Umsetzung des Vorsorgeprinzips in diesem Zusammenhang verfügt (vgl. oben, Randnr. 82), können jedoch insbesondere die Bestimmungen des Art. 17 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 92/65 nicht eng ausgelegt werden. Demnach ist davon auszugehen, dass diese Bestimmungen die Kommission ermächtigen, im Rahmen einer tierseuchenrechtlichen Maßnahme Einfuhren bestimmter Tiere aus bestimmten Drittländern nicht zu genehmigen, wenn die genannten Tiere ein Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier im Sinne der oben in den Randnrn. 78 und 80 angeführten Rechtsprechung darstellen. 148 Unter diesen Umständen ist die Rüge des Fehlens einer hinreichenden Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung Nr. 318/2007 und die Anordnung eines absoluten Verbots für Einfuhren von Wildvögeln aus Drittländern zurückzuweisen. Zum angeblichen qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 149 Die Kläger tragen vor, die Verordnung Nr. 318/2007 verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, da sie die Einfuhr aller Wildvögel verbiete, obwohl die Ausbreitung der Aviären Influenza nur auf Zugvögel zurückzuführen sei. Darüber hinaus rügen sie mit der Begründung einen Verstoß gegen den genannten Grundsatz, dass die Kommission mit der Genehmigung der Einfuhr von in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln, nicht aber von Wildvögeln, die Einfuhr der gefährlichsten Art von Vögeln genehmigt habe. Es ist jedoch klarzustellen, dass die Kläger im Gegensatz zu ihren die Entscheidung 2005/760 und die Verlängerungsentscheidungen betreffenden Rügen im Rahmen des dritten Klagegrundes nicht geltend machen, die Kommission habe mit dem Erlass der Verordnung Nr. 318/2007 gerade wegen der geografischen Reichweite des Einfuhrverbots für Wildvögel gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. 150 Erstens ist, soweit die Kläger der Ansicht sind, die Verordnung Nr. 318/2007 verstoße deshalb gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil die Kommission die Einfuhr aller Wildvögel verboten habe, obwohl die Ausbreitung der Aviären Influenza nur auf Zugvögel zurückzuführen sei, darauf hinzuweisen, dass die Kommission die Durchführung der in Rede stehenden Maßnahmen in Bezug auf sämtliche Wildvögel im neunten Erwägungsgrund der genannten Verordnung wie folgt begründet hat: „Eine weitere Empfehlung der EFSA betrifft die Einfuhr gefangener Wildvögel. In dem wissenschaftlichen Gutachten wird das Risiko benannt, das von solchen Vögeln ausgeht, die infolge lateraler Ausbreitung von anderen infizierten Wildvögeln und über die kontaminierte Umgebung sowie infolge des Übergreifens von infiziertem Geflügel infiziert sein können. Angesichts der Rolle von Zugvögeln bei der Ausbreitung der Aviären Influenza von Asien nach Europa in den Jahren 2005 und 2006 sollte die Einfuhr anderer Vogelarten als Geflügel auf in Gefangenschaft gezüchtete Vögel beschränkt werden.“ 151 Darüber hinaus wird im zweiten Gutachten der EFSA, auf das sich die Kommission in diesem Zusammenhang stützt, erläutert, dass sich die Mehrzahl der eingeführten Wildvögel im Gegensatz zu Geflügel nicht mit auf der Liste der OIE aufgeführten Krankheitserregern infiziere oder Träger solcher Krankheitserreger sei. Die EFSA hat jedoch u. a. klargestellt, dass die Aviäre Influenza aufgrund ihres veterinären oder zoonotischen Potenzials ein wichtiger Krankheitserreger sei. Im Übrigen hat die EFSA in diesem Gutachten darauf hingewiesen, dass Wildvögel infolge lateraler Ausbreitung von anderen infizierten Wildvögeln und über die kontaminierte Umgebung sowie infolge des Übergreifens von infiziertem Geflügel infiziert sein könnten. 152 Im vorliegenden Fall sind Zugvögel unstreitig eine Ursache für die Ausbreitung der Aviären Influenza. Diese Beurteilung wird durch die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses für Tiergesundheit und Tierschutz der Generaldirektion „Gesundheit und Verbraucher“ der Kommission vom 27. Juni 2000 (im Folgenden: Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses) und durch das zweite Gutachten der EFSA bestätigt, in dem es heißt, dass chronisch infizierte Vögel, insbesondere Anseriformes, das Virus der Aviären Influenza länger ausscheiden könnten als eine Quarantäne von 30 Tagen dauere. 153 Es ist allerdings festzustellen, dass nicht alle aus Drittländern eingeführten Wildvögel Zugvögel sind. Wie die EFSA in ihrem zweiten Gutachten ausführt, handelt es sich nämlich bei 95 % aller Einfuhren von Vögeln um Passeriformes, Psittaciformes und Galliformes, worunter sich nur wenige Zugvögel befinden. Demnach könnte dieser Grund für sich allein genommen ein Einfuhrverbot für alle Wildvögel nicht rechtfertigen. 154 Insoweit beruft sich die Kommission in der Verordnung Nr. 318/2007 jedoch auch auf das Risiko einer lateralen Ausbreitung von anderen infizierten Wildvögeln und über die kontaminierte Umgebung sowie eines Übergreifens von infiziertem Geflügel. 155 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Zugvögel andere Vögel, unabhängig davon, ob es sich dabei um Wildvögel handelt oder nicht, sowohl in Drittländern als auch in der Union infizieren können. 156 Darüber hinaus ist festzustellen, dass die EFSA in ihrem zweiten Gutachten klargestellt hat, dass auf die Einfuhr gefangener Wildvögel zurückzuführende Infektionen des heimischen Geflügels selten und Nachweise solcher Infektionen zu vernachlässigen seien. Sie hat ferner darauf hingewiesen, dass in größerer Anzahl eingeführte Vögel wie Passeriformes und Psittaciformes bei der Epidemiologie der Aviären Influenza keine bedeutende Rolle spielten. Die EFSA hat schließlich gleichwohl darauf hingewiesen, dass die Notwendigkeit weiterer Einfuhren gefangener Wildvögel unter Berücksichtigung der Risiken, eine erhebliche Zahl von Krankheitserregern einzuführen, sorgfältig geprüft werden sollte. 157 Angesichts dieser Risiken ist zu beurteilen, ob die Kommission im vorliegenden Fall die Auffassung vertreten konnte, das Einfuhrverbot für alle Wildvögel sei unter Berücksichtigung des Ziels des Gesundheitsschutzes erforderlich und angemessen, oder ob sie auf eine weniger belastende Maßnahme zurückgreifen musste (vgl. oben, Randnr. 98). 158 Zur Alternative einer Quarantäne für Wildvögel ist festzustellen, dass die EFSA in ihrem zweiten Gutachten zwar darauf hingewiesen hat, dass die Wahrscheinlichkeit, dass während der Quarantäne subklinisch infizierte Vögel freigelassen würden, gering sei. Sie hat jedoch eingeräumt, dass das Risiko bestehe, dass einige Vögel freigelassen worden seien, obwohl sie infiziert gewesen seien. Darüber hinaus geht aus dem DEFRA-Bericht hervor, dass, da die Krankheitsgeschichte von Wildvögeln nicht bekannt ist, wenn sie kurz vor ihrer Ausfuhr gefangen werden, auch ihr Gesundheitszustand unbekannt ist. 159 Angesichts dieses Risikos und der Unsicherheiten hinsichtlich des Gesundheitszustands gefangener Wildvögel ist daher der Schluss zu ziehen, dass die Kommission mit dem Erlass der Verordnung Nr. 318/2007 in Bezug auf die genannten Vögel weder offensichtlich unverhältnismäßige Maßnahmen getroffen hat noch deshalb ihr weites Ermessen nach dem Vorsorgeprinzip offenkundig überschritten hat, weil sie sich gegen die Quarantänisierung von Wildvögeln als im Verhältnis zum Einfuhrverbot weniger belastende Alternativmaßnahme entschieden hat. 160 Zweitens sind die Kläger der Ansicht, die Kommission habe auch dadurch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, dass sie die Einfuhr von in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln, also der gefährlichsten Art von Vögeln, nicht aber von Wildvögeln, genehmigt habe. Zur Stützung dieser Rüge berufen sie sich auf den Bericht von Professor D. (oben, Randnr. 113) sowie auf die Tatsache, dass in Gefangenschaft gezüchtete Vögel naturgemäß auf engem Raum nebeneinander lebten und viel häufiger in Kontakt zu Menschen kämen. 161 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Beweise für Infektionen heimischen Geflügels über in Freiheit lebende Tiere ausweislich der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses indirekt, aber überwältigend sind. Daher tragen die Kläger zu Unrecht vor, in Gefangenschaft gezüchtete Vögel stellten im Hinblick auf eine Ausbreitung des Virus die gefährlichste Vogelart dar. 162 Im Übrigen ist hervorzuheben, dass sich Wildvögel im Hinblick auf die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Risikovermeidung zu treffen, von in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln unterscheiden. Bei in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln kann nämlich schon unmittelbar nach ihrer Geburt eine strenge Gesundheitskontrolle angeordnet werden. Diese Kontrolle kann bis zur Aufzucht der genannten Vögel in geschlossenen Räumen gehen. In der Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses wird im Übrigen darauf hingewiesen, dass bestimmte Geflügelbetriebe gegen Wildvögel abgeschottet worden seien, was es nach Auffassung eines der in dieser Stellungnahme zitierten Wissenschaftlers ermöglicht hat, die Fälle von Aviärer Influenza in diesen Betrieben zu reduzieren. Dagegen ist bei Wildvögeln eine solche Gesundheitsschutzmaßnahme per Definition nicht möglich. 163 Daher können die Kläger der Kommission nicht vorwerfen, diese habe eine offensichtlich unverhältnismäßige Maßnahme getroffen, indem sie zwischen Wildvögeln und in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln unterschieden habe. 164 Nach alledem ist die Rüge, wonach der Erlass der Verordnung Nr. 318/2007 zu einem hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führe, zurückzuweisen. 165 Insoweit ist klarzustellen, dass das Gericht im Rahmen des dritten Klagegrundes, der die Rechtmäßigkeit der Verordnung Nr. 318/2007 betrifft, nicht mit der Frage befasst ist, ob die Kommission aufgrund der geografischen Reichweite des Einfuhrverbots für Wildvögel gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen hat (vgl. jedoch oben, Randnrn. 72, 108 und 109, die sich auf den ersten und den zweiten, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2005/760 und der Verlängerungsentscheidungen betreffenden Klagegrund beziehen), da eine solche Rüge aus den Schriftsätzen der Kläger nicht zusammenhängend und verständlich hervorgeht (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Gerichts vom 29. November 1993, Koelman/Kommission, T-56/92, Slg. 1993, II-1267, Randnr. 21). Daher braucht sich das Gericht, um nicht ultra petita zu entscheiden, zu dieser Frage nicht zu äußern (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 18. Dezember 2008, Belgien und Kommission/Genette, T-90/07 P und T-99/07 P, Slg. 2008, II-3859, Randnr. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zum angeblichen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung 166 Die Kläger sind der Auffassung, die Bestimmungen der Verordnung Nr. 318/2007 verstießen deshalb gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, weil die tierseuchenrechtlichen Vorschriften für Geflügel, Brieftauben, Heimtiere und Vögel, die für Zoos, Zirkusse, Vergnügungsparks oder Tierversuche bestimmt sind, weit weniger streng seien als die für Wildvögel. Ferner sind die Kläger im Wesentlichen der Ansicht, gegen den genannten Grundsatz werde auch deshalb verstoßen, weil die Verordnung Nr. 318/2007 die Einfuhr von in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln erlaube, von denen eine größere Gefahr für die Ausbreitung des Virus der Aviären Influenza ausgehe als von Wildvögeln. 167 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung, der in der Charta der Grundrechte verankert ist, nur dann vorliegt, wenn vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt werden, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., oben in Randnr. 64 angeführt, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung; Urteil des Gerichts vom 19. November 2009, Denka International/Kommission, T-334/07, Slg. 2009, II-4205, Randnr. 169 und die dort angeführte Rechtsprechung). 168 Daher ist zu prüfen, ob die Situationen, in denen sich die verschiedenen von den Klägern angeführten Arten von Vögeln befanden, vergleichbar waren oder nicht. 169 Die Vergleichbarkeit eines Sachverhalts im Verhältnis zu einem anderen muss im Hinblick auf den Kontext beurteilt werden, in dem der Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung geltend gemacht worden ist. Es ist nämlich entschieden worden, dass die Merkmale unterschiedlicher Sachverhalte und somit deren Vergleichbarkeit u. a. im Licht des Ziels und des Zwecks der Gemeinschaftsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung einführe, zu bestimmen und zu beurteilen seien. Außerdem sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, dem die in Rede stehende Maßnahme unterfällt (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., oben in Randnr. 64 angeführt, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 170 Wie oben in Randnr. 150 ausgeführt, geht aus dem neunten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 318/2007 hervor, dass der Ausschluss der Wildvögel von den Einfuhren in die Union mit dem Risiko einer Infektion durch diese Vögel begründet wurde. 171 Es ist daher zu prüfen, ob sich Wildvögel im Hinblick auf die Risikovermeidung von Geflügel, Brieftauben, Heimtieren und Vögeln unterscheiden, die für Zoos, Zirkusse, Vergnügungsparks oder Tierversuche bestimmt sind. 172 Insoweit ist vorab darauf hinzuweisen, dass die Kommission angesichts der Informationen, über die sie zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung Nr. 318/2007 verfügte (vgl. oben, Randnrn. 150 bis 157 und 161 und 162), grundsätzlich davon absehen konnte, Einfuhren von Wildvögeln als Art zu genehmigen. Allein die Tatsache, dass ein Risiko, das auf einer Ebene mit demjenigen liegt, das von Wildvögeln ausgeht, es gegebenenfalls rechtfertigen konnte, auch andere Arten von Vögeln vom Anwendungsbereich dieser Verordnung auszunehmen, war als solche nicht geeignet, eine Ungleichbehandlung zum Nachteil der Wildvögel zu begründen, da sich nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung, dessen Beachtung mit der Beachtung des Gebots rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden muss, niemand darauf berufen kann, das Recht sei zugunsten eines anderen fehlerhaft angewandt worden (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 16. November 2006, Peróxidos Orgánicos/Kommission, T-120/04, Slg. 2006, II-4441, Randnr. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung). 173 Erstens ist, was die Unterscheidung zwischen Wildvögeln und Geflügel angeht, festzustellen, dass das Vorkommen infektiöser und übertragbarer Krankheiten bei Wildvögeln in ihrer natürlichen Umgebung vor dem Fang, worauf im zweiten Gutachten der EFSA hingewiesen worden ist, im Vergleich zu Geflügel wenig bekannt ist. Dieser Wissensunterschied in Bezug auf das mit dem Vorkommen dieser Krankheiten verbundene Risiko bedeutet, dass sich Geflügel wohl nicht in einer Lage befindet, die im Hinblick auf eine Risikobeurteilung mit der von Wildvögeln vergleichbar ist. 174 Zweitens ist, was die Unterscheidung zwischen Wildvögeln und Brieftauben angeht, darauf hinzuweisen, dass Art. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 318/2007 „Brieftauben, die in die [Union] aus einem benachbarten Drittland eingeführt werden, in dem sie normalerweise gehalten werden, und anschließend sofort in der Erwartung freigelassen werden, dass sie in dieses Drittland zurückfliegen“, vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausnimmt. 175 Insoweit ist im ersten Gutachten der EFSA darauf hingewiesen worden, dass die experimentellen Nachweise gezeigt hätten, dass es sehr schwierig sei, eine Taube mit dem Virus der Aviären Influenza zu infizieren, es aber genügend Beweise gebe, um die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass Tauben ein Risiko für die Einschleppung des Virus der Aviären Influenza darstellten. Die EFSA hat in demselben Gutachten dargelegt, dass Tauben bei der Epidemiologie der Aviären Influenza keine bedeutende Rolle zu spielen schienen. 176 Im vorliegenden Fall ist jedoch festzustellen, dass sich die Kläger nicht auf einen experimentellen Nachweis berufen, wonach Wildvögel ebenso wie Tauben nur sehr schwierig infiziert werden könnten. Demnach unterscheidet diese große Schwierigkeit des Virus der Aviären Influenza, Tauben zu infizieren, diese im Hinblick auf das Ziel einer Vermeidung der geltend gemachten Risiken von Wildvögeln. Daher greift die Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung insoweit nicht durch. 177 Darüber hinaus ist, selbst wenn anzuerkennen wäre, dass von Wildvögeln deshalb kein größeres Risiko ausgeht als von Tauben, weil die am häufigsten eingeführten Vögel bei der Epidemiologie der Aviären Influenza der EFSA zufolge keine bedeutende Rolle spielen, festzustellen, dass die sich daraus möglicherweise ergebende Ungleichbehandlung allein auf die Tatsache zurückzuführen wäre, dass Art. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 318/2007 Brieftauben vom Anwendungsbereich der genannten Verordnung ausschließt. Wird unterstellt, dass dieser Ausschluss aus den in den fraglichen Vorschriften erwähnten Gründen rechtswidrig ist, wäre eine solche Rechtswidrigkeit jedoch nicht geeignet, in Bezug auf Wildvögel einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zu begründen, geschweige denn, einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den genannten Grundsatz, der die Entschädigung der Kläger rechtfertigen würde (vgl. oben, Randnr. 172). 178 Was drittens die Unterscheidung zwischen Wildvögeln und Heimvögeln angeht, weist die Kommission zu Recht darauf hin, dass Letztere in der Nähe ihres Eigentümers lebten. Diese Nähe schließt jedoch nicht aus, dass sich die genannten Vögel mit dem Virus der Aviären Influenza infizieren. Die Behauptung der Kommission, dass sie im Allgemeinen in geschlossenen Gebäuden lebten, wird nämlich nicht untermauert, und es ist, wie die Kläger geltend machen, plausibel, die Auffassung zu vertreten, dass Heimvögel in einer Reihe von Ländern draußen lebten. Das Risiko, dass sich auch Heimvögel mit dem Virus der Aviären Influenza infizieren, ist von der Kommission im Übrigen erkannt worden, da sie besondere Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf diese Vögel getroffen hat, nachdem eine HPAI bei eingeführten und im Quarantänezentrum von Essex in Quarantäne genommenen Vögeln nachgewiesen worden war (vgl. oben, Randnr. 92). 179 Heimvögel unterscheiden sich jedoch dadurch von Wildvögeln, dass sie Heimtiere sind und ihnen damit im Allgemeinen eine ganz besondere Aufmerksamkeit ihres Eigentümers zuteilwird, was eine erhöhte gesundheitliche Überwachung zur Folge hat. 180 Aufgrund dieser erhöhten Überwachung durch die Eigentümer von Heimvögeln kann die Kommission gleichwohl nicht die Auffassung vertreten, das von den genannten Vögeln ausgehende Risiko sei weniger groß als das von Wildvögeln ausgehende. Aus dem zweiten Gutachten der EFSA geht nämlich hervor, dass das Krankheitsbild bei vielen eingeführten Vögeln keinen verlässlichen Indikator für eine Infektion mit dem Virus der Aviären Influenza darstellt. Darüber hinaus hat die Kommission nichts vorgebracht, aufgrund dessen sich ausschließen ließe, dass sich auch diese Vögel subklinisch infizieren (vgl. oben, Randnr. 158). 181 Die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung ist jedoch ausschließlich auf die Sonderregelung für die in Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 92/65 genannten Heimvögel zurückzuführen und kann die Rechtmäßigkeit der Verordnung Nr. 318/2007 nicht beeinträchtigen, soweit diese Einfuhren von Wildvögeln nicht genehmigt. Sie kann daher nicht geeignet sein, einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zu begründen, um die Entschädigung der Kläger zu rechtfertigen (vgl. oben, Randnr. 172). 182 Was viertens die Unterscheidung zwischen Wildvögeln einerseits und Vögeln, die für Zoos, Zirkusse, Vergnügungsparks oder Tierversuche bestimmt sind, andererseits angeht, beruft sich die Kommission auf den Umstand, dass der Handel mit Letzteren individualisierter sei. Ferner beruft sie sich auf Art. 13 der Richtlinie 92/65 in Verbindung mit Anhang C dieser Richtlinie, der die Bedingungen festlegt, die erfüllt sein müssen, damit eine Einrichtung, ein Institut oder ein Zentrum amtlich zugelassen wird. 183 Insoweit hat die Kommission nicht nachvollziehbar erläutert, weshalb aufgrund des Risikos, das u. a. von der Aviären Influenza ausgeht, alle Einfuhren von Wildvögeln verboten werden müssen, während eine Einfuhr von Vögeln, die für Zoos, Zirkusse, Vergnügungsparks oder Tierversuche bestimmt sind, unter der Voraussetzung der Einhaltung bestimmter tierseuchenrechtlicher Vorschriften genehmigt wird. Insbesondere lässt sich aufgrund der vagen Behauptung der Kommission, dass der Handel mit diesen Vögeln individualisierter sei, nicht nachvollziehen, inwiefern diese Individualisierung das fragliche Risiko begrenzen soll. Im Übrigen legt die Kommission weder dar, auf welcher Grundlage sie der Auffassung ist, dass Vögel, die für Zoos, Zirkusse, Vergnügungsparks oder Tierversuche bestimmt sind, zwangsläufig aus amtlich zugelassenen Einrichtungen, Instituten oder Zentren im Sinne von Art. 13 der Richtlinie 92/65 stammten, noch, weshalb es nicht möglich sein soll, die Einfuhr von Wildvögeln von der Beachtung bestimmter Gesundheitsmaßnahmen abhängig zu machen. Schließlich lässt sich unter keinem Gesichtspunkt ausschließen, dass sich Vögel, die für Zoos, Zirkusse, Vergnügungsparks oder Tierversuche bestimmt sind, subklinisch infizieren können. 184 Die sich daraus möglicherweise ergebende Ungleichbehandlung wäre allerdings allein auf die Tatsache zurückzuführen, dass Art. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 318/2007 Vögel, die für Zoos, Zirkusse, Vergnügungsparks oder Tierversuche bestimmt sind, von ihrem Anwendungsbereich ausschließt. Wird unterstellt, dass der Ausschluss der erwähnten Vögel vom Anwendungsbereich dieser Verordnung als solcher aus den oben angegebenen Gründen rechtswidrig ist, wäre eine solche Rechtswidrigkeit jedoch nicht geeignet, in Bezug auf Wildvögel einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zu begründen, geschweige denn einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den genannten Grundsatz, der die Entschädigung der Kläger rechtfertigen würde (vgl. oben, Randnr. 172). 185 Was fünftens die Unterscheidung zwischen Wildvögeln und in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln angeht, besteht aus den oben in den Randnrn. 160 bis 163 dargelegten Gründen hinsichtlich des Risikos und der Maßnahmen zur Vermeidung des potenziellen Risikos ein objektiver Unterschied zwischen in Gefangenschaft gezüchteten Vögeln und Wildvögeln. Demnach ist die Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung zurückzuweisen, soweit sie auf dieser Unterscheidung beruht. Zum angeblichen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Eigentumsrecht und die Freiheit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit 186 Die Kläger tragen vor, das in der Verordnung Nr. 318/2007 verankerte Einfuhrverbot für Wildvögel bewirke eine Aushöhlung der Freiheit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit und des Eigentumsrechts der Kläger, die in den Art. 16 bzw. 17 der Charta der Grundrechte verankert seien. 187 Die Kommission tritt dem Vorbringen der Kläger entgegen. 188 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der unternehmerischen Freiheit und dem Eigentumsrecht um Grundrechte handelt, die in den Art. 16 bzw. 17 der Charta der Grundrechte verankert sind. Diese Rechte können jedoch keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Folglich können die Ausübung des Eigentumsrechts und die freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Union entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet (vgl. in diesem Sinne Urteil Arcelor/Parlament und Rat, oben in Randnr. 61 angeführt, Randnr. 153 und die dort angeführte Rechtsprechung). 189 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Kläger nicht genau begründen, weshalb das Einfuhrverbot für Wildvögel nach der Verordnung Nr. 318/2007 ihr Eigentumsrecht und ihre Freiheit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit verletzen soll. 190 Unabhängig von den vorstehenden Erwägungen geht aus der oben in den Randnrn. 150 bis 164 dargelegten Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der nach der Verordnung Nr. 318/2007 getroffenen Maßnahmen hervor, dass die genannten Maßnahmen ein legitimes Ziel des Allgemeininteresses, nämlich den Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier angesichts des Risikos einer Ausbreitung des Virus der Aviären Influenza, verfolgen und insoweit nicht offensichtlich unverhältnismäßig sind. Daher können sie nicht als unverhältnismäßiger, nicht tragbarer Eingriff angesehen werden, der das Eigentumsrecht und das Recht der Kläger auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in ihrem Wesensgehalt angetastet hat. In diesem Zusammenhang ist klarzustellen, dass, soweit die genannte Verordnung die Einfuhr in Gefangenschaft gezüchteter Vögel weiterhin erlaubt, die wirtschaftliche Tätigkeit einer Einfuhr solcher Vögel möglich bleibt. 191 Demnach ist die Rüge der Kläger, wonach der Erlass der Verordnung Nr. 318/2007 zu einem hinreichend qualifizierten Verstoß gegen ihr Eigentumsrecht oder gegen ihre Freiheit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit führt, zurückzuweisen. Zwischenergebnis 192 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist der Schluss zu ziehen, dass die Kommission mit dem Erlass der Verordnung Nr. 318/2007 im Hinblick auf die von den Klägern geltend gemachten Rügen keinen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen eine den Einzelnen schützende Rechtsnorm begangen hat, der geeignet wäre, die Haftung der Union auszulösen. 2. Schlussfolgerung zum rechtswidrigen Verhalten 193 Nach alledem ist der Schluss zu ziehen, dass die Kommission mit dem Erlass der Entscheidung 2005/760 und der nachfolgenden Entscheidungen zur Verlängerung dieser ersten Entscheidung mehrere Rechtsverstöße begangen hat, die geeignet sind, die Haftung der Union für die Schäden auszulösen, die die Kläger aufgrund der Aussetzung der Einfuhren von Wildvögeln aus Drittländern erlitten haben, die den OIE-Regionalkommissionen angehören, und dies ab Inkrafttreten der Entscheidung 2005/760. C – Zur Haftung für eine rechtmäßige Handlung 194 Äußerst hilfsweise beantragen die Kläger, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sie ihre Grundrechte seit dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 318/2007 nicht mehr ausüben können, im Rahmen der Haftung für eine rechtmäßige Handlung der Union entschädigt zu werden. Die Tatsache, dass den Klägern – ohne angemessene Entschädigung – endgültig die Möglichkeit genommen werde, die genannten Rechte auszuüben, ziehe die Haftung der Union für rechtmäßiges Handeln nach sich. 195 Insoweit hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, beim derzeitigen Stand des Unionsrechts bestehe keine Regelung der außervertraglichen Haftung der Union für die rechtmäßige Ausübung ihrer Tätigkeiten, die in den Bereich der Rechtsetzung fielen (Urteil des Gerichtshofs vom 9. September 2008, FIAMM u. a./Rat und Kommission, C-120/06 P und C-121/06 P, Slg. 2008, I-6513, Randnrn. 176 und 179). Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass, sofern eine von einem Fehlverhalten unabhängige Haftung der Union anerkannt werden könne, sie erfordern würde, dass drei Voraussetzungen, nämlich tatsächliches Vorliegen des Schadens, ursächlicher Zusammenhang zwischen diesem und dem betreffenden Handeln sowie die Qualifikation des Schadens als außergewöhnlicher und besonderer Schaden, nebeneinander erfüllt seien (Urteil FIAMM u. a./Rat und Kommission, Randnr. 169). 196 Im vorliegenden Fall genügt jedoch die Feststellung, dass ‐ abgesehen vom gegenwärtigen Nichtbestehen einer Regelung der außervertraglichen Haftung der Union für eine rechtmäßige Handlung ‐ die Kläger in ihren Schriftsätzen nicht präzisieren, weshalb der Schaden, den sie erlitten zu haben behaupten, unabhängig von seiner genauen Höhe außergewöhnlich und besonders sein soll, da die Geltendmachung eines tatsächlichen und sicheren Schadens insoweit nicht genügt. 197 Demnach ist die von den Klägern äußerst hilfsweise vorgebrachte Rüge einer Haftung für eine rechtmäßige Handlung zurückzuweisen. D – Zur Verwirklichung und zum Umfang des durch die angefochtenen Rechtsakte verursachten Schadens 198 Was die Verwirklichung und den Umfang des erlittenen Schadens angeht, haben sich die Kläger das Recht vorbehalten, die Höhe des genannten Schadens zu einem späteren Zeitpunkt genau zu beziffern und zu seinem Nachweis zusätzliche Beweismittel beizubringen. Ebenso hat sich die Kommission das Recht vorbehalten, sich später eingehender zu dem von den Klägern geltend gemachten Schaden und zum ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Schaden und ihrem angeblich rechtswidrigen Verhalten zu äußern. 199 Im Übrigen ist das Gericht, auch wenn die Kläger der Klageschrift eine ganze Reihe von Schriftstücken – darunter verschiedene Bescheinigungen über eine Einfuhr von Wildvögeln aus Drittländern, die Mitglieder der OIE sind, im Jahr 2005 – beigefügt haben, die belegen, dass der genannte Schaden tatsächlich und sicher ist, in diesem Stadium des Verfahrens nicht in der Lage, sich zur Erheblichkeit und zur Genauigkeit der gemachten Angaben und damit zur Höhe der Entschädigung zu äußern, die die Union jedem der Kläger gewähren muss. Da die Frage der Bewertung des Schadens noch nicht entschieden werden kann, ist es angebracht, aus prozessökonomischen Erwägungen in einem ersten Abschnitt durch Zwischenurteil über die Haftung der Union zu entscheiden. Die Bestimmung der Höhe des sich aus den von der Kommission begangenen Rechtsverstößen ergebenden Schadensersatzes bleibt einem späteren Verfahrensabschnitt, und zwar der Einigung der Parteien, oder, mangels einer solchen Einigung, der Entscheidung durch das Gericht vorbehalten (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 4. Oktober 1979, Dumortier u. a./Rat, 64/76, 113/76, 167/78, 239/78, 27/79, 28/79 und 45/79, Slg. 1979, 3091, Randnr. 23, und Urteil des Gerichts vom 26. Februar 2003, CEVA und Pharmacia Entreprises/Kommission, T-344/00 und T-345/00, Slg. 2003, II-229, Randnr. 108 und die dort angeführte Rechtsprechung). 200 Zum Kriterium des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem festgestellten rechtswidrigen Verhalten und dem geltend gemachten Schaden ist darauf hinzuweisen, dass nur Schäden, die unmittelbar durch die Entscheidung 2005/760 und die nachfolgenden Entscheidungen zur Verlängerung dieser ersten Entscheidung, soweit sie die Einfuhr von Wildvögeln aus Drittländern oder bestimmten Gebieten von Drittländern verhindert haben, in Bezug auf die die Kommission zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht hinreichend ermittelt und nachgewiesen hatte, dass von ihnen ein Risiko einer Ausbreitung der Aviären Influenza ausging, verursacht worden sind (vgl. oben, Randnrn. 84 bis 133), für eine Entschädigung in Betracht kommen. 201 Daher sind die Parteien vorbehaltlich einer späteren Entscheidung des Gerichts aufzufordern, sich im Licht der vorstehenden Erwägungen über diese Beträge zu verständigen und ihm binnen drei Monaten mitzuteilen, auf welche zu zahlenden Beträge sie sich geeinigt haben, oder, falls eine Einigung nicht erzielt werden sollte, ihm binnen derselben Frist ihre bezifferten Anträge vorzulegen (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil des Gerichtshofs vom 19. Mai 1992, Mulder u. a./Rat und Kommission, C-104/89 und C-37/90, Slg. 1992, I-3061, Randnrn. 37 und 38). Kosten 202 Die Kostenentscheidung ist vorzubehalten. Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Europäische Union ist verpflichtet, den Schaden zu ersetzen, den die Animal Trading Company (ATC) BV, die Avicentra NV, die Borgstein birds and Zoofood Trading vof, die Bird Trading Company Van der Stappen BV, die New Little Bird’s Srl, Vogelhuis Kloeg und Herr Giovanni Pistone dadurch erlitten haben, dass die Europäische Kommission erstens die Entscheidung 2005/760/EG vom 27. Oktober 2005 mit Maßnahmen zum Schutz gegen die Einschleppung der hoch pathogenen Aviären Influenza bei der Einfuhr von in Gefangenschaft gehaltenen Vögeln aus bestimmten Drittländern, zweitens die Entscheidung 2005/862/EG vom 30. November 2005 zur Änderung der Entscheidungen 2005/759/EG und 2005/760 hinsichtlich der Maßnahmen zur Bekämpfung der Aviären Influenza bei anderen Vögeln als Geflügel, drittens die Entscheidung 2006/79/EG vom 31. Januar 2006 zur Änderung der Entscheidungen 2005/759/EG und 2005/760 mit Blick auf eine Verlängerung ihrer Geltungsdauer, viertens die Entscheidung 2006/405/EG vom 7. Juni 2006 zur Änderung der Entscheidungen 2005/710/EG, 2005/734/EG, 2005/758/EG, 2005/759/EG, 2005/760 2006/247/EG und 2006/265/EG mit Schutzmaßnahmen wegen Verdacht auf hoch pathogene Aviäre Influenza, fünftens die Entscheidung 2006/522/EG vom 25. Juli 2006 zur Änderung der Entscheidungen 2005/759/EG und 2005/760 mit Maßnahmen zum Schutz gegen die hoch pathogene Aviäre Influenza und zur Regelung der Verbringung von bestimmten lebenden Vögeln in die Gemeinschaft, sechstens die Entscheidung 2007/21/EG vom 22. Dezember 2006 zur Änderung der Entscheidung 2005/760 mit Maßnahmen zum Schutz gegen die Einschleppung der hoch pathogenen Aviären Influenza bei der Einfuhr von anderen Vögeln als Geflügel in die Gemeinschaft und siebtens die Entscheidung 2007/183/EG vom 23. März 2007 zur Änderung der Entscheidung 2005/760 erlassen und durchgeführt hat. 2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 3. Die Parteien teilen dem Gericht binnen drei Monaten ab Verkündung des Urteils mit, auf welche bezifferten Schadensersatzbeträge sie sich geeinigt haben. 4. Falls eine Einigung nicht erzielt werden sollte, legen die Parteien dem Gericht binnen derselben Frist ihre bezifferten Anträge vor. 5. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten. Azizi Frimodt Nielsen Kancheva Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. September 2013. Unterschriften Inhaltsverzeichnis Vorgeschichte des Rechtsstreits A – Vorstellung der Kläger B – Zu den Richtlinien 91/496 und 92/65 C – Zur Entscheidung 2000/666 D – Zum ersten Gutachten der EFSA E – Zur Entscheidung 2005/760 F – Zum Bericht der nationalen epidemiologischen Notfallgruppe des Vereinigten Königreichs G – Zu den ersten vier Verlängerungsentscheidungen H – Zum zweiten Gutachten der EFSA I – Zu den letzten beiden Verlängerungsentscheidungen J – Zur Verordnung Nr. 318/2007 Verfahren und Anträge der Parteien Rechtliche Würdigung A – Zu den Voraussetzungen für die Auslösung der außervertraglichen Haftung der Union B – Zum Vorliegen eines rechtswidrigen Verhaltens 1. Zum Fehlen einer Befugnis der Kommission oder zur offenkundigen und erheblichen Überschreitung der dem ihr durch die Rechtsgrundlagen für die angefochtenen Rechtsakte eingeräumten Ermessen gesetzten Grenzen a) Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2005/760 Zum ersten Klagegrund: offenkundige und erhebliche Überschreitung der dem der Kommission durch Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 eingeräumten Ermessen gesetzten Grenzen und Nichtbeachtung ihrer Sorgfaltspflicht – Zur Tragweite des ersten Klagegrundes – Zum Vorliegen eines weiten Ermessens gemäß Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 91/496 – Zur Beachtung der Sorgfaltspflicht Zum zweiten Klagegrund: Überschreitung der Grenzen des Ermessens der Kommission aufgrund eines qualifizierten Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit b) Zur Rechtmäßigkeit der Verlängerungsentscheidungen Zusammenfassung des Vorbringens der Parteien Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2005/862 Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2006/79 Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2006/405 Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2006/522 Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2007/21 Zur Rechtmäßigkeit der Entscheidung 2007/183 c) Zur Rechtmäßigkeit der Verordnung Nr. 318/2007 Zum Umfang der Anfechtung der Verordnung Nr. 318/2007 Zum Bestehen einer hinreichenden Rechtsgrundlage für die Verordnung Nr. 318/2007 Zum angeblichen qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Zum angeblichen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung Zum angeblichen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Eigentumsrecht und die Freiheit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit Zwischenergebnis 2. Schlussfolgerung zum rechtswidrigen Verhalten C – Zur Haftung für eine rechtmäßige Handlung D – Zur Verwirklichung und zum Umfang des durch die angefochtenen Rechtsakte verursachten Schadens Kosten (*1) Verfahrenssprache: Niederländisch.
Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 12. November 2015.#Italienische Republik gegen Europäische Kommission.#EAGFL – Abteilung Garantie – EGFL und ELER – Von der Finanzierung ausgeschlossene Ausgaben – Pauschale finanzielle Berichtigungen – Direktzahlungen – Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen – Beihilfen für die Verarbeitung von Zitrusfrüchten – Bedingungen für die Zulassung einer Zahlstelle.#Rechtssache T-255/13.
62013TJ0255
ECLI:EU:T:2015:838
2015-11-12T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62013TJ0255 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62013TJ0255 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62013TJ0255 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Erste erweiterte Kammer) vom 26. Februar 2025 (Auszüge).#Aleksandra Melnichenko gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen – Einfrieren von Geldern – Beschränkung der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden und deren Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten Beschränkungen unterliegt – Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste und Belassung auf der Liste – Begriff ‚Verbindung‘ – Art. 2 Abs. 1 in fine des Beschlusses 2014/145/GASP – Einrede der Rechtswidrigkeit – Beurteilungsfehler – Grundrechte – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T-498/22.
62022TJ0498
ECLI:EU:T:2025:180
2025-02-26T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62022TJ0498 URTEIL DES GERICHTS (Erste erweiterte Kammer) 26. Februar 2025 (*1) „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen – Einfrieren von Geldern – Beschränkung der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden und deren Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten Beschränkungen unterliegt – Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste und Belassung auf der Liste – Begriff ‚Verbindung‘ – Art. 2 Abs. 1 in fine des Beschlusses 2014/145/GASP – Einrede der Rechtswidrigkeit – Beurteilungsfehler – Grundrechte – Verhältnismäßigkeit“ In der Rechtssache T‑498/22, Aleksandra Melnichenko, wohnhaft in St. Moritz (Schweiz), vertreten durch Rechtsanwältin A. Miron, Rechtsanwalt D. Müller, Rechtsanwältin H. Bajer Pellet, Rechtsanwalt R. Pieri, Rechtsanwältin A. Beauchemin und C. Zatschler, SC, Klägerin, unterstützt durch EuroChem Group AG mit Sitz in Zug (Schweiz) und Siberian Coal Energy Company AO (SUEK) mit Sitz in Moskau (Russland), vertreten durch Rechtsanwälte N. Montag, L. Engelen und S. Bonifassi, Streithelferinnen, gegen Rat der Europäischen Union, vertreten durch B. Driessen und J. Rurarz als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt B. Maingain und Rechtsanwältin S. Remy, Beklagter, unterstützt durch Königreich Belgien, vertreten durch C. Pochet, M. Van Regemorter und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte, Streithelfer, erlässt DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer) zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Richters R. Mastroianni in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten, der Richterin M. Brkan sowie der Richter I. Gâlea, T. Tóth und S. L. Kalėda (Berichterstatter), Kanzler: R. Ūkelytė, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, auf die mündliche Verhandlung vom 9. Juli 2024 folgendes Urteil (1 ) 1 Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV begehrt die Klägerin, Frau Aleksandra Melnichenko, die Nichtigerklärung folgender Rechtsakte, soweit damit ihr Name in die Listen im Anhang der Rechtsakte (im Folgenden: streitige Listen) aufgenommen wurde bzw. darin belassen wird: – erstens: Beschluss (GASP) 2022/883 des Rates vom 3. Juni 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 153, S. 92) und Durchführungsverordnung (EU) 2022/878 des Rates vom 3. Juni 2022 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 153, S. 15) (im Folgenden zusammen: ursprüngliche Rechtsakte); – zweitens: Beschluss (GASP) 2022/1530 des Rates vom 14. September 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 239, S. 149) und Durchführungsverordnung (EU) 2022/1529 des Rates vom 14. September 2022 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 239, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom September 2022); – drittens: Beschluss (GASP) 2023/572 des Rates vom 13. März 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 75 I, S. 134) und Durchführungsverordnung (EU) 2023/571 des Rates vom 13. März 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 75 I, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte von März 2023) sowie Beschluss (GASP) 2023/811 des Rates vom 13. April 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 101, S. 67) und Durchführungsverordnung (EU) 2023/806 des Rates vom 13. April 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 101, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte von April 2023; zusammen mit den ursprünglichen Rechtsakten, den Rechtsakten von September 2022 und den Rechtsakten von März 2023: angefochtene Rechtsakte). [nicht wiedergegeben] Anträge der Parteien 27 Die Klägerin, unterstützt durch die EuroChem Group und SUEK, beantragt, – Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung und Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung für unanwendbar zu erklären, soweit sich diese Rechtsakte auf Personen und Einrichtungen beziehen, die mit den in den streitigen Listen aufgeführten Personen und Organisationen „verbunden“ sind; – die angefochtenen Rechtsakte für nichtig zu erklären, soweit sie sie betreffen; – dem Rat die Kosten aufzuerlegen. 28 Der Rat, unterstützt durch das Königreich Belgien, beantragt, – die Klage abzuweisen; – der Klägerin die Kosten aufzuerlegen. Rechtliche Würdigung 29 Die Klägerin stützt ihre Klage im Wesentlichen auf fünf Klagegründe. Sie rügt erstens einen „offensichtlichen Beurteilungsfehler“, zweitens einen Verstoß gegen die Begründungspflicht, drittens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und gegen die Grundrechte, viertens die Rechtswidrigkeit des in Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung und in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung enthaltenen Kriteriums der natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die mit einer Person verbunden sind, die nach einem der in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a bis h dieses Beschlusses und in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a bis h dieser Verordnung genannten Kriterien für die Aufnahme in die Liste restriktiven Maßnahmen unterliegt (im Folgenden: Kriterium der Verbindung), und fünftens eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. [nicht wiedergegeben] [nicht wiedergegeben] [nicht wiedergegeben] Zum dritten Klagegrund: Verletzung von Grundrechten [nicht wiedergegeben] 105 Des Weiteren trägt die Klägerin, unterstützt durch die EuroChem Group und SUEK, vor, da sie niemals eine Verbindung zu russischen Entscheidungsträgern unterhalten habe, trage ihre Sanktionierung in keiner Weise zur Verwirklichung der Ziele der Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung bei, nämlich Druck auf die russischen Behörden auszuüben, und stehe im Widerspruch zur Politik der Union zur Sicherstellung der weltweiten Ernährungssicherheit. Die Aufrechterhaltung dieser sie betreffenden restriktiven Maßnahmen sei daher weder erforderlich noch geeignet. 106 Der Rat, unterstützt durch das Königreich Belgien, tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen. 107 Es ist darauf hinzuweisen, dass in den Art. 7, 17 und 45 der Charta das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation, das Eigentumsrecht sowie das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, verbürgt sind. 108 Was als Erstes die in den Art. 7 und 17 der Charta verankerten Grundrechte angeht, ist festzustellen, dass im vorliegenden Fall die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen Sicherungsmaßnahmen darstellen, die nicht darauf abzielen, den betroffenen Personen ihr Eigentumsrecht und ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und der Kommunikation zu entziehen. Mit der Ausnahme des Rechts auf Achtung der Kommunikation, für das eine Einschränkung nicht nachgewiesen wurde, sind die fraglichen Maßnahmen gleichwohl unbestreitbar mit einer Einschränkung dieser Grundrechte verbunden (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 12. März 2014, Al Assad/Rat, T‑202/12, EU:T:2014:113, Rn. 115 und die dort angeführte Rechtsprechung). 109 Nach ständiger Rechtsprechung genießen die Grundrechte aus den Art. 7 und 17 der Charta jedoch keinen absoluten Schutz, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden (vgl. Urteil vom 12. März 2014, Al Assad/Rat, T‑202/12, EU:T:2014:113, Rn. 113 und die dort angeführte Rechtsprechung). 110 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 52 Abs. 1 der Charta zum einen „[j]ede Einschränkung der Ausübung der in [der] Charta anerkannten Rechte und Freiheiten … gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten [muss]“ und zum anderen „[u]nter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit … Einschränkungen nur vorgenommen werden [dürfen], wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“. 111 Um mit dem Unionsrecht vereinbar zu sein, muss eine Einschränkung der Ausübung der Grundrechte und Grundfreiheiten somit vier Voraussetzungen erfüllen. Erstens muss sie insofern „gesetzlich vorgesehen“ sein, als das Unionsorgan, das Maßnahmen erlässt, die geeignet sind, die Grundrechte einer natürlichen oder juristischen Person zu beschränken, hierfür über eine Rechtsgrundlage verfügen muss. Zweitens muss sie den Wesensgehalt dieser Rechte achten. Drittens muss mit der Einschränkung eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgt werden, die als solche von der Union anerkannt ist. Viertens muss sie verhältnismäßig sein (vgl. Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 145 und 222 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 112 Im vorliegenden Fall sind diese vier Voraussetzungen erfüllt. 113 Erstens ist festzustellen, dass die Einschränkungen der Ausübung des Rechts der Klägerin auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung sowie ihres Eigentumsrechts „gesetzlich vorgesehen“ sind, da sie in Rechtsakten festgelegt sind, die insbesondere allgemeine Geltung haben (Beschluss 2014/145 in geänderter Fassung und Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung) und für die eine eindeutige Rechtsgrundlage im Unionsrecht besteht (Art. 29 EUV bzw. Art. 215 AEUV). 114 Zweitens sind die oben in Rn. 113 genannten Einschränkungen befristet und reversibel, da die angefochtenen Rechtsakte für eine Dauer von sechs Monaten gelten und fortlaufend überprüft werden, wie in Art. 6 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung vorgesehen. Daher ist davon auszugehen, dass sie den Wesensgehalt des Rechts der Klägerin auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Wohnung sowie ihres Eigentumsrechts nicht beeinträchtigen. Darüber hinaus sehen die angefochtenen Rechtsakte die Möglichkeit vor, Ausnahmen von den verhängten restriktiven Maßnahmen zu gewähren. Insbesondere ist es in Bezug auf das Einfrieren von Geldern nach Art. 2 Abs. 3 und 4 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung sowie Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung zum einen möglich, die Verwendung eingefrorener Gelder zur Befriedigung von Grundbedürfnissen oder zur Erfüllung bestimmter Verpflichtungen zu genehmigen, und zum anderen, Sondergenehmigungen zu erteilen, um eingefrorene Gelder, sonstige Vermögenswerte oder andere wirtschaftliche Ressourcen freizugeben. 115 Drittens soll mit den oben in Rn. 113 genannten Einschränkungen Druck auf die russischen Behörden ausgeübt werden, damit diese ihre Handlungen und politischen Maßnahmen, die die Ukraine destabilisieren, beenden. Es handelt sich hier um eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung, die im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) verfolgt werden und auf die in Art. 21 Abs. 2 Buchst. b und c EUV Bezug genommen wird, nämlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Grundsätze des Völkerrechts zu festigen und zu fördern sowie den Frieden zu erhalten, Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit und den Schutz der Zivilbevölkerung zu stärken (vgl. entsprechend Urteil vom 30. November 2016, Rotenberg/Rat, T‑720/14, EU:T:2016:689, Rn. 176). 116 Viertens ist in Bezug auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darauf hinzuweisen, dass nach diesem als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. So ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen, und die verursachten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. Urteil vom 30. November 2016, Rotenberg/Rat, T‑720/14, EU:T:2016:689, Rn. 178 und die dort angeführte Rechtsprechung). 117 Was die Geeignetheit der oben in Rn. 113 genannten Einschränkungen angeht, ist im Hinblick auf dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen, die für die Völkergemeinschaft derart grundlegend sind wie die, die mit den angefochtenen Rechtsakten verfolgt werden, festzustellen, dass diese Einschränkungen für sich genommen nicht als unangemessen angesehen werden können. Zu ihrer Erforderlichkeit ist festzustellen, dass die verfolgten Ziele mit alternativen, weniger einschneidenden Maßnahmen wie etwa einem System der vorherigen Genehmigung nicht ebenso wirksam erreicht werden können. Zudem handelt es sich um vorübergehende und reversible Einschränkungen, die Möglichkeiten für Ausnahmen vorsehen. Die Nachteile, die der Klägerin entstehen, stehen deshalb nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung des Ziels, das mit den angefochtenen Rechtsakten verfolgt wird. 118 Im Übrigen ist das Vorbringen der Klägerin, wonach die oben in Rn. 113 genannten Einschränkungen unverhältnismäßig seien, da sie Gefahren für die globale Ernährungssicherung mit sich brächten, als ins Leere gehend zurückzuweisen. Es steht nämlich weder in Zusammenhang mit dem Eigentumsrecht der Klägerin noch mit deren Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie ihrer Wohnung. 119 Somit stehen die oben in Rn. 113 genannten Einschränkungen nicht außer Verhältnis zu den mit den restriktiven Maßnahmen verfolgten Zielen. 120 Als Zweites ist zu dem Vorbringen der Klägerin, wonach ihr Recht aus Art. 45 Abs. 1 der Charta, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, verletzt werde, festzustellen, dass die Ausübung der durch die Charta anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, nach Art. 52 Abs. 2 der Charta im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen erfolgt. Wie aus den Erläuterungen zur Charta (ABl. 2007, C 303, S. 17) hervorgeht, ist das in Art. 45 Abs. 1 der Charta garantierte Recht das Recht, das durch Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV garantiert ist. Dessen Umfang ist in Art. 21 AEUV näher bestimmt. 121 Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV steht das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, unter dem Vorbehalt der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen. Da der in der zweiten Satzhälfte von Art. 21 Abs. 1 AEUV enthaltene Vorbehalt von „Verträgen“ im Plural spricht, sind auch der EU-Vertrag sowie die zu seiner Anwendung erlassenen Bestimmungen eingeschlossen. Im Bereich der GASP können Einschränkungen des in Art. 45 Abs. 1 der Charta verankerten Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, somit durch auf Art. 29 EUV gestützte Rechtsakte, wie die angefochtenen Rechtsakte, vorgenommen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. November 2014, Mayaleh/Rat, T‑307/12 und T‑408/13, EU:T:2014:926, Rn. 195 und 196, und vom 4. Dezember 2015, Sarafraz/Rat, T‑273/13, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:939, Rn. 194 und 195). 122 Jedoch müssen, wie bereits oben in Rn. 111 dargelegt, Einschränkungen der in der Charta verankerten Rechte, um mit dem Unionsrecht im Einklang zu stehen, die in Art. 52 Abs. 1 der Charta festgelegten Bedingungen erfüllen: Sie müssen gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt der Rechte achten, es muss mit ihnen eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgt werden, und sie dürfen nicht unverhältnismäßig sein. Dies gilt auch für durch die Charta anerkannte Rechte, die in den Verträgen geregelt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2015, Delvigne, C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 46, und Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Agenzia delle dogane e dei monopoli und Ministero dell’Economia e delle Finanze, C‑452/20, EU:C:2021:855, Nr. 60). Daher müssen Einschränkungen der Ausübung des in Art. 45 Abs. 1 der Charta verankerten Rechts, die im Rahmen der Durchführung der GASP erfolgen, diese Voraussetzungen erfüllen. 123 Im vorliegendem Fall ist erstens festzustellen, dass die sich aus den angefochtenen Rechtsakten ergebenden Einschränkungen des Rechts der Klägerin, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, „gesetzlich vorgesehen“ sind, da sie in Rechtsakten festgelegt sind, die insbesondere allgemeine Geltung haben (Beschluss 2014/145 in geänderter Fassung und Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung) und für die eine eindeutige Rechtsgrundlage im Unionsrecht besteht (Art. 29 EUV bzw. Art. 215 AEUV). 124 Zweitens ist hinsichtlich der Frage, ob die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen den „Wesensgehalt“ des Rechts der Klägerin achten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, auf die Art und den Umfang der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen abzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 153). 125 Hierzu ist festzustellen, dass die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen den „Wesensgehalt“ des Rechts der Klägerin achten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen. Zunächst stehen diese Einschränkungen nämlich nach Art. 1 Abs. 2 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung im Einklang mit dem Grundsatz des Völkerrechts, wonach ein Staat seinen eigenen Staatsangehörigen nicht das Recht verweigern darf, in sein Hoheitsgebiet einzureisen und sich dort aufzuhalten. Außerdem werden die streitigen Listen gemäß Art. 6 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung regelmäßig überprüft, um die Namen der Personen zu streichen, die die Kriterien für die Aufnahme nicht mehr erfüllen. Schließlich stellen diese Einschränkungen das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, als solches nicht in Frage, denn sie setzen dieses Recht nur bei bestimmten Personen unter ganz bestimmten Voraussetzungen und aufgrund deren individueller Situation vorübergehend aus, solange diese Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2015, Delvigne, C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 48). 126 Drittens dienen die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen der oben in Rn. 115 genannten Zielsetzung des Gemeinwohls. 127 Viertens sind die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen geeignet, die oben in Rn. 115 genannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung zu erreichen, da sie zu deren Verwirklichung beitragen. 128 Zur Erforderlichkeit der oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen ist festzustellen, dass die Klägerin nicht nachgewiesen hat, dass der Rat weniger einschneidende, aber ebenso geeignete Maßnahmen hätte in Betracht ziehen können. Im Übrigen gilt für die Anwendung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen eine Ausnahmeregelung gemäß Art. 1 Abs. 6 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung, die es den Mitgliedstaaten gestattet, Ausnahmen von den verhängten Maßnahmen zuzulassen, u. a. wenn die Reise einer Person aufgrund einer humanitären Notlage gerechtfertigt ist. 129 Zudem ist festzustellen, dass die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen, auch wenn der Klägerin durch die Anwendung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen die von ihr beschriebenen Nachteile entstehen, angesichts der Bedeutung der mit diesen Maßnahmen verfolgten Ziele nicht offensichtlich unverhältnismäßig sind (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 14. Oktober 2009, Bank Melli Iran/Rat, T‑390/08, EU:T:2009:401, Rn. 71). 130 Des Weiteren legt die Klägerin keine konkreten Nachweise für die behauptete Schwere der Nachteile vor, die sich aus der Anwendung der in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen ergeben. Ihr Argument, dass sie daran gehindert sei, sich zu ihrem Familienwohnsitz in der Schweiz zu begeben, ist im Rahmen der Prüfung ihres Vorbringens zur Verletzung ihres Rechts auf Freizügigkeit innerhalb der Union nicht relevant. 131 Daraus folgt, dass die oben in Rn. 123 genannten Einschränkungen die Voraussetzungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta erfüllen. 132 Zum Vorbringen der Klägerin, sie habe gemäß Art. 21 AEUV in entsprechender Anwendung des Urteils vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen (C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 46), ein abgeleitetes Recht, sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, wenn dies erforderlich sei, damit ihre Kinder im Kleinkindalter, die Unionsbürger seien, von ihrem Aufenthaltsrecht Gebrauch machen könnten, ist festzustellen, dass die Erwägungen aus diesem Urteil nicht auf den vorliegenden Fall übertragen werden können, da die Klägerin als Unionsbürgerin über ein eigenständiges Recht verfügt, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Ein solches Recht gilt jedoch nicht absolut, und aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Einschränkung des Rechts der Klägerin, sich in der Union frei zu bewegen, als gerechtfertigt anzusehen ist. 133 Soweit sich die Klägerin im Übrigen auf das abgeleitete Recht ihres Ehemanns, eines Drittstaatsangehörigen, beruft, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und dort aufzuhalten, ist dieses Argument ebenfalls als unbeachtlich zurückzuweisen, da es nicht geeignet ist, eine Beeinträchtigung ihres eigenen Rechts, sich in der Union frei zu bewegen, nachzuweisen. 134 Zum Verweis der Klägerin auf das Recht ihrer minderjährigen Kinder, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 24 Abs. 2 der Charta bei allen Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. 135 Im vorliegenden Fall ist aber zum einen festzustellen, dass die Klägerin in ihren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, dass sie keine Verletzung des Rechts ihrer Kinder, sich in der Union autonom frei zu bewegen und aufzuhalten, geltend mache. Zum anderen ist das Vorbringen der Klägerin nicht hinreichend begründet, soweit sie sich auf die Situation ihrer Kinder beruft, um die geltend gemachte Unverhältnismäßigkeit der Einschränkung ihres eigenen Rechts darzulegen, sich innerhalb der Union frei zu bewegen. Die Klägerin macht nämlich lediglich geltend, dass die gegen sie verhängten restriktiven Maßnahmen ihre Kinder dazu zwängen, das Gebiet der Union zu verlassen. Zudem hat sie auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung zu diesem Punkt lediglich allgemein behauptet, dass ihre Familienmitglieder daran gehindert seien, gemeinsam an ihren Wohnsitzen innerhalb der Union und in der Schweiz zu leben. Darüber hinaus hat sie auf die Unterbrechung der familiären Beziehungen ihrer Kinder zu ihren in Europa lebenden Großeltern sowie auf die Unterbrechung ihrer schulischen Ausbildung verwiesen. Es ist jedoch festzustellen, dass die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen zum einen nicht die Kinder der Klägerin betreffen und zum anderen nicht das Recht der Klägerin einschränken, in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats der Union, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, frei einzureisen und sich dort aufzuhalten. Daher macht die Klägerin zu Unrecht geltend, dass ihre Kinder aufgrund dieser Maßnahmen gezwungen seien, dieses Gebiet zu verlassen. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 6 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung es den Mitgliedstaaten gestattet, Ausnahmen von den in Rede stehenden Maßnahmen u. a. dann zuzulassen, wenn die Reise aufgrund einer humanitären Notlage gerechtfertigt ist, wobei diese Bestimmung im Licht von Art. 24 Abs. 2 der Charta unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes auszulegen und anzuwenden ist. 136 Nach alledem ist der dritte Klagegrund zurückzuweisen und die Klage damit insgesamt abzuweisen. Kosten 137 Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag des Rates die Kosten aufzuerlegen. [nicht wiedergegeben] Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Erste erweiterte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Frau Aleksandra Melnichenko trägt die Kosten. 3. Die EuroChem Group AG, die Siberian Coal Energy Company AO (SUEK) und das Königreich Belgien tragen ihre eigenen Kosten. Mastroianni Brkan Gâlea Tóth Kalėda Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Februar 2025. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Englisch. (1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.
Urteil des Gerichts (Sechste Kammer) vom 29. November 2017.#Dominique Bilde gegen Europäisches Parlament.#Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments – Zulage für parlamentarische Assistenz – Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beträge – Zuständigkeit des Generalsekretärs – Electa una via – Verteidigungsrechte – Beweislast – Begründungspflicht – Berechtigtes Vertrauen – Politische Rechte – Gleichbehandlung – Ermessensmissbrauch – Unabhängigkeit der Abgeordneten – Tatsachenirrtum – Verhältnismäßigkeit.#Rechtssache T-633/16.
62016TJ0633
ECLI:EU:T:2017:849
2017-11-29T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62016TJ0633 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62016TJ0633 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62016TJ0633 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 15. Januar 2025.#Viatcheslav Moshe Kantor gegen Rat der Europäischen Union.#Rechtssache T-748/22.
62022TJ0748
ECLI:EU:T:2025:6
2025-01-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62022TJ0748 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62022TJ0748 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62022TJ0748 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#Alex Kande Mupompa gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-97/20.
62020TJ0097
ECLI:EU:T:2021:573
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0097 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0097 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0097 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#Ilunga Kampete gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-102/20.
62020TJ0102
ECLI:EU:T:2021:577
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0102 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0102 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0102 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#John Numbi gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-109/20.
62020TJ0109
ECLI:EU:T:2021:584
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0109 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0109 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0109 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#Éric Ruhorimbere gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-105/20.
62020TJ0105
ECLI:EU:T:2021:581
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0105 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0105 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0105 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#Évariste Boshab gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-107/20.
62020TJ0107
ECLI:EU:T:2021:583
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0107 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0107 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0107 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#Gabriel Amisi Kumba gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-106/20.
62020TJ0106
ECLI:EU:T:2021:582
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0106 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0106 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0106 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#Jean-Claude Kazembe Musonda gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-95/20.
62020TJ0095
ECLI:EU:T:2021:570
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0095 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0095 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0095 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#Ferdinand Ilunga Luyoyo gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-101/20.
62020TJ0101
ECLI:EU:T:2021:575
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0101 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0101 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0101 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#Emmanuel Ramazani Shadary gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-104/20.
62020TJ0104
ECLI:EU:T:2021:579
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0104 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0104 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0104 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#Célestin Kanyama gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-110/20.
62020TJ0110
ECLI:EU:T:2021:585
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0110 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0110 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0110 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 15. September 2021.#Kalev Mutondo gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Demokratischen Republik Kongo – Einfrieren von Geldern – Einschränkung des Zugangs zu den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten – Belassen des Namens des Klägers auf den Listen der betroffenen Personen – Begründungspflicht – Anspruch auf rechtliches Gehör – Nachweis der Begründetheit der Aufnahme in die Listen und des Belassens auf den Listen – Offensichtlicher Beurteilungsfehler – Fortdauern der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die dem Erlass der restriktiven Maßnahmen zugrunde lagen – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – Unschuldsvermutung – Verhältnismäßigkeit – Einrede der Rechtswidrigkeit.#Rechtssache T-103/20.
62020TJ0103
ECLI:EU:T:2021:578
2021-09-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62020TJ0103 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62020TJ0103 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62020TJ0103 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. Oktober 2020.#Europäische Kommission gegen Ungarn.#Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Zulässigkeit – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen – Art. XVI – Marktzugang – Liste spezifischer Verpflichtungen – Bedingung des Vorliegens einer Genehmigung – Art. XX Abs. 2 – Art. XVII – Inländerbehandlung – In einem Drittstaat ansässiger Dienstleistungserbringer – Nationale Regelung eines Mitgliedstaats, die Bedingungen für die Erbringung von Hochschulbildungsdienstleistungen in seinem Hoheitsgebiet aufstellt – Erfordernis des Abschlusses eines völkerrechtlichen Vertrags mit dem Sitzstaat des Dienstleistungserbringers – Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat des Dienstleistungserbringers – Änderung der Wettbewerbsbedingungen zugunsten der nationalen Dienstleistungserbringer – Rechtfertigung – Öffentliche Ordnung – Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken – Art. 49 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Richtlinie 2006/123/EG – Dienstleistungen im Binnenmarkt – Art. 16 – Art. 56 AEUV – Freier Dienstleistungsverkehr – Vorliegen einer Beschränkung – Rechtfertigung – Zwingender Grund des Allgemeininteresses – Öffentliche Ordnung – Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken – Hochwertige Lehre – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 13 – Akademische Freiheit – Art. 14 Abs. 3 – Freiheit zur Gründung von Lehranstalten – Art. 16 – Unternehmerische Freiheit – Art. 52 Abs. 1.#Rechtssache C-66/18.
62018CJ0066
ECLI:EU:C:2020:792
2020-10-06T00:00:00
Kokott, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62018CJ0066 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 6. Oktober 2020 (*1) Inhaltsverzeichnis I. Rechtlicher Rahmen A. WTO-Recht 1. WTO-Übereinkommen 2. GATS 3. Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten B. Unionsrecht C. Ungarisches Recht II. Vorgerichtliches Verfahren III. Zur Klage A. Zur Zulässigkeit 1. Vorbringen der Verfahrensbeteiligten 2. Würdigung durch den Gerichtshof B. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 1. Vorbringen der Parteien 2. Würdigung durch den Gerichtshof C. Zur Begründetheit 1. Zum Erfordernis des Vorliegens eines vorherigen völkerrechtlichen Vertrags a) Zu den Folgen der Verpflichtungen Ungarns im Sektor der Hochschulbildungsdienstleistungen im Hinblick auf die Regel der Inländerbehandlung in Art. XVII GATS 1) Vorbringen der Parteien 2) Würdigung durch den Gerichtshof b) Zur Änderung der Wettbewerbsbedingungen zugunsten gleicher inländischer Dienstleistungserbringer 1) Vorbringen der Parteien 2) Würdigung durch den Gerichtshof c) Zur Rechtfertigung gemäß Art. XIV GATS 1) Vorbringen der Parteien 2) Würdigung durch den Gerichtshof 2. Zum Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung a) Zu Art. XVII GATS 1) Zur Änderung der Wettbewerbsbedingungen zugunsten gleicher inländischer Dienstleistungserbringer i) Vorbringen der Parteien ii) Würdigung durch den Gerichtshof 2) Zum Vorliegen einer Rechtfertigung i) Vorbringen der Parteien ii) Würdigung durch den Gerichtshof b) Zu Art. 49 AEUV 1) Zur Anwendbarkeit von Art. 49 AEUV i) Vorbringen der Parteien ii) Würdigung durch den Gerichtshof 2) Zum Vorliegen einer Beschränkung i) Vorbringen der Parteien ii) Würdigung durch den Gerichtshof 3) Zum Vorliegen einer Rechtfertigung i) Vorbringen der Parteien ii) Würdigung durch den Gerichtshof c) Zu Art. 16 der Richtlinie 2006/123 und, hilfsweise, zu Art. 56 AEUV 1) Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2006/123 i) Vorbringen der Parteien ii) Würdigung durch den Gerichtshof 2) Zum Vorliegen einer Beschränkung i) Vorbringen der Parteien ii) Würdigung durch den Gerichtshof 3) Zum Vorliegen einer Rechtfertigung i) Vorbringen der Parteien ii) Würdigung durch den Gerichtshof 3. Zu Art. 13, Art. 14 Abs. 3 und Art. 16 der Charta a) Zur Anwendbarkeit der Charta 1) Vorbringen der Parteien 2) Würdigung durch den Gerichtshof b) Zum Vorliegen von Einschränkungen der betroffenen Grundrechte 1) Vorbringen der Parteien 2) Würdigung durch den Gerichtshof c) Zum Vorliegen einer Rechtfertigung 1) Vorbringen der Parteien 2) Würdigung durch den Gerichtshof Kosten „Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Zulässigkeit – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen – Art. XVI – Marktzugang – Liste spezifischer Verpflichtungen – Bedingung des Vorliegens einer Genehmigung – Art. XX Abs. 2 – Art. XVII – Inländerbehandlung – In einem Drittstaat ansässiger Dienstleistungserbringer – Nationale Regelung eines Mitgliedstaats, die Bedingungen für die Erbringung von Hochschulbildungsdienstleistungen in seinem Hoheitsgebiet aufstellt – Erfordernis des Abschlusses eines völkerrechtlichen Vertrags mit dem Sitzstaat des Dienstleistungserbringers – Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat des Dienstleistungserbringers – Änderung der Wettbewerbsbedingungen zugunsten der nationalen Dienstleistungserbringer – Rechtfertigung – Öffentliche Ordnung – Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken – Art. 49 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Richtlinie 2006/123/EG – Dienstleistungen im Binnenmarkt – Art. 16 – Art. 56 AEUV – Freier Dienstleistungsverkehr – Vorliegen einer Beschränkung – Rechtfertigung – Zwingender Grund des Allgemeininteresses – Öffentliche Ordnung – Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken – Hochwertige Lehre – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 13 – Akademische Freiheit – Art. 14 Abs. 3 – Freiheit zur Gründung von Lehranstalten – Art. 16 – Unternehmerische Freiheit – Art. 52 Abs. 1“ In der Rechtssache C‑66/18 betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 1. Februar 2018, Europäische Kommission, vertreten durch V. Di Bucci, L. Malferrari, B. De Meester sowie K. Talabér-Ritz als Bevollmächtigte, Klägerin, gegen Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte, Beklagter, erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, M. Safjan und S. Rodin, der Richter E. Juhász, J. Malenovský (Berichterstatter), L. Bay Larsen und T. von Danwitz, der Richterin C. Toader sowie des Richters C. Lycourgos, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juni 2019, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 5. März 2020 folgendes Urteil 1 Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass Ungarn – gegen seine Verpflichtungen aus Art. XVII des Allgemeinen Übereinkommens über den Handel mit Dienstleistungen (im Folgenden: GATS) in Anhang 1 B des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) (im Folgenden: WTO-Übereinkommen), das in Marrakesch unterzeichnet und durch den Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986–1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche genehmigt wurde (ABl. 1994, L 336, S. 1), verstoßen hat, weil in § 76 Abs. 1 Buchst. a des Nemzeti felsőoktatásról szóló 2011. évi CCIV. törvény (Gesetz Nr. CCIV von 2011 über das nationale Hochschulwesen) (Magyar Közlöny 2011/165) in der am 4. April 2017 vom ungarischen Parlament verabschiedeten Fassung des Nemzeti felsőoktatásról szóló 2011. évi CCIV. törvény módosításáról szóló 2017. évi XXV. törvény (Gesetz Nr. XXV von 2017 zur Abänderung des Gesetzes Nr. CCIV von 2011 über das nationale Hochschulwesen) (Magyar Közlöny 2017/53) (im Folgenden: Hochschulgesetz) ausländischen Hochschuleinrichtungen mit Sitz außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) als Bedingung für die Möglichkeit der Erbringung von Bildungsdienstleistungen der Abschluss eines internationalen Abkommens vorgeschrieben wird; – gegen seine Verpflichtungen aus Art. 16 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36) und jedenfalls aus den Art. 49 und 56 AEUV sowie aus Art. XVII GATS verstoßen hat, weil in § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes ausländischen Hochschuleinrichtungen vorgeschrieben wird, in ihren Herkunftsländern Hochschulausbildung durchzuführen; – gegen seine Verpflichtungen aus Art. 13, Art. 14 Abs. 3 und Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen hat, weil in § 76 Abs. 1 Buchst. a und b des Hochschulgesetzes die vorgenannten Maßnahmen (im Folgenden: streitige Maßnahmen) vorgeschrieben werden; – Ungarn die Kosten aufzuerlegen. I. Rechtlicher Rahmen A. WTO-Recht 1. WTO-Übereinkommen 2 Art. XVI Abs. 4 des WTO-Übereinkommens bestimmt: „Jedes Mitglied stellt sicher, dass seine Gesetze, sonstigen Vorschriften und Verwaltungsverfahren mit seinen Verpflichtungen aufgrund der als Anlage beigefügten Übereinkommen in Einklang stehen.“ 2. GATS 3 In Art. I Abs. 1 bis 3 GATS heißt es: „(1)   Dieses Übereinkommen findet Anwendung auf die Maßnahmen der Mitglieder, die den Handel mit Dienstleistungen beeinträchtigen. (2)   Für die Zwecke dieses Übereinkommens bedeutet der Handel mit Dienstleistungen die Erbringung einer Dienstleistung … c) durch einen Dienstleistungserbringer eines Mitglieds mittels kommerzieller Präsenz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitglieds; … (3)   Für die Zwecke dieses Übereinkommens a) bedeutet der Begriff ‚Maßnahmen der Mitglieder‘ Maßnahmen i) zentraler, regionaler oder örtlicher Regierungen und Behörden sowie ii) nichtstaatlicher Stellen in Ausübung der ihnen von zentralen, regionalen oder örtlichen Regierungen oder Behörden übertragenen Befugnisse. Bei der Erfüllung seiner Pflichten und Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens trifft jedes Mitglied die ihm zur Verfügung stehenden angemessenen Maßnahmen, um die Einhaltung dieser Pflichten und Verpflichtungen durch die regionalen und örtlichen Regierungen und Behörden sowie nichtstaatliche Stellen in seinem Hoheitsgebiet zu gewährleisten; …“ 4 Art. XIV GATS sieht vor: „Unter der Voraussetzung, dass Maßnahmen nicht in einer Weise angewendet werden, die ein Mittel zu willkürlicher oder unberechtigter Diskriminierung unter Ländern, in denen gleiche Bedingungen herrschen, oder eine verdeckte Beschränkung für den Handel mit Dienstleistungen darstellen würde, darf dieses Übereinkommen nicht dahingehend ausgelegt werden, dass es die Annahme oder Durchsetzung von Maßnahmen eines Mitglieds verhindert, a) die erforderlich sind, um die öffentliche Moral oder die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten; … c) die erforderlich sind, um die Erhaltung von Gesetzen oder sonstigen Vorschriften zu gewährleisten, die nicht im Widerspruch zu diesem Übereinkommen stehen, einschließlich solcher i) zur Verhinderung irreführender und betrügerischer Geschäftspraktiken oder zur Behandlung der Folgen einer Nichterfüllung von Dienstleistungsverträgen, …“ 5 Die Art. XVI bis XVIII GATS gehören zu Teil III („Spezifische Verpflichtungen“) dieses Übereinkommens. 6 Art. XVI GATS („Marktzugang“) sieht vor: „(1)   Hinsichtlich des Marktzugangs durch die in Artikel I definierten Erbringungsarten gewährt jedes Mitglied den Dienstleistungen und Dienstleistungserbringern eines anderen Mitglieds eine Behandlung, die nicht weniger günstig ist als die, die nach den in seiner Liste vereinbarten und festgelegten Bestimmungen, Beschränkungen und Bedingungen vorgesehen ist. (2)   In Sektoren, in denen Marktzugangsverpflichtungen übernommen werden, werden die Maßnahmen, die ein Mitglied weder regional noch für sein gesamtes Hoheitsgebiet aufrechterhalten oder einführen darf, sofern in seiner Liste nichts anderes festgelegt ist, wie folgt definiert: a) Beschränkungen der Anzahl der Dienstleistungserbringer in Form von zahlenmäßigen Quoten, Monopolen oder Dienstleistungserbringern mit ausschließlichen Rechten oder des Erfordernisses einer wirtschaftlichen Bedürfnisprüfung; b) Beschränkungen des Gesamtwerts der Dienstleistungsgeschäfte oder des Betriebsvermögens in Form zahlenmäßiger Quoten oder des Erfordernisses einer wirtschaftlichen Bedürfnisprüfung; c) Beschränkungen der Gesamtzahl der Dienstleistungen oder des Gesamtvolumens erbrachter Dienstleistungen durch Festsetzung bestimmter zahlenmäßiger Einheiten in Form von Quoten oder des Erfordernisses einer wirtschaftlichen Bedürfnisprüfung; d) Beschränkungen der Gesamtzahl natürlicher Personen, die in einem bestimmten Dienstleistungssektor beschäftigt werden dürfen oder die ein Dienstleistungserbringer beschäftigen darf und die zur Erbringung einer spezifischen Dienstleistung erforderlich sind und in direktem Zusammenhang damit stehen, in Form zahlenmäßiger Quoten oder des Erfordernisses einer wirtschaftlichen Bedürfnisprüfung; e) Maßnahmen, die bestimmte Arten rechtlicher Unternehmensformen oder von Gemeinschaftsunternehmen beschränken oder vorschreiben, durch die ein Dienstleistungserbringer eine Dienstleistung erbringen darf, und f) Beschränkungen der Beteiligung ausländischen Kapitals durch Festsetzung einer prozentualen Höchstgrenze für die ausländische Beteiligung oder für den Gesamtwert einzelner oder zusammengefasster ausländischer Investitionen.“ 7 Art. XVII („Inländerbehandlung“) GATS bestimmt: „(1)   In den in seiner Liste aufgeführten Sektoren gewährt jedes Mitglied unter den darin festgelegten Bedingungen und Vorbehalten den Dienstleistungen und Dienstleistungserbringern eines anderen Mitglieds hinsichtlich aller Maßnahmen, welche die Erbringung von Dienstleistungen beeinträchtigen, eine Behandlung, die nicht weniger günstig ist als die, die es seinen eigenen gleichen Dienstleistungen und Dienstleistungserbringern gewährt … (2)   Ein Mitglied kann das Erfordernis des Absatzes 1 dadurch erfüllen, dass es Dienstleistungen und Dienstleistungserbringern eines anderen Mitglieds eine Behandlung gewährt, die mit der, die es seinen eigenen gleichen Dienstleistungen oder Dienstleistungserbringern gewährt, entweder formal identisch ist oder sich formal von ihr unterscheidet. (3)   Eine formal identische oder formal unterschiedliche Behandlung gilt dann als weniger günstig, wenn sie die Wettbewerbsbedingungen zugunsten von Dienstleistungen oder Dienstleistungserbringern des Mitglieds gegenüber gleichen Dienstleistungen oder Dienstleistungserbringern eines anderen Mitglieds verändert.“ 8 Art. XX Abs. 1 und 2 GATS sieht vor: „(1)   Jedes Mitglied legt in einer Liste die spezifischen Verpflichtungen fest, die es nach Teil III übernimmt. Jede Liste enthält für die Sektoren, für die derartige Verpflichtungen übernommen werden, folgende Angaben: a) Bestimmungen, Beschränkungen und Bedingungen für den Marktzugang; b) Bedingungen und Qualifikationen für die Inländerbehandlung; … (2)   Maßnahmen, die sowohl mit Artikel XVI als auch mit Artikel XVII nicht vereinbar sind, werden in die für Artikel XVI vorgesehene Spalte eingetragen. In diesem Fall gilt der Eintrag als Bedingung oder Qualifikation auch zu Artikel XVII.“ 3. Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten 9 Art. 1 Abs. 1 der Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten in Anhang 2 des WTO-Übereinkommens (im Folgenden: Streitbeilegungsvereinbarung) sieht vor, dass die Regeln und Verfahren dieser Vereinbarung für Streitigkeiten gelten, die aufgrund der Bestimmungen über Konsultationen und Streitbeilegung der in Anhang 1 des WTO-Übereinkommens genannten Übereinkommen vorgebracht werden, zu denen u. a. das GATS gehört. 10 Art. 3 Abs. 2 dieser Vereinbarung lautet: „Das Streitbeilegungssystem der WTO ist ein zentrales Element zur Schaffung von Sicherheit und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelssystem. Die Mitglieder erkennen an, dass es dazu dient, die Rechte und Pflichten der Mitglieder aus den unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen zu bewahren und die geltenden Bestimmungen dieser Übereinkommen im Einklang mit den herkömmlichen Regeln der Auslegung des Völkerrechts zu klären. Die Empfehlungen und Entscheidungen des [Streitbeilegungsgremiums] können die in den unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen enthaltenen Rechte und Pflichten weder ergänzen noch einschränken.“ 11 Art. 11 der Vereinbarung lautet: „Die Aufgabe der Panels besteht darin, das [Streitbeilegungsgremium] bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben aufgrund dieser Vereinbarung und der unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen zu unterstützen. Demgemäß nimmt das Panel eine objektive Beurteilung der vor ihm liegenden Angelegenheit vor, einschließlich einer objektiven Beurteilung des Sachverhalts und der Anwendbarkeit sowie der Vereinbarkeit mit den einschlägigen unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen, und trifft andere Feststellungen, die dem [Streitbeilegungsgremium] helfen, die in den unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen vorgesehenen Empfehlungen abzugeben oder Entscheidungen zu treffen. Die Panels sollen sich regelmäßig mit den Streitparteien beraten und ihnen ausreichend Gelegenheit geben, eine für alle Seiten zufriedenstellende Lösung zu finden.“ 12 Art. 17 („Rechtsmittelprüfung“) der Vereinbarung sieht insbesondere vor: „(6)   Ein Rechtsmittel beschränkt sich auf die in dem Panelbericht behandelten Rechtsfragen und auf die Rechtsauslegung durch das Panel. … (13)   Das Berufungsgremium kann die rechtlichen Feststellungen und die Schlussfolgerungen des Panels bestätigen, abändern oder aufheben. …“ 13 Art. 19 Abs. 1 der Streitbeilegungsvereinbarung lautet: „Kommt ein Panel oder das Berufungsgremium zu dem Schluss, dass eine Maßnahme mit einem unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen unvereinbar ist, so empfiehlt es, dass das betreffende Mitglied die Maßnahme mit dem Übereinkommen in Einklang bringt. Zusätzlich zu seinen Empfehlungen kann das Panel oder das Berufungsgremium Möglichkeiten vorschlagen, wie das betreffende Mitglied die Empfehlungen umsetzen könnte.“ 14 Art. 21 („Überwachung der Umsetzung der Empfehlungen und Entscheidungen“) der Streitbeilegungsvereinbarung bestimmt: „(1)   Die umgehende Beachtung der Empfehlungen und Entscheidungen des [Streitbeilegungsgremiums] ist für die wirksame Beilegung von Streitigkeiten zum Wohl aller Mitglieder wesentlich. … (3)   Auf einer Sitzung des [Streitbeilegungsgremiums], die innerhalb von dreißig Tagen nach der Annahme des Berichts des Panels oder des Berufungsgremiums abgehalten wird, unterrichtet das betreffende Mitglied das [Streitbeilegungsgremium] über seine Absichten hinsichtlich der Umsetzung der Empfehlungen und Entscheidungen des [Streitbeilegungsgremiums]. Ist es möglich, die Empfehlungen und Entscheidungen sofort umzusetzen, so wird dem betreffenden Mitglied ein angemessener Zeitraum dafür eingeräumt. … … (6)   Das [Streitbeilegungsgremium] überwacht die Umsetzung der angenommenen Empfehlungen oder Entscheidungen. … …“ 15 In Art. 22 Abs. 1 der Streitbeilegungsvereinbarung heißt es: „Eine Entschädigung und die Aussetzung von Zugeständnissen oder sonstigen Pflichten sind vorübergehende Maßnahmen, die zur Verfügung stehen, wenn die Empfehlungen und Entscheidungen nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums umgesetzt werden. …“ 16 Art. 23 Abs. 1 der Streitbeilegungsvereinbarung lautet: „Bemühen sich Mitglieder um die Beseitigung einer Verletzung von Pflichten oder einer sonstigen Zunichtemachung oder Schmälerung von Vorteilen aus den unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen oder einer Behinderung bei der Erreichung eines der Ziele der unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen, so halten sie sich an die Regeln und Verfahren dieser Vereinbarung und befolgen sie.“ B. Unionsrecht 17 Im 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/123 heißt es: „Der Begriff der öffentlichen Ordnung in der Auslegung des Gerichtshofs [der Europäischen Union] umfasst den Schutz vor einer tatsächlichen und hinreichend erheblichen Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt; hierunter können insbesondere Fragen der menschlichen Würde, des Schutzes von Minderjährigen und hilfsbedürftigen Erwachsenen sowie der Tierschutz fallen. …“ 18 Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 gilt diese für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden. 19 Art. 4 Nr. 1 dieser Richtlinie definiert den Begriff der „Dienstleistung“ als „jede von Artikel [57 AEUV] erfasste selbstständige Tätigkeit, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird“. 20 Art. 16 („Dienstleistungsfreiheit“) Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2006/123 sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten achten das Recht der Dienstleistungserbringer, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Niederlassung zu erbringen. Der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, gewährleistet die freie Aufnahme und freie Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten innerhalb seines Hoheitsgebiets. Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht von Anforderungen abhängig machen, die gegen folgende Grundsätze verstoßen: a) Nicht-Diskriminierung: die Anforderung darf weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei juristischen Personen – aufgrund des Mitgliedstaats, in dem sie niedergelassen sind, darstellen; b) Erforderlichkeit: die Anforderung muss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt sein; c) Verhältnismäßigkeit: die Anforderung muss zur Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels geeignet sein und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. … (3)   Der Mitgliedstaat, in den sich der Dienstleistungserbringer begibt, ist nicht daran gehindert, unter Beachtung des Absatzes 1 Anforderungen in Bezug auf die Erbringung von Dienstleistungen zu stellen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt sind. …“ C. Ungarisches Recht 21 Nach § 76 Abs. 1 Buchst. a des Hochschulgesetzes darf eine ausländische Hochschuleinrichtung eine zu einem Abschluss führende Lehrtätigkeit nur dann auf dem Gebiet Ungarns ausüben, wenn „die zwingende Geltung eines zwischen der Regierung Ungarns und der Regierung des Staates, in dem die ausländische Hochschuleinrichtung ihren Sitz hat – im Falle eines föderalen Staates, in dem nicht die Zentralregierung für die Anerkennung der Bindungswirkung eines völkerrechtlichen Vertrags zuständig ist, aufgrund einer vorherigen Vereinbarung mit der Zentralregierung –, geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags über die grundsätzliche Unterstützung der Tätigkeit in Ungarn von den Parteien anerkannt wurde“ (im Folgenden: Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags). 22 Nach § 77 Abs. 2 des Hochschulgesetzes gilt § 76 Abs. 1 Buchst. a dieses Gesetzes nicht für ausländische Hochschuleinrichtungen, deren Sitz sich in einem Mitgliedstaat des EWR befindet. 23 Nach § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes müssen die ausländischen Hochschuleinrichtungen, die in Ungarn tätig sind, nicht nur Hochschuleinrichtungen sein, die in dem Land, in dem sich ihr Sitz befindet, als Hochschuleinrichtung staatlich anerkannt sind, sondern dort auch „tatsächlich eine Hochschulausbildung“ durchführen (im Folgenden: Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung). 24 Nach § 77 Abs. 3 des Hochschulgesetzes gilt § 76 Abs. 1 Buchst. b dieses Gesetzes auch für Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem Mitgliedstaat des EWR. 25 § 115 Abs. 7 des Hochschulgesetzes setzte die Frist, die ausländischen Hochschuleinrichtungen für die Erfüllung der in § 76 Abs. 1 dieses Gesetzes festgelegten Bedingungen eingeräumt wurde, auf den 1. Januar 2018 fest; eine Ausnahme hiervon galt für Bundesstaaten, für die innerhalb von sechs Monaten nach der Veröffentlichung des Gesetzes Nr. XXV von 2017, d. h. bis zum 11. Oktober 2017, eine vorherige Vereinbarung mit der Zentralregierung zu schließen war. Diese Bestimmung sah außerdem vor, dass die Genehmigung für die ausländischen Hochschuleinrichtungen, die die in diesem Gesetz vorgesehenen Bedingungen nicht erfüllen, widerrufen wird und dass ab dem 1. Januar 2018 kein Student für das erste Studienjahr einer von einer ausländischen Hochschuleinrichtung in Ungarn durchgeführten Ausbildung eingeschrieben werden konnte, wobei übergangsweise am 1. Januar 2018 in Ungarn bereits begonnene Studiengänge spätestens im akademischen Jahr 2020/2021 unter unveränderten Bedingungen abgeschlossen werden konnten. II. Vorgerichtliches Verfahren 26 Da die Kommission der Ansicht war, Ungarn habe mit dem Erlass des Hochschulgesetzes gegen die Art. 9, 10 und 13, Art. 14 Nr. 3 und Art. 16 der Richtlinie 2006/123 und, hilfsweise, gegen die Art. 49 und 56 AEUV, gegen Art. XVII GATS sowie gegen Art. 13, Art. 14 Abs. 3 und Art. 16 der Charta verstoßen, richtete sie am 27. April 2017 ein Aufforderungsschreiben an diesen Mitgliedstaat, in dem sie ihm eine Frist von einem Monat zur Stellungnahme einräumte. Ungarn antwortete darauf mit Schreiben vom 25. Mai 2017, in dem es die ihm vorgeworfenen Vertragsverletzungen bestritt. 27 Am 14. Juli 2017 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie u. a. zu dem Schluss gelangte, dass Ungarn – gegen seine Verpflichtungen aus Art. XVII GATS verstoßen habe, weil in § 76 Abs. 1 Buchst. a des Hochschulgesetzes ausländischen Hochschuleinrichtungen mit Sitz außerhalb des EWR als Bedingung für die Möglichkeit der Erbringung von Bildungsdienstleistungen der Abschluss eines internationalen Abkommens vorgeschrieben werde; – gegen seine Verpflichtungen aus Art. 16 der Richtlinie 2006/123 und jedenfalls aus den Art. 49 und 56 AEUV verstoßen habe, weil in § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes ausländischen Hochschuleinrichtungen vorgeschrieben werde, in ihren Herkunftsländern eine Hochschulausbildung durchzuführen; – mit dem Vorschreiben der streitigen Maßnahmen gegen seine Verpflichtungen aus Art. 13, Art. 14 Abs. 3 und Art. 16 der Charta verstoßen habe. 28 Die Kommission setzte Ungarn eine Frist von einem Monat, um die Maßnahmen, die erforderlich sind, um der mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen, zu ergreifen oder eine Stellungnahme abzugeben. 29 Mit Schreiben vom 17. Juli 2017 beantragte Ungarn eine Verlängerung dieser Frist, was die Kommission jedoch ablehnte. 30 Ungarn antwortete auf die mit Gründen versehene Stellungnahme mit Schreiben vom 14. August 2017, dem zufolge die beanstandeten Vertragsverletzungen nicht vorlägen. 31 Mit Schreiben vom 11. September 2017 übermittelte Ungarn der Kommission eine neue Stellungnahme, um u. a. die Situation Ungarns mit der anderer Mitgliedstaaten zu vergleichen und zusätzliche Informationen über mehrere Mitgliedstaaten vorzulegen. 32 Am 26. September 2017 fand eine Expertensitzung zwischen Vertretern der Kommission und Ungarns statt. 33 Am 5. Oktober 2017 richtete die Kommission eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme an Ungarn, in der sie geltend machte, dass Ungarn auch gegen seine Verpflichtungen aus Art. XVII GATS verstoßen habe, weil in § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes ausländische Hochschuleinrichtungen verpflichtet würden, in ihren Herkunftsländern eine Hochschulausbildung durchzuführen. 34 Mit Schreiben vom 6. Oktober 2017 übermittelte Ungarn der Kommission ergänzende Informationen, denen zufolge die Vereinigten Staaten von Amerika der einzige Bundesstaat außerhalb des EWR seien, mit dem ein vorheriges Abkommen im Sinne von § 76 Abs. 1 Buchst. a des Hochschulgesetzes geschlossen werden sollte. Nach den später von den ungarischen Behörden übermittelten Informationen ist eine solche vorherige Vereinbarung innerhalb der ursprünglich in § 115 Abs. 7 dieses Gesetzes vorgesehenen Frist, deren Stichtag der 11. Oktober 2017 gewesen sei, geschlossen worden. 35 Ungarn antwortete mit Schreiben vom 18. Oktober 2017 auf die ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme, in dem die Kommission davon unterrichtet wurde, dass das ungarische Parlament am 17. Oktober 2017 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Hochschulgesetzes verabschiedet habe, der u. a. zur Folge habe, dass die in § 115 Abs. 7 dieses Gesetzes vorgesehene Frist für die Erfüllung der in § 76 Abs. 1 dieses Gesetzes genannten Bedingungen auf den 1. Januar 2019 verschoben werde. 36 Ungarn wies in diesem Schreiben außerdem darauf hin, dass das Gesetz zur Verkündung des Abkommens zwischen der ungarischen Regierung und dem Staat Maryland (Vereinigte Staaten) über die Zusammenarbeit im Hochschulwesen, das die Tätigkeit des McDaniel College in Ungarn betreffe, im Magyar Közlöny (Amtsblatt Ungarns) veröffentlicht worden sei. 37 Schließlich übermittelte Ungarn der Kommission mit Schreiben vom 13. November 2017 neue zusätzliche Informationen, denen zufolge der für die Fortführung der Tätigkeit der Medizinuniversität Hēilóngjiāng Dàxué (China) in Ungarn erforderliche völkerrechtliche Vertrag am 30. Oktober 2017 unterzeichnet worden sei. 38 Vor diesem Hintergrund hat die Kommission am 1. Februar 2018 die vorliegende Vertragsverletzungsklage in Bezug auf die streitigen Maßnahmen erhoben. 39 Mit Entscheidung vom 25. Juli 2018 hat der Präsident des Gerichtshofs dieser Rechtssache eine vorrangige Behandlung gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs gewährt. III. Zur Klage A. Zur Zulässigkeit 1. Vorbringen der Parteien 40 In der Klagebeantwortung trägt Ungarn vor, dass die Klage wegen des Verhaltens der Kommission während des vorgerichtlichen Verfahrens und der sich daraus ergebenden Rechtsverletzungen als unzulässig abzuweisen sei. Ungarn macht zunächst geltend, die Kommission habe ohne Begründung verlangt, dass Ungarn sich zum Aufforderungsschreiben und sodann zu der mit Gründen versehenen Stellungnahme innerhalb eines Monats – anstelle der im Rahmen vorgerichtlicher Verfahren üblichen Frist von zwei Monaten – äußere, obwohl Ungarn mit zwei weiteren parallel eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren mit ähnlichen Fristen befasst gewesen sei. Ferner habe die Kommission die Anträge Ungarns auf Verlängerung dieser Frist ohne angemessene Begründung abgelehnt. 41 Dieses Verhalten zeige, dass sich die Kommission unter Verletzung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit und des Rechts auf eine gute Verwaltung nicht darum bemüht habe, Ungarn in angemessener Weise anzuhören. Dieses Verhalten sei auch ein Verstoß gegen das Recht Ungarns, seine Verteidigungsmittel in sachdienlicher Weise geltend zu machen. 42 In der Gegenerwiderung führt Ungarn ferner aus, die Kommission versuche ihr Verhalten damit zu rechtfertigen, dass die ungarischen Stellen nicht gewillt gewesen seien, die streitigen Bestimmungen des Hochschulgesetzes aufzuheben. Dieser Umstand könne jedoch nicht geltend gemacht werden, um eine Verkürzung der für das vorgerichtliche Verfahren geltenden Fristen zu rechtfertigen, ohne dessen Ziele zu missachten. 43 Im Übrigen habe die Kommission dadurch, dass sie klar zu verstehen gegeben habe, das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren ausschließlich im Interesse der Central European University (CEU) und aus rein politischen Erwägungen eingeleitet zu haben, in gravierender Weise das in Art. 41 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf eine gute Verwaltung verletzt. 44 Die Kommission hält dieses Vorbringen für unbegründet. 2. Würdigung durch den Gerichtshof 45 Was erstens das Vorbringen zu den angeblich zu kurzen Antwortfristen, die Ungarn von der Kommission vorgegeben worden seien, anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass das Vorverfahren dem betroffenen Mitgliedstaat die Möglichkeit geben soll, seinen unionsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen oder seine Verteidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission sachdienlich geltend zu machen (Urteil vom 26. Oktober 2006, Kommission/Italien, C‑371/04, EU:C:2006:668, Rn. 9). Der ordnungsgemäße Ablauf dieses Verfahrens ist nicht nur eine vom AEU-Vertrag vorgeschriebene wesentliche Garantie für den Schutz der Rechte des betroffenen Mitgliedstaats, sondern auch dafür, dass ein etwaiges streitiges Verfahren einen eindeutig festgelegten Streitgegenstand hat (Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung). 46 Diese Ziele gebieten es der Kommission, den betroffenen Mitgliedstaaten eine angemessene Frist einzuräumen, um auf das Aufforderungsschreiben zu antworten und einer mit Gründen versehenen Stellungnahme nachzukommen oder um gegebenenfalls ihre Verteidigung vorzubereiten. Ob die festgesetzte Frist angemessen ist, ist dabei unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Dementsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass eine kurze Frist in besonderen Fällen gerechtfertigt sein kann, insbesondere wenn es dringend ist, einer Vertragsverletzung zu begegnen, oder wenn dem betroffenen Mitgliedstaat der Standpunkt der Kommission schon vor dem Beginn des Verfahrens vollständig bekannt ist (Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 92). 48 Im vorliegenden Fall erließ das ungarische Parlament am 4. April 2017 das Hochschulgesetz, wonach Hochschuleinrichtungen, die die nunmehr in § 76 Abs. 1 des Hochschulgesetzes aufgeführten Bedingungen nicht erfüllen, zum einen ihre Genehmigung für die Ausübung ihrer Tätigkeit entzogen wird und sie zum anderen nicht mehr berechtigt sind, ab dem 1. Januar 2018 Studienanfänger zum ersten Studienjahr zuzulassen, wobei die bereits begonnenen Studiengänge spätestens im Laufe des akademischen Jahres 2020/2021 abgeschlossen werden müssten. 49 Am 27. April 2017 richtete die Kommission ein Aufforderungsschreiben an Ungarn und räumte eine Frist zur Stellungnahme von einem Monat ein. Am 14. Juli 2017 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie Ungarn eine Frist von einem Monat setzte, um die Maßnahmen, die erforderlich sind, um dieser nachzukommen, zu ergreifen oder eine Stellungnahme abzugeben. 50 In Anbetracht der oben genannten Umstände, aus denen sich ergibt, dass der Ungarn gesetzten Frist die nach Ansicht der Kommission vorliegende Dringlichkeit, die gerügte Vertragsverletzung abzustellen, zugrunde lag, erscheint eine Frist von einem Monat nicht unangemessen. 51 Im Übrigen wird diese Beurteilung entgegen dem Vorbringen der ungarischen Regierung nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Kommission die vorliegende Vertragsverletzungsklage erst am 1. Februar 2018 erhoben hat. Die Kommission war nämlich zuvor mit Schreiben vom 18. Oktober 2017 davon unterrichtet worden, dass der Zeitpunkt, ab dem die Hochschuleinrichtungen, die die Bedingungen in § 76 Abs. 1 des Hochschulgesetzes nicht erfüllten, nicht mehr berechtigt wären, Studienanfänger zum ersten Studienjahr zuzulassen, auf den 1. Januar 2019 verschoben worden sei. 52 Jedenfalls kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand, dass die Kommission ein vorgerichtliches Verfahren kurzen Fristen unterwirft, als solcher nicht zur Unzulässigkeit der anschließenden Vertragsverletzungsklage führen. Eine solche Unzulässigkeit ist nämlich nur dann zwingend anzunehmen, wenn das Verhalten der Kommission den betreffenden Mitgliedstaat daran gehindert hat, seine Verteidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission sachdienlich geltend zu machen, und so die Verteidigungsrechte verletzt hat; dafür muss dieser Mitgliedstaat den Beweis erbringen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). 53 Im vorliegenden Fall erbringt Ungarn einen solchen Beweis jedoch nicht. 54 Vielmehr ergibt die Prüfung des in den Rn. 26 bis 37 des vorliegenden Urteils dargestellten Ablaufs des vorgerichtlichen Verfahrens zunächst, dass Ungarn innerhalb der von der Kommission gesetzten Frist von einem Monat substantiierte Erklärungen zum Aufforderungsschreiben und sodann zu der mit Gründen versehenen Stellungnahme abgegeben hat. Des Weiteren hat Ungarn mit drei Schreiben vom 11. September, 6. Oktober und 13. November 2017, die alle von der Kommission akzeptiert wurden, erneut zu der Thematik Stellung genommen. Schließlich zeigen die Korrespondenz während des vorgerichtlichen Verfahrens und die das gerichtliche Verfahren einleitende Klageschrift, dass die Kommission alle von Ungarn in den verschiedenen Phasen dieses Verfahrens abgegebenen Stellungnahmen, einschließlich derjenigen, die nach Ablauf der gesetzten Fristen abgegeben wurden, gebührend berücksichtigt hat. 55 Unter diesen Umständen ist es unerheblich, dass Ungarn während desselben Zeitraums in zwei anderen Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn entsprechende Fristen gesetzt wurden. 56 Was zweitens das Vorbringen Ungarns betrifft, die Kommission habe das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren nur mit dem Ziel eingeleitet, die Interessen der CEU zu schützen, und dies zu rein politischen Zwecken, ist darauf hinzuweisen, dass das mit dem Verfahren nach Art. 258 AEUV verfolgte Ziel die objektive Feststellung des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. März 2019, Kommission/Deutschland, C‑620/16, EU:C:2019:256, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach ständiger Rechtsprechung verfügt die Kommission jedoch hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der Einleitung eines solchen Verfahrens über ein Ermessen, über das der Gerichtshof keine gerichtliche Kontrolle ausüben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Kommission/Rumänien [Bekämpfung der Geldwäsche], C‑549/18, EU:C:2020:563, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung). 57 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die vorliegende Vertragsverletzungsklage zulässig ist. B. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 1. Vorbringen der Parteien 58 Ungarn macht geltend, der Gerichtshof sei für die Entscheidung über die vorliegende Vertragsverletzungsklage nicht zuständig, sofern die Kommission Verstöße gegen das GATS geltend mache. 59 Erstens falle der Bereich der Hochschulbildung gemäß Art. 6 Buchst. e AEUV nicht in die Zuständigkeit der Europäischen Union, so dass es folglich die betroffenen Mitgliedstaaten seien, die in diesem Bereich etwaige Verstöße gegen ihre Verpflichtungen aus dem GATS individuell verantworteten. 60 Zweitens sei es nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts ausschließlich Sache der Panels und des Berufungsgremiums der WTO (im Folgenden: Berufungsgremium), die vom Streitbeilegungsgremium (im Folgenden: DSB) eingerichtet worden seien, zu beurteilen, ob das Hochschulgesetz mit den Verpflichtungen Ungarns aus dem GATS vereinbar sei. 61 Wie sich nämlich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom 10. September 1996, Kommission/Deutschland, C‑61/94, EU:C:1996:313, Rn. 15 und 16) ergebe, sei die Kommission für die Prüfung der Durchführung eines WTO-Übereinkommens zuständig, das im Rahmen der Beziehungen zwischen Mitgliedstaaten und Unionsorganen Bestandteil des Unionsrechts geworden sei, nicht aber im Rahmen der Beziehungen zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat. 62 Sollte der Gerichtshof dem Antrag der Kommission, soweit er auf einen Verstoß gegen das GATS gestützt sei, stattgeben, würde er im Übrigen durch seine autonome Auslegung der Artikel des GATS und der Liste spezifischer Verpflichtungen Ungarns die ausschließliche Zuständigkeit der Mitglieder der WTO und der Organe, die das Streitbeilegungssystem der WTO bildeten, für die Auslegung der WTO-Übereinkommen, und zwar unter Verstoß gegen Art. 216 Abs. 2 AEUV, beeinträchtigen und damit die einheitliche Auslegung des GATS gefährden. 63 Sobald nämlich ein Verstoß eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem GATS durch den Gerichtshof festgestellt worden sei, hätten die Drittstaaten kein Interesse mehr an der Einleitung eines Verfahrens im Rahmen des Streitbeilegungssystems der WTO. 64 Die Kommission entgegnet erstens, dass nach Art. 207 Abs. 4 AEUV der Handel mit Bildungsdienstleistungen im ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Union liege, da er in den Anwendungsbereich der Gemeinsamen Handelspolitik falle. Folglich erfüllten die Mitgliedstaaten, indem sie dafür sorgten, dass die Verpflichtungen aus dem GATS eingehalten werden, eine Pflicht gegenüber der Union, die die Verantwortung für die ordnungsgemäße Durchführung des Übereinkommens übernommen habe. 65 Zweitens bänden gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV die von der Union geschlossenen internationalen Übereinkünfte die Mitgliedstaaten. Wie sich aus der Rechtsprechung ergebe (Urteil vom 10. September 1996, Kommission/Deutschland, C‑61/94, EU:C:1996:313, Rn. 15), falle ihre Verletzung durch die Mitgliedstaaten daher unter das Unionsrecht und stelle eine Vertragsverletzung dar, die Gegenstand einer Klage nach Art. 258 AEUV sein könne. 66 Da es sich im vorliegenden Fall beim GATS um eine von der Union geschlossene internationale Übereinkunft handele, sei es daher Sache der Kommission, dafür Sorge zu tragen, dass die Mitgliedstaaten die sich daraus für die Union ergebenden internationalen Verpflichtungen einhielten, was es u. a. ermögliche, einer etwaigen völkerrechtlichen Haftung der Union in einer Situation vorzubeugen, in der die Gefahr bestehe, dass bei der WTO eine Streitigkeit anhängig gemacht werde. 67 Die Existenz des Streitbeilegungssystems der WTO sei insoweit irrelevant. Zum einen sei die Union als Mitglied der WTO nämlich verpflichtet, im Unionsgebiet für die Einhaltung der Verpflichtungen zu sorgen, die ihr nach den WTO-Übereinkünften oblägen. Zum anderen seien Drittländer weder an unionsinterne Streitbeilegungen gebunden, die sich auf die internationalen Verpflichtungen bezögen, die für die Union und ihre Mitgliedstaaten verbindlich seien, noch an die Auslegung dieser internationalen Verpflichtungen durch den Gerichtshof. 2. Würdigung durch den Gerichtshof 68 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 258 AEUV Gegenstand der Vertragsverletzungsklage nur die Feststellung der Nichteinhaltung von sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtungen sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2002, Kommission/Irland, C‑13/00, EU:C:2002:184, Rn. 13). 69 Der Gerichtshof hat jedoch wiederholt entschieden, dass eine von der Union geschlossene internationale Übereinkunft ab ihrem Inkrafttreten fester Bestandteil des Unionsrechts ist (vgl. u. a. Urteile vom 30. April 1974, Haegeman, 181/73, EU:C:1974:41, Rn. 5 und 6, vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a., C‑366/10, EU:C:2011:864, Rn. 73, und Gutachten 1/17 [CETA EU–Kanada] vom 30. April 2019, EU:C:2019:341, Rn. 117). 70 Im vorliegenden Fall wurde das WTO-Übereinkommen, zu dem das GATS gehört, von der Union unterzeichnet und am 22. Dezember 1994 von dieser mit dem Beschluss 94/800 genehmigt. Es trat am 1. Januar 1995 in Kraft. 71 Folglich ist das GATS Teil des Unionsrechts. 72 Was erstens den von Ungarn erhobenen und in Rn. 59 des vorliegenden Urteils genannten Einwand betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Union nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. e AEUV über eine ausschließliche Zuständigkeit im Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik verfügt. 73 Der Gerichtshof hat entschieden, dass die im Rahmen des GATS eingegangenen Verpflichtungen unter die Gemeinsame Handelspolitik fallen (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/15 [Freihandelsabkommen EU–Singapur] vom 16. Mai 2017, EU:C:2017:376, Rn. 36 und 54). 74 Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten, wie sich aus Art. 6 Buchst. e AEUV ergibt, zwar über eine weitreichende Zuständigkeit im Bereich der Bildung verfügen, da die Union in diesem Bereich nur dafür zuständig ist, „Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten“ durchzuführen, aber die im Rahmen des GATS eingegangenen Verpflichtungen einschließlich derjenigen, die die Liberalisierung des Handels mit privaten Bildungsdienstleistungen betreffen, in die ausschließliche Zuständigkeit der Union fallen. 75 Daher macht Ungarn zu Unrecht geltend, dass sich im Bereich des Handels mit Bildungsdienstleistungen die betreffenden Mitgliedstaaten individuell für etwaige Verstöße gegen ihre Verpflichtungen aus dem GATS zu verantworten haben. 76 Was zweitens den in den Rn. 60 bis 63 des vorliegenden Urteils dargelegten Einwand Ungarns betrifft, ist zu betonen, dass dieser Mitgliedstaat nicht allgemein die Zuständigkeit des Gerichtshofs in Abrede stellt, gemäß Art. 258 AEUV über eine Klage auf Feststellung eines Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen dessen Verpflichtungen zu befinden, die sich aus einer die Union bindenden internationalen Übereinkunft ergeben. Ungarn macht jedoch geltend, die Existenz des Streitbeilegungssystems der WTO, das u. a. auf die Verpflichtungen der WTO-Mitglieder aus dem GATS anwendbar sei, begründe eine Besonderheit, die der Wahrnehmung dieser Zuständigkeit durch den Gerichtshof entgegenstehe. 77 Es ist indessen darauf hinzuweisen, dass diese Frage in der Rechtsprechung zu den Beziehungen des Unionsrechts zum WTO-Recht vom Gerichtshof nicht entschieden worden ist. 78 Bisher hat sich der Gerichtshof nämlich entweder im Rahmen der Beurteilung der Gültigkeit eines Sekundärrechtsakts der Union wegen seiner Unvereinbarkeit mit dem WTO-Recht (vgl. u. a. Urteil vom 1. März 2005, Van Parys, C‑377/02, EU:C:2005:121, Rn. 1 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) oder im Rahmen einer etwaigen außervertraglichen Haftung der Union und des Anspruchs auf Schadensersatz (vgl. u. a. Urteil vom 9. September 2008, FIAMM u. a./Rat und Kommission, C‑120/06 P und C‑121/06 P, EU:C:2008:476, Rn. 1 und 107) geäußert. 79 Insbesondere in den Rechtssachen, in denen die in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angeführten Urteile ergangen sind, wurden dem Gerichtshof für die Union ungünstige Entscheidungen der WTO vorgelegt, und er musste sich zu verschiedenen Aspekten der Durchführung dieser Entscheidungen äußern, u. a. dazu, ob die betroffenen Einzelnen WTO-Recht geltend machen konnten. 80 In der vorliegenden Rechtssache macht die Kommission jedoch zum einen geltend, dass bestimmte von einem Mitgliedstaat erlassene Rechtsvorschriften mit dem GATS unvereinbar seien, so dass dieser Mitgliedstaat gegen das Unionsrecht, dessen fester Bestandteil diese internationale Übereinkunft sei, verstoßen habe. Zum anderen stellt sich in Ermangelung einer Entscheidung des DSB, mit der ein Verhalten der Union oder eines Mitgliedstaats für mit dem WTO-Recht unvereinbar erklärt wird, die Frage einer etwaigen Umsetzung dieser Entscheidung nicht. 81 Vor diesem Hintergrund macht, wie aus Rn. 66 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Kommission geltend, dass das Ziel des vorliegenden Vertragsverletzungsverfahrens darin bestehe, jegliche internationale Haftung der Union in einer Situation zu vermeiden, in der die Gefahr bestehe, dass eine Streitigkeit bei der WTO anhängig gemacht werde. 82 Insoweit stellt Art. 3 Abs. 2 der Streitbeilegungsvereinbarung klar, dass das Streitbeilegungssystem der WTO ein zentrales Element zur Schaffung von Sicherheit und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelssystem ist, das dazu dient, die Rechte und Pflichten der Mitglieder der WTO zu bewahren und die Bestimmungen dieser Übereinkommen im Einklang mit den herkömmlichen Regeln der Auslegung des Völkerrechts zu klären. 83 Insbesondere ist ein Panel nach Art. 11 der Streitbeilegungsvereinbarung befugt, eine objektive Beurteilung der vor ihm liegenden Angelegenheit vorzunehmen, einschließlich einer objektiven Beurteilung des Sachverhalts und der Anwendbarkeit sowie der Vereinbarkeit mit den einschlägigen unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen. Nach Art. 17 Abs. 13 dieser Vereinbarung kann das Berufungsgremium die rechtlichen Feststellungen und die Schlussfolgerungen des Panels bestätigen, abändern oder aufheben, wobei sich seine Zuständigkeit nach Art. 17 Abs. 6 der Vereinbarung auf die in dem Panelbericht behandelten Rechtsfragen und auf die Rechtsauslegung durch das Panel beschränkt. Die Mitglieder der WTO sind grundsätzlich verpflichtet, den Empfehlungen und Entscheidungen des DSB unverzüglich zu entsprechen, wie sich aus Art. 21 Abs. 1 und 3 der Streitbeilegungsvereinbarung ergibt. 84 Daraus folgt, dass unter bestimmten Voraussetzungen die im Rahmen des Streitbeilegungssystems der WTO durchgeführte Kontrolle zu Feststellungen der Unvereinbarkeit der von einem Mitglied der WTO getroffenen Maßnahmen mit dem Recht der WTO führen und letztlich die völkerrechtliche Haftung der Union, die Mitglied der WTO ist, für eine rechtswidrige Handlung auslösen kann. 85 Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. XVI Abs. 4 des WTO-Übereinkommens jedes Mitglied der WTO im Rahmen seiner internen Rechtsordnung verpflichtet ist, in den verschiedenen Teilen seines Hoheitsgebiets für die Einhaltung seiner Verpflichtungen aus dem WTO-Recht Sorge zu tragen. Eine entsprechende Verpflichtung ist im Übrigen in Art. I Abs. 3 Buchst. a GATS vorgesehen. 86 Unter diesen Umständen wirkt sich die Besonderheit des Bestehens des Streitbeilegungssystems der WTO nicht nur nicht auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 258 AEUV aus, sondern steht die Wahrnehmung dieser Zuständigkeit überdies in vollem Einklang mit der Verpflichtung jedes einzelnen WTO-Mitglieds, für die Einhaltung seiner Verpflichtungen aus dem Recht der WTO zu sorgen. 87 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Union nach ständiger Rechtsprechung ihre Befugnisse unter Beachtung des gesamten Völkerrechts ausüben muss, nicht nur der Vorschriften der internationalen Übereinkünfte, die sie binden, sondern auch der Regeln und Grundsätze des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK, C‑266/16, EU:C:2018:118, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 88 Wie sich zunächst aus Art. 3 der von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen ausgearbeiteten Artikel über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen ergibt, von denen die Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 56/83 vom 12. Dezember 2001 Kenntnis genommen hat, die das Völkergewohnheitsrecht kodifizieren und die auf die Union anwendbar sind, bestimmt sich die Beurteilung der Handlung eines Staates als „völkerrechtswidrig“ jedoch ausschließlich nach dem Völkerrecht. Folglich vermag eine gegebenenfalls nach dem Unionsrecht vorgenommene Beurteilung derselben Handlung eine solche Beurteilung nicht zu berühren. 89 Insoweit betont die Kommission zwar zu Recht, dass die dem Gerichtshof nach Art. 258 AEUV obliegende Beurteilung des dem betreffenden Mitgliedstaat vorgeworfenen Verhaltens die anderen Mitglieder der WTO nicht bindet; es ist aber darauf hinzuweisen, dass von dieser Beurteilung auch die Beurteilung unberührt bleibt, die das DSB gegebenenfalls vornehmen könnte. 90 Sodann ergibt sich aus Art. 32 der Artikel über die Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen, dass der verantwortliche Staat sich nicht auf sein innerstaatliches Recht berufen kann, um die Nichterfüllung der ihm nach dem Völkerrecht obliegenden Verpflichtungen zu rechtfertigen. 91 Daraus folgt insbesondere, dass sich weder die Union noch der betreffende Mitgliedstaat auf die vom Gerichtshof im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV vorgenommene Beurteilung des Verhaltens des Mitgliedstaats anhand des Rechts der WTO berufen können, um es abzulehnen, den im WTO-Recht vorgesehenen Rechtsfolgen für den Fall nachzukommen, dass das DSB die Unvereinbarkeit dieses Verhaltens mit dem Recht der WTO feststellen sollte. 92 Schließlich ist unbeschadet der Beschränkungen, die vor dem Unionsrichter für die Möglichkeit der Geltendmachung von WTO-Recht zum Zwecke der Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Handlungen der Unionsorgane gelten und auf die in der in Rn. 78 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hingewiesen worden ist, darauf hinzuweisen, dass der allgemeine völkerrechtliche Grundsatz der Einhaltung vertraglicher Verpflichtungen (pacta sunt servanda), der in Art. 26 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331) niedergelegt ist, beinhaltet, dass der Gerichtshof zum Zwecke der Auslegung und Anwendung des GATS die Auslegung der unterschiedlichen Bestimmungen dieses Übereinkommens durch das DSB berücksichtigen muss. Für den Fall, dass das DSB die betreffenden Bestimmungen noch nicht ausgelegt hat, ist es außerdem Sache des Gerichtshofs, diese Bestimmungen im Einklang mit den herkömmlichen Regeln der Auslegung des Völkerrechts auszulegen, an die die Union gebunden ist, wobei der in Art. 26 aufgestellte Grundsatz der Erfüllung dieser völkerrechtlichen Übereinkunft nach Treu und Glauben zu beachten ist. 93 Nach alledem ist das Vorbringen Ungarns, der Gerichtshof sei für die Entscheidung über die vorliegende Vertragsverletzungsklage, was die Rüge eines Verstoßes gegen das GATS anbelange, nicht zuständig, insgesamt zurückzuweisen. C. Zur Begründetheit 1. Zum Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags 94 Um über die erste Rüge entscheiden zu können, ist zunächst der Umfang der Verpflichtungen Ungarns im Sektor der Hochschulbildungsdienstleistungen im Hinblick auf die in Art. XVII GATS enthaltene Regel der Inländerbehandlung zu bestimmen; sodann zu prüfen, ob durch das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags die Wettbewerbsbedingungen unter Verstoß gegen diese Bestimmung zugunsten inländischer Erbringer solcher Dienstleistungen oder von ihnen erbrachter Dienstleistungen geändert werden, und bejahendenfalls ist schließlich das Vorbringen Ungarns zur Rechtfertigung dieser Änderung auf der Grundlage einer der in Art. XIV GATS vorgesehenen Ausnahmen zu prüfen. a) Zu den Folgen der Verpflichtungen Ungarns im Sektor der Hochschulbildungsdienstleistungen im Hinblick auf die Regel der Inländerbehandlung in Art. XVII GATS 1) Vorbringen der Parteien 95 Die Kommission trägt erstens vor, der Eintrag privat finanzierter Hochschulbildungsdienstleistungen in die Liste der spezifischen Verpflichtungen Ungarns und, was die Schaffung einer kommerziellen Präsenz nach Art. I Abs. 2 Buchst. c GATS (im Folgenden: Erbringungsart 3) anbelange, die Erwähnung des Wortes „keine“ in der Spalte „Beschränkungen der Inländerbehandlung“ im Sinne von Art. XVII GATS bedeuteten, dass es keine Beschränkung in Bezug auf diese Verpflichtung und daher eine diesbezüglich uneingeschränkte Verpflichtung Ungarns gebe. 96 Zweitens könne die von Ungarn in der Spalte „Marktzugangsbeschränkungen“ im Sinne von Art. XVI GATS genannte Bedingung, wonach die „Errichtung von Einrichtungen von der Erteilung einer Genehmigung durch die zentralen Behörden abhängig“ sei, nicht so verstanden werden, dass sie auch die Regel der Inländerbehandlung im Sinne von Art. XX Abs. 2 GATS betreffe. 97 Hierzu macht die Kommission zunächst geltend, diese Bedingung sei so vage und allgemein formuliert, dass sie es ermögliche, die Erlangung dieser Genehmigung unter Verstoß gegen den Wortlaut von Art. XX Abs. 1 Buchst. a und b GATS von jeder Art spezifischer Voraussetzung abhängig zu machen. Eine solche Bedingung der Einholung einer vorherigen Genehmigung sei ferner geeignet, den im zweiten Absatz der Präambel des GATS genannten Zweck des Eingehens von Verpflichtungen nach den Art. XVI und XVII GATS zu gefährden, der in der Ausweitung des Handels mit Dienstleistungen„unter Bedingungen der Transparenz und der fortschreitenden Liberalisierung“ bestehe. Selbst wenn man darüber hinaus davon ausgehe, dass diese in der Spalte „Marktzugangsbeschränkungen“ enthaltene Bedingung tatsächlich für die Inländerbehandlung gelte, könne diese mit ihrer Formulierung nicht das in § 76 Abs. 1 Buchst. a des Hochschulgesetzes vorgesehene spezifische Erfordernis umfassen, wonach die Regierung Ungarns und die Regierung des Staates, in dem sich der Sitz der ausländischen Hochschuleinrichtung befinde, durch einen Vertrag über die grundsätzliche Unterstützung dieser Einrichtung im Hinblick auf eine etwaige Tätigkeit dieser Hochschuleinrichtung in Ungarn gebunden sein wollten. 98 Sodann macht die Kommission geltend, dass nach den vom WTO-Rat für den Handel mit Dienstleistungen erlassenen Leitlinien für die Erstellung der Listen spezifischer Verpflichtungen im Rahmen des Allgemeinen Übereinkommens über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) vom 23. März 2001 (S/L/92) Genehmigungsvorschriften nicht als Marktzugangsbeschränkungen im Sinne von Art. XVI GATS angesehen werden könnten. Daher könne sich Ungarn nicht hinter dem Erfordernis der Erteilung einer vorherigen Genehmigung verschanzen, um das Vorliegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Inländerbehandlung auszuschließen. 99 Schließlich sei dieses Erfordernis keine Maßnahme, die in den Anwendungsbereich von Art. XVI GATS falle. Art. XVI Abs. 2 GATS zähle nämlich abschließend die Beschränkungen auf, die in den Anwendungsbereich dieses Artikels fielen. Dieses Erfordernis sei aber weder in dieser Liste aufgeführt, noch ähnele es einer der dort aufgeführten Maßnahmen. 100 Die Kommission schließt daraus, dass sich Ungarn in Bezug auf die Erbringungsart 3 verpflichtet habe, Dienstleistungserbringer aus Drittländern, die Mitglieder der WTO seien, nicht weniger günstig zu behandeln als seine inländischen Dienstleistungserbringer. 101 Ungarn trägt vor, gemäß Art. XX Abs. 2 GATS habe die in Rn. 96 des vorliegenden Urteils genannte Bedingung, die in der Spalte „Marktzugangsbeschränkungen“ eingetragen sei, auch Auswirkungen auf die Verpflichtung zur Inländerbehandlung. 102 Außerdem erlaube die allgemein gehaltene Formulierung dieser Bedingung es Ungarn, ein „Lizenzsystem mit Ermessensspielraum“ beizubehalten, dessen Bestimmungen es, erforderlichenfalls durch die Beschränkung der Niederlassung ausländischer Dienstleistungserbringer, frei anpassen könne, auch indem es den vorherigen Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags vorschreibe. 2) Würdigung durch den Gerichtshof 103 Zunächst muss nach Art. XVII Abs. 1 GATS jedes WTO-Mitglied in den in seiner Liste spezifischer Verpflichtungen aufgeführten Sektoren und unter den darin festgelegten Bedingungen und Vorbehalten den Dienstleistungen und Dienstleistungserbringern jedes anderen WTO-Mitglieds eine Behandlung gewähren, die nicht weniger günstig ist als die, die es seinen eigenen gleichen Dienstleistungen und Dienstleistungserbringern gewährt. 104 Sodann muss nach Art. XVI Abs. 1 GATS jedes WTO-Mitglied hinsichtlich des Marktzugangs durch die in Art. I GATS definierten Erbringungsarten den Dienstleistungen und Dienstleistungserbringern eines anderen Mitglieds eine Behandlung gewähren, die nicht weniger günstig ist als die, die nach den in seiner Liste spezifischer Verpflichtungen vereinbarten und festgelegten Bestimmungen, Beschränkungen und Bedingungen vorgesehen ist. 105 Schließlich bestimmt Art. XX Abs. 1 GATS, dass jedes WTO-Mitglied in einer Liste diejenigen spezifischen Verpflichtungen festlegt, die es nach Teil III GATS, zu dem u. a. die Art. XVI und XVII gehören, übernimmt. In Bezug auf die Sektoren, für die diese Verpflichtungen eingegangen werden, muss jede Liste die Bestimmungen, Beschränkungen und Bedingungen für den Marktzugang sowie die Bedingungen und Qualifikationen für die Inländerbehandlung enthalten. Diese Listen spezifischer Verpflichtungen bilden einen integrierenden Bestandteil des GATS. 106 Folglich ergibt sich aus den Art. XVI, XVII und XX GATS, dass in der Liste spezifischer Verpflichtungen für ein WTO-Mitglied die Verpflichtungen aufgeführt sind, die dieses Mitglied nach Sektoren und Erbringungsart eingegangen ist. In dieser Liste werden u. a. die Bestimmungen, Beschränkungen und Bedingungen für „Marktzugangsbeschränkungen“ sowie die Bedingungen und Qualifikationen in Bezug auf „Beschränkungen der Inländerbehandlung“ aufgeführt. Diese Angaben sind Gegenstand zweier verschiedener Spalten. 107 Außerdem sind nach Art. XX Abs. 2 GATS Maßnahmen, die sowohl mit Art. XVI als auch mit Art. XVII GATS nicht vereinbar sind, der Einfachheit halber nur in die für „Marktzugangsbeschränkungen“ vorgesehene Spalte der Liste spezifischer Verpflichtungen einzutragen, wobei dieser einzige Eintrag dann auch als impliziter Eintrag einer Bedingung oder Qualifikation für die Inländerbehandlung gilt (vgl. Bericht des WTO-Panels vom 16. Juli 2012: „China – Bestimmte Maßnahmen, die die elektronischen Zahlungsdienste betreffen“ [WT/DS 413/R], angenommen vom DSB am 31. August 2012, Rn. 7.658). 108 Folglich kann eine Bedingung, die formell nur gemäß Art. XVI GATS eingetragen ist, nur von der Verpflichtung zur Inländerbehandlung nach Art. XVII abweichen, wenn die mit ihr eingeführte Art von Maßnahmen sowohl gegen die Verpflichtung nach Art. XVI als auch gegen die in Art. XVII GATS vorgesehene Verpflichtung verstößt (vgl. Bericht des WTO-Panels vom 16. Juli 2012: „China – Bestimmte Maßnahmen, die die elektronischen Zahlungsdienste betreffen“ [WT/DS 413/R], angenommen vom DSB am 31. August 2012, Rn. 7.658). 109 Im vorliegenden Fall enthält die Liste der spezifischen Verpflichtungen Ungarns (GATS/SC/40 vom 15. April 1994) in der Spalte „Marktzugangsbeschränkungen“ in Bezug auf Hochschulbildungsdienstleistungen mittels kommerzieller Präsenz die Bedingung, dass die Gründung von Schulen von der Erteilung einer vorherigen Genehmigung durch die Zentralbehörden abhängig ist. 110 Die Spalte „Beschränkungen der Inländerbehandlung“ enthält für den Teilsektor der Hochschulbildungsdienstleistungen die Angabe „keine“. 111 Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob die in Rn. 109 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung des Vorliegens einer vorherigen Genehmigung, die in der Spalte „Marktzugangsbeschränkungen“ eingetragen ist, auch auf die in Art. XVII GATS vorgesehene Verpflichtung zur Inländerbehandlung anwendbar ist. 112 Insoweit ergibt sich aus der Tragweite der in Rn. 108 des vorliegenden Urteils dargestellten Vereinfachungsregel in Art. XX Abs. 2 GATS, dass eine Bedingung nur dann unter diese Regel fallen und mithin auch für Art. XVII GATS gelten kann, wenn sie diskriminierenden Charakter hat. 113 Wie sich jedoch bereits aus dem Wortlaut der Bedingung des Vorliegens einer vorherigen Genehmigung ergibt, soll sie für alle Bildungseinrichtungen unabhängig von ihrer Herkunft gelten, so dass sie keinen diskriminierenden Aspekt enthält. Daher kann die Regelung des Art. XX Abs. 2 GATS im vorliegenden Fall keine Anwendung finden. Folglich erlaubt diese Bedingung es Ungarn nicht, eine Ausnahme von der in Art. XVII GATS vorgesehenen Verpflichtung zur Inländerbehandlung geltend zu machen. 114 Nach alledem ist festzustellen, dass die Kommission zu Recht geltend macht, dass der Eintrag privat finanzierter Hochschulbildungsdienstleistungen in die Liste der spezifischen Verpflichtungen Ungarns durch Ungarn und, was die Erbringungsart 3 anbelangt, der Eintrag des Wortes „keine“ in der Spalte „Beschränkungen der Inländerbehandlung“ bedeutet, dass die Verpflichtungen Ungarns aus Art. XVII GATS in Bezug auf diese Dienstleistungen nicht beschränkt sind. b) Zur Änderung der Wettbewerbsbedingungen zugunsten gleicher inländischer Dienstleistungserbringer 1) Vorbringen der Parteien 115 Die Kommission trägt vor, dass die ungarischen Vorschriften, da Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem Mitgliedsland der WTO, das nicht zum EWR gehöre, in Ungarn nur Hochschulbildungsdienstleistungen erbringen könnten, wenn ihr Sitzstaat zuvor mit der ungarischen Regierung einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen habe, unter Verstoß gegen die in Art. XVII GATS vorgesehene Verpflichtung zur Inländerbehandlung eine weniger günstige Behandlung dieser Dienstleistungserbringer vorsähen als die Behandlung, die sowohl gleichen ungarischen als auch im EWR niedergelassenen Dienstleistungserbringern gewährt werde. 116 Unter Bezugnahme auf den Wortlaut des Hochschulgesetzes fügt die Kommission hinzu, dass die ungarische Regierung hinsichtlich des Inhalts dieses Vertrags und der Entscheidung, Verhandlungen mit dem Ziel seines Abschlusses aufzunehmen, über ein Ermessen verfüge. Folglich stehe es dieser Regierung frei, selbst aus willkürlichen Gründen den Abschluss eines solchen Vertrags abzulehnen, auch wenn der Sitzstaat des Dienstleistungserbringers dazu bereit wäre. 117 Ungarn macht geltend, das Hauptziel des Erfordernisses des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags sei es, die diplomatischen Anstrengungen auf dem Gebiet der Kulturpolitik zu verstärken. Die ungarische Regierung habe sich mehrfach bereit erklärt, Verhandlungen aufzunehmen, und alles unternommen, damit diese zu Ende geführt werden könnten. Die Unterzeichnungen zweier Abkommen, eines mit dem Staat Maryland (Vereinigte Staaten) und ein anderes mit der Volksrepublik China, die nach der Änderung des Hochschulgesetzes erfolgt seien, zeigten, dass die erlassene Maßnahme keine unmöglich zu erfüllende Bedingung sei. 2) Würdigung durch den Gerichtshof 118 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags, mit dem der Abschluss eines Abkommens zwischen Ungarn und einem anderen Staat, der nicht dem EWR angehört, verlangt wird, jedenfalls nur bestimmte ausländische Dienstleistungserbringer betreffen kann. Da ein solches Erfordernis diesen ausländischen Dienstleistungserbringern eine zusätzliche Bedingung für die Erbringung von Hochschulbildungsdienstleistungen in Ungarn im Vergleich zu denjenigen auferlegt, die für in diesem Mitgliedstaat oder in einem anderen Mitgliedstaat des EWR ansässige Erbringer gleicher Dienstleistungen gelten, führt es im Sinne von Art. XVII Abs. 3 GATS zu einer formal unterschiedlichen Behandlung dieser Kategorien von Dienstleistungserbringern. 119 Nach dieser Bestimmung ist daher zu prüfen, ob das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags dadurch, dass es eine formal unterschiedliche Behandlung einführt, zugunsten der in Ungarn ansässigen Erbringer von Hochschulbildungsdienstleistungen oder der von ihnen erbrachten Dienstleistungen die Wettbewerbsbedingungen ändert. 120 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass dieses Erfordernis, wie es in § 76 Abs. 1 Buchst. a des Hochschulgesetzes niedergelegt ist, bedeutet, dass Ungarn sowohl hinsichtlich der Zweckmäßigkeit des Abschlusses eines solchen Vertrags als auch hinsichtlich seines Inhalts über Ermessen verfügt. Unter diesen Umständen steht die Möglichkeit für Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem anderen Mitgliedsland der WTO, das nicht dem EWR angehört, ihre Tätigkeiten im ungarischen Hoheitsgebiet auszuüben, vollständig im Ermessen der ungarischen Behörden. 121 Daraus ergeben sich Wettbewerbsnachteile für die Dienstleistungserbringer mit Sitz in einem Mitgliedstaat der WTO, der nicht dem EWR angehört, so dass das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags unter Verstoß gegen Art. XVII GATS die Wettbewerbsbedingungen zugunsten ungarischer Dienstleistungserbringer ändert. c) Zur Rechtfertigung gemäß Art. XIV GATS 1) Vorbringen der Parteien 122 Ungarn trägt vor, das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags sei notwendig, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und irreführende Geschäftspraktiken zu verhindern. Dieses Erfordernis ermögliche es nämlich, sicherzustellen, dass der Sitzstaat der betreffenden Einrichtung diese Dienstleistungserbringerin als „vertrauenswürdig“ ansehe und die künftige Tätigkeit einer solchen Einrichtung in Ungarn unterstütze. Dieses Erfordernis ermögliche es außerdem, sich zu vergewissern, dass die betreffende Einrichtung die Rechtsvorschriften ihres Sitzstaats beachte, der gegebenenfalls die Einhaltung bestimmter Bedingungen für eine Tätigkeit in Ungarn vorschreibe. 123 Außerdem gebe es keine andere Lösung, mit der die vom ungarischen Gesetzgeber verfolgten Ziele erreicht werden könnten und die mit den WTO-Regeln vereinbar sei. 124 Insbesondere sei es entgegen dem Vorschlag der Kommission nicht realistisch, auf die betreffenden ausländischen Hochschuleinrichtungen die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften in gleicher Weise wie auf die ungarischen anzuwenden. 125 Der Kommission macht geltend, dass das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags mit keiner gemäß dem GATS zulässigen Ausnahme gerechtfertigt werden könne, insbesondere nicht mit den in Art. XIV Buchst. a und c Ziff. i und ii GATS vorgesehenen Ausnahmen. 126 Vor allem habe Ungarn in diesem Zusammenhang nichts vorgetragen, was die Behauptung Ungarns stützen könnte, dass dieses Erfordernis zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung beitrage, und in diesem Zusammenhang nicht einmal erläutert, worin die wirkliche, ausreichend schwerwiegende Bedrohung einer der Grundwerte der ungarischen Gesellschaft bestehen solle; im Übrigen habe Ungarn auch nicht erläutert, inwiefern sich dieses Erfordernis als notwendig herausstellen könnte, um das – einmal als erwiesen unterstellte – Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu erreichen, und warum es in diesem Fall keine andere, weniger stark einschränkende Lösung gebe. 127 In Anbetracht des Ermessens, über das Ungarn bei der Aufnahme von Verhandlungen mit dem Staat verfüge, in dem sich der Sitz einer ausländischen Hochschuleinrichtung befinde, genüge dieses Erfordernis jedenfalls nicht der in Art. XIV GATS vorgesehenen Voraussetzung, wonach Maßnahmen, die möglicherweise nach diesem Artikel gerechtfertigt sein könnten, „nicht in einer Weise angewendet werden, die ein Mittel zu willkürlicher oder unberechtigter Diskriminierung unter Ländern, in denen gleiche Bedingungen herrschen, oder eine verdeckte Beschränkung für den Handel mit Dienstleistungen darstellen würde“. 2) Würdigung durch den Gerichtshof 128 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass Art. XIV Buchst. a und Buchst. c Ziff. i GATS u. a. vorsieht, dass keine Bestimmung dieses Übereinkommens dahin gehend ausgelegt werden darf, dass sie die Annahme oder Durchsetzung von Maßnahmen verhindert, die zum einen erforderlich sind, um die öffentliche Moral oder die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, und die zum anderen erforderlich sind, um die Erhaltung von Gesetzen oder sonstigen Vorschriften zu gewährleisten, die nicht im Widerspruch zu diesem Übereinkommen stehen, einschließlich solcher zur Verhinderung irreführender und betrügerischer Geschäftspraktiken oder zur Behandlung der Folgen einer Nichterfüllung von Dienstleistungsverträgen. 129 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die beiden von Ungarn angeführten Ziele, nämlich zum einen das Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum anderen das Ziel der Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken, in der Tat vom GATS erfasst werden. 130 Was zweitens die Prüfung betrifft, ob das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags im Hinblick auf das Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt ist, heißt es in Fn. 5 zu Art. XIV Buchst. a GATS: „Die Ausnahmeregelung in Bezug auf die öffentliche Ordnung kann nur in Anspruch genommen werden, wenn eine wirkliche, ausreichend schwerwiegende Bedrohung der Grundwerte der Gesellschaft vorliegt.“ 131 Ungarn hat jedoch nichts vorgebracht, was konkret und substantiiert belegen könnte, inwiefern die Ausübung einer Hochschullehrtätigkeit in seinem Hoheitsgebiet durch Einrichtungen mit Sitz in einem nicht zum EWR gehörenden Staat ohne einen solchen Vertrag eine wirkliche, ausreichend schwerwiegende Bedrohung darstellt, die einen Grundwert der ungarischen Gesellschaft berührt. 132 Daher kann das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags nicht mit dem Vorbringen Ungarns zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt werden. 133 Was drittens das Ziel der Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken betrifft, geht aus dem oben in Rn. 122 zusammengefassten diesbezüglichen Vorbringen Ungarns hervor, dass Ungarn den vorherigen Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags offenbar für erforderlich hält, um vom betroffenen Drittstaat die Gewähr zu erhalten, dass die betreffende ausländische Hochschuleinrichtung zuverlässig ist, und um damit Risiken in diesem Zusammenhang vorzubeugen. 134 Dieses Vorbringen kann jedoch das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags nicht rechtfertigen. 135 Art. XIV GATS sieht nämlich vor, dass die dort aufgeführten Ausnahmen nicht in einer Weise angewendet werden, die ein Mittel zu willkürlicher oder unberechtigter Diskriminierung unter Ländern, in denen gleiche Bedingungen herrschen, oder eine verdeckte Beschränkung für den Handel mit Dienstleistungen darstellen würde. 136 Zum einen ist, wie die Generalanwältin in den Nrn. 119 und 120 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags es Ungarn ermöglicht, willkürlich den Eintritt einer Einrichtung auf seinen Markt oder die Fortführung der Tätigkeiten einer Einrichtung auf diesem Markt zu verhindern, da der Abschluss eines solchen Vertrags und damit die Erfüllung dieses Erfordernisses letztlich allein vom politischen Willen Ungarns abhängt. Dieses Erfordernis unterscheidet sich darin grundlegend von einer Bedingung, wonach die Zuverlässigkeit einer ausländischen Lehranstalt durch eine einseitige Erklärung der Regierung des Drittstaats, in dem sie ihren Sitz hat, bescheinigt werden muss. 137 Zum anderen ist das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags, soweit es für ausländische Hochschuleinrichtungen gilt, die bereits auf dem ungarischen Markt präsent gewesen waren, jedenfalls nicht verhältnismäßig, da das Ziel, irreführende Geschäftspraktiken zu verhindern, wirksamer erreicht werden könnte, wenn die Tätigkeiten solcher Einrichtungen in Ungarn kontrolliert und gegebenenfalls die Fortsetzung dieser Tätigkeiten nur denjenigen unter ihnen verboten wird, für die festgestellt werden konnte, dass sie solche Geschäftspraktiken angewandt hatten. 138 Unter diesen Umständen kann das Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags nicht mit dem auf die Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken abstellenden Vorbringen Ungarns gerechtfertigt werden. 139 Nach alledem ist festzustellen, dass Ungarn mit dem Erlass der in § 76 Abs. 1 Buchst. a des Hochschulgesetzes vorgesehenen Maßnahme gegen seine Verpflichtungen aus Art. XVII GATS verstoßen hat. 2. Zum Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung a) Zu Art. XVII GATS 140 Vorab ist zum einen darauf hinzuweisen, dass § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes, auf den sich die Rüge der Kommission bezieht, die ausländische Hochschuleinrichtung, die eine Tätigkeit in Ungarn ausüben möchte, verpflichtet, Ausbildung in ihrem Sitzstaat, unabhängig davon, ob es sich bei diesem Staat um einen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat handelt, durchzuführen, und zum anderen darauf, dass sich das Vorbringen der Kommission zur Stützung dieser Rüge auf das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung bezieht, ohne danach zu unterscheiden, ob dieses Erfordernis für ausländische Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat gilt. Da jedoch, wie sich aus den Ausführungen in Rn. 73 des vorliegenden Urteils ergibt, Art. XVII GATS unter die Gemeinsame Handelspolitik fällt, ist diese Bestimmung für die Prüfung dieser Rüge nur insoweit relevant, als dieses Erfordernis für Hochschuleinrichtungen gilt, die ihren Sitz in einem Drittstaat haben, der Mitglied der WTO ist. 141 Nachdem in Rn. 114 des vorliegenden Urteils die Tragweite der Verpflichtungen Ungarns aus Art. XVII GATS in Bezug auf Hochschulbildungsdienstleistungen klargestellt worden ist, ist zu prüfen, ob das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung, soweit es sich um einen Drittstaat handelt, der Mitglied der WTO ist, die Wettbewerbsbedingungen für gleiche inländische Dienstleistungserbringer oder von ihnen erbrachte Dienstleistungen unter Verstoß gegen diese Bestimmung ändert, und, bejahendenfalls, das Vorbringen Ungarns zu prüfen, das darauf abzielt, diese Änderung mit einer der in Art. XIV GATS vorgesehenen Ausnahmen zu rechtfertigen. 1) Zur Änderung der Wettbewerbsbedingungen zugunsten gleicher inländischer Dienstleistungserbringer i) Vorbringen der Parteien 142 Die Kommission trägt vor, das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung verändere die Wettbewerbsbedingungen zugunsten der inländischen Dienstleistungserbringer und verstoße daher gegen die Verpflichtung zur Inländerbehandlung, die Ungarn gemäß Art. XVII GATS uneingeschränkt einzuhalten habe. 143 Insbesondere macht die Kommission geltend, dass das GATS die Anerkennung als Dienstleistungserbringer, dem durch dieses Übereinkommen garantierte Rechte zugutekämen, nicht von der Erbringung von Dienstleistungen im Herkunftsland abhängig mache. Da dieses Erfordernis zur Folge habe, dass ausländische Dienstleistungserbringer daran gehindert würden, zuerst eine Niederlassung in Ungarn zu gründen, sei dieses Erfordernis daher für sie diskriminierend. 144 Ungarn verweist mutatis mutandis auf sein Vorbringen zum Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags. ii) Würdigung durch den Gerichtshof 145 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich Ungarn, wie aus Rn. 114 des vorliegenden Urteils hervorgeht, gemäß Art. XVII GATS verpflichtet hat, eine uneingeschränkte Inländerbehandlung in Bezug auf die kommerzielle Präsenz von Erbringern von Hochschulbildungsdienstleistungen sicherzustellen. 146 Das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung zielt jedoch speziell auf Dienstleistungserbringer mit Sitz im Ausland ab. 147 Folglich ist zu prüfen, ob das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung die Wettbewerbsbedingungen durch die Einführung dieser formal unterschiedlichen Behandlung zugunsten der ungarischen Dienstleistungserbringer oder der von ihnen erbrachten Dienstleistungen gegenüber den Erbringern gleicher Dienstleistungen, die ihren Sitz in einem der WTO angehörenden Drittstaat haben, oder den von ihnen erbrachten Dienstleistungen ändert. 148 Hierzu ist festzustellen, dass die Erbringer von Hochschulbildungsdienstleistungen, die ihren Sitz in einem der WTO angehörenden Drittstaat haben und sich in Ungarn niederlassen wollen, verpflichtet sind, zuvor eine Niederlassung in diesem Drittstaat zu errichten und dort tatsächlich eine Hochschulausbildung durchzuführen. 149 Daraus ergibt sich ein Wettbewerbsnachteil für die betreffenden ausländischen Dienstleistungserbringer, so dass das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung die Wettbewerbsbedingungen zugunsten gleicher ungarischer Dienstleistungserbringer ändert. 2) Zum Vorliegen einer Rechtfertigung i) Vorbringen der Parteien 150 Zur Rechtfertigung einer solchen Änderung der Wettbewerbsbedingungen beruft sich Ungarn zum einen auf das Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum anderen auf das Ziel der Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken. 151 Die Kommission trägt vor, das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung lasse sich mit keinem dieser Ziele rechtfertigen. Ungarn habe insbesondere nichts vorgetragen, was die Behauptung Ungarns stützen könnte, dass dieses Erfordernis zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung beitrage, und nicht einmal erläutert, worin die wirkliche, ausreichend schwerwiegende Bedrohung einer der Grundwerte der ungarischen Gesellschaft bestehen solle; im Übrigen habe Ungarn auch nicht erläutert, inwiefern sich dieses Erfordernis als notwendig herausstellen könnte, um das – einmal als erwiesen unterstellte – Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu erreichen, und warum es in diesem Fall keine andere, weniger stark einschränkende Lösung gebe. ii) Würdigung durch den Gerichtshof 152 Wie aus den Rn. 128 und 129 des vorliegenden Urteils hervorgeht, werden die beiden von Ungarn angeführten Ziele, nämlich zum einen das Ziel der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum anderen das Ziel der Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken, in der Tat in Art. XIV Buchst. a bzw. in Art. XIV Buchst. c Ziff. i GATS genannt. 153 Ungarn verweist insoweit, ohne dies weiter zu vertiefen, auf sein Vorbringen zum Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags. 154 Damit hat Ungarn jedoch nichts vorgetragen, was konkret und substantiiert belegen könnte, inwiefern die Ausübung einer Hochschullehrtätigkeit in seinem Hoheitsgebiet durch Einrichtungen mit Sitz in einem Staat, der nicht zum EWR gehört, ohne dass von solchen Einrichtungen in ihrem Sitzstaat eine Ausbildung durchgeführt wird, eine wirkliche, ausreichend schwerwiegende Bedrohung darstellt, die einen Grundwert der ungarischen Gesellschaft berührt und die es Ungarn erlauben würde, eine Rechtfertigung im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung geltend zu machen. 155 Ebenso hat Ungarn dadurch, dass es sich somit darauf beschränkt hat, auf sein Vorbringen zum Erfordernis des Vorliegens eines zuvor geschlossenen völkerrechtlichen Vertrags zu verweisen, nichts Konkretes vorgetragen, was belegen könnte, inwiefern das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung zur Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken notwendig sein sollte. 156 Daher ist festzustellen, dass Ungarn mit dem Erlass der in § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes vorgesehenen Maßnahme gegen seine Verpflichtungen aus Art. XVII GATS verstoßen hat, soweit diese Bestimmung auf Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem der WTO angehörenden Drittstaat Anwendung findet. b) Zu Art. 49 AEUV 1) Zur Anwendbarkeit von Art. 49 AEUV i) Vorbringen der Parteien 157 Ungarn macht in erster Linie geltend, dass die Durchführung von Ausbildung durch Bildungseinrichtungen, die im Wesentlichen aus privaten Mitteln finanziert würden, nicht als „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne des AEU-Vertrags eingestuft werden könne, wenn, wie dies bei der CEU der Fall sei, der Dienstleistungserbringer selbst die Lehrtätigkeit finanziere. Daraus folge, dass Art. 49 AEUV im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. 158 Die Kommission trägt dagegen vor, die von privaten Einrichtungen entgeltlich erbrachten Hochschulbildungsdienstleistungen stellten „Dienstleistungen“ im Sinne des AEU-Vertrags dar. Daher könnten private Einrichtungen, die in Ungarn in stabiler und kontinuierlicher Weise Lehr- und Forschungstätigkeiten ausübten, sich gemäß Art. 49 AEUV auf das Recht auf Niederlassungsfreiheit berufen. ii) Würdigung durch den Gerichtshof 159 Art. 49 Abs. 1 AEUV bestimmt, dass im Rahmen der Bestimmungen in Titel IV Kapitel 2 des Dritten Teils des AEU-Vertrags die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verboten sind. 160 Insoweit ist zunächst festzustellen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass die entgeltliche Durchführung von Hochschulunterricht eine wirtschaftliche Tätigkeit ist, die unter dieses Kapitel 2 fällt, wenn sie von Angehörigen eines Mitgliedstaats in stabiler und kontinuierlicher Weise von einer Haupt- oder Nebenniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat aus dort ausgeübt wird (Urteil vom 13. November 2003, Neri, C‑153/02, EU:C:2003:614, Rn. 39). 161 Im vorliegenden Fall ist § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes auf Hochschuleinrichtungen anwendbar, ohne dass danach unterschieden wird, ob diese Einrichtungen ihre Ausbildung zur Erlangung von Abschlüssen entgeltlich durchführen oder nicht. 162 Sodann fällt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Sachverhalt, bei dem eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet wurde, eine Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat gründen will, unter die Niederlassungsfreiheit, selbst wenn die Gesellschaft im ersten Mitgliedstaat nur errichtet wurde, um sich im zweiten Mitgliedstaat niederzulassen, in dem die Geschäftstätigkeit im Wesentlichen oder ausschließlich ausgeübt werden soll (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 38). 163 Folglich fällt das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung unter Art. 49 AEUV, da es für eine Hochschuleinrichtung gilt, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als Ungarn hat und in Ungarn eine entgeltliche Ausbildung durchführt. 2) Zum Vorliegen einer Beschränkung i) Vorbringen der Parteien 164 Nach Ansicht der Kommission stellt das Erfordernis, dass die betreffenden Hochschuleinrichtungen nach § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes verpflichtet seien, im Mitgliedstaat ihres Sitzes spezielle Bedingungen zu erfüllen, um in Ungarn eine andere Niederlassung gründen zu können, eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 49 AEUV dar. 165 Insbesondere könne ein Mitgliedstaat einer Rechtsperson die mit der Niederlassungsfreiheit verbundenen Vorteile nicht mit der Begründung versagen, dass diese in dem Mitgliedstaat, in dem sie gegründet worden sei, keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe. 166 Ungarn macht hilfsweise geltend, dass das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung die Niederlassungsfreiheit nicht beschränke. Dieses Erfordernis stehe nämlich im Zusammenhang mit der Ausübung einer Tätigkeit und nicht mit der Gründung von Gesellschaften. Insbesondere hindere es eine ausländische Hochschuleinrichtung nicht daran, beispielsweise im Rahmen einer Zweitniederlassung eine Zweigniederlassung in Ungarn zu gründen. Es beschränke auch nicht die Wahl der Rechtsform der Niederlassung und sehe für die bereits in Ungarn über eine Zweitniederlassung niedergelassenen Dienstleistungserbringer lediglich eine Bedingung in Bezug auf die Ausübung einer Hochschullehrtätigkeit vor. ii) Würdigung durch den Gerichtshof 167 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit alle Maßnahmen anzusehen, die die Ausübung dieser Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen (Urteil vom 6. September 2012, Kommission/Portugal, C‑38/10, EU:C:2012:521, Rn. 26). 168 Im vorliegenden Fall verlangt § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes, dass die betreffenden Dienstleistungserbringer, die in Ungarn Hochschulbildungsdienstleistungen über eine feste Niederlassung erbringen möchten, in ihrem Sitzstaat tatsächlich eine Hochschulausbildung durchführen. 169 Ein solches Erfordernis ist jedoch geeignet, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit in Ungarn für Angehörige eines anderen Mitgliedstaats, die sich in Ungarn niederlassen möchten, um dort Hochschulbildungsdienstleistungen zu erbringen, weniger attraktiv zu machen. 170 Folglich stellt das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 49 AEUV dar. 3) Zum Vorliegen einer Rechtfertigung i) Vorbringen der Parteien 171 Ungarn macht zunächst geltend, das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung sei erforderlich, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und irreführende Geschäftspraktiken zu verhindern. Dieses Erfordernis sei außerdem notwendig, um die Qualität des Bildungsangebots durch die betreffenden Einrichtungen in Ungarn zu gewährleisten, zumal es sich bei den von ihnen ausgestellten Abschlusszeugnissen um amtliche Dokumente handele, die Rechtswirkungen entfalteten. 172 Mit Hilfe des genannten Erfordernisses könne die Beachtung dieser Ziele in geeigneter Weise gewährleistet werden, da die zuständige Behörde sich so davon überzeugen könne, dass im Land des Sitzes des Dienstleistungserbringers eine tatsächliche und rechtmäßige Tätigkeit gegeben sei; dies diene dem Zweck, eine qualitativ hochwertige Hochschulbildung in Ungarn zu gewährleisten. 173 Allerdings weist Ungarn darauf hin, dass sich seine Behörden in der Praxis darauf beschränkten, die Hochschullehrtätigkeit, die bereits ausgestellten Abschlusszeugnisse, die damit bestätigte Ausbildung, d. h. die Ausbildungsbedingungen und das Ausbildungsprogramm, sowie die Qualifikation des Lehrkörpers, der diese Ausbildung gewährleiste, zu prüfen. 174 Schließlich gebe es keine weniger beschränkende Maßnahme, da das Ziel, hochwertige Hochschulausbildung sicherzustellen, nur durch Prüfung der im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung ausgeübten Tätigkeit erreicht werden könne. Jedenfalls verfügten die Mitgliedstaaten insoweit über einen erheblichen Handlungsspielraum, da auf Unionsebene die Hochschulausbildung nicht harmonisiert worden sei. 175 Die Kommission macht zunächst geltend, dass das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung keinem der von Ungarn angeführten Ziele gerecht werden könne. Ungarn habe nämlich keine überzeugende Argumentation zu den Gründen vorgebracht, aus denen dieses Erfordernis gerechtfertigt und im Hinblick auf derartige Ziele verhältnismäßig sei, und nicht einmal dargelegt, worin die Missbräuche bestünden, die damit verhindert werden könnten. 176 Die Kommission macht insbesondere geltend, dass das genannte Erfordernis unangemessen sei, da das Qualitätsniveau der im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung durchgeführten Ausbildung keinen Hinweis auf die Qualität der in Ungarn erbrachten Dienstleistung enthalte. Außerdem hätte Ungarn, wenn sein Ziel tatsächlich darin bestünde, Betrug und Missbrauch zu verhindern, insoweit spezielle Regeln erlassen müssen. 177 Schließlich sei das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung unverhältnismäßig. Der in den Schlussfolgerungen des Rates vom 20. Mai 2014 über die Qualitätssicherung in der allgemeinen und beruflichen Bildung (ABl. 2014, C 183, S. 30) empfohlene Informationsaustausch mit den Qualitätssicherungs- und/oder Zulassungsagenturen des Staates, in dem die betreffende Lehranstalt ihren Sitz habe, und die verstärkte Zusammenarbeit innerhalb des EWR zwischen Hochschulbehörden seien weniger einschränkende Alternativen. ii) Würdigung durch den Gerichtshof 178 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nur dann zulässig, wenn sie erstens aus einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und zweitens verhältnismäßig ist, was bedeutet, dass sie geeignet sein muss, die Erreichung der verfolgten Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was hierzu erforderlich ist (Urteil vom 23. Februar 2016, Kommission/Ungarn, C‑179/14, EU:C:2016:108, Rn. 166). 179 Überdies obliegt dem betreffenden Mitgliedstaat der Nachweis, dass diese kumulativen Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 77). 180 Im vorliegenden Fall beruft sich Ungarn erstens auf die Notwendigkeit, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. 181 In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der durch die Verträge garantierten Grundfreiheiten Gründe der öffentlichen Ordnung nur geltend gemacht werden können, wenn eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteil vom 19. Juni 2008, Kommission/Luxemburg, C‑319/06, EU:C:2008:350, Rn. 50). 182 Ungarn trägt jedoch lediglich vor, dass das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung es der zuständigen Behörde ermögliche, sich davon zu überzeugen, dass im Land des Sitzes des betreffenden Dienstleistungserbringers eine tatsächliche und rechtmäßige Tätigkeit gegeben sei. Wie in Rn. 154 des vorliegenden Urteils festgestellt, hat Ungarn nichts vorgetragen, was konkret und substantiiert belegen könnte, inwiefern die Ausübung einer Hochschullehrtätigkeit in seinem Hoheitsgebiet durch solche Einrichtungen bei Missachtung dieses Erfordernisses eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellen würde, die ein Grundinteresse der ungarischen Gesellschaft berührt. 183 Somit ist festzustellen, dass das Vorliegen einer solchen Gefährdung im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen ist. 184 Zweitens beruft sich Ungarn auf das Ziel, irreführende Geschäftspraktiken zu verhindern. Ohne seine Argumentation näher zu untermauern, ist Ungarn offenbar der Ansicht, dass der Zugang ausländischer Hochschuleinrichtungen zum ungarischen Markt die Gefahr mit sich bringe, dass sich solche Geschäftspraktiken entwickelten. 185 Indem sich Ungarn aber auf eine allgemeine Vermutung stützt, legt es entgegen der ihm obliegenden Beweislast, auf die in Rn. 179 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, weder dar, worin eine solche Gefahr konkret besteht, noch, wie das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung ihr vorbeugen könnte. 186 Jedenfalls hat Ungarn, wie die Generalanwältin in Nr. 185 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht erläutert, warum das Ziel der Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken nicht erreicht werden könnte, wenn es einem Dienstleistungserbringer, der zuvor keine Hochschulausbildung in dem Mitgliedstaat durchführt, in dem er seinen Sitz hat, erlaubt wäre, auf andere Weise nachzuweisen, dass er die Regelungen dieses Staates beachtet und zudem zuverlässig ist. 187 Drittens kann zwar das von Ungarn geltend gemachte Ziel, eine hochwertige Hochschulausbildung zu gewährleisten, Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. November 2003, Neri, C‑153/02, EU:C:2003:614, Rn. 46). 188 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung in keiner Weise die erforderliche Qualität der von der ausländischen Einrichtung im Mitgliedstaat ihres Sitzes erteilten Ausbildung klarstellt und dass es im Übrigen auf die Qualität der Ausbildung, die in Ungarn durchgeführt werden wird, in keiner Weise Schlüsse zulässt, so dass es jedenfalls nicht geeignet ist, die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten. 189 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung weder mit dem auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gestützten Vorbringen Ungarns noch mit dem Vorbringen Ungarns gerechtfertigt werden kann, das sich auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses stützt, die sich auf die Verhinderung irreführender Geschäftspraktiken und die Notwendigkeit, eine hochwertige Hochschulausbildung zu gewährleisten, beziehen. 190 Daher ist festzustellen, dass Ungarn mit dem Erlass der in § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes vorgesehenen Maßnahme gegen seine Verpflichtungen aus Art. 49 AEUV verstoßen hat, soweit diese Bestimmung auf Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat Anwendung findet. c) Zu Art. 16 der Richtlinie 2006/123 und, hilfsweise, zu Art. 56 AEUV 1) Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2006/123 i) Vorbringen der Parteien 191 Ungarn macht geltend, dass die Durchführung von Ausbildung durch Bildungseinrichtungen, die im Wesentlichen aus privaten Mitteln finanziert würden, nicht als „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne von Art. 4 Nr. 1 der Richtlinie 2006/123 eingestuft werden könne, wenn, wie dies bei der CEU der Fall sei, der Dienstleistungserbringer selbst die Lehrtätigkeit finanziere. Folglich sei diese Richtlinie im vorliegenden Fall nicht anwendbar. 192 Die Kommission macht geltend, dass nach Art. 2 und Art. 4 Nr. 1 der Richtlinie 2006/123, der auf die Definition der Dienstleistungen im AEU-Vertrag verweise, der Anwendungsbereich dieser Richtlinie auch Lehrtätigkeiten und Ausbildungen umfasse, die im Wesentlichen mittels privater finanzieller Beteiligungen finanziert würden. Daher könnten private Einrichtungen, die in Ungarn zeitweilig Lehr‑ und Forschungstätigkeiten ausübten, sich auf das Recht auf freien Dienstleistungsverkehr nach dieser Richtlinie berufen. ii) Würdigung durch den Gerichtshof 193 Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 gilt diese für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden. 194 Nach Art. 4 Nr. 1 dieser Richtlinie gilt als „Dienstleistung“ jede von Art. 57 AEUV erfasste selbständige Tätigkeit, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird. 195 Im vorliegenden Fall betrifft § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes allgemein die Bildungsdienstleistungen, die von ausländischen Hochschuleinrichtungen in Ungarn erbracht werden können, und damit auch die Durchführung von Ausbildung gegen Entgelt. Diese Durchführung stellt eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ im Sinne von Art. 4 Nr. 1 der Richtlinie 2006/123 dar. Diese Richtlinie findet daher auf die vorliegende Rechtssache Anwendung. 2) Zum Vorliegen einer Beschränkung i) Vorbringen der Parteien 196 Die Kommission macht geltend, das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung stelle, soweit es auch die Hochschuleinrichtungen betreffe, die in Ungarn grenzüberschreitende Dienstleistungen erbringen wollten, eine Beschränkung des in Art. 16 der Richtlinie 2006/123 gewährleisteten freien Dienstleistungsverkehrs dar. Hilfsweise macht die Kommission geltend, dass das genannte Erfordernis gegen Art. 56 AEUV verstoße. 197 Ungarn tritt diesem Vorbringen entgegen. ii) Würdigung durch den Gerichtshof 198 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 16 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/123 der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, u. a. die freie Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten innerhalb seines Hoheitsgebiets gewährleistet. 199 Im vorliegenden Fall verlangt § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes von den betreffenden Einrichtungen, dass sie in ihrem Sitzstaat eine Hochschulausbildung durchführen. 200 Im Licht der Richtlinie 2006/123 betrachtet, ist ein solches Erfordernis, soweit es Dienstleistungserbringern mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eine zusätzliche Bedingung auferlegt, geeignet, das Recht dieser Dienstleistungserbringer auf freie Ausübung von Hochschullehrtätigkeiten in Ungarn zu beschränken, wenn sie ihre Tätigkeit zuerst in Ungarn und nicht in dem Mitgliedstaat ihres Sitzes ausüben wollen, wie auch dann, wenn sie beabsichtigen, eine solche Tätigkeit ausschließlich in Ungarn auszuüben. 3) Zum Vorliegen einer Rechtfertigung i) Vorbringen der Parteien 201 Ungarn trägt vor, das Erfordernis der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung sei zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung erforderlich. Insoweit verweist Ungarn mutatis mutandis auf sein Vorbringen zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Art. 49 AEUV. 202 Die Kommission ist der Ansicht, Ungarn habe nicht nachgewiesen, dass die zeitweilig von den in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Hochschuleinrichtungen erbrachten Bildungsdienstleistungen Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung in Ungarn hätten, wie dies jedoch von Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 verlangt werde. ii) Würdigung durch den Gerichtshof 203 Gemäß Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 kann der Mitgliedstaat, in den sich der Dienstleistungserbringer begibt, unter Beachtung des Art. 16 Abs. 1 Anforderungen in Bezug auf die Erbringung von Dienstleistungen stellen, die u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind. 204 Wie sich jedoch aus der in Rn. 181 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, auf die im 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/123 verwiesen wird, setzen die Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit u. a. voraus, dass eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Wie indessen in den Rn. 154 und 182 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, hat Ungarn nichts vorgetragen, was konkret und substantiiert belegen könnte, inwiefern die Ausübung einer Hochschullehrtätigkeit in seinem Hoheitsgebiet durch Einrichtungen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat bei Missachtung des Erfordernisses der Durchführung von Ausbildung im Sitzstaat der betreffenden Einrichtung eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellen würde, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. 205 Daher ist festzustellen, dass dieses Erfordernis nicht nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 gerechtfertigt werden kann. 206 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Ungarn mit dem Erlass der in § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes vorgesehenen Maßnahme gegen seine Verpflichtungen aus Art. 16 der Richtlinie 2006/123 verstoßen hat, soweit diese Bestimmung auf Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat Anwendung findet. Folglich braucht nicht geprüft zu werden, ob Ungarn gegen Art. 56 AEUV verstoßen hat, da die Kommission einen solchen Verstoß nur hilfsweise geltend gemacht hat. 207 Nach alledem ist festzustellen, dass Ungarn mit dem Erlass der in § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes vorgesehenen Maßnahme, soweit diese Bestimmung auf Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem der WTO angehörenden Drittstaat Anwendung findet, gegen seine Verpflichtungen aus Art. XVII GATS und, soweit diese Bestimmung auf Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat Anwendung findet, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 49 AEUV und Art. 16 der Richtlinie 2006/123 verstoßen hat. 3. Zu Art. 13, Art. 14 Abs. 3 und Art. 16 der Charta a) Zur Anwendbarkeit der Charta 1) Vorbringen der Parteien 208 Die Kommission macht geltend, dass die Mitgliedstaaten das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführten, wenn sie ihre Verpflichtungen aus von der Union geschlossenen internationalen Übereinkünften wie dem GATS erfüllten, so dass sie zur Beachtung der Bestimmungen der Charta verpflichtet seien. 209 Im Übrigen müsse § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes, da er die durch den AEU-Vertrag, die Richtlinie 2006/123 und das GATS garantierten Grundfreiheiten beschränke, mit der Charta vereinbar sein. 210 Ungarn macht zum einen geltend, dass eine nationale Maßnahme, die gegen die von den Mitgliedstaaten im Rahmen des GATS eingegangenen Verpflichtungen verstoße, nicht als Maßnahme zur Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta angesehen werden könne. 211 Zum anderen fielen die streitigen Maßnahmen, da weder die Bestimmungen des AEU-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr noch die Bestimmungen der Richtlinie 2006/123 im vorliegenden Fall anwendbar seien und die streitigen Maßnahmen daher keine Beschränkung darstellten, die gegen die im AEU-Vertrag oder in der Richtlinie 2006/123 verankerten Grundfreiheiten verstießen, nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, so dass die Charta nicht einschlägig sei. 2) Würdigung durch den Gerichtshof 212 Was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, ist der Anwendungsbereich der Charta in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert, dem zufolge die Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich „bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt. 213 Im vorliegenden Fall ist zum einen, wie in Rn. 71 des vorliegenden Urteils ausgeführt, das GATS Teil des Unionsrechts. Folglich ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie die sich aus diesem Übereinkommen ergebenden Verpflichtungen, einschließlich der Verpflichtungen aus Art. XVII Abs. 1 GATS, erfüllen, das Recht der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen. 214 Macht zum anderen ein Mitgliedstaat geltend, dass eine Maßnahme, deren Urheber er ist und mit der eine vom AEU-Vertrag gewährleistete Grundfreiheit eingeschränkt wird, aufgrund eines im Unionsrecht anerkannten zwingenden Grundes des Allgemeininteresses gerechtfertigt sei, ist eine solche Maßnahme nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen, so dass sie mit den dort verankerten Grundrechten im Einklang stehen muss (Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 101 und die dort angeführte Rechtsprechung). Gleiches gilt für Art. 16 der Richtlinie 2006/123. 215 Folglich müssen die streitigen Maßnahmen mit den in der Charta verankerten Grundrechten im Einklang stehen. 216 Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob diese Maßnahmen die von der Kommission angeführten Grundrechte einschränken und, bejahendenfalls, ob sie gleichwohl gerechtfertigt sind, wie Ungarn geltend macht. b) Zum Vorliegen von Einschränkungen der betroffenen Grundrechte 1) Vorbringen der Parteien 217 Nach Ansicht der Kommission betreffen die streitigen Maßnahmen erstens die in Art. 13 der Charta gewährleistete akademische Freiheit und zweitens die in Art. 14 Abs. 3 der Charta verankerte Freiheit zur Gründung von Lehranstalten sowie die in Art. 16 der Charta verankerte unternehmerische Freiheit. 218 In Bezug auf die akademische Freiheit ist die Kommission der Ansicht, dass diese Maßnahmen die Möglichkeit der betreffenden ausländischen Hochschuleinrichtungen beeinträchtigten, in Ungarn frei Forschungsarbeiten durchzuführen und wissenschaftliche Erkenntnisse und Errungenschaften zu verbreiten. 219 Zur Freiheit zur Gründung von Lehranstalten und der unternehmerischen Freiheit vertritt die Kommission die Auffassung, die streitigen Maßnahmen beschränkten das Recht des Einzelnen auf Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit und das Recht der Unternehmen auf eine gewisse Stabilität in Bezug auf ihre Tätigkeit. 220 Ungarn macht zur akademischen Freiheit geltend, dass der Umstand, dass eine Hochschuleinrichtung bestimmte rechtliche Verpflichtungen erfüllen müsse, weder die akademische Freiheit der betreffenden Einrichtung noch die ihres Personals berühre. Solche Verpflichtungen wirkten sich nämlich nicht zwangsläufig auf die Möglichkeit aus, wissenschaftliche Tätigkeiten auszuüben, und zwar weder aus institutioneller noch aus persönlicher Sicht. 221 Was die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten und die unternehmerische Freiheit betrifft, bestreitet Ungarn im Wesentlichen nicht, dass die streitigen Maßnahmen die Ausübung der erstgenannten dieser Freiheiten beschränken. 2) Würdigung durch den Gerichtshof 222 Was erstens die akademische Freiheit anbelangt, ist diese in allgemeiner Formulierung in Art. 13 Satz 2 der Charta verankert, nach dem „[d]ie akademische Freiheit … geachtet [wird]“. 223 Die in der Charta enthaltenen Rechte haben, soweit sie den Rechten entsprechen, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantiert sind, gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und zumindest die gleiche Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden. 224 Zwar nimmt der Wortlaut der EMRK nicht auf die akademische Freiheit Bezug. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht jedoch hervor, dass diese Freiheit insbesondere mit dem in Art. 10 EMRK verankerten Recht auf freie Meinungsäußerung verknüpft ist (EGMR, 15. April 2014, Hasan Yazıcı/Türkei, CE:ECHR:2014:0415JUD004087707, Rn. 55 und 69, und 27. Mai 2014, Mustafa Erdoğan u. a./Türkei, CE:ECHR:2014:0527JUD000034604, Rn. 40 und 46), was auch in der Kommentierung zu Art. 13 der Charta in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) bestätigt wird. 225 Unter diesem speziellen Gesichtspunkt muss die akademische Freiheit in Forschung und Lehre die Meinungs- und Handlungsfreiheit, die Informationsfreiheit sowie die Freiheit der uneingeschränkten Erforschung und Verbreitung von Wissen und Wahrheit gewährleisten, wobei diese Freiheit nicht auf akademische oder wissenschaftliche Forschung beschränkt ist, sondern sich auch auf die Freiheit der Universitäten erstreckt, ihre Ansichten und ihre Meinungen frei zu äußern (EGMR, 27. Mai 2014, Mustafa Erdoğan u. a./Türkei, CE:ECHR:2014:0527JUD000034604, Rn. 40). 226 Vor diesem Hintergrund ist der Begriff „akademische Freiheit“, wie die Generalanwältin in den Nrn. 145 und 146 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, in einem weiteren Sinne zu verstehen. 227 Um Aufschluss über die verschiedenen Elemente der akademischen Freiheit zu erhalten und um festzustellen, ob die streitigen Maßnahmen Einschränkungen dieser Freiheit darstellen, hält es der Gerichtshof in diesem Zusammenhang für zweckmäßig, den Inhalt der von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats am 30. Juni 2006 angenommenen Empfehlung 1762 (2006) („Akademische Freiheit und universitäre Autonomie“) zu berücksichtigen, aus der hervorgeht, dass die akademische Freiheit auch eine institutionelle und organisatorische Dimension aufweist, da die Anknüpfung an eine Infrastruktur eine wesentliche Voraussetzung für die Ausübung von Lehr- und Forschungstätigkeiten ist. Ebenfalls von Bedeutung ist Nr. 18 der Empfehlung zur Stellung von Lehrpersonal in der Hochschulbildung, die die Generalversammlung der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (Unesco) in ihrer 29. Sitzung vom 21. Oktober bis 12. November 1997 in Paris angenommen hat, in der es heißt: „Die Autonomie ist der institutionelle Ausdruck der akademischen Freiheiten und eine notwendige Voraussetzung dafür, dass das Lehrpersonal und die Hochschuleinrichtungen ihre Aufgaben erfüllen können.“ In Nr. 19 dieser Empfehlung heißt es weiter, dass „[e]s Sache der Mitgliedstaaten [ist], die Autonomie der Hochschuleinrichtungen vor jeder Gefährdung zu schützen, unabhängig davon, woher sie kommt“. 228 Nach alledem ist davon auszugehen, dass die streitigen Maßnahmen geeignet sind, die akademische Tätigkeit der betreffenden ausländischen Hochschuleinrichtungen im ungarischen Hoheitsgebiet zu gefährden und damit den betreffenden Universitäten die eigenständige Infrastruktur zu nehmen, die für die Durchführung ihrer wissenschaftlichen Forschung und die Ausübung ihrer Lehrtätigkeiten erforderlich ist. Folglich sind diese Maßnahmen geeignet, die in Art. 13 der Charta geschützte akademische Freiheit einzuschränken. 229 Was zweitens die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten und die unternehmerische Freiheit betrifft, sind diese in Art. 14 Abs. 3 bzw. in Art. 16 der Charta verankert. 230 Gemäß Art. 14 Abs. 3 der Charta wird die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten unter Achtung der demokratischen Grundsätze nach den einzelstaatlichen Gesetzen geachtet, die ihre Ausübung regeln. 231 Art. 16 der Charta sieht im Übrigen vor, dass die unternehmerische Freiheit nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt wird. 232 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte ergibt, die Freiheit zur Gründung öffentlicher oder privater Lehranstalten als einer der Aspekte der unternehmerischen Freiheit gewährleistet ist, so dass diese Freiheiten zusammen zu prüfen sind. 233 In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die streitigen Maßnahmen je nach Einzelfall geeignet sind, für die Möglichkeit, in Ungarn eine Hochschuleinrichtung zu gründen oder dort eine bereits bestehende Hochschuleinrichtung weiter zu betreiben, Unsicherheiten zu schaffen oder sogar diese Möglichkeit auszuschließen. 234 Folglich ist davon auszugehen, dass diese Maßnahmen sowohl die in Art. 14 Abs. 3 der Charta garantierte Freiheit zur Gründung von Lehranstalten als auch die in Art. 16 der Charta verankerte unternehmerische Freiheit einschränken. c) Zum Vorliegen einer Rechtfertigung 1) Vorbringen der Parteien 235 Ungarn macht geltend, die streitigen Maßnahmen seien im Hinblick auf die in Art. 52 Abs. 1 der Charta aufgestellten Erfordernisse gerechtfertigt. 236 Was insbesondere die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten und die unternehmerische Freiheit anbelange, müssten diese unter Achtung der demokratischen Grundsätze und im Rahmen der für ihre Ausübung geltenden einzelstaatlichen Bestimmungen ausgeübt werden. So könne einem Mitgliedstaat keine rechtswidrige Einschränkung vorgeworfen werden, wenn er eine wirtschaftliche Tätigkeit mit dem Ziel regele, anderen Rechtssubjekten die Ausübung dieser Freiheiten zu ermöglichen. 237 Die Kommission macht geltend, die Einschränkungen der in Art. 13, Art. 14 Abs. 3 und Art. 16 der Charta verankerten Freiheiten durch die streitigen Maßnahmen seien angesichts der in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Erfordernisse nicht gerechtfertigt. 238 Ungarn weise nämlich im vorliegenden Fall weder nach, dass die Einschränkungen der akademischen Freiheit und der Freiheit zur Gründung von Lehranstalten durch die streitigen Maßnahmen den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer entsprächen, noch, dass diese Einschränkungen verhältnismäßig seien. 2) Würdigung durch den Gerichtshof 239 Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 240 Im vorliegenden Fall hat der Gerichtshof in den Rn. 132, 138, 154, 155 und 189 des vorliegenden Urteils festgestellt, dass die streitigen Maßnahmen durch keine der von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen, auf die sich Ungarn berufen hat, gerechtfertigt waren. 241 Daraus folgt, dass diese Maßnahmen, die die in den Art. 13, Art. 14 Abs. 3 sowie in Art. 16 der Charta verankerten Rechte einschränken, wie der Gerichtshof in den Rn. 228 und 234 des vorliegenden Urteils festgestellt hat, jedenfalls nicht diesen dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entsprechen. 242 Nach alledem ist festzustellen, dass Ungarn mit dem Erlass der streitigen Maßnahmen gegen seine Verpflichtungen aus Art. 13, Art. 14 Abs. 3 und Art. 16 der Charta verstoßen hat. 243 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass Ungarn – mit dem Erlass der in § 76 Abs. 1 Buchst. a des Hochschulgesetzes vorgesehenen Maßnahme gegen seine Verpflichtungen aus Art. XVII GATS, – mit dem Erlass der in § 76 Abs. 1 Buchst. b des Hochschulgesetzes vorgesehenen Maßnahme, soweit diese Bestimmung auf Hochschulen mit Sitz in einem der WTO angehörenden Drittstaat Anwendung findet, gegen seine Verpflichtungen aus Art. XVII GATS und, soweit diese Bestimmung auf Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat Anwendung findet, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 49 AEUV und Art. 16 der Richtlinie 2006/123 sowie – mit dem Erlass der streitigen Maßnahmen gegen seine Verpflichtungen aus Art. 13, Art. 14 Abs. 3 und Art. 16 der Charta verstoßen hat. Kosten 244 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da im vorliegenden Fall Ungarn unterlegen ist, sind ihm entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Mit dem Erlass der in § 76 Abs. 1 Buchst. a des Nemzeti felsőoktatásról szóló 2011. évi CCIV. törvény (Gesetz Nr. CCIV von 2011 über das nationale Hochschulwesen) in der Fassung des Nemzeti felsőoktatásról szóló 2011. évi CCIV. törvény módosításáról szóló 2017. évi XXV. törvény (Gesetz Nr. XXV von 2017 zur Abänderung des Gesetzes Nr. CCIV von 2011 über das nationale Hochschulwesen) vorgesehenen Maßnahme, die die Ausübung einer zu einem Abschluss führenden Tätigkeit der ausländischen Hochschuleinrichtungen, die ihren Sitz außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums haben, in Ungarn der Bedingung unterwirft, dass die Regierung Ungarns und die Regierung des Staates, in dem sich der Sitz der betreffenden Einrichtung befindet, eingewilligt haben, durch einen völkerrechtlichen Vertrag gebunden zu sein, hat Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. XVII des Allgemeinen Übereinkommens über den Handel mit Dienstleistungen in Anhang 1 B des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation verstoßen, das in Marrakesch unterzeichnet und durch den Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986–1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche genehmigt wurde. 2. Mit dem Erlass der in § 76 Abs. 1 Buchst. b des Nemzeti felsőoktatásról szóló 2011. évi CCIV. törvény (Gesetz Nr. CCIV von 2011 über das nationale Hochschulwesen) in der Fassung des Nemzeti felsőoktatásról szóló 2011. évi CCIV. törvény módosításáról szóló 2017. évi XXV. törvény (Gesetz Nr. XXV von 2017 zur Abänderung des Gesetzes Nr. CCIV von 2011 über das nationale Hochschulwesen) vorgesehenen Maßnahme, die die Ausübung der Tätigkeit ausländischer Hochschuleinrichtungen in Ungarn der Bedingung unterwirft, dass sie in dem Staat, in dem sie ihren Sitz haben, eine Hochschulausbildung durchführen, hat Ungarn, soweit diese Bestimmung auf Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem der Welthandelsorganisation angehörenden Drittstaat Anwendung findet, gegen seine Verpflichtungen aus Art. XVII des Allgemeinen Übereinkommens über den Handel mit Dienstleistungen in Anhang 1 B des in Marrakesch unterzeichneten und durch den Beschluss 94/800 genehmigten Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation und, soweit diese Bestimmung auf Hochschuleinrichtungen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat Anwendung findet, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 49 AEUV und Art. 16 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt verstoßen. 3. Mit dem Erlass der in § 76 Abs. 1 Buchst. a und b des Nemzeti felsőoktatásról szóló 2011. évi CCIV. törvény (Gesetz Nr. CCIV von 2011 über das nationale Hochschulwesen) in der Fassung des Nemzeti felsőoktatásról szóló 2011. évi CCIV. törvény módosításáról szóló 2017. évi XXV. törvény (Gesetz Nr. XXV von 2017 zur Abänderung des Gesetzes Nr. CCIV von 2011 über das nationale Hochschulwesen) vorgesehenen Maßnahmen hat Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 13, Art. 14 Abs. 3 und Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen. 4. Ungarn trägt die Kosten. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 18. Dezember 2024.#Oleg Vladimirovich Deripaska gegen Rat der Europäischen Union.#Rechtssache T-732/22.
62022TJ0732
ECLI:EU:T:2024:903
2024-12-18T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62022TJ0732 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62022TJ0732 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62022TJ0732 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 5. März 2025.#Alexander Ponomarenko gegen Rat der Europäischen Union.#Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen – Einfrieren von Geldern – Beschränkung der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden oder die Beschränkungen der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten unterliegen – Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste und Belassung seines Namens auf der Liste – Begriff ‚materielle oder finanzielle Unterstützung russischer Entscheidungsträger‘ – Art. 2 Abs. 1 Buchst. d des Beschlusses 2014/145/GASP – Begriff ‚Verbindung‘ – Art. 2 Abs. 1 a. E. des Beschlusses 2014/145 – Recht auf ein faires Verfahren – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Eigentumsrecht – Gleichbehandlung.#Rechtssache T-249/22.
62022TJ0249
ECLI:EU:T:2025:202
2025-03-05T00:00:00
Gericht
URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer) 5. März 2025(*) „ Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen – Einfrieren von Geldern – Beschränkung der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, deren Gelder und wirtschaftliche Ressourcen eingefroren werden oder die Beschränkungen der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten unterliegen – Aufnahme des Namens des Klägers in die Liste und Belassung seines Namens auf der Liste – Begriff ‚materielle oder finanzielle Unterstützung russischer Entscheidungsträger‘ – Art. 2 Abs. 1 Buchst. d des Beschlusses 2014/145/GASP – Begriff ‚Verbindung‘ – Art. 2 Abs. 1 a. E. des Beschlusses 2014/145 – Recht auf ein faires Verfahren – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Eigentumsrecht – Gleichbehandlung “ In der Rechtssache T‑249/22, Alexander Ponomarenko, wohnhaft in Moskau (Russland), vertreten durch Rechtsanwalt M. Komuczky, Kläger, gegen Rat der Europäischen Union, vertreten durch T. Haas und A. Boggio-Tomasaz als Bevollmächtigte, Beklagter, erlässt DAS GERICHT (Erste Kammer) unter Mitwirkung der Richterin M. Brkan in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten sowie der Richter I. Gâlea und S. L. Kalėda (Berichterstatter), Kanzler: T. Henze, beigeordneter Kanzler, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, u. a.: –      der am 6. Mai 2022 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift, –      der am 15. November 2022, am 23. Mai 2023, am 24. November 2023 und am 16. April 2024 bei der Kanzlei des Gerichts eingereichten Anpassungsschriftsätze, auf die mündliche Verhandlung vom 29. Mai 2024 folgendes Urteil 1        Mit seiner Klage nach Art. 263 AEUV beantragt der Kläger, Herr Alexander Ponomarenko, die Nichtigerklärung –        erstens des Beschlusses (GASP) 2022/337 des Rates vom 28. Februar 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 59, S. 1) sowie der Durchführungsverordnung (EU) 2022/336 des Rates vom 28. Februar 2022 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 58, S.1) (im Folgenden zusammen: ursprüngliche Rechtsakte); –        zweitens des Beschlusses (GASP) 2022/1530 des Rates vom 14. September 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 239, S. 149) sowie der Durchführungsverordnung (EU) 2022/1529 des Rates vom 14. September 2022 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2022, L 239, S.1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom September 2022); –        drittens des Beschlusses (GASP) 2023/572 des Rates vom 13. März 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 75 I, S. 134) sowie der Durchführungsverordnung (EU) 2023/571 des Rates vom 13. März 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 75 I, S. 1) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom März 2023); –        viertens des Beschlusses (GASP) 2023/1767 des Rates vom 13. September 2023 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 226, S. 104) sowie der Durchführungsverordnung (EU) 2023/1765 des Rates vom 13. September 2023 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2023, L 226, S. 3) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom September 2023); –        fünftens des Beschlusses (GASP) 2024/847 des Rates vom 12. März 2024 zur Änderung des Beschlusses 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. L, 2024/847) sowie der Durchführungsverordnung (EU) 2024/849 des Rates vom 12. März 2024 zur Durchführung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. L, 2024/849) (im Folgenden zusammen: Rechtsakte vom März 2024), soweit mit allen diesen Rechtsakten (im Folgenden zusammen: angefochtene Rechtsakte) der Name des Klägers in die Listen, die sich in den Anhängen dieser Rechtsakte befinden (im Folgenden: fragliche Listen), aufgenommen und auf diesen Listen belassen wurde. Vorgeschichte des Rechtsstreits 2        Hintergrund der vorliegenden Rechtssache sind die von der Europäischen Union verabschiedeten restriktiven Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen. 3        Am 17. März 2014 erließ der Rat der Europäischen Union auf der Grundlage von Art. 29 EUV den Beschluss 2014/145/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2014, L 78, S. 16). 4        Am selben Tag erließ der Rat auf der Grundlage von Art. 215 AEUV die Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2014, L 78, S. 6). 5        Am 25. Februar 2022 erließ der Rat angesichts der sehr ernsten Lage in der Ukraine zum einen den Beschluss (GASP) 2022/329 zur Änderung des Beschlusses 2014/145 (ABl. 2022, L 50, S. 1) und zum anderen die Verordnung (EU) 2022/330 zur Änderung der Verordnung Nr. 269/2014 (ABl. 2022, L 51, S. 1), um insbesondere die Kriterien zu ändern, nach denen natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen den betreffenden restriktiven Maßnahmen unterworfen werden konnten. 6        In Art. 2 Abs. 1 und 2 des Beschlusses 2014/145 in der geänderten Fassung heißt es: „(1) Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum stehen oder gehalten oder kontrolliert werden von: … d)      natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die russische Entscheidungsträger, die für die Annexion der Krim oder die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich sind, materiell oder finanziell unterstützen oder von diesen profitieren; … und den mit ihnen verbundenen natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die im Anhang aufgeführt sind, werden eingefroren. (2) Den im Anhang aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugutekommen.“ 7        Die Modalitäten dieses Einfrierens von Geldern wurden in den weiteren Absätzen von Art. 2 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung festgelegt. 8        Art. 1 Abs. 1 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung verbietet natürlichen Personen, die die Kriterien erfüllen, die im Wesentlichen den in Art. 2 Abs. 1 dieses Beschlusses genannten entsprechen, die Einreise in oder die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten. 9        Die Verordnung Nr. 269/2014 in der durch die Verordnung 2022/330 geänderten Fassung sieht die Annahme von Maßnahmen des Einfrierens von Geldern vor und regelt die Modalitäten dieses Einfrierens im Wesentlichen wortgleich mit dem geänderten Beschluss 2014/145. 10      In diesem Kontext erließ der Rat am 28. Februar 2022 die ursprünglichen Rechtsakte. 11      Durch die ursprünglichen Rechtsakte wurde der Name des Klägers aus den folgenden Gründen den betreffenden Listen hinzugefügt: „[Der Kläger] ist ein russischer Oligarch und Vorstandsvorsitzender des Internationalen Flughafens Sheremetyevo. [Er] unterhält enge Verbindungen zu anderen Oligarchen, die mit Vladimir Putin in Verbindung stehen, sowie zu Sergey Aksyonov, dem Oberhaupt der sogenannten ‚Republik Krim‘ auf dem Gebiet der rechtswidrig annektierten Halbinsel Krim. Er war an der Finanzierung des Palastkomplexes in der Nähe von Gelendschik beteiligt, der mutmaßlich von Präsident Putin persönlich genutzt wird. Daher hat er russische Entscheidungsträger, die für die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich sind, materiell oder finanziell aktiv unterstützt.“ 12      Am 1. März 2022 veröffentlichte der Rat im Amtsblatt der Europäischen Union eine Mitteilung an die Personen, Organisationen und Einrichtungen, die den restriktiven Maßnahmen nach den ursprünglichen Rechtsakten unterliegen (ABl. 2022, C 101, S. 4). In dieser Mitteilung wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass die betreffenden Personen beim Rat die Überprüfung des Beschlusses, mit dem ihre Namen in die fraglichen Listen aufgenommen worden seien, beantragen konnten. 13      Am 7. April 2022 beantragte der Kläger beim Rat, ihm die Unterlagen und Beweise zu übermitteln, auf deren Grundlage die restriktiven Maßnahmen gegen ihn beschlossen worden waren. 14      Am 28. April 2022 übermittelte der Rat dem Kläger das Dossier WK 2765/2022, das die ihn betreffenden Beweise enthielt (im Folgenden: erstes WK-Dossier). Ereignisse nach Erhebung der vorliegenden Klage 15      Am 24. Mai 2022 stellte der Kläger beim Rat einen Antrag auf Überprüfung der ursprünglichen Rechtsakte. 16      In Beantwortung dieses Antrags unterrichtete der Rat den Kläger mit Schreiben vom 15. September 2022 über die Verlängerung der gegen ihn verhängten restriktiven Maßnahmen und forderte ihn auf, ihm seine Stellungnahme bis zum 2. November 2022 zu übermitteln. In demselben Schreiben teilte der Rat dem Kläger mit, dass dessen Stellungnahme im genannten Antrag mit dem Vorbringen in der Klageschrift in der vorliegenden Rechtssache identisch sei und er die restriktiven Maßnahmen gegen den Kläger unter Verweis auf die Argumente in der Klagebeantwortung in der vorliegenden Rechtssache aufrechterhalte. 17      Mit den Rechtsakten vom September 2022 wurden die gegen den Kläger verhängten Maßnahmen bis zum 15. März 2023 verlängert. Mit diesen Rechtsakten wurde der Name des Klägers aus denselben Gründen wie denen, die in den ursprünglichen Rechtsakten angegeben waren und oben in Rn. 11 wiedergegeben sind, auf den fraglichen Listen belassen. 18      Am 13. Oktober 2022 ersuchte der Kläger den Rat um Übermittlung des Dossiers, auf dessen Grundlage die Rechtsakte vom September 2022 erlassen worden waren. 19      Am 28. Oktober 2022 antwortete der Rat dem Kläger, dass die Rechtsakte vom September 2022 auf den gleichen Gesichtspunkten beruhten wie die im ersten WK-Dossier enthaltenen. 20      Am 22. Dezember 2022 übersandte der Rat dem Kläger ein Schreiben mit der Mitteilung, dass er beabsichtige, die restriktiven Maßnahmen gegen ihn aufrechtzuerhalten. Diesem Schreiben war das Dokument WK 2765/22 ADD 1 REV 1 (im Folgenden: zweites WK-Dossier) beigefügt. 21      Am 19. Januar 2023 übermittelte der Kläger dem Rat seine Stellungnahme. 22      Am 6. Februar 2023 übersandte der Rat dem Kläger ein Schreiben, mit dem er bestätigte, dass er die restriktiven Maßnahmen gegen ihn aufrechterhalten werde. Diesem Schreiben waren die Dokumente WK 1125/23 INIT (im Folgenden: drittes WK-Dossier), WK 1125/23 ADD 1 (im Folgenden: viertes WK-Dossier) sowie WK 1125/23 ADD 2 beigefügt, das eine Zusammenfassung eines als Verschlusssache eingestuften Dokuments über die vom Kläger an bestimmten Unternehmen gehaltenen Beteiligungen (im Folgenden: als Verschlusssache eingestuftes WK-Dossier) darstellte. 23      Am 15. Februar 2023 übermittelte der Kläger dem Rat seine Stellungnahme und ersuchte um die Übermittlung der Unterlagen aus dem als Verschlusssache eingestuften WK-Dossier. 24      Am 23. Februar 2023 übersandte der Rat dem Kläger ein Schreiben und teilte ihm mit, dass er beabsichtige, die restriktiven Maßnahmen gegen ihn aufrechtzuerhalten. 25      Am 28. Februar 2023 übermittelte der Kläger dem Rat seine Stellungnahme und wiederholte sein Ersuchen um Übermittlung der in dem als Verschlusssache eingestuften WK-Dossier genannten Unterlagen. 26      Am 14. März 2023 teilte der Rat dem Kläger mit, dass er die restriktiven Maßnahmen gegen ihn aufrechterhalte und es ablehne, die in dem als Verschlusssache eingestuften WK-Dossier genannten Unterlagen zu übermitteln. 27      Mit den Rechtsakten vom März 2023 wurden die gegen den Kläger verhängten Maßnahmen bis zum 15. September 2023 verlängert. 28      In den Rechtsakten vom März 2023 begründete der Rat die Verlängerung der restriktiven Maßnahmen gegen den Kläger wie folgt: „[Der Kläger] ist ein russischer Oligarch und ehemaliger Vorstandsvorsitzender des Internationalen Flughafens Scheremetjewo, mit dem er weiterhin als Anteilseigner verbunden ist. [Der Kläger] steht in Verbindung mit Arkady Rotenberg, einem prominenten russischen Geschäftsmann mit engen persönlichen Beziehungen zu Präsident Putin. Er ist an der Finanzierung des Palastkomplexes in der Nähe von Gelendschik beteiligt, der von Präsident Putin persönlich genutzt wird. Daher unterstützt er russische Entscheidungsträger, die für die Annexion der Krim oder die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich sind, und profitiert von ihnen.“ 29      Als Anlage zu seiner Stellungnahme zum zweiten Anpassungsschriftsatz übermittelte der Rat das Dossier WK 1296/2023, das einer teilweise geschwärzten Fassung des als Verschlusssache eingestuften WK-Dossiers entsprach (im Folgenden: teilweise freigegebenes WK-Dossier). 30      Am 30. Mai 2023 stellte der Kläger beim Rat einen Antrag auf Überprüfung der Aufnahme seines Namens. 31      Der Rat unterrichtete den Kläger mit Schreiben vom 15. September 2023, dass er die gegen ihn verhängten restriktiven Maßnahmen aufrechterhalte. 32      Mit den Rechtsakten vom September 2023 wurden die gegen den Kläger verhängten Maßnahmen bis zum 15. März 2024 verlängert. Mit diesen Rechtsakten wurde der Name des Klägers aus denselben Gründen wie denen, die in den Rechtsakten vom März 2023 angegeben waren und oben in Rn. 28 wiedergegeben sind, auf den fraglichen Listen belassen. 33      Am 31. Oktober 2023 stellte der Kläger beim Rat einen Antrag auf Überprüfung der Aufnahme seines Namens. 34      Am 13. März 2024 unterrichtete der Rat den Kläger darüber, dass er die gegen ihn verhängten restriktiven Maßnahmen aufrechterhalte. 35      Mit den Rechtsakten vom März 2024 wurden die gegen den Kläger verhängten Maßnahmen bis zum 15. September 2024 verlängert. Mit diesen Rechtsakten wurde der Name des Klägers aus denselben Gründen wie denen, die in den Rechtsakten vom März 2023 angegeben waren und oben in Rn. 28 wiedergegeben sind, auf den fraglichen Listen belassen. Anträge der Parteien 36      Der Kläger beantragt, –        die angefochtenen Rechtsakte, soweit sie ihn betreffen, für nichtig zu erklären; –        dem Rat die Kosten aufzuerlegen. 37      Der Rat beantragt, –        die Klage abzuweisen; –        dem Kläger die Kosten aufzuerlegen; –        hilfsweise, sollte das Gericht die gegen den Kläger verhängten restriktiven Maßnahmen für nichtig erklären, anzuordnen, dass die Wirkung des Durchführungsbeschlusses 2024/847 in Bezug auf den Kläger so lange aufrechterhalten wird, bis die teilweise Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung 2024/849 wirksam wird. Rechtliche Würdigung 38      Die Klage wird auf drei Klagegründe gestützt: erstens ein Verstoß gegen Verfahrensrechte, zweitens offensichtliche Beurteilungsfehler und drittens Verstöße gegen allgemeine Grundsätze und Grundrechte. Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Verteidigungsrechte 39      Mit dem ersten Klagegrund rügt der Kläger im Wesentlichen im Rahmen eines ersten Teils Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren, den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, die Verteidigungsrechte und das Recht auf eine gute Verwaltung, und er macht einen Verstoß gegen die behauptete Verpflichtung des Rates geltend, die Tatsachen zu überprüfen, die er zur Begründung des Erlasses restriktiver Maßnahmen heranzieht. Im Rahmen eines zweiten Teils beanstandet der Kläger einen Verstoß gegen die Begründungspflicht. Zum ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes: Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren, den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, die Verteidigungsrechte, das Recht auf eine gute Verwaltung und die behauptete Verpflichtung des Rates, festgestellte Tatsachen zu überprüfen 40      Der Kläger bringt vor, dass die Tatsache, dass der Rat die Unterlagen und Beweise, auf deren Grundlage die ihn betreffenden ursprünglichen Rechtsakte erlassen worden seien, verspätet übermittelt habe, ihn daran gehindert habe, die im ersten WK-Dossier enthaltenen Beweise gründlich zu prüfen, um fristgerecht die Klage in der vorliegenden Rechtssache zu erheben. 41      Des Weiteren macht der Kläger in seinem zweiten, seinem dritten und seinem vierten Anpassungsschriftsatz geltend, der Rat habe gegen seine Pflicht verstoßen, die Tatsachen zu überprüfen, die er zur Begründung der Aufnahme seines Namens in die fraglichen Listen herangezogen habe. Verschiedene Beweise widersprächen einander nämlich oder seien obsolet. Ferner seien die vom Rat vorgelegten Dokumente durch vom Kläger vorgelegte Beweise widerlegt worden. 42      In seinem zweiten Anpassungsschriftsatz beruft sich der Kläger auf einen Verstoß gegen seine in den Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Rechte auf eine gute Verwaltung und auf einen wirksamen Rechtsbehelf, da ihm die Informationen, die in dem als Verschlusssache eingestuften WK-Dossier enthalten gewesen seien, nicht übermittelt worden seien, was ihn daran gehindert habe, sich eingehend zu diesen Gesichtspunkten zu äußern. 43      Zudem enthalte das vom Rat vorgelegte teilweise freigegebene WK-Dossier weiterhin geschwärzte Stellen, so dass er es nicht in zweckdienlicher Weise habe einsehen können. 44      Der Rat tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen. 45      Es ist darauf hinzuweisen, dass das Recht auf Wahrung der Verteidigungsrechte, das in Art. 41 Abs. 2 der Charta niedergelegt ist, den Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Akteneinsicht unter Beachtung der berechtigten Interessen an Vertraulichkeit umfasst. Der in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta vorgesehene Anspruch, in jedem Verfahren gehört zu werden, garantiert jeder Person, dass sie die Möglichkeit hat, in einem Verwaltungsverfahren in sachdienlicher und wirksamer Weise ihren Standpunkt vorzutragen, bevor ihr gegenüber eine Entscheidung ergeht, die für ihre Interessen nachteilig sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 75, und vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 79). 46      Des Weiteren verlangt das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, das in Art. 47 der Charta bekräftigt wird, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann, entweder durch das Studium der Entscheidung selbst oder durch eine auf seinen Antrag hin erfolgte Mitteilung dieser Gründe, unbeschadet der Befugnis des zuständigen Gerichts, von der betreffenden Behörde die Übermittlung dieser Gründe zu verlangen, damit der Betroffene seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen verteidigen und in Kenntnis aller Umstände entscheiden kann, ob es angebracht ist, das zuständige Gericht anzurufen, und damit dieses umfassend in die Lage versetzt wird, die Rechtmäßigkeit der fraglichen Entscheidung zu überprüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 100). 47      Vorliegend ist als Erstes zum Vorbringen des Klägers, der Rat habe die Unterlagen und Beweise, auf deren Grundlage die ursprünglichen Rechtsakte erlassen worden seien, verspätet übermittelt, festzustellen, dass der Rat dem Kläger das erste WK-Dossier am 28. April 2022 übermittelte. In Anbetracht der Frist, über die der Kläger für die Einreichung seiner Klageschrift verfügte und die am 24. Mai 2022 abgelaufen ist, ist diese Übermittlung nicht als verspätet anzusehen. 48      Des Weiteren wird die Argumentation des Klägers dadurch entkräftet, dass er seine Klage am 6. Mai 2022, also mehr als 15 Tage vor Ablauf der Klagefrist, erhoben hat. 49      Folglich greift das Vorbringen des Klägers, mit dem er einen Verstoß gegen sein Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz geltend macht, nicht durch. 50      Als Zweites läuft das Vorbringen des Klägers, mit dem im Wesentlichen geltend gemacht wird, der Rat sei seiner Pflicht zur eingehenden Überprüfung des Sachverhalts nicht nachgekommen, darauf hinaus, die Begründetheit der Aufnahme seines Namens in die fraglichen Listen und die Belassung seines Namens auf diesen Listen in Frage zu stellen. Da sich dieses Vorbringen mit dem Vorbringen zu dem Klagegrund, der auf offensichtliche Beurteilungsfehler gestützt ist, überschneidet, wird es im Rahmen dieses anderen Klagegrundes geprüft. Zu dem Vorbringen, das auf einen Verstoß gegen die Verteidigungsrechte und den Anspruch auf rechtliches Gehör im Rahmen des Erlasses der Fortsetzungsrechtsakte gestützt ist, ist darauf hinzuweisen, dass die Unionsorgane zur Achtung der Verteidigungsrechte und des Anspruchs auf rechtliches Gehör zwar der von einer beschwerenden Maßnahme betroffenen Person Gelegenheit geben müssen, ihren Standpunkt sachgerecht zu vertreten, aber nicht dazu verpflichtet sind, diesen Standpunkt zu übernehmen (Urteile vom 27. September 2018, Ezz u. a./Rat, T‑288/15, EU:T:2018:619, Rn. 330, und vom 27. April 2022, Boshab/Rat, T‑103/21, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:248, Rn. 73). Vorliegend kann der bloße Umstand, dass der Rat nicht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Verlängerung der Verhängung restriktiver Maßnahmen unbegründet sei, und er es auch nicht für notwendig erachtet hat, angesichts der Stellungnahmen des Klägers Überprüfungen vorzunehmen, als solcher keinen Verstoß gegen Verteidigungsrechte und den Anspruch auf rechtliches Gehör darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 2018, Ezz u. a./Rat, T‑288/15, EU:T:2018:619, Rn. 331). 51      Infolgedessen ist auch das Vorbringen eines Verstoßes gegen Verteidigungsrechte und den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör zurückzuweisen. 52      Als Drittes ist zum Vorbringen des Klägers, ihm sei durch die Nichtübermittlung der als Verschlusssache eingestuften Beweise die Möglichkeit genommen worden, die Richtigkeit und Begründetheit dieser Beweise während des Verwaltungsverfahrens, das zum Erlass der Rechtsakte vom März 2023 geführt habe, zu widerlegen, darauf hinzuweisen, dass zwingende Erwägungen der Sicherheit der Union oder ihrer Mitgliedstaaten oder der Gestaltung ihrer internationalen Beziehungen im Verwaltungsverfahren der Mitteilung bestimmter Informationen oder Beweise an die betroffene Person entgegenstehen können (vgl. Urteil vom 13. September 2018, Rosneft u. a./Rat, T‑715/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2018:544, Rn. 134 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dies gilt auch bei zwingenden Erwägungen zum Schutz der berechtigten Interessen bestimmter Personen oder Organisationen, die die Quelle der als Verschlusssache eingestuften Information darstellen. 53      Vorliegend wies der Rat in seinem Schreiben vom 14. März 2023 u. a. darauf hin, dass die fraglichen Dokumente als „restreint UE/EU restricted“ eingestuft worden seien, um die Quellen nicht offenzulegen. Insbesondere hat der Rat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass er es für erforderlich gehalten habe, die Identität dieser Quellen zu schützen, um sie nicht der Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen auszusetzen. 54      Somit war der Rat berechtigt, dem Kläger die betreffenden Dokumente, die sich vor dem Erlass der Rechtsakte vom März 2023 in seinem Besitz befanden, nicht in ihrer Gesamtheit zugänglich zu machen, ohne dass dies für sich genommen die Feststellung eines Verstoßes gegen die Verteidigungsrechte beim Erlass dieser Rechtsakte begründen kann. 55      Zudem übermittelte der Rat dem Kläger vor dem Erlass der Rechtsakte vom März 2023 eine Zusammenfassung der maßgeblichen Beweise, die in dem als Verschlusssache eingestuften WK-Dossier enthalten waren. Diese Zusammenfassung ist hinreichend genau und ausführlich, da ihr erstens die Art der Informationen zu entnehmen ist, die das fragliche Dokument enthält, das sich in dem als Verschlusssache eingestuften WK-Dossier befindet, nämlich aus Gesellschaftsregistern entnommene Informationen, da sie zweitens die Gesellschaften nennt, an denen der Kläger Beteiligungen halte, nämlich den internationalen Flughafen Scheremetjewo (im Folgenden: SIA) sowie die Gesellschaften [vertraulich](1), und da sie drittens darlegt, dass zwischen dem Kläger und Herrn Arkady Rotenberg über zwei in Zypern und auf den Britischen Jungferninseln eingetragene Gesellschaften eine Verbindung bestehe. Im Übrigen wird die Tatsache, dass diese Zusammenfassung hinreichend genau und ausführlich ist sowie die darin wiedergegebenen Informationen zutreffend sind, durch den Inhalt des teilweise freigegebenen WK-Dossiers bestätigt, das detaillierte Informationen über die Beteiligungen an den betreffenden Gesellschaften sowie über die Tätigkeiten des Klägers enthält. 56      Darüber hinaus stützte sich der Rat im ersten und im zweiten WK-Dossier auch auf andere Unterlagen, die dem Kläger vor dem Erlass der Rechtsakte vom März 2023 übermittelt worden waren, um zu belegen, dass dieser mit den genannten Gesellschaften [vertraulich] verbunden gewesen sei. Somit stützte der Rat die Gründe für die Aufnahme in die Liste nicht nur auf die Zusammenfassung des als Verschlusssache eingestuften Dokuments, sondern auf eine kohärente Gesamtheit von Beweisen. 57      Folglich hatte der Kläger im Rahmen des Erlasses der Rechtsakte vom März 2023 die Möglichkeit, seinen Standpunkt sachdienlich und wirksam geltend zu machen und konkret zu bestreiten, dass die vom Rat gegen ihn erhobenen Vorwürfe, insbesondere die in der Zusammenfassung des als Verschlusssache eingestuften Dokuments genannten, zutrafen. Mithin kann der Kläger nicht mit Erfolg geltend machen, dass gegen seine Verteidigungsrechte und den Grundsatz der guten Verwaltung verstoßen worden sei. 58      Was schließlich den behaupteten Verstoß gegen den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass der Rat dem Gericht am 26. Juni 2023 in Anlage zu seiner Stellungnahme zum zweiten Anpassungsschriftsatz das teilweise freigegebene WK-Dossier übermittelt hat. Dieses Dossier bestand aus dem gesamten als Verschlusssache eingestuften Dokument mit Ausnahme seiner Quelle, deren Name geschwärzt war. Somit konnte der Kläger im Rahmen des vorliegenden Rechtszugs von diesen Beweisen und allen darin enthaltenen Informationen Kenntnis nehmen und daher dazu Stellung nehmen. 59      Folglich ist das Vorbringen, die Nichtübermittlung der als Verschlusssache eingestuften Beweise verstoße gegen die Verteidigungsrechte, den Grundsatz der guten Verwaltung und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, zurückzuweisen. 60      Nach alledem ist der erste Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen. Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes: Verstoß gegen die Begründungspflicht 61      Im Rahmen des zweiten Teils des ersten Klagegrundes macht der Kläger geltend, dass die angefochtenen Rechtsakte gegen die Begründungspflicht verstießen. 62      Zunächst bringt er vor, dass die Begründung, die der Rat in den ursprünglichen Rechtsakten und in den Rechtsakten vom September 2022 angeführt habe, ihm nicht ermögliche, die Gründe zu erfahren, auf die der Rat diese Rechtsakte gestützt habe. In den Gründen, mit denen die Aufnahme des Namens des Klägers in die fraglichen Listen gerechtfertigt worden sei, sei das in Art. 2 Abs. 1 Buchst. d des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung vorgesehene Kriterium (im Folgenden: Kriterium d) angewandt worden, wohingegen im ersten WK-Dossier das Kriterium gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses als Rechtsgrundlage zur Rechtfertigung der Aufnahme seines Namens in die fraglichen Listen angeführt worden sei. 63      Was sodann den Grund für die angefochtenen Rechtsakte angeht, in denen auf Verbindungen zu „anderen Oligarchen, die mit Herrn Putin in Verbindung stehen“, Bezug genommen werde, seien in den ursprünglichen Rechtsakten und in den Rechtsakten vom September 2022 weder die Namen dieser anderen Oligarchen noch die konkrete Art der Verbindungen zu ihnen genannt. 64      Schließlich seien die im ersten WK-Dossier enthaltenen Beweise größtenteils unrichtig, überholt oder unzureichend, so dass die Schlussfolgerung, die der Rat aus ihnen ziehe, unzutreffend sei. 65      Der Rat tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen. 66      Die Pflicht zur Begründung eines beschwerenden Rechtsakts, die aus dem Grundsatz der Beachtung der Verteidigungsrechte folgt, dient dem Zweck, zum einen den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, dass er erkennen kann, ob der Rechtsakt sachlich richtig oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der seine Anfechtung vor dem Unionsgericht zulässt, und zum anderen dem Unionsgericht die Prüfung der Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts zu ermöglichen (vgl. Urteil vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung). 67      Die nach Art. 296 AEUV erforderliche Begründung muss der Natur des betreffenden Rechtsakts und dem Kontext, in dem er erlassen wurde, angepasst sein. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt dieses Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere von dem Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen insbesondere weder alle tatsächlich und rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden noch muss auf die Erwägungen des Betroffenen bei seiner Anhörung vor Erlass des Rechtsakts im Einzelnen eingegangen werden, da die Frage, ob eine Begründung ausreichend ist, nicht nur anhand des Wortlauts des Rechtsakts zu beurteilen ist, sondern auch anhand seines Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet. Folglich ist ein beschwerender Rechtsakt hinreichend begründet, wenn er in einem Zusammenhang ergangen ist, der dem Betroffenen bekannt war und ihm gestattet, die Tragweite der ihm gegenüber getroffenen Maßnahme zu verstehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 68      Des Weiteren müssen die an die Genauigkeit der Begründung eines Rechtsakts zu stellenden Anforderungen den tatsächlichen Möglichkeiten sowie den technischen und zeitlichen Bedingungen angepasst werden, unter denen der Rechtsakt zu ergehen hat (vgl. Urteil vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). 69      Nach der Rechtsprechung muss überdies in der Begründung eines Rechtsakts des Rates, mit dem eine restriktive Maßnahme verhängt wird, nicht nur die Rechtsgrundlage dieser Maßnahme genannt werden, sondern es müssen auch die besonderen und konkreten Gründe angegeben werden, aus denen der Rat es in Ausübung seines Ermessens für angebracht hielt, den Betroffenen einer solchen Maßnahme zu unterwerfen (vgl. Urteil vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). 70      Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der in Art. 296 AEUV vorgesehenen Begründungspflicht um ein wesentliches Formerfordernis handelt, das von der Frage der Stichhaltigkeit der Begründung zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 1998, Kommission/Sytraval und Brink’s France, C‑367/95 P, EU:C:1998:154, Rn. 67). Die Begründung einer Entscheidung soll nämlich förmlich die Gründe zum Ausdruck bringen, auf denen sie beruht. Weisen die Gründe Fehler auf, so beeinträchtigen diese die materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung, nicht aber deren Begründung, die, obwohl sie fehlerhafte Gründe enthält, zureichend sein kann (vgl. Urteil vom 18. Juni 2015, Ipatau/Rat, C‑535/14 P, EU:C:2015:407, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). 71      Als Erstes ist festzustellen, dass der allgemeine Kontext, der den Rat dazu veranlasst hat, die betreffenden restriktiven Maßnahmen zu erlassen, in den Erwägungsgründen der angefochtenen Rechtsakte klar dargelegt wird, in denen insbesondere auf die grundlose und ungerechtfertigte militärische Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine verwiesen wird. Ebenso werden die Rechtsgrundlagen angegeben, auf deren Basis die genannten Rechtsakte erlassen wurden, nämlich Art. 29 EUV und Art. 215 AEUV. Somit waren dem Kläger der Kontext, in dem diese Rechtsakte erlassen wurden, und ihre Rechtsgrundlage bekannt. 72      Als Zweites ist in Anbetracht der oben in den Rn. 11 und 28 wiedergegebenen Begründungen der angefochtenen Rechtsakte festzustellen, dass diese Begründungen hinreichend klar und genau sind, um es dem Kläger zu ermöglichen, die Gründe zu verstehen, aus denen sein Name in die fraglichen Listen aufgenommen und sodann dort belassen wurde. 73      Aus diesen Begründungen geht nämlich hinreichend klar hervor, dass der Rat den Namen des Klägers auf der Grundlage des Kriteriums d in die fraglichen Listen aufgenommen und dann dort belassen hat, da in dieser Begründung dargelegt wird, dass er russische Entscheidungsträger, die für die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich seien, unterstützt habe, was dem ersten Teil dieses Kriteriums entspricht. Des Weiteren ergibt sich aus den Rechtsakten vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024, dass der Name des Klägers auch aufgenommen wurde, da er eine Person sei, die von diesen Entscheidungsträgern „profitiert“, was dem zweiten Teil des Kriteriums d entspricht. Zu den Gründen, aus denen der Rat der Auffassung war, dass der erste Teil des Kriteriums d auf den Kläger anwendbar sei, geht aus der Begründung der angefochtenen Rechtsakte hervor, dass diese insbesondere mit seiner Beteiligung an der Finanzierung eines Gebäudes in Gelendschik zusammenhingen, das mutmaßlich von Präsident Putin persönlich genutzt werde, d. h. dem vom Kläger unterstützten Entscheidungsträger. Was den zweiten Teil des Kriteriums d betrifft, ergibt sich aus den Rechtsakten vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 im Wesentlichen, dass der Status eines mit SIA verbundenem Oligarchen den Vorteil darstellt, den er von diesem russischen Entscheidungsträger erlangt hat. 74      Außerdem geht aus den Rechtsakten vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 hervor, dass die Belassung des Namens des Klägers auf den fraglichen Listen auch auf das in Art. 2 Abs. 1 a. E. des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung genannte Kriterium der Verbindung (im Folgenden: Kriterium der Verbindung) aufgrund seiner Beziehungen zu Herrn Arkady Rotenberg gestützt wurde. 75      Was als Drittes das Vorbringen betrifft, das in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Beschlusses 2014/145 vorgesehene Kriterium sei in der Begründung der angefochtenen Rechtsakte nicht genannt worden, so ist unstreitig, dass der Europäische Auswärtige Dienst (im Folgenden: EAD) dem Rat im ersten WK-Dossier vorschlug, den Namen des Klägers auf der Grundlage dieses Kriteriums in die fraglichen Listen aufzunehmen. 76      Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass zum einen in der Regel der EAD ein Arbeitsdokument wie das erste WK-Dossier erstellt, in dem er dem Rat den Namen einer in die fraglichen Listen aufzunehmenden Person, Organisation oder Einrichtung vorschlägt, bevor die Namen von Personen, Organisationen und Einrichtungen in die fraglichen Listen aufgenommen werden. Dieser Vorschlag enthält insbesondere die in Betracht kommenden Aufnahmekriterien, einen Vorschlag der Gründe für die Aufnahme sowie die Beweise, mit denen eine solche Aufnahme gerechtfertigt werden kann. Daraus folgt, dass ein solches vom EAD vorbereitetes Dokument zwangsläufig vorbereitendender Art ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2023, Timchenko/Rat, T‑361/22, nicht veröffentlicht, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2023:502, Rn. 42 und 43). 77      Zum anderen verfügt der Rat über einen gewissen Beurteilungsspielraum, um im Einzelfall festzustellen, ob die rechtlichen Kriterien, auf die die streitigen restriktiven Maßnahmen gestützt werden, erfüllt sind (vgl. Urteil vom 3. Juli 2014, National Iranian Tanker Company/Rat, T‑565/12, EU:T:2014:608, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung). Da es dem Rat freisteht, in Rechtsakten zur Anwendung restriktiver Maßnahmen gegenüber Personen, Organisationen oder Einrichtungen andere Aufnahmekriterien als die vom EAD vorgeschlagenen heranzuziehen, ist die Begründung der angefochtenen Rechtsakte in Bezug auf die besondere Situation des Klägers im Licht des Wortlauts der Gründe für die Aufnahme zu würdigen. 78      Vorliegend geht aus der Begründung der angefochtenen Rechtsakte hinreichend klar hervor, dass sich der Rat bei der Aufnahme des Namens des Klägers in die fraglichen Listen auf das Kriterium d und, was die Rechtsakte vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 betrifft, auf das Kriterium der Verbindung gestützt hat (vgl. oben, Rn. 72 bis 74). 79      Daraus folgt, dass die Tatsache, dass sich das Aufnahmekriterium, das im ersten WK-Dossier vom EAD vorgeschlagen wurde, von dem unterscheidet, das in den ursprünglichen Rechtsakten und in den Rechtsakten vom September 2022 genannt wurde, keinen Verstoß gegen die Begründungspflicht darstellt. 80      Zu dem Vorbringen, dass die Begründung in Bezug auf die Verbindungen zwischen dem Kläger und „anderen Oligarchen, die mit Herrn Putin in Verbindung stehen“, allgemein gehalten sei, ist festzustellen, dass sich dieses Vorbringen nur auf die ursprünglichen Rechtsakte und die Rechtsakte vom September 2022 bezieht. Der Name des Klägers wurde jedoch nicht auf der Grundlage des Kriteriums der Verbindung in diese Rechtsakte aufgenommen. Daraus folgt, dass das Fehlen einer genauen Identifizierung zum einen der anderen Oligarchen, mit denen der Kläger in Verbindung stand, und zum anderen der konkreten Art der Verbindungen zu ihnen keinen Begründungsmangel dieser Rechtsakte darstellt. 81      Im Übrigen geht aus den Schriftsätzen des Klägers, mit denen die Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Rechtsakte und der Rechtsakte vom September 2022 in Abrede gestellt wird, hervor, dass er verstanden hatte, worin die ihm vorgeworfene Unterstützung im Sinne des Kriteriums d bestand, nämlich in seiner Beteiligung an der Finanzierung des Komplexes in der Nähe von Gelendschik, der vom Präsidenten der Russischen Föderation persönlich genutzt werde (im Folgenden: Komplex in Gelendschik), so dass er in der Lage war, den auf der Grundlage dieses Kriteriums erfolgten Erlass restriktiver Maßnahmen gegen ihn anzufechten. Außerdem ist die Begründung dieser Rechtsakte so hinreichend klar und genau, dass sie es dem Gericht ermöglicht, zu prüfen, ob die Aufnahme und die Belassung des Namens des Klägers auf den fraglichen Listen auf der Grundlage des Kriteriums d rechtmäßig war. 82      Zum Vorbringen des Klägers, dass die Vorwürfe, die in der Begründung für die Aufnahme in die fraglichen Listen und in den im Dossier des Rates zusammengestellten Beweisen enthalten seien, unrichtig, überholt oder unzureichend seien, ist festzustellen, dass dieses Vorbringen nicht die Einhaltung der Begründungspflicht, sondern die Begründetheit der angefochtenen Rechtsakte betrifft. Wie sich jedoch aus der oben in Rn. 70 angeführten Rechtsprechung ergibt, handelt es sich bei der Begründungspflicht um ein wesentliches Formerfordernis, das von der Frage der Stichhaltigkeit der Gründe zu unterscheiden ist, die zur materiellen Rechtmäßigkeit des streitigen Rechtsakts gehört. Daraus folgt, dass dieses Vorbringen des Klägers nicht in Frage stellen kann, dass die Begründung der angefochtenen Rechtsakte ausreichend ist. 83      Nach alledem ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes zu verwerfen, so dass der erste Klagegrund insgesamt als unbegründet zurückzuweisen ist. Zum zweiten Klagegrund: offensichtliche Beurteilungsfehler 84      Zur Stützung dieses Klagegrundes macht der Kläger im Wesentlichen geltend, dass die in den Beweisdossiers enthaltenen Beweise nicht zuverlässig seien und der Rat offensichtliche Beurteilungsfehler begangen habe, indem er festgestellt habe, dass das Kriterium d und, was die Rechtsakte vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 betreffe, auch das Kriterium der Verbindung auf den Kläger anwendbar sei. Vorbemerkungen 85      Zunächst ist hervorzuheben, dass davon auszugehen ist, dass mit dem zweiten Klagegrund ein Beurteilungsfehler und nicht ein offensichtlicher Beurteilungsfehler gerügt wird. Denn es trifft zwar zu, dass der Rat einen gewissen Beurteilungsspielraum hat, um im Einzelfall festzustellen, ob die rechtlichen Kriterien, auf die die betreffenden restriktiven Maßnahmen gestützt werden, erfüllt sind, doch müssen die Unionsgerichte eine grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit sämtlicher Handlungen der Union gewährleisten (vgl. Urteil vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung). 86      Die durch Art. 47 der Charta gewährleistete Effektivität der gerichtlichen Kontrolle erfordert insbesondere, dass sich das Unionsgericht vergewissert, ob die Entscheidung, mit der restriktive Maßnahmen erlassen oder aufrechterhalten werden und die eine individuelle Betroffenheit der betroffenen Person oder Organisation begründet, auf einer hinreichend gesicherten tatsächlichen Grundlage beruht. Dies setzt eine Überprüfung der Tatsachen voraus, die in der dieser Entscheidung zugrunde liegenden Begründung angeführt werden, so dass sich die gerichtliche Kontrolle nicht auf die Beurteilung der abstrakten Wahrscheinlichkeit der angeführten Gründe beschränkt, sondern auf die Frage erstreckt, ob diese Gründe – oder zumindest einer von ihnen, der für sich genommen als ausreichend angesehen wird, um diese Entscheidung zu stützen – erwiesen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 119, sowie vom 5. November 2014, Mayaleh/Rat, T‑307/12 und T‑408/13, EU:T:2014:926, Rn. 128). 87      Bei dieser Beurteilung sind die Beweise und Informationen nicht isoliert, sondern in dem Zusammenhang zu prüfen, in dem sie stehen. Denn der Rat genügt der ihm obliegenden Beweislast, wenn er vor dem Unionsgericht auf ein Bündel von Indizien hinweist, die hinreichend konkret, genau und übereinstimmend sind und die Feststellung ermöglichen, dass eine hinreichende Verbindung zwischen der Person oder der Organisation, die einer Maßnahme des Einfrierens ihrer Gelder unterworfen ist, und dem bekämpften Regime oder ganz allgemein den bekämpften Situationen besteht (vgl. Urteil vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 124 und die dort angeführte Rechtsprechung). 88      Im Streitfall ist es Sache der zuständigen Unionsbehörde, die Stichhaltigkeit der gegen die betroffene Person oder Organisation vorliegenden Gründe nachzuweisen, und nicht Sache der betroffenen Person oder Organisation, den negativen Nachweis zu erbringen, dass diese Gründe nicht stichhaltig sind. Hierzu braucht der Rat dem Unionsgericht nicht sämtliche Informationen und Beweise vorzulegen, die mit den Gründen zusammenhängen, die in dem Rechtsakt, dessen Nichtigerklärung beantragt wird, angegeben werden. Die vorgelegten Informationen oder Beweise müssen die Gründe stützen, die gegen die betroffene Person oder Organisation vorliegen (Urteile vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 121 und 122, sowie vom 28. November 2013, Rat/Fulmen und Mahmoudian, C‑280/12 P, EU:C:2013:775, Rn. 66 und 67; vgl. auch Urteil vom 1. Juni 2022, Prigozhin/Rat, T‑723/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:317, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung). 89      In diesem Fall obliegt es dem Unionsgericht, die inhaltliche Richtigkeit der vorgetragenen Tatsachen anhand dieser Informationen oder Beweise zu prüfen und deren Beweiskraft anhand der Umstände des Einzelfalls und im Licht etwaiger dazu abgegebener Stellungnahmen, insbesondere der betroffenen Person oder Organisation, zu würdigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi, C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, EU:C:2013:518, Rn. 124). 90      Insbesondere in Bezug auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Rechtsakte, mit denen der Name der von den restriktiven Maßnahmen betroffenen Person auf den betreffenden Listen belassen wird, ist darauf hinzuweisen, dass restriktive Maßnahmen Sicherungscharakter haben und definitionsgemäß vorläufiger Natur sind, so dass ihre Gültigkeit immer von der Fortdauer der tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die ihrem Erlass zugrunde gelegen haben, sowie von der Notwendigkeit abhängig ist, sie zur Erreichung des mit ihnen verbundenen Ziels aufrechtzuerhalten. Daher hat der Rat bei der regelmäßigen Überprüfung dieser restriktiven Maßnahmen eine aktualisierte Bewertung der Lage vorzunehmen und eine Bilanz der Auswirkungen dieser Maßnahmen zu ziehen, um festzustellen, ob sie es ermöglicht haben, die mit der ursprünglichen Aufnahme der Namen der betreffenden Personen und Organisationen in die streitige Liste verfolgten Ziele zu erreichen, oder ob im Hinblick auf diese Personen und Organisationen nach wie vor dieselbe Schlussfolgerung gezogen werden kann (vgl. Urteil vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 168 und die dort angeführte Rechtsprechung). 91      Es ist dem Rat nicht verwehrt, sich zur Rechtfertigung der Belassung des Namens einer Person auf den betreffenden Listen auf die gleichen Beweise zu stützen, die die erste Aufnahme, die erneute Aufnahme oder die frühere Belassung des Namens der betroffenen Person auf diesen Listen gerechtfertigt haben, sofern zum einen die Gründe für die Aufnahme unverändert sind und sich zum anderen der Kontext nicht in einer Weise weiterentwickelt hat, dass diese Beweise obsolet geworden wären. Der genannte Kontext umfasst nicht nur die Situation des Landes, gegenüber dem das System restriktiver Maßnahmen errichtet wurde, sondern auch die besondere Situation der betroffenen Person. Auch ist die Belassung auf der streitigen Liste in Anbetracht aller relevanten Umstände und insbesondere der Tatsache gerechtfertigt, dass die mit den restriktiven Maßnahmen angestrebten Ziele nicht erreicht worden sind (vgl. Urteil vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 169 und die dort angeführte Rechtsprechung). 92      Anhand dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob der Rat einen Beurteilungsfehler begangen hat, indem er entschieden hat, den Namen des Klägers in die fraglichen Listen aufzunehmen und dort zu belassen. Zu den ursprünglichen Rechtsakten und den Rechtsakten vom September 2022 93      Aus dem identischen Wortlaut der ursprünglichen Rechtsakte und der Rechtsakte vom September 2022 geht hervor, dass der Kläger mit der Begründung aufgenommen wurde, dass er im Sinne des Kriteriums d „russische Entscheidungsträger, die für die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich sind, materiell oder finanziell aktiv unterstützt“ habe. –       Zur Zuverlässigkeit der Beweise 94      Der Kläger macht geltend, die im ersten WK-Dossier enthaltenen Beweise seien nicht zuverlässig, da es sich um Auszüge aus „Boulevard-Medien“ handele, die instrumentalisiert worden seien, um seinen Ruf zu schädigen. So würden die Beweisstücke Nrn. 1, 2, 3 und 6 nur auf Gerüchten und Mutmaßungen beruhen, mit denen Aufsehen erregt werden solle, und sie würden Unwahrheiten in Bezug auf den Preis enthalten, zu dem der Kläger den Komplex in Gelendschik gekauft habe. Das Beweisstück Nr. 4 enthalte nur Behauptungen, die nicht durch zuverlässige Quellen belegt worden seien. Die Beweisstücke Nrn. 3 und 6 stammten aus den Jahren 2011, 2012 und 2015 und seien daher beim Erlass der ursprünglichen Rechtsakte und der Rechtsakte vom September 2022 irrelevant gewesen. 95      Der Rat tritt diesem Vorbringen entgegen. 96      Insoweit ist festzustellen, dass nach ständiger Rechtsprechung für das Unionsgericht der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt und für die Würdigung des Beweiswerts der vorgelegten Beweise allein ihre Glaubhaftigkeit maßgeblich ist. Zur Beurteilung des Beweiswerts eines Dokuments ist insoweit die Wahrscheinlichkeit der darin enthaltenen Information zu untersuchen. Dabei sind insbesondere die Herkunft des Dokuments, die Umstände seiner Ausarbeitung und sein Adressat zu berücksichtigen, und es ist die Frage zu beantworten, ob es seinem Inhalt nach vernünftig und glaubhaft erscheint (vgl. Urteile vom 31. Mai 2018, Kaddour/Rat, T‑461/16, EU:T:2018:316, Rn. 107 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 12. Februar 2020, Amisi Kumba/Rat, T‑163/18, EU:T:2020:57, Rn. 95 [nicht veröffentlicht] und die dort angeführte Rechtsprechung). 97      Die Unionsbehörden müssen sich, da ihnen in Drittstaaten keine Ermittlungsbefugnisse zustehen, bei ihrer Beurteilung de facto auf öffentlich zugängliche Informationsquellen, Berichte, Presseartikel, Geheimdienstberichte oder andere ähnliche Informationsquellen stützen (Urteile vom 14. März 2018, Kim u. a./Rat und Kommission, T‑533/15 und T‑264/16, EU:T:2018:138, Rn. 107, sowie vom 1. Juni 2022, Prigozhin/Rat, T‑723/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:317, Rn. 59). 98      Darüber hinaus macht es die Konfliktsituation, in der sich die Russische Föderation und die Ukraine befinden, praktisch ausgesprochen schwierig, Zugang zu bestimmten Quellen zu erhalten, die Primärquelle bestimmter Informationen ausdrücklich anzugeben und etwaige Zeugenaussagen von Personen einzuholen, die bereit sind, namhaft gemacht zu werden. Die daraus sich ergebenden Schwierigkeiten bei der Ermittlung können somit dazu beitragen, die Erbringung präziser Beweise und objektiver Informationen zu behindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. November 2023, OT/Rat, T‑193/22, EU:T:2023:716, Rn. 116 und die dort angeführte Rechtsprechung). 99      Vorliegend heißt es in der Begründung der ursprünglichen Rechtsakte und der Rechtsakte vom September 2022 in Bezug auf die Unterstützung eines russischen Entscheidungsträgers durch den Kläger im Sinne des Kriteriums d, dass der Kläger an der Finanzierung des Komplexes in Gelendschik beteiligt gewesen sei. Die Dokumente, auf die sich der Rat zum Nachweis einer Finanzierung dieses Komplexes durch den Kläger stützte und die im ersten WK-Dossier enthalten sind, sind u. a. folgende: –        die Niederschrift einer Untersuchung der Anti-Corruption Foundation (Antikorruptionsstiftung) in Bezug auf ein mit Herrn Putin in Verbindung stehendes Grundstück am Schwarzen Meer in der Nähe von Gelendschik, die am 19. Januar 2021 auf der Website palace.navalny.com veröffentlicht und am 15. Februar 2022 abgerufen wurde (Beweisstück Nr. 1); –        der Screenshot des Auszugs eines Artikels, der am 20. Januar 2021 auf der Website der Onlinezeitung „Medusa“ veröffentlicht und am 24. Februar 2022 abgerufen wurde (im Folgenden: Beweisstück Nr. 2); –        die Zusammenfassung eines Presseartikels, der am 3. März 2011 auf der Website der Online-Zeitung „The Moscow Times“ veröffentlicht und am 24. Februar 2022 abgerufen wurde (im Folgenden: Beweisstück Nr. 3); –        der Verweis auf eine am 24. Februar 2022 abgerufene Seite der Website „Spisok-Putina.org“ und deren Zusammenfassung (im Folgenden: Beweisstück Nr. 4); –        ein Presseartikel, der am 2. April 2012 auf der Website der täglich erscheinenden Wirtschaftszeitung „Vedomosti“ veröffentlicht und am 24. Februar 2022 abgerufen wurde (im Folgenden: Beweisstück Nr. 6). 100    Bei dem Beweisstück Nr. 1 des ersten WK-Dossiers handelt es sich um eine Untersuchung u. a. der Finanzierung des Komplexes in Gelendschik, die sich auf verschiedene Informationsquellen (offizielle Dokumente, Fotografien, Pläne und Finanztransaktionen mit den Bankangaben der beteiligten Gesellschaften) stützte. Des Weiteren werden einige der in dieser Untersuchung beschriebenen Tatsachen durch Informationen bestätigt, die in den Beweisstücken Nrn. 2, 3 und 6 enthalten sind. Das Vorbringen des Klägers, diese Untersuchung enthalte einen Fehler in Bezug auf den Kaufpreis des Komplexes von Gelendschik ist für sich genommen nicht geeignet, dem Beweisstück Nr. 1 des ersten WK-Dossiers seine Beweiskraft zu nehmen. 101    Was das Vorbringen betrifft, die Behauptungen in den Beweisstücken Nrn. 1, 2, 3, 4 und 6 seien nicht verlässlich, weil die darin enthaltenen Informationen aus „Boulevardmedien“ stammten und somit nur auf Gerüchten und Spekulationen beruhten, mit denen Aufsehen erregt werden sollte und die nicht auf hinreichend belastbaren Indizien beruhten, ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass Beweise aus Medien, die auf das Privatleben öffentlicher Personen spezialisiert sind, oder von kommerziellen Websites stammen, diesen Beweisen nicht jede Beweiskraft nehmen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2023, QF/Rat, T‑386/22, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:670, Rn. 33 und 37). Des Weiteren kann angesichts der oben in Rn. 98 genannten Schwierigkeiten beim Zugang zu den Informationen die Tatsache, dass Untersuchungen oder Artikel auf Informationen beruhen, die auf Websites verfügbar sind, diesen Beweisstücken nicht ihre Beweiskraft nehmen. 102    Der Kläger legt zur Stützung seiner Auffassung, dass die Quellen im ersten WK-Dossier keine unterschiedlichen und zuverlässigen Quellen seien, einen Bericht einer russischen Hochschulforscherin vor. Insoweit ist, ohne dass über die Zulässigkeit dieses Beweisangebots zu entscheiden wäre, das erstmals im Stadium der Erwiderung vorgelegt wurde, in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Rates festzustellen, dass dieser Bericht auf Ersuchen des Klägers erstellt wurde, und zwar auf der Grundlage von Informationen, die der Kläger der Person, die mit der Erstellung des Berichts betraut war, übermittelt hatte. Die Beweiskraft dieses Berichts ist folglich zu relativieren, so dass er nicht ausreicht, um die Zuverlässigkeit der vom Rat vorgelegten Beweise in Frage zu stellen. 103    Zu den weiteren Beanstandungen des Klägers in Bezug auf Informationen im ersten WK-Dossier, die nicht aktualisiert worden bzw. ungenau oder unzutreffend seien, ist festzustellen, dass sich diese Einwände auf den Wahrheitsgehalt bestimmter Behauptungen beziehen, die in den in diesem Dossier enthaltenen Beweisstücken enthalten sind, und nicht auf die Zuverlässigkeit und Glaubhaftigkeit dieser Beweisstücke, so dass sie gegebenenfalls im Rahmen der Prüfung der Stichhaltigkeit des Grundes für die Aufnahme des Namens des Klägers in die fragliche Liste zu prüfen sind. –       Zu den Anlagen der Klagebeantwortung 104    Der Kläger macht geltend, insbesondere die Anlagen zur Klageschrift B.13, B.14, B.23, B.25 und B.26 könnten nicht berücksichtigt werden, da diese in der Begründung der angefochtenen Rechtsakte nicht angeführt worden und somit nicht relevant seien. 105    Der Rat tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen. 106    Nach ständiger Rechtsprechung ist die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts der Union anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seines Erlasses zu beurteilen (Urteile vom 3. September 2015, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission, C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 22, und vom 8. März 2023, Prigozhina/Rat, T‑212/22, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:104, Rn. 80). 107    Ferner hat die dem Gericht obliegende Kontrolle der materiellen Rechtmäßigkeit, insbesondere in Rechtsstreitigkeiten über restriktive Maßnahmen, nicht nur auf der Grundlage der in den Begründungen der streitigen Rechtsakte enthaltenen Angaben, sondern auch auf der Grundlage der Angaben zu erfolgen, die der Rat dem Gericht im Bestreitensfall vorlegt, um die Stichhaltigkeit der in diesen Begründungen behaupteten Tatsachen nachzuweisen (Urteil vom 22. April 2021, Rat/PKK, C‑46/19 P, EU:C:2021:316, Rn. 64). 108    Somit ist es bei der Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten, mit denen restriktive Maßnahmen verhängt werden, möglich, zusätzliche Beweise zu berücksichtigen, die nicht im Beweisdossier enthalten waren und vorgelegt werden, um die Stichhaltigkeit der in den Gründen für die Aufnahme in die Listen vorgetragenen Tatsachen zu bestätigen, sofern diese Beweise zum einen Angaben untermauern, die dem Rat zur Verfügung standen, und sich zum anderen auf den Sachverhalt vor dem Erlass der in Rede stehenden angefochtenen Rechtsakte beziehen. 109    Vorliegend ist festzustellen, dass es sich bei den Anlagen B.13, B14, B.25 und B.26 um Beweise handelt, die zum einen Tatsachen bestätigen oder die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen, die als Beweisstück Nr. 1 des ersten WK-Dossiers vorgelegt wurde, und sich zum anderen auf den Sachverhalt vor dem Erlass der angefochtenen Rechtsakte beziehen. Solche Umstände können daher im Rahmen der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Rechtsakte berücksichtigt werden. 110    Zudem ist in Bezug auf die Anlage B.23 darauf hinzuweisen, dass es sich um schematische Darstellungen handelt, die in der im Beweisstück Nr. 1 des ersten WK-Dossiers wiedergegebenen Untersuchung enthalten sind, die über den in diesem Dossier enthaltenen Hyperlink zugänglich war. Daher kann der Kläger nicht mit Erfolg geltend machen, dass die in diesem Anhang enthaltenen Informationen nicht berücksichtigt werden könnten (vgl. entsprechend Urteil vom 1. Juni 2022, Prigozhin/Rat, T‑723/20, nicht veröffentlicht, EU:T:2022:317, Rn. 55). –       Zur Anwendung des Kriteriums d auf den Kläger 111    Nach Auffassung des Klägers sind die Umstände seiner Beteiligung an den Gesellschaften [vertraulich] nicht geeignet, seine Beteiligung an der Finanzierung des Komplexes in Gelendschik zu belegen. 112    In Bezug auf die Gesellschaften [vertraulich] trägt der Kläger vor, er habe im Jahr 2011 eine Gelegenheit zur Investition ergriffen und ein Gebäude, das der Immobiliengesellschaft [vertraulich] gehört habe, zum Preis von [vertraulich] über die Gesellschaft [vertraulich] erworben. Es habe sich um ein Projekt eines Luxushotelkomplexes gehandelt, und dieses Gebäude sei keineswegs ein privater Palast. Jedenfalls habe Herr Putin es nicht verwendet. Der Rat habe einen Zusammenhang zwischen dem Komplex in Gelendschik und Herrn Putin nicht nachgewiesen. 113    Des Weiteren habe der Kläger mangels Einigung mit den Gläubigern der Immobiliengesellschaft [vertraulich] seine Anteile an dem Gebäude Ende 2012 wieder verkauft und sodann infolge von bis 2015 andauernden Verhandlungen seine Anteile an dem Projekt über die Gesellschaft [vertraulich] wieder erworben. Nachdem Ende 2015 die Verhandlungen mit den Gläubigern abermals gescheitert seien, habe er jedoch seine Anteile an der Gesellschaft [vertraulich] im März 2016 verkauft und das Projekt endgültig aufgegeben. Da die Gesellschaft [vertraulich] von [vertraulich] gehalten worden sei, seien alle seine Anteile an diesen beiden Gesellschaften veräußert worden. 114    Somit sei der Kläger nur von 2011 bis 2016 an dem Projekt in Gelendschik beteiligt gewesen. Ferner sei die Gesellschaft [vertraulich], die 2011 für das Projekt zuständig gewesen sei, 2016 durch [vertraulich] ersetzt worden. 115    In Bezug auf [vertraulich] macht der Kläger zum einen geltend, dass diese Gesellschaft weder in der Begründung der angefochtenen Rechtsakte noch im ersten WK-Dossier genannt werde. Zum anderen handele es sich um eine Gesellschaft, die Austernzucht betreibe und an der er nur von Februar 2017 bis Oktober 2018 beteiligt gewesen sei. Er habe seine Anteile an [vertraulich] am 30. Oktober 2018 veräußert. 116    Ferner sei er von den Finanzströmen der Finanzierung des Komplexes in Gelendschik über die Gesellschaften [vertraulich] in dem Zeitraum, in dem er an diesem Projekt beteiligt gewesen sei, nicht betroffen gewesen. Daher habe er weder Herrn Putin noch andere Entscheidungsträger unterstützt, erst recht nicht zum Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Rechtsakte und der Rechtsakte vom September 2022. 117    Der Rat tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen. 118    Es ist festzustellen, dass es nach dem Kriterium d nicht erforderlich ist, dass die betreffenden Personen oder Organisationen eine unmittelbare oder mittelbare Unterstützung im Zusammenhang mit der Annexion der Krim oder der Destabilisierung der Ukraine leisten. Es reicht aus, dass sie für russische Entscheidungsträger, die für diese Handlungen verantwortlich sind, eine qualitativ oder quantitativ wichtige Unterstützung leisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2023, Mordashov/Rat, T‑248/22, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:573, Rn. 91; vgl. entsprechend auch Urteil vom 7. April 2016, Central Bank of Iran/Rat, C‑266/15 P, EU:C:2016:208, Rn. 44). 119    Vorliegend ist festzustellen, dass aus der Begründung der ursprünglichen Rechtsakte und der Rechtsakte vom September 2022 hervorgeht, dass Herr Putin der vom Kläger unterstützte russische Entscheidungsträger ist. Daher ist zu prüfen, ob der vom Rat angenommene Sachverhalt ausreichte, um eine solche Feststellung zu treffen. 120    Als Erstes ist zu dem Vorbringen des Klägers, der Rat habe eine Verbindung zwischen dem Komplex in Gelendschik und Herrn Putin nicht nachgewiesen, darauf hinzuweisen, dass sich diese Verbindung rechtlich hinreichend aus mehreren Angaben im ersten WK-Dossier ergibt. 121    Die Feststellung, dass dieser Komplex mit Herrn Putin in Verbindung steht, ergibt sich nämlich nicht nur aus der im Beweisstück Nr. 1 des ersten WK-Dossiers wiedergegebenen Untersuchung, sondern auch aus den Beweisstücken Nrn. 2 und 3 dieses Dossiers, aus denen hervorgeht, dass seit 2011 Medien darüber berichtet hatten, dass der genannte Komplex zum persönlichen Gebrauch durch Herrn Putin bestimmt gewesen sei. Im Übrigen wird diese Information auch durch andere Dokumente bestätigt, nämlich: Der Artikel „‚Putins Palast‘: Die Geschichte von Luxus, Schimmel und Scheinwänden der Bauherren“, veröffentlicht auf der Website der BBC am 12. Februar 2021 (Anhang B.14), der Artikel „Die Eigentümergesellschaft von ‚Putins Palast‘ erhielt ein 7 000 Hektar großes Jagdrevier“, veröffentlicht am 6. November 2020 auf der Website der BBC (Anhang B.26), der Artikel „740 Quadratmeter großer Palast“, veröffentlicht am 7. September 2011 auf der Website der Novaya Gazeta (Anhang B.25), und die auf Wikipedia veröffentlichte Website „Putins Palast“(Anhang B.13). 122    In Anbetracht dieser Beweise durfte der Rat daher davon ausgehen, dass die Beteiligung des Klägers an den Gesellschaften, die an der Durchführung des Projekts des Komplexes in Gelendschik beteiligt waren, eine Unterstützung für Herrn Putin darstellte. 123    Als Zweites ist zum Vorbringen des Klägers, der Rat habe seine Mitwirkung an der Finanzierung des Komplexes in Gelendschik nicht nachgewiesen, darauf hinzuweisen, dass sich diese Mitwirkung aus den Beteiligungen des Klägers an Gesellschaften ergibt, die verwendet wurden, um die Durchführung des Projekts des Komplexes in Gelendschik sicherzustellen, nämlich die Gesellschaften [vertraulich]. 124    Insoweit ist zur Beteiligung des Klägers an der Gesellschaft [vertraulich] festzustellen, dass aus den vom Rat vorgelegten Beweisen hervorgeht, dass diese Gesellschaft zum einen an dem Finanzierungsmechanismus für den Komplex in Gelendschik beteiligt war und dessen Zugang zum Seeweg sicherstellte sowie zum anderen im Eigentum des Klägers stand. 125    Zum einen ist nämlich zur Rolle der Gesellschaft [vertraulich] im Komplex in Gelendschik festzustellen, dass aus der Untersuchung, die im Beweisstück Nr. 1 des ersten WK-Dossiers wiedergegeben ist, hervorgeht, dass Mittel, die durch diese Gesellschaft geleitet wurden, die Finanzierung des Komplexes in Gelendschik ermöglicht haben (Beweisstück Nr. 1 des ersten WK-Dossiers und Anlage B.23 zur Klagebeantwortung). 126    Außerdem geht aus dem Beweisstück Nr. 1 des ersten WK-Dossiers auch hervor, dass die Gesellschaft [vertraulich] ein Grundstück und mehrere große Seegebiete in der Nähe des Komplexes mietete. Nach den Informationen in diesem Beweisstück sollten diese Parzellen zwar offiziell für den Betrieb einer Austernzucht genutzt werden, doch bestand ihr Zweck in Wirklichkeit darin, den Zugang zum Komplex in Gelendschik auf dem Seeweg zu gewährleisten. 127    Zum anderen ist in Bezug auf die Beteiligung des Klägers an der Gesellschaft [vertraulich] darauf hinzuweisen, dass der Kläger laut der Untersuchung, die in Anlage 1 des ersten WK-Dossiers wiedergegeben ist, als Eigentümer dieser Gesellschaft angesehen wurde. 128    Hierzu ist festzustellen, dass der Kläger einräumt, im Februar 2017 Beteiligungen an der Gesellschaft [vertraulich] erworben zu haben, die er jedoch am 30. Oktober 2018 veräußert habe. Zur Stützung dieses Vorbringens hat er einen Vertrag über den Verkauf von Aktien und Registerauszüge einer privaten Gesellschaft vorgelegt. 129    Daraus geht hervor, dass sämtliche Aktien dieser Gesellschaft am 30. Oktober 2018 für einen Gesamtbetrag von [vertraulich] verkauft worden seien. 130    Aufgrund des in diesem Vertrag angegebenen besonders niedrigen Verkaufspreises erscheint dieses behauptete Geschäft und damit das tatsächliche Ausscheiden des Klägers aus der Gesellschaft [vertraulich] jedoch wenig glaubhaft (vgl. entsprechend Urteil vom 20. September 2023, Mordashov/Rat, T‑248/22, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:573, Rn. 101). 131    Aus der Untersuchung, die im Beweisstück Nr. 1 des ersten WK-Dossiers wiedergegeben ist, geht nämlich hervor, dass [vertraulich] von April bis August 2017 im Rahmen der Finanzierung des Projekts in Gelendschik Zahlungen in Höhe von insgesamt [vertraulich] erhalten hatte. In Anbetracht der im Jahr 2017 an [vertraulich] transferierten Beträge ist festzustellen, dass der Kaufpreis, der in dem vom Kläger vorgelegten Kaufvertrag angegeben ist, im Verhältnis zum tatsächlichen Wert dieser Gesellschaft offensichtlich zu niedrig angesetzt ist. 132    Der hierzu in der mündlichen Verhandlung befragte Kläger hat keine überzeugende Erklärung zur Rechtfertigung dieses Verkaufspreises geliefert und sich auf den Vortrag beschränkt, dass die Gesellschaft zu ihrem Kaufpreis weiterverkauft worden sei, da sie über keine Vermögenswerte verfügt habe. Diese Behauptung ist jedoch nicht belegt und angesichts der Angaben im ersten WK-Dossier, wonach hohe Beträge an diese Gesellschaft gezahlt wurden, nicht überzeugend. 133    Somit ist festzustellen, dass die vom Kläger vorgelegten Beweise, d. h. der Kaufvertrag und das von einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung geführte Register, nicht ausreichen, um nachzuweisen, dass er am 30. Oktober 2018 tatsächlich seine Beteiligung an der Gesellschaft [vertraulich] beendet hat. 134    Daher durfte der Rat davon ausgehen, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Erlasses der ursprünglichen Rechtsakte und der Rechtsakte vom September 2022 noch am Finanzierungsmechanismus für den von Herrn Putin zu persönlichen Zwecken genutzten Komplex in Gelendschik beteiligt war, und zwar über die Gesellschaft [vertraulich], die eine quantitativ wichtige Unterstützung leistete, da, wie sich aus Anlage B.25 zur Klagebeantwortung ergibt, ein Betrag von mindestens [vertraulich] durch diese Gesellschaft geleitet wurde. Im Übrigen ist festzustellen, dass der Kläger auch eine qualitativ wichtige Unterstützung mittels dieser Gesellschaft leistete, da sie den Zugang zu dem Komplex auf dem Seeweg gewährleistet. Daraus folgt, dass der Kläger über die Gesellschaft [vertraulich] Herrn Putin im Sinne des Kriteriums d unterstützte. 135    Zur Beteiligung des Klägers an den anderen Gesellschaften, die am Finanzierungsmechanismus des Komplexes in Gelendschik beteiligt sind, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung in Bezug auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der restriktive Maßnahmen erlassen werden, in Anbetracht des präventiven Charakters dieser Maßnahmen, wenn das Unionsgericht zu der Auffassung gelangt, dass zumindest einer der angeführten Gründe hinreichend präzise und konkret ist, nachgewiesen ist und für sich genommen eine hinreichende Grundlage für diese Entscheidung darstellt, der Umstand, dass dies auf andere der Gründe nicht zutrifft, die Nichtigerklärung der Entscheidung nicht rechtfertigen kann (vgl. Urteil vom 28. November 2013, Rat/Manufacturing Support & Procurement Kala Naft, C‑348/12 P, EU:C:2013:776, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung). 136    Folglich ist der zweite Klagegrund in Bezug auf die ursprünglichen Rechtsakte und die Rechtsakte vom September 2022 als unbegründet zurückzuweisen, ohne dass die übrigen Rügen des Klägers geprüft zu werden brauchen, mit denen er die Aufnahme und die Belassung seines Namens auf den fraglichen Listen aufgrund seiner Beteiligung an der Finanzierung des Komplexes in Gelendschik über die anderen betroffenen Gesellschaften in Frage stellt. Zu den Rechtsakten vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 137    Vorliegend wurde die Belassung des Namens des Klägers auf den Listen in den Rechtsakten vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024, deren Begründung identisch ist, auf die beiden Tatbestandsmerkmale des Kriteriums d sowie auf das Kriterium der Verbindung gestützt. 138    Der Rat hat sich, um die Belassung des Namens des Klägers auf den fraglichen Listen gemäß den Rechtsakten vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 zu begründen, neben dem ersten WK-Dossier auch auf Beweise gestützt, die in dem zweiten, dem dritten und dem vierten WK-Dossier enthalten waren, die öffentlich zugängliche Informationen enthielten, nämlich Links zu Websites, Screenshots und Informationsartikel. 139    Im zweiten WK-Dossier geht es insbesondere um folgende Angaben: –        den Artikel „Der Vorsitzende des Verwaltungsrats von Scheremetjewo, der auf der Forbes-Liste steht, ist aufgrund der Sanktionen zurückgetreten“, der am 1. März 2022 auf der Website von Forbes veröffentlicht und am 21. November 2022 vom Rat abgerufen wurde; –        den Artikel „Alexander Ponomarenko gibt nach seiner Aufnahme in die Liste der EU-Sanktionen seinen Posten am Flughafen Scheremetjewo auf“, der am 1. März 2022 auf der Website von RBC News veröffentlicht und vom Rat am 21. November 2022 abgerufen wurde; –        den Artikel „Ponomarenko und der Palast in Gelendschik sind wieder ‚aufgetaucht‘ … vor dem Europäischen Gerichtshof“, der am 8. Juli 2022 auf der Website von Regnum veröffentlicht und vom Rat am 21. November 2022 abgerufen wurde; –        einen Auszug aus der Website von Forbes Russia, abgerufen am 8. August 2022; –        den Artikel „Haben die Eigentümer von ‚Putins Palast‘ ihre Beteiligung geleugnet?“, der auf der Website von Kompromat veröffentlicht und vom Rat am 22. Juli 2022 abgerufen wurde. 140    Im dritten WK-Dossier geht es insbesondere um folgende Angaben: –        den Artikel „Die Struktur der Holding, die den Flughafen Scheremetjewo kontrolliert, wurde in die Sonderverwaltungszone (SVZ) verlegt“, der am 26. Dezember 2022 auf der Website von Rugard veröffentlicht und vom Rat am 20. Januar 2023 abgerufen wurde; –        den Artikel „Triumvirat: Geschäfte und Kunstgriffe von Arkadij Rotenberg und seinen Mitstreitern – Alexander Ponomarenko und Alexander Skorobogatko“, der auf der Website von Utro fevraliya veröffentlicht und vom Rat am 20. Januar 2023 abgerufen wurde; –        den Artikel „Es wird einen großen Skandal geben: Der ‚Sieg‘ ging nach Scheremetjewo“, der am 29. August 2022 auf der Website von KO veröffentlicht und vom Rat am 20. Januar 2023 abgerufen wurde; –        den Artikel „‚Sieg‘ zu einem hohen Preis“, der am 29. August 2022 auf der Website von Kommersant veröffentlicht und vom Rat am 20. Januar 2023 abgerufen wurde. 141    Im vierten WK-Dossier handelt es sich insbesondere um den Artikel „Warum Rotenberg den Zuschlag für den größten Flughafen Russlands erhalten hat“, der am 14. September 2015 auf der Website von Versia veröffentlicht und vom Rat am 27. Januar 2023 abgerufen wurde. 142    Außerdem stützte sich der Rat zur Rechtfertigung der Belassung des Namens des Klägers auf den fraglichen Listen auch auf den Bericht über die Beteiligungen und Tätigkeiten des Klägers, der in dem teilweise freigegebenen WK-Dossier enthalten ist. –       Zur Zuverlässigkeit der Beweise 143    Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, dass die in dem zweiten, dem dritten und dem vierten WK-Dossier enthaltenen Beweise größtenteils unrichtig, überholt oder unzureichend seien, so dass die Schlussfolgerung, die der Rat aus ihnen ziehe, unzutreffend sei. Im Übrigen seien die Beweise, deren „Hauptgegenstand“ nicht die in der Begründung angeführten Tatsachen seien, unzureichend. Einige Beweise seien unerheblich, da sie in keinem Zusammenhang mit den Ausführungen in der Begründung der angefochtenen Rechtsakte stünden. 144    Ferner sei die Beweiskraft der Beweisstücke, die in dem als Verschlusssache eingestuften WK-Dossier genannt seien, begrenzt, und das teilweise freigegebene WK-Dossier, das der Rat als Anlage zur Stellungnahme zum zweiten Anpassungsschriftsatz vorgelegt habe, enthalte keine weiteren zweckdienlichen Klarstellungen, da die Quellen der Informationen geschwärzt blieben. Folglich enthalte das teilweise freigegebene WK-Dossier keine glaubhaften oder verlässlichen Informationen. Die fehlende Mitteilung der konkreten Quellen dieses Dossiers führe zur Unzulässigkeit dieser Beweise. 145    Der Rat tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen. 146    Als Erstes ist festzustellen, dass das Vorbringen des Klägers, dass die Presseartikel keinen Beweis enthielten, nicht ausreicht, um ihnen die Beweiskraft zu nehmen. Der Zugang zu bestimmten Quellen wird nämlich durch die Konfliktsituation infolge der Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine besonders erschwert (vgl. oben, Rn. 98). 147    Im Übrigen genügt zu dem Vorbringen des Klägers, der Rat habe sich zu Unrecht auf den Forbes-Artikel gestützt, ohne die Herkunft, den Wahrheitsgehalt und die Zuverlässigkeit der Behauptungen über sein Vermögen zu prüfen, der Hinweis, dass die amerikanische Zeitschrift Forbes im wirtschaftlichen Bereich eine zuverlässige Informationsquelle darstellt. Da der Kläger den Inhalt der Informationen in dem Forbes-Artikel bestreitet, ist dieses Vorbringen zudem nicht geeignet, die Zuverlässigkeit und Glaubhaftigkeit der Informationen aus dieser Quelle in Frage zu stellen, so dass die Prüfung der behaupteten Fehlerhaftigkeit der Informationen aus dem Forbes-Artikel in Bezug auf das Vermögen des Klägers zur Prüfung der Stichhaltigkeit der Gründe für die Aufnahme gehört. 148    Zu dem Vorbringen, die Angaben in dem Kompromat-Artikel seien nicht verlässlich, weil die darin enthaltenen Informationen nur auf Gerüchten und Spekulationen beruhten, mit denen Aufsehen erregt werden sollte, ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass Beweise aus Medien, die auf das Privatleben öffentlicher Personen spezialisiert sind, oder von kommerziellen Websites stammen, diesen Beweisen nicht jede Beweiskraft nehmen kann (vgl. oben, Rn. 101). 149    Als Zweites ist das Vorbringen des Klägers zurückzuweisen, wonach die Presseartikel, deren „Hauptgegenstand“ nicht die in der Begründung angeführten Tatsachen seien, unzureichend seien, um die Belassung seines Namens auf den fraglichen Listen zu begründen. In Anbetracht des Kontexts, der die Situation der Russischen Föderation kennzeichnet, und mangels Ermittlungsbefugnissen in Drittländern steht nämlich der bloße Umstand, dass sich ein Artikel nicht hauptsächlich auf die Tatsachen bezieht, die dazu dienen, die Belassung des Namens des Klägers auf den fraglichen Listen zu begründen, dem nicht entgegen, dass sich der Rat auf eine solche Information stützt, und stellt die Zuverlässigkeit der vom Rat herangezogenen Zusatzinformationen nicht in Frage. 150    Als Drittes ist in Bezug auf das als Verschlusssache eingestufte WK-Dossier darauf hinzuweisen, dass der Rat dem Kläger am 6. Februar 2023, d. h. vor dem Erlass der Rechtsakte vom März 2023, eine Zusammenfassung der maßgeblichen Beweise, die in dem als Verschlusssache eingestuften WK-Dossier enthalten waren, übermittelte, die hinreichend genau und ausführlich war und dem Kläger ermöglichte, konkret zu bestreiten, dass die vom Rat gegen ihn erhobenen Vorwürfe zutrafen (vgl. oben, Rn. 55 bis 57). Des Weiteren übermittelte der Rat am 26. Juni 2023 in Anlage zu seiner Stellungnahme zum zweiten Anpassungsschriftsatz das teilweise freigegebene WK-Dossier. 151    Insoweit ist zunächst zu dem Vorbringen, dass die Quellen der Informationen, die in dem teilweise freigegebenen WK-Dossier angeführt wurden, nicht mitgeteilt worden seien, darauf hinzuweisen, dass sich dieses Vorbringen in Wirklichkeit gegen die Zuverlässigkeit der betreffenden Informationen richtet und nicht geeignet ist, die Zulässigkeit dieses Dossiers als Beweis in Frage zu stellen. 152    Was sodann das Bestreiten der Zuverlässigkeit der Informationen betrifft, die in dem Bericht über die Beteiligungen und Tätigkeiten des Klägers enthalten sind, der in dem teilweise freigegebenen WK-Dossier wiedergegeben ist, ist festzustellen, dass der Rat den wesentlichen Teil dieses Berichts offengelegt hat. Die einzigen geschwärzten Passagen betreffen im Wesentlichen den Verfasser des Berichts, dessen Identität nach Ansicht des Rates geschützt werden muss, um der Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen zu begegnen. Insoweit hat der Rat in seiner Stellungnahme zum dritten Anpassungsschriftsatz und in der mündlichen Verhandlung nähere Angaben zum Ursprung der in diesem Dossier enthaltenen Informationen gemacht. Der Verfasser des Berichts habe diese Informationen auf den Websites der Unternehmen selbst und in Compliance-Datenbanken gesammelt. Somit kann der Kläger nicht geltend machen, dass der in dem teilweise freigegebenen WK-Dossier wiedergegebene Bericht über seine Beteiligungen und Tätigkeiten allein deshalb nicht zuverlässig sei, weil bestimmte Informationen geschwärzt worden seien. 153    Des Weiteren ergibt sich aus den Erläuterungen des Rates, dass es sich bei den Compliance-Plattformen um Datenbanken handelt, die Berichte auf der Grundlage verschiedener Quellen, einschließlich amtlicher Gesellschaftsregister, erstellen. Das Vorbringen des Klägers, dass es sich bei diesen Datenbanken nicht um zuverlässige Informationsquellen handele, da sie im Wesentlichen aus öffentlich zugänglichen Informationen gespeist würden, reicht nicht aus, diesen Quellen die Beweiskraft zu nehmen. Unter Berücksichtigung des Kontexts der Situation der Russischen Föderation und mangels Ermittlungsbefugnissen des Rates in Drittländern (vgl. oben, Rn. 101 und 98) ist die Beweiskraft des teilweise freigegebenen WK-Dossiers nicht allein aufgrund dessen zu verneinen, dass es sich auf öffentlich zugängliche Informationen stützt. 154    Zu den Beanstandungen des Klägers in Bezug auf Informationen, die seiner Ansicht nach nicht aktualisiert worden, ungenau oder unzutreffend seien, ist schließlich festzustellen, dass sich diese Einwände auf den Wahrheitsgehalt bestimmter Angaben beziehen, die in den in diesen Dossiers enthaltenen Beweisstücken enthalten sind, und nicht auf die Zuverlässigkeit und Glaubhaftigkeit dieser Beweisstücke, so dass sie gegebenenfalls im Rahmen der Prüfung der Stichhaltigkeit des Grundes für die Aufnahme des Namens des Klägers in die fragliche Liste zu prüfen sind. –       Zur Anwendung des Kriteriums d auf den Kläger 155    Der Kläger ist der Ansicht, dass der Rat nicht über eine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage verfüge, um die in den Rechtsakten vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 enthaltenen Gründe für die Aufnahme zu untermauern. Insbesondere seien die neuen Beweise überholt und nicht geeignet, die Feststellung zu stützen, dass er an der Finanzierung des Komplexes in Gelendschik beteiligt sei. Er habe seine Anteile an [vertraulich] 2016 und an [vertraulich] 2018 veräußert. 156    Der Rat tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen. 157    Erstens steht fest, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der Rechtsakte vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 der allgemeine Kontext der Lage der Ukraine in Bezug auf die Bedrohung ihrer territorialen Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit seit dem Erlass der ersten Fortsetzungsrechtsakte unverändert geblieben war. 158    Was zweitens die individuelle Situation des Klägers betrifft, bestreitet dieser weiterhin seine Eigenschaft als Anteilseigner der Gesellschaften [vertraulich] sowie die Verbindung zwischen dem Komplex in Gelendschik und Herrn Putin. 159    In Bezug auf die Gesellschaft [vertraulich] geht aus den vorstehenden Rn. 127 bis 134 hervor, dass der Kläger in Bezug auf die ursprünglichen Rechtsakte und die Rechtsakte vom September 2022 keine stichhaltigen Beweise für sein Ausscheiden aus dieser Gesellschaft vorgelegt hat. Der Kläger hat in seinen Schriftsätzen, mit denen er die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 beanstandet, keinen neuen Gesichtspunkt angeführt, der belegen könnte, dass er zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Rechtsakte nicht mehr mit der Gesellschaft [vertraulich] verbunden war. 160    Aus der Zusammenfassung, die in dem als Verschlusssache eingestuften WK-Dossier enthalten ist, ergibt sich, dass der Kläger noch Aktien der Gesellschaft [vertraulich] hielt. Diese Zusammenfassung wird durch Beweise, die in dem teilweise freigegebenen WK-Dossier enthalten sind, in stichhaltiger Weise gestützt. Aus dem Bericht über die Beteiligungen und Tätigkeiten des Klägers, der in dem teilweise freigegebenen WK-Dossier wiedergegeben ist, geht nämlich hervor, dass der Kläger am 18. Januar 2023 noch Aktien der [vertraulich] hielt. Er hat indessen keinen schlüssigen Beweis erbracht, der diese Feststellung in Frage stellen könnte. Des Weiteren ergibt sich aus diesem Bericht auch, dass diese Gesellschaft über bedeutende Vermögenswerte verfügte, deren Wert sich zum Zeitpunkt der angeblichen Veräußerung im Jahr 2018 auf [vertraulich] belief, was die Schlussfolgerung bestätigt, dass der Verkaufspreis der Gesellschaft im Verhältnis zu dem Wert ihrer Vermögenswerte offensichtlich zu niedrig angesetzt war. Folglich durfte der Rat davon ausgehen, dass die angebliche Veräußerung nicht geeignet war, nachzuweisen, dass der Kläger tatsächlich aus der Gesellschaft [vertraulich] ausgeschieden war. Somit ist festzustellen, dass die Informationen, die in dem teilweise freigegebenen WK-Dossier enthalten sind und zur Stützung der in den Rechtsakten vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 dargelegten Gründe für die Aufnahme angegeben wurden, geeignet waren, zu bestätigen, dass die vom Kläger zum Nachweis der Veräußerung seiner Beteiligungen an der Gesellschaft [vertraulich] vorgelegten Beweise nicht belegen können, dass diese angebliche Veräußerung tatsächlich stattgefunden hat. 161    Sodann ist das Vorbringen des Klägers zurückzuweisen, wonach die Informationen, die ihn als Aktionär von [vertraulich] darstellten, überholt seien, da die Namen der Aktionäre der in Russland ansässigen nicht öffentlichen Aktiengesellschaften vertraulich seien und die genaue Identität der Aktionäre daher über die Compliance-Datenbanken nicht zugänglich sei. Zum einen ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die beanstandeten Angaben in dem teilweise freigegebenen WK-Dossier nur dazu dienen, andere vom Rat herangezogene Beweise zu bestätigen. Soweit sich der Kläger auf ein rechtliches Memorandum beruft, das eine Auslegung der russischen Rechtsvorschriften über die Offenlegung der Namen der Gesellschafter von Gesellschaften mit beschränkter Haftung enthält, muss der Beweiswert dieses Dokuments, da es für die Zwecke der Verteidigung des Klägers erstellt wurde, nach der oben in Rn. 96 angeführten Rechtsprechung relativiert werden. Zum anderen wird das Vorbringen des Klägers dadurch in Frage gestellt, dass er vom 30. Oktober 2018 bis zum 18. Januar 2023 keine Schritte unternommen hat, um die Nennung seines Namens als Aktionär von [vertraulich] in den öffentlichen Registern und Datenbanken zu berichtigen. 162    Nach alledem ist festzustellen, dass der Rat rechtlich hinreichend nachgewiesen hat, dass der Kläger in seiner Eigenschaft als Aktionär der Gesellschaft [vertraulich], die an der Finanzierung des Komplexes in Gelendschik beteiligt war und den Zugang zu diesem Komplex über den Seeweg sicherstellte, Herrn Putin Unterstützung leistete. Der Rat durfte daher, ohne einen Beurteilungsfehler zu begehen, feststellen, dass der Kläger einen russischen Entscheidungsträger im Sinne des Kriteriums d unterstützte. –       Zur Anwendung des Kriteriums der Verbindung 163    Der Kläger trägt vor, dass er Anteile an den Gesellschaften SIA, [vertraulich] und [vertraulich] weder halte noch gehalten habe. Die einzige Verbindung zwischen ihm und SIA sei seine Führungsposition, von der er am 1. März 2022 zurückgetreten sei. 164    In Bezug auf die Verbindungen zu Herrn Rotenberg räumt der Kläger ein, dass er und Herr Rotenberg in der Vergangenheit im Rahmen zweier Projekte „zusammengearbeitet“ hätten. Zum einen hätten sie im Jahr 2008 gemeinsam das Projekt [vertraulich] übernommen. Zum anderen sei Herr Rotenberg im Jahr 2012 auch an der Gründung der [vertraulich], die nunmehr SIA betreibe, beteiligt gewesen. Herr Rotenberg sei in diesen Projekten jedoch nur als Investor aufgetreten, und diese Zusammenarbeit habe vor dem Erlass der Rechtsakte vom März 2023 stattgefunden. Jedenfalls sei Herr Rotenberg infolge der gegen ihn verhängten restriktiven Maßnahmen nicht mehr an den Angelegenheiten von SIA beteiligt. 165    Der Rat tritt diesem Vorbringen entgegen. 166    Nach ständiger Rechtsprechung wird das Kriterium der Verbindung zwar häufig in Rechtsakten des Rates verwendet, ist aber als solches nicht definiert, und seine Bedeutung hängt vom Kontext und den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteile vom 28. Juli 2016, Tomana u. a./Rat und Kommission, C‑330/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:601, Rn. 48, vom 4. September 2015, NIOC u. a./Rat, T‑577/12, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:596, Rn. 114, und vom 21. Juli 2016, Bredenkamp u. a./Rat und Kommission, T‑66/14, EU:T:2016:430, Rn. 35 bis 37). Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass es sich um Personen handelt, die allgemein durch gemeinsame Interessen verbunden sind, ohne dass jedoch eine Verbindung durch eine wirtschaftliche Tätigkeit erforderlich wäre (Urteil vom 6. September 2023, Timchenko/Rat, T‑361/22, nicht veröffentlicht, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2023:502, Rn. 74; vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 8. März 2023, Prigozhina/Rat, T‑212/22, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:104, Rn. 93). Des Weiteren ist das Kriterium für die Aufnahme, das Personen betrifft, die mit Personen „verbunden“ sind, deren Namen in die fraglichen Listen aufgenommen wurden, klar im Präsens formuliert, was bedeutet, dass die Verbindung zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Rechtsakte vorliegen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. März 2023, Prigozhina/Rat, T‑212/22, nicht veröffentlicht, EU:T:2023:104, Rn. 92 und 93 und die dort angeführte Rechtsprechung). 167    Vorliegend beruht die Verbindung zwischen dem Kläger und Herrn Rotenberg auf ihren gemeinsamen Interessen an [vertraulich], die wiederum Mehrheitsbeteiligungen an SIA hält. 168    Insoweit ist erstens in Bezug auf Herrn Rotenberg festzustellen, dass es sich bei ihm um eine Person handelt, deren Name seit dem 30. Juli 2014 mit der Begründung in die fraglichen Listen aufgenommen wurde, dass er „enge persönliche Verbindungen zu Präsident Putin“ unterhält. 169    Zweitens beruft sich der Rat zur Rechtfertigung der Stichhaltigkeit der Gründe, die sich auf die Verbindung zwischen dem Kläger und Herrn Rotenberg beziehen, auf das zweite, das dritte und das vierte WK-Dossier und insbesondere auf: den Artikel „Alexander Ponomarenko gibt nach seiner Aufnahme in die Liste der EU-Sanktionen seinen Posten am Flughafen Scheremetjewo auf“, der auf der Website von RBC News veröffentlicht wurde, den Artikel „Haben die Eigentümer von ‚Putins Palast‘ ihre Beteiligung geleugnet?“, der auf der Website von Kompromat veröffentlicht wurde, und den Artikel „‚Putins Palast‘: Die Geschichte von Luxus, Schimmel und Scheinwänden der Bauherren“, der als Auszug der Website von Forbes Russia auf der Website der BBC veröffentlicht wurde, die im zweiten WK-Dossier enthalten sind; den Artikel „Die Struktur der Holding, die den Flughafen Scheremetjewo kontrolliert, wurde in die Sonderverwaltungszone (SVZ) verlegt“, der auf der Website von Rugard veröffentlicht wurde, den Artikel „Triumvirat: Geschäfte und Kunstgriffe von Arkadij Rotenberg und seinen Mitstreitern – Alexander Ponomarenko und Alexander Skorobogatko“, der auf der Website von Utro fevraliya veröffentlicht wurde, den Artikel „Es wird einen großen Skandal geben: Der ‚Sieg‘ ging nach Scheremetjewo“, der auf der Website von KO veröffentlicht wurde, und den Artikel „‚Sieg‘ zu einem hohen Preis“, der auf der Website von Kommersant veröffentlicht wurde, die im dritten WK-Dossier enthalten sind; den Artikel „Warum Rotenberg den Zuschlag für den größten Flughafen Russlands erhalten hat“, der auf der Website von Versia veröffentlicht wurde, sowie das teilweise freigegebene WK-Dossier. Aus diesen Beweisstücken geht hervor, dass der Kläger im Jahr 2012 [vertraulich] zusammen mit Herrn Rotenberg und einer weiteren Person gegründet hat. 170    Der Kläger stellt nicht in Frage, dass er [vertraulich] zusammen mit Herrn Rotenberg gegründet hat. Er bestreitet jedoch zum einen, dass ihm der Trust [vertraulich] gehöre, der 65 % der Gesellschaft [vertraulich] kontrolliere, und zum anderen, dass Herr Rotenberg weiterhin an [vertraulich] beteiligt sei. 171    Hierzu ist als Erstes festzustellen, dass der Kläger, dadurch, dass er zusammen mit einer weiteren Person zugunsten ihrer jeweiligen Familien den Trust [vertraulich] gründete, der die Mehrheitsbeteiligung an [vertraulich] kontrollierte, über eine Zwischenstruktur mit Sitz auf den britischen Jungferninseln wirtschaftliche Interessen an dieser Gesellschaft hielt. Daraus folgt, dass der Kläger in seiner Eigenschaft als Gründer des Trust [vertraulich] mittelbar ein wirtschaftliches Interesse an der Gesellschaft [vertraulich] hatte. 172    Diese Schlussfolgerung wird durch den Transparenzbericht (Anlage A.9) gestützt, der bestätigt, dass der Trust [vertraulich] gegründet wurde, um die Interessen des Klägers wahrzunehmen. Des Weiteren kontrollieren dem teilweise freigegebenen WK-Dossier zufolge der Kläger und eine weitere Person 65 % von [vertraulich]. 173    Was als Zweites wirtschaftliche Verbindungen, Kapitalverflechtungen oder gemeinsame Interessen des Klägers und Herrn Rotenbergs angeht, steht fest, dass Herr Rotenberg an der Gründung von [vertraulich], die SIA betreibt, beteiligt war. Im Übrigen ergibt sich aus den oben in Rn. 169 genannten Beweisstücken des WK-Dossiers, dass Herr Rotenberg 35 % der Anteile an [vertraulich] kontrolliert. 174    Angesichts der gemeinsamen Beteiligung des Klägers und Herrn Rotenbergs an [vertraulich], die SIA betreibt, ist festzustellen, dass diese Kapitalverflechtungen gemeinsame Interessen der betreffenden Personen belegen. 175    Der Kläger hat vorgetragen, Herr Rotenberg habe seine Minderheitsbeteiligung an [vertraulich] seit 2014 infolge der gegen ihn verhängten restriktiven Maßnahmen nicht nutzen können, so dass es Herrn Rotenberg ebenfalls unmöglich gewesen sei, seine Anteile an [vertraulich] zu veräußern. Hierzu ist festzustellen, dass der Kläger, obwohl der Name von Herrn Rotenberg seit dem 30. Juli 2014 in den fraglichen Listen geführt wird, nicht nachgewiesen hat, dass er vor dem Erlass der ursprünglichen Rechtsakte Schritte unternommen hat, um seine Beteiligung an [vertraulich] und dadurch seine Geschäftsbeziehung mit Herrn Rotenberg zu beenden. Des Weiteren hat der Kläger ebenso wenig nachgewiesen, dass er nach der Verhängung der restriktiven Maßnahmen gegen ihn Schritte unternommen hat, um diese Verbindung insbesondere unter Rückgriff auf die Ausnahme in Art. 2 Abs. 10 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung und in Art. 6b Abs. 3 der Verordnung Nr. 269/2014 zu beenden. 176    Zum Vorbringen des Klägers, die bloße Investition in dieselben Projekte belege keine Verbindung, da Herr Rotenberg nur als Minderheitsinvestor ohne jede Verantwortung für die Geschäftsführung aufgetreten sei, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus den oben in Rn. 169 genannten Beweisstücken des Dossiers ergibt, Herr Rotenberg 35 % der Anteile an [vertraulich] kontrolliert, so dass er nach [vertraulich], der 65 % von [vertraulich] hält, der zweitgrößte Anteilseigner ist. Zum anderen geht aus den Artikeln „Triumvirat: Geschäfte und Kunstgriffe von Arkadij Rotenberg und seinen Mitstreitern – Alexander Ponomarenko und Alexander Skorobogatko“ von Utro fevraliya (drittes WK-Dossier) und „Warum Rotenberg den Zuschlag für den größten Flughafen Russlands erhalten hat“ von Versia (viertes WK-Dossier) hervor, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Kläger und Herrn Rotenberg mindestens seit 2013, d. h. seit Beginn der Privatisierung von SIA, fortdauert. 177    Daher stellte der Rat insbesondere in Anbetracht der Kapitalverflechtungen bei [vertraulich] und der Dauer dieser Verflechtungen zu Recht fest, dass diese gemeinsamen Interessen ausreichten, um eine Verbindung nachzuweisen. Da diese Kapitalverflechtungen bei [vertraulich] zum Zeitpunkt des Erlasses der Rechtsakte vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 fortbestanden, ist der Schluss zu ziehen, dass der Kläger und Herr Rotenberg zu diesen Zeitpunkten weiterhin miteinander verbunden waren. 178    Folglich ist der zweite Klagegrund in Bezug auf die Rechtsakte vom März 2023, vom September 2023 und vom März 2024 als unbegründet zurückzuweisen. 179    Nach alledem ist der zweite Klagegrund in vollem Umfang zurückzuweisen. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen allgemeine Grundsätze und Grundrechte 180    Der dritte Klagegrund besteht aus drei Teilen, mit denen ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Eigentumsrecht und den Grundsatz der Gleichbehandlung gerügt wird. Zum ersten Teil des dritten Klagegrundes: Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 181    Im Rahmen des ersten Teils des dritten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beanstandet wird, macht der Kläger geltend, dass die angefochtenen Rechtsakte mit dem Ziel erlassen worden seien, die Russische Föderation davon abzubringen, militärisch gegen die Ukraine vorzugehen. Vor diesem Hintergrund seien restriktive Maßnahmen gegen Einzelpersonen nur dann geeignet, diese Ziele zu erreichen, wenn die betreffende Person in irgendeiner Form Einfluss auf die Handlungen der Russischen Föderation nehmen könne. 182    Der Rat behaupte indessen nicht, dass der Kläger in irgendeiner Form in den Ukraine-Konflikt involviert wäre. Auch bestünden keinerlei Beziehungen zwischen dem Kläger und relevanten Entscheidungsträgern. 183    Der Rat tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen. 184    Es ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört und in Art. 5 Abs. 4 EUV verankert ist, die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten dürfen, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist. So ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen, und die verursachten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. Urteil vom 30. November 2016, Rotenberg/Rat, T‑720/14, EU:T:2016:689, Rn. 178 und die dort angeführte Rechtsprechung). 185    Vorliegend ist darauf hinzuweisen, dass im Hinblick auf die überragende Bedeutung der mit den fraglichen restriktiven Maßnahmen verfolgten Ziele, nämlich der Schutz der territorialen Unversehrtheit, der Souveränität und der Unabhängigkeit der Ukraine sowie die Unterstützung einer friedlichen Beilegung der Krise in diesem Land, die sich in das übergeordnete Ziel der Erhaltung des Friedens, der Verhütung von Konflikten und der Stärkung der internationalen Sicherheit in Einklang mit den in Art. 21 Abs. 2 Buchst. c EUV genannten Zielen des auswärtigen Handelns der Union einfügen, die negativen Folgen, die sich aus der Anwendung dieser restriktiven Maßnahmen auf den Kläger ergeben, nicht unverhältnismäßig sind (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 150). 186    Die Anwendung restriktiver Maßnahmen auf Personen, die im Sinne des Kriteriums d russische Entscheidungsträger, die für die Annexion der Krim oder die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich sind, materiell oder finanziell unterstützen, sowie auf Personen, die mit Personen verbunden sind, deren Namen auf der Grundlage eines der Kriterien gemäß Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung aufgenommen wurden, ist nämlich geeignet, den Druck auf die russischen Behörden zu erhöhen, damit diese ihre Handlungen und politischen Maßnahmen, die die Ukraine destabilisieren, beenden. Solche Maßnahmen sind auch erforderlich, um die verfolgten Ziele zu erreichen. Der Kläger hat nicht belegt, dass diese Ziele mit weniger einschneidenden Maßnahmen ebenso wirksam erreicht werden könnten. 187    Des Weiteren sind die Beschränkungen befristet und reversibel und sehen die Möglichkeit von Ausnahmen vor. Folglich ist festzustellen, dass die dem Kläger entstandenen Nachteile gemessen an der Bedeutung des mit den angefochtenen Rechtsakten verfolgten Ziels nicht unverhältnismäßig sind. 188    Darüber hinaus ist es unerheblich, dass der Kläger nicht an Entscheidungen über die Annexion der Krim oder die Destabilisierung der Ukraine beteiligt ist. Die restriktiven Maßnahmen wurden nämlich nicht aus diesem Grund gegen ihn verhängt, sondern insbesondere deswegen, weil er russischen Entscheidungsträgern, die für die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich sind, aktiv materielle oder finanzielle Unterstützung leistet oder von diesen profitiert. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Bedeutung der Ziele, die mit einem Unionsrechtsakt über die Regelung restriktiver Maßnahmen verfolgt werden, selbst erhebliche negative Konsequenzen für bestimmte Personen rechtfertigen kann, darunter auch für solche, die für die Situation, die zum Erlass der betreffenden Maßnahmen geführt hat, nicht verantwortlich sind (vgl. entsprechend Urteile vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 361, sowie vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 150). 189    Nach alledem ist der erste Teil des dritten Klagegrundes zurückzuweisen. Zum zweiten Teil des dritten Klagegrundes: Verstoß gegen das Eigentumsrecht 190    Der Kläger macht im Rahmen des zweiten Teils des dritten Klagegrundes, mit dem er einen Verstoß gegen das Eigentumsrecht rügt, geltend, die angefochtenen Rechtsakte hinderten ihn daran, sein rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen und darüber zu verfügen. Daraus ergebe sich ein Verstoß gegen seine in Art. 17 Abs. 1 der Charta und im ersten Zusatzprotokoll zur EMRK verbürgten Grundrechte, der nicht gerechtfertigt sei. 191    Nach der Begründung, die der Rat für die Aufnahme in die Liste angegeben habe, sei das Kriterium d nicht erfüllt, so dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Beschränkung des Eigentumsrechts des Klägers ebenfalls nicht erfüllt seien. 192    Zudem sähen die angefochtenen Rechtsakte auch keinerlei Entschädigung für den Entzug seines Eigentums vor. 193    Der Rat tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen. 194    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Eigentumsrecht in Art. 17 der Charta verankert ist. Zwar führen die restriktiven Maßnahmen, die in den angefochtenen Rechtsakten enthalten sind, trotz ihres Sicherungscharakters zu Beschränkungen der Ausübung dieses Grundrechts durch den Kläger. 195    Das Eigentumsrecht, auf das sich der Kläger beruft, wird jedoch nicht uneingeschränkt gewährt, und seine Ausübung kann unter den in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Bedingungen Einschränkungen unterworfen werden, wonach zum einen „[j]ede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten [muss]“ und zum anderen „[u]nter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Einschränkungen nur vorgenommen werden [dürfen], wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“. 196    Eine Einschränkung der Ausübung der Grundrechte und Grundfreiheiten muss somit, um mit dem Unionsrecht vereinbar zu sein, vier Voraussetzungen erfüllen. Erstens muss sie insofern „gesetzlich vorgesehen“ sein, als das Unionsorgan, das Maßnahmen erlässt, die die Grundrechte einer natürlichen oder juristischen Person beschränken können, hierfür über eine Rechtsgrundlage verfügen muss. Zweitens muss sie den Wesensgehalt dieser Rechte achten. Drittens muss sie eine als solche von der Union anerkannte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung haben. Viertens muss sie verhältnismäßig sein (vgl. Urteil vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 145 und 222 und die dort angeführte Rechtsprechung). 197    Vorliegend ist festzustellen, dass diese vier Voraussetzungen erfüllt sind. 198    Erstens sind die fraglichen restriktiven Maßnahmen „gesetzlich vorgesehen“, da sie in Rechtsakten festgelegt sind, die u. a. allgemeine Geltung haben, nämlich im Beschluss 2014/145 in geänderter Fassung und in der Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung, und für die es eine eindeutige Rechtsgrundlage im Unionsrecht gibt, nämlich Art. 29 EUV bzw. Art. 215 AEUV. 199    Zweitens ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die restriktiven Maßnahmen, da sie befristet und reversibel sind, den Wesensgehalt des Eigentumsrechts nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 2016, Yanukovich/Rat, T‑346/14, EU:T:2016:497, Rn. 169, und vom 27. Juli 2022, RT France/Rat, T‑125/22, EU:T:2022:483, Rn. 225). Vorliegend wird die Belassung des Namens des Klägers auf den fraglichen Listen regelmäßig daraufhin überprüft, ob diese Belassung weiterhin mit den Aufnahmekriterien vereinbar ist. Folglich ist festzustellen, dass die Art und der Umfang des in Rede stehenden befristeten Einfrierens von Geldern den Wesensgehalt des Eigentumsrechts achten und es als solches nicht in Frage stellen. 200    Drittens soll mit den betreffenden restriktiven Maßnahmen Druck auf die russischen Behörden ausgeübt werden, damit diese ihre Handlungen und politischen Maßnahmen, die die Ukraine destabilisieren, beenden. Es handelt sich hier um ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel, das im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) verfolgt wird und auf das in Art. 21 Abs. 2 Buchst. b und c EUV Bezug genommen wird, nämlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte und die Grundsätze des Völkerrechts zu festigen und zu fördern sowie den Frieden zu erhalten, Konflikte zu verhüten und die internationale Sicherheit und den Schutz der Zivilbevölkerung zu stärken (vgl. entsprechend Urteil vom 30. November 2016, Rotenberg/Rat, T‑720/14, EU:T:2016:689, Rn. 176). 201    Viertens ist zu prüfen, ob die fragliche Beschränkung in angemessenem Verhältnis zu dem angestrebten Ziel steht. 202    Zunächst ist zu prüfen, ob die in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen zur Erreichung der von der Union verfolgten dem Gemeinwohl dienenden Ziele geeignet sind. Vorliegend ist festzustellen, dass das Einfrieren von Geldern des Klägers als Bestandteil einer Reihe restriktiver Maßnahmen im Rahmen einer raschen, einheitlichen, abgestuften und koordinierten Antwort eine zur Erreichung des Ziels, größtmöglichen Druck auf die russischen Behörden auszuüben, damit sie ihre Handlungen und politischen Maßnahmen zur Destabilisierung der Ukraine sowie den militärischen Angriff gegen dieses Land beenden, geeignete Maßnahme darstellt. 203    Sodann ist hinsichtlich der Erforderlichkeit festzustellen, dass weniger belastende Maßnahmen, z. B. ein System einer vorherigen Erlaubnis oder eine Verpflichtung, die Verwendung der gezahlten Beträge nachträglich zu belegen, es – namentlich in Anbetracht der Möglichkeit einer Umgehung der auferlegten Beschränkungen – nicht ermöglichen, das angestrebte Ziel ebenso wirksam zu erreichen, nämlich auf Personen Druck auszuüben, die mit Personen verbunden sind, die für die politischen Maßnahmen und Handlungen verantwortlich sind, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine oder die Stabilität oder Sicherheit in der Ukraine untergraben oder bedrohen (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 5. November 2014, Mayaleh/Rat, T‑307/12 und T‑408/13, EU:T:2014:926, Rn. 178). 204    Schließlich zeigt eine Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen, dass die mit dem vorübergehenden Einfrieren von Geldern einhergehenden Nachteile nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen. Die Bedeutung der mit den angefochtenen Rechtsakten verfolgten Ziele, die sich in das übergeordnete Ziel der Erhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit gemäß den in Art. 21 EUV genannten Zielen des auswärtigen Handelns der Union einfügen, hat nämlich auch mehr Gewicht als – selbst erhebliche – negative Folgen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer. Vorliegend wird die Belassung des Namens des Klägers auf den fraglichen Listen regelmäßig daraufhin überprüft, ob diese Belassung weiterhin mit den Aufnahmekriterien vereinbar ist. Auch können die Behörden der Mitgliedstaaten gemäß Art. 2 Abs. 3 und 4 des Beschlusses 2014/145 in geänderter Fassung sowie nach den Art. 4 bis 6 der Verordnung Nr. 269/2014 in geänderter Fassung insbesondere zur Erfüllung von Grundbedürfnissen oder von wesentlichen Bedürfnissen der fraglichen Personen oder zur Deckung notwendiger Ausgaben spezifische Ausnahmen von den Maßnahmen gewähren. 205    Daraus folgt, dass die Maßnahmen des Einfrierens der Gelder des Klägers einen verhältnismäßigen Eingriff bedeuten, so dass kein Verstoß gegen sein Eigentumsrecht vorliegt. 206    Zum Vorbringen des Klägers, die angefochtenen Rechtsakte müssten eine Entschädigung für den Verlust seines Eigentums vorsehen, ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei den fraglichen restriktiven Maßnahmen um Sicherungsmaßnahmen handelt, die dem Kläger nicht sein Eigentum entziehen. 207    Infolgedessen ist der zweite Teil des dritten Klagegrundes zurückzuweisen. Zum dritten Teil des dritten Klagegrundes: Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung 208    Im Rahmen des dritten Teils des dritten Klagegrundes, mit dem ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung beanstandet wird, macht der Kläger geltend, dass die Begründung für die Aufnahme seines Namens in die fraglichen Listen nicht mit dem Zweck der Aufnahmekriterien vereinbar sei und die Verbindungen zu russischen Entscheidungsträgern nicht bestünden, so dass ihm nur vorgeworfen werde, dass er ein erfolgreicher Geschäftsmann sei und auch andere Geschäftsleute in Russland kenne. Diese weite Auslegung der Aufnahmekriterien bedeute jedoch, dass jede Person aus Russland mit einer gewissen wirtschaftlichen Bedeutung in die Liste aufzunehmen wäre. 209    Somit werde der Kläger nicht mit anderen Geschäftsleuten aus Russland, die ebenso wenig Einfluss auf die Entscheidungsträger der Russischen Föderation hätten, gleichbehandelt. Folglich werde der Kläger anders behandelt als Personen in einer vergleichbaren Situation, weshalb die Aufnahme seines Namens in die fraglichen Listen gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoße. 210    Der Rat tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen. 211    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung der Grundsatz der Gleichbehandlung, der einen fundamentalen Rechtsgrundsatz darstellt, nur verletzt ist, wenn vergleichbare Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine derartige Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 9. Juli 2009, Melli Bank/Rat, T‑246/08 und T‑332/08, EU:T:2009:266, Rn. 135). 212    Vorliegend geht aus dem Kriterium d hervor, dass die streitigen restriktiven Maßnahmen insbesondere natürliche Personen erfassen, die russische Entscheidungsträger, die für die Annexion der Krim oder die Destabilisierung der Ukraine verantwortlich sind, materiell oder finanziell unterstützen oder von diesen profitieren. 213    Das Kriterium d erfasst nicht nur russische Staatsangehörige, sondern jede natürliche Person, die unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit russische Entscheidungsträger materiell oder finanziell unterstützt. 214    Soweit der Kläger außerdem geltend macht, der Rat habe es unterlassen, Maßnahmen zum Einfrieren von Geldern gegen bestimmte Personen zu verhängen, die sich in der gleichen Lage wie er befänden und unter das Kriterium d fallen könnten, ist darauf hinzuweisen, dass der Rat zwar keine Personen in die Listen aufnehmen darf, die die in den anwendbaren Rechtsakten festgelegten Aufnahmekriterien nicht erfüllen, er jedoch nicht verpflichtet ist, alle Personen in diese Listen aufzunehmen, die diese Kriterien erfüllen. Der Rat verfügt über ein weites Ermessen, das es ihm ermöglicht, gegebenenfalls gegen eine solche Person oder Organisation keine restriktiven Maßnahmen zu verhängen, wenn er dies im Hinblick auf deren Zweck nicht für angezeigt hält (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 22. April 2015, Tomana u. a./Rat und Kommission, T‑190/12, EU:T:2015:222, Rn. 243). Darüber hinaus kann der Umstand, dass der Rat es unterlassen habe, Maßnahmen zum Einfrieren von Geldern gegen bestimmte Personen, die das Kriterium d erfüllen, zu verhängen, selbst wenn man ihn als erwiesen unterstellt, jedenfalls nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, da die Grundsätze der Gleichbehandlung und des Diskriminierungsverbots mit dem Gebot rechtmäßigen Handelns in Einklang gebracht werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Mai 2016, Post Bank Iran/Rat, T‑68/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2016:263, Rn. 135 und die dort angeführte Rechtsprechung). 215    Folglich ist der dritte Teil des dritten Klagegrundes und damit der dritte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen. Zum Antrag auf Erlass einer prozessleitenden Maßnahme 216    Der Kläger beantragt, dass das Gericht prozessleitende Maßnahmen oder Maßnahmen der Beweisaufnahme gemäß Art. 88 der Verfahrensordnung des Gerichts trifft, um die vollständige und ungeschwärzte Fassung des teilweise freigegebenen WK-Dossiers zu erhalten. 217    Der Rat macht geltend, dass diesem Antrag im Wesentlichen deshalb nicht stattzugeben sei, weil er sich nicht auf für die vorliegende Rechtssache maßgebliche Informationen beziehe. 218    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es allein Sache des Gerichts ist, zu entscheiden, ob die ihm in den Rechtssachen, mit denen es befasst ist, vorliegenden Informationen möglicherweise der Ergänzung bedürfen (vgl. Urteil vom 26. Januar 2017, Mamoli Robinetteria/Kommission, C‑619/13 P, EU:C:2017:50, Rn. 117 und die dort angeführte Rechtsprechung, Urteil vom 12. November 2020, Fleig/EAD, C‑446/19 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:918, Rn. 53. 219    Vorliegend ist das Gericht der Auffassung, dass die vom Kläger beantragte prozessleitende Maßnahme für die Entscheidung über die vorliegende Klage nicht erforderlich erscheint. 220    Der Rat hat nämlich den wesentlichen Teil des betreffenden Dokuments offengelegt. Die geschwärzten Teile betreffen die Quellen, deren Identität geschützt werden muss, um sie nicht der Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen auszusetzen (vgl. oben, Rn. 53). In seiner Stellungnahme zum dritten Anpassungsschriftsatz macht der Rat im Übrigen nähere Angaben zum Ursprung der in Rede stehenden Informationen. Diese seien aus den Websites der Unternehmen selbst sowie aus den russischen Compliance-Datenbanken eingeholt worden. 221    Außerdem reichen die in den Akten enthaltenen Angaben und die Erklärungen in der mündlichen Verhandlung jedenfalls aus, um dem Gericht eine Entscheidung zu ermöglichen, da dieses auf der Grundlage der im Lauf des Verfahrens vorgetragenen Anträge, Klagegründe und Argumente und angesichts der von den Parteien eingereichten Dokumente sachgerecht entscheiden konnte. 222    Unter diesen Umständen ist der Antrag auf den Erlass prozessleitender Maßnahmen zurückzuweisen. 223    Damit ist die Klage insgesamt abzuweisen. Kosten 224    Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Kläger unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag des Rates die Kosten aufzuerlegen. Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1.      Die Klage wird abgewiesen. 2.      Herr Alexander Ponomarenko trägt die Kosten. Brkan Gâlea Kalėda Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. März 2025. Der Kanzler Der Präsident V. Di Bucci M. van der Woude *      Verfahrenssprache: Deutsch. 1      Nicht wiedergegebene vertrauliche Daten.
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 11. September 2024.#Musa Yusopovich Bazhaev gegen Rat der Europäischen Union.#Rechtssache T-362/22.
62022TJ0362
ECLI:EU:T:2024:603
2024-09-11T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62022TJ0362 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62022TJ0362 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62022TJ0362 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 10. Mai 2016.#Balázs-Árpád Izsák und Attila Dabis gegen Europäische Kommission.#Institutionelles Recht – Europäische Bürgerinitiative – Kohäsionspolitik – Regionen mit einer nationalen Minderheit – Ablehnung der Registrierung – Offenkundiges Fehlen von Befugnissen der Kommission – Art. 4 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 211/2011.#Rechtssache T-529/13.
62013TJ0529
ECLI:EU:T:2016:282
2016-05-10T00:00:00
Gericht
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein
62013TJ0529 URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer) 10. Mai 2016 (*1) „Institutionelles Recht — Europäische Bürgerinitiative — Kohäsionspolitik — Regionen mit einer nationalen Minderheit — Ablehnung der Registrierung — Offenkundiges Fehlen von Befugnissen der Kommission — Art. 4 Abs. 2 Buchst. b und Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 211/2011“ In der Rechtssache T‑529/13 Balázs-Árpád Izsák, wohnhaft in Târgu Mureş (Rumänien), Attila Dabis, wohnhaft in Budapest (Ungarn), Prozessbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwältin J. Tordáné dr. Petneházy, dann Rechtsanwalt D. Sobor, Kläger, unterstützt durch Ungarn, vertreten durch M. Fehér, G. Szima und G. Koós als Bevollmächtigte, Streithelfer, gegen Europäische Kommission, zunächst vertreten durch H. Krämer, K. Talabér-Ritz, A. Steiblytė und P. Hetsch, dann durch K. Talabér-Ritz, K. Banks, H. Krämer und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte, Beklagte, unterstützt durch Hellenische Republik, vertreten durch E.-M. Mamouna als Bevollmächtigte, Rumänien, vertreten durch R. Radu, R. Haţieganu, D. Bulancea und M. Bejenar als Bevollmächtigte, Slowakische Republik, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte, Streithelfer, wegen Nichtigerklärung des Beschlusses C (2013) 4975 final der Kommission vom 25. Juli 2013, mit dem die Registrierung der geplanten Bürgerinitiative der Kläger abgelehnt wurde, erlässt DAS GERICHT (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten H. Kanninen sowie der Richterin I. Pelikánová (Berichterstatterin) und des Richters E. Buttigieg, Kanzler: S. Bukšek Tomac, Verwaltungsrätin, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Dezember 2015 folgendes Urteil Vorgeschichte des Rechtsstreits 1 Am 18. Juni 2013 legten die Kläger, Herr Balázs-Árpád Izsák und Herr Attila Dabis, zusammen mit fünf weiteren Personen der Europäischen Kommission eine geplante Bürgerinitiative mit der Bezeichnung „Kohäsionspolitik für die Gleichstellung der Regionen und die Erhaltung der regionalen Kulturen“ (Cohesion policy for the equality of the regions and sustainability of the regional cultures) (im Folgenden: streitige Bürgerinitiative) gemäß Art. 11 Abs. 4 EUV und der Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative (ABl. L 65, S. 1) vor. 2 Die Kläger stellten in dem zu diesem Zweck von der Kommission zur Verfügung gestellten Online-Register (im Folgenden: Register) gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 211/2011 die in Anhang II dieser Verordnung genannten Mindestinformationen (im Folgenden: erforderliche Informationen), insbesondere eine kurze Darstellung des Gegenstands und der Ziele der streitigen Bürgerinitiative, bereit. 3 Nach den von den Klägern im Rahmen der erforderlichen Informationen gemachten Angaben sollte mit der streitigen Bürgerinitiative erreicht werden, dass die Kohäsionspolitik der Europäischen Union denjenigen Regionen besondere Aufmerksamkeit widmet, deren ethnische, kulturelle, religiöse oder sprachliche Besonderheiten von denjenigen der angrenzenden Regionen abweichen. Für diese Regionen, einschließlich geografischer Gebiete ohne Strukturen mit Verwaltungszuständigkeiten, sollten die Vermeidung jeden Unterschieds oder Rückstands in der wirtschaftlichen Entwicklung im Vergleich zu den angrenzenden Regionen, die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und die Erhaltung der Bedingungen des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts in einer Weise gewährleistet werden, dass ihre Besonderheiten unverändert bleiben. Hierzu sollten diese Regionen die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu den verschiedenen Fonds der Union haben, und ihnen sollten die Erhaltung ihrer Besonderheiten sowie eine angemessene wirtschaftliche Entwicklung garantiert werden, so dass die Entwicklung der Union nachhaltig verlaufen kann und ihre kulturelle Vielfalt erhalten bleibt. 4 In einem Anhang zu den im Rahmen der erforderlichen Informationen gemachten Angaben stellten die Kläger gemäß Anhang II der Verordnung Nr. 211/2011 genauere Informationen zum Gegenstand, zu den Zielen und zu dem Hintergrund der streitigen Bürgerinitiative zur Verfügung (im Folgenden: Zusatzinformationen). 5 Aus diesen Zusatzinformationen ergibt sich zum einen, dass die Regionen mit einer nationalen Minderheit nach der Vorstellung der Kläger Regionen und geografischen Gebieten entsprechen, die nicht notwendigerweise über Strukturen mit Verwaltungszuständigkeiten verfügen, in denen jedoch Gemeinschaften angesiedelt sind, deren ethnische, kulturelle, religiöse oder sprachliche Besonderheiten von denjenigen der in den angrenzenden Regionen ansässigen Bevölkerungsgruppen abweichen, und die auf lokaler Ebene eine Mehrheit bilden oder aus einer großen Zahl von Personen bestehen, während sie auf nationaler Ebene nur eine Minderheit darstellen, und die (im Wege eines Referendums) ihren Willen zum Ausdruck gebracht haben, innerhalb des betroffenen Mitgliedstaats über einen Autonomiestatus zu verfügen (im Folgenden: Regionen mit einer nationalen Minderheit). Nach Ansicht der Kläger sind diese Regionen mit einer nationalen Minderheit Hüterinnen uralter europäischer Kulturen und Sprachen und stellen wichtige Quellen der kulturellen und sprachlichen Vielfalt der Union und darüber hinaus Europas dar. 6 Zum anderen ergibt sich aus den Zusatzinformationen, dass der Vorschlag für einen Rechtsakt der Union (im Folgenden: vorgeschlagener Rechtsakt) in erster Linie die Gleichstellung der Regionen und die Erhaltung der regionalen Kulturen gewährleisten soll, indem jeder Unterschied oder Rückstand in der wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen mit einer nationalen Minderheit im Vergleich zu den angrenzenden Regionen vermieden wird und die Erhaltung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts der Regionen mit einer nationalen Minderheit in einer Weise ermöglicht wird, die ihre Besonderheiten nicht beeinträchtigt. Die Kläger sind der Ansicht, die in den Art. 174 bis 178 AEUV geregelte Kohäsionspolitik müsse, um im Einklang mit den in den Art. 2 und 3 EUV niedergelegten grundlegenden Werten zu sein, dazu beitragen, die den Regionen mit einer nationalen Minderheit eigenen ethnischen, kulturellen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten, die durch die wirtschaftliche Integration Europas bedroht seien, zu erhalten und die Hindernisse und Diskriminierungen, die die wirtschaftliche Entwicklung dieser Regionen beeinträchtigten, zu beseitigen. Der vorgeschlagene Rechtsakt müsse den Regionen mit einer nationalen Minderheit daher die gleiche Zugangsmöglichkeit zu Fonds, Mitteln und Programmen der Kohäsionspolitik der Union gewähren wie den derzeit förderfähigen Regionen, die in Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 1059/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 über die Schaffung einer gemeinsamen Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik (NUTS [Nomenclature des unités territoriales statistiques]) (ABl. L 154, S. 1) aufgeführt seien. Diese Garantien könnten die Schaffung regionaler autonomer Institutionen umfassen, die mit ausreichenden Befugnissen ausgestattet seien, um den Regionen mit einer nationalen Minderheit zu helfen, ihre nationalen, sprachlichen und kulturellen Besonderheiten sowie ihre Identität zu bewahren. 7 Zu diesem Zweck müsse der vorgeschlagene Rechtsakt zum einen den Begriff der „Region mit einer nationalen Minderheit“ definieren, indem er erstens auf die in bestimmten völkerrechtlichen Verträgen genannten Konzepte und Ziele, u. a. auf die Definition der „nationalen Minderheit“ in der Empfehlung 1201 (1993) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 1. Februar 1993 über ein die Rechte nationaler Minderheiten betreffendes Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention, zweitens auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, drittens auf die Rechtsprechung zur am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, viertens auf Art. 3 EUV und auf Art. 167 AEUV und fünftens auf den von den betroffenen Gemeinschaften (im Wege eines Referendums) zum Ausdruck gebrachten Willen, innerhalb des betroffenen Mitgliedstaats über einen Autonomiestatus zu verfügen, Bezug nehme. Zum anderen müsse dieser Rechtsakt die innerhalb der Union bestehenden Regionen mit einer nationalen Minderheit gemäß der vorgenannten Definition namentlich bezeichnen. Anschließend seien diese Regionen in die gemeinsame Klassifikation der Gebietseinheiten für die Statistik (im Folgenden: NUTS) in Anhang I der Verordnung Nr. 1059/2003 aufzunehmen. 8 Um zu vermeiden, dass die Fonds, Mittel und Programme der Kohäsionspolitik der Union von den nationalen Verwaltungsbehörden zur Finanzierung von Politiken verwendet würden, die gegen nationale Minderheiten gerichtet seien, müsse im vorgeschlagenen Rechtsakt ferner erklärt werden, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen und Zusagen gegenüber nationalen Minderheiten unverzüglich und in vollem Umfang nachzukommen, und dass die Verletzung oder Nichteinhaltung dieser Zusagen durch einen Mitgliedstaat einer Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte gleichkomme, auf die das in Art. 7 EUV beschriebene Verfahren Anwendung finde und die den Rat der Europäischen Union dazu veranlassen könne, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiteten. 9 Am 25. Juli 2013 erließ die Kommission den Beschlusses C (2013) 4975 final, mit dem die Registrierung der streitigen Bürgerinitiative abgelehnt wurde (im Folgenden: angefochtener Beschluss), weil aus einer eingehenden Prüfung der in dieser geplanten Bürgerinitiative angeführten Vertragsbestimmungen sowie aller anderen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen hervorgehe, dass diese geplante Bürgerinitiative offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem die Kommission befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge vorzulegen. Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten 10 Mit Klageschrift, die am 27. September 2013 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, haben die Kläger die vorliegende Klage erhoben. 11 Die Kommission hat am 3. Januar 2014 ihre Klagebeantwortung eingereicht. 12 Die Slowakische Republik hat mit Schriftsatz, der am 18. Februar 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, beantragt, in der vorliegenden Rechtssache als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. 13 Die Kläger haben am 21. Februar 2014 eine Erwiderung eingereicht. 14 Mit Schriftsatz, der am 3. März 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat Ungarn beantragt, in der vorliegenden Rechtssache als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kläger zugelassen zu werden. 15 Mit Schriftsätzen, die am 7. bzw. 12. März 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben die Hellenische Republik und Rumänien beantragt, in der vorliegenden Rechtssache als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. 16 Am 7. April 2014 hat die Kommission eine Gegenerwiderung eingereicht. 17 Nach Eingang der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten hat der Präsident der Ersten Kammer mit Beschluss vom 12. Mai 2014 den Anträgen der Slowakischen Republik, Ungarns, der Hellenischen Republik und Rumäniens auf Zulassung als Streithelfer stattgegeben. 18 Die Slowakische Republik sowie Ungarn und Rumänien haben ihre Streithilfeschriftsätze am 23. bzw. am 25. Juni 2014 eingereicht. Die Hellenische Republik hat keinen Streithilfeschriftsatz eingereicht. 19 Mit Schriftsätzen, die am 18. und 23. Juni 2014 bzw. am 25. August 2014 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, haben Judeţul Covasna (Verwaltungsbezirk Covasna, Rumänien), Bretagne réunie und Obec Debrad’ (Gemeinde Debrad’, Slowakische Republik) beantragt, in der vorliegenden Rechtssache als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kläger zugelassen zu werden. 20 Nach Eingang der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten hat der Präsident der Ersten Kammer mit Beschluss vom 18. Mai 2015 die Anträge von Judeţul Covasna, von Bretagne réunie und von Obec Debrad’ auf Zulassung als Streithelfer zurückgewiesen. 21 Auf Vorschlag der Berichterstatterin hat das Gericht beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und hat im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 Abs. 3 Buchst. b seiner Verfahrensordnung die Parteien aufgefordert, schriftlich zu bestimmten Aspekten des Rechtsstreits Stellung zu nehmen. Die Parteien haben diesen Aufforderungen innerhalb der gesetzten Frist Folge geleistet. In ihrer Antwort haben die Kläger erklärt, sie verzichteten auf den Antrag, die Kommission zu verpflichten, die streitige Bürgerinitiative zu registrieren und alle erforderlichen rechtlichen Maßnahmen zu ergreifen. 22 In der Sitzung vom 15. Dezember 2015 haben die Parteien – mit Ausnahme der Hellenischen Republik, deren Vertreter zu dieser Sitzung nicht erschienen ist – mündlich verhandelt und mündliche Fragen des Gerichts beantwortet. In dieser Sitzung hat die Kommission das Gericht darüber informiert, dass die Kläger die von ihr in der vorliegenden Rechtssache eingereichte Klagebeantwortung auf der Website der streitigen Bürgerinitiative veröffentlicht und sich trotz entsprechender Aufforderung der Kommission geweigert hätten, sie zu entfernen. Die Kommission hat das Gericht aufgefordert, dieses missbräuchliche Verhalten der Kläger im Rahmen der Kostenverteilung zu berücksichtigen. Die Kläger haben die von der Kommission beanstandeten Tatsachen nicht bestritten, jedoch geltend gemacht, dass ihr Verhalten keinen Rechtsmissbrauch darstelle, da es keine Vorschrift gebe, die dies verbiete. Sie haben daher das Gericht ersucht, die allgemeine Kostenregelung anzuwenden. 23 Nach Anpassung ihrer Anträge (oben, Rn. 21) beantragen die Kläger, unterstützt durch Ungarn, — den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären; — der Kommission die Kosten aufzuerlegen. 24 Die Kommission beantragt, — die Klage als teilweise unzulässig und im Übrigen als unbegründet abzuweisen; — den Klägern und Ungarn die Kosten aufzuerlegen. 25 Auch wenn die Hellenische Republik keinen förmlichen Antrag gestellt hat, ist davon auszugehen, dass sie sich als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission diesen Anträgen ohne Weiteres anschließt. 26 Die Slowakische Republik als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission beantragt, — die Klage als teilweise unzulässig und im Übrigen als unbegründet abzuweisen; — den Klägern die Kosten aufzuerlegen. 27 Als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission schließt sich Rumänien diesen Anträgen, soweit sie auf die Abweisung der Klage als teilweise unzulässig und im Übrigen als unbegründet gerichtet sind, im Wesentlichen an. Rechtliche Würdigung Zur Zulässigkeit einzelner Rügen 28 In ihrer Erwiderung bringen die Kläger, unterstützt von Ungarn, im Wesentlichen Rügen vor, mit denen sie zum einen einen Ermessensmissbrauch sowie einen Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und zum anderen eine unzutreffende Auslegung von Art. 352 AEUV geltend machen. 29 Auf die Aufforderung des Gerichts, zu diesem Aspekt des Rechtsstreits Stellung zu nehmen (oben, Rn. 21), hat sich die Kommission, unterstützt von der Slowakischen Republik, auf die Unzulässigkeit der Rüge eines Ermessensmissbrauchs und eines Verstoßes gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung berufen, da diese Rüge erst in der Erwiderung erstmals geltend gemacht worden sei und nicht die Zulässigkeitsvoraussetzungen von Art. 44 § 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 48 der Verfahrensordnung des Gerichts vom 2. Mai 1991 erfülle. 30 Was die Rüge der unzutreffenden Auslegung von Art. 352 AEUV betrifft, hat die Kommission, unterstützt von Rumänien und der Slowakischen Republik, ebenfalls beantragt, sie als unzulässig zurückzuweisen, da sie erstmals in der Erwiderung geltend gemacht worden sei. 31 Die Kläger halten dem entgegen, sie hätten diese Rügen in Beantwortung des Vorbringens der Kommission in deren Klagebeantwortung vorgebracht, und machen geltend, dass es sich bei diesen Rügen nur um eine Erweiterung der bereits in ihrer Klageschrift enthaltenen Rügen handele. 32 Nach Art. 44 § 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 48 § 2 der Verfahrensordnung vom 2. Mai 1991 können nach Eingang der Klageschrift keine neuen Angriffsmittel mehr vorgebracht werden, es sei denn, dass sie auf rechtliche oder tatsächliche Umstände gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind. Jedoch muss ein Vorbringen, das eine Erweiterung eines bereits unmittelbar oder mittelbar in der Klageschrift vorgetragenen Angriffsmittels darstellt und das in engem Zusammenhang mit diesem steht, für zulässig erklärt werden (vgl. Urteil vom 15. Oktober 2008, Mote/Parlament, T‑345/05, Slg, EU:T:2008:440, Rn. 85 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Gleiche gilt für eine zur Stützung eines Klagegrundes geltend gemachte Rüge (vgl. Urteil vom 19. März 2013, In ’t Veld/Kommission, T‑301/10, Slg, EU:T:2013:135, Rn. 97 und die dort angeführte Rechtsprechung). 33 Um als Erweiterung eines Klagegrundes oder einer Rüge, die bereits vorgetragen worden sind, angesehen werden zu können, muss ein neues Vorbringen mit den ursprünglich in der Klageschrift dargelegten Klagegründen oder Rügen einen so engen Zusammenhang aufweisen, dass es als Bestandteil der üblichen sich in einem streitigen Verfahren entwickelnden Erörterung angesehen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. November 2013, Groupe Gascogne/Kommission, C‑58/12 P, Slg, EU:C:2013:770, Rn. 31). 34 Im vorliegenden Fall waren die oben in Rn. 28 genannten Rügen eines Ermessensmissbrauchs und eines Verstoßes gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung sowie der unzutreffenden Auslegung von Art. 352 AEUV tatsächlich nicht in der Klageschrift enthalten. 35 Die Rügen eines Ermessensmissbrauchs und eines Verstoßes gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung entsprechen im vorliegenden Fall jedoch einer Erweiterung der in der Klageschrift geltend gemachten Rügen und stützen sich auf Umstände, die erst während des Verfahrens vor dem Gericht zutage getreten sind. Zum einen stehen diese Rügen nämlich in engem Zusammenhang mit dem einzigen Klagegrund, den die Kläger im Wesentlichen in ihrer Klageschrift angeführt haben und mit dem sie mit der Begründung, dass die streitige Bürgerinitiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem die Kommission befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge vorzulegen, einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 geltend machen. Die genannten Rügen stellen offensichtlich eine neue rechtliche Qualifizierung der zur Untermauerung dieses Klagegrundes vorgetragenen Argumente dar, die im Licht bestimmter von der Kommission in ihrer Klagebeantwortung vorgebrachter Argumente vorgenommen wurde, aus denen sich nach Auffassung der Kläger ergibt, dass der einzige Grund für den angefochtenen Beschluss darin bestanden habe, dass die Kommission es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nicht für zweckmäßig gehalten habe, ihre Befugnisse in dem von den Klägern gewünschten Sinne wahrzunehmen. Zum anderen rechtfertigen die Kläger das Vorbringen dieser Rügen mit bestimmten, während des Verfahrens vor dem Gericht zutage getretenen Umständen, nämlich mit den Argumenten der Kommission in ihrer Klagebeantwortung, wonach „die Politiken der Union nicht Instrumente minderheitenfeindlicher Politiken werden [können]“ und „den Besonderheiten nationaler Minderheiten bei der Schaffung der NUTS-Klassifikation auf der Ebene der Mitgliedstaaten angemessen Rechnung getragen werden k[ann]“. 36 Die Rügen eines Ermessensmissbrauchs und eines Verstoßes gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung sind daher zulässig. 37 Dagegen steht die Rüge der unzutreffenden Auslegung von Art. 352 AEUV nicht in engem Zusammenhang mit den Rügen in der Klageschrift. Überdies stützt sich diese Rüge nicht auf Umstände, die erst während des Verfahrens vor dem Gericht zutage getreten sind, da sie unabhängig von den Argumenten der Kommission in der Klagebeantwortung bereits in der Klageschrift hätte geltend gemacht werden können. Die Kommission hatte nämlich bereits in dem angefochtenen Beschluss den Standpunkt eingenommen, dass keine andere Bestimmung der Verträge als die in der streitigen Bürgerinitiative genannten als Grundlage für den vorgeschlagenen Rechtsakt dienen könne, was den Art. 352 AEUV einschloss. 38 Daraus folgt, dass die Rüge der unzutreffenden Auslegung von Art. 352 AEUV als unzulässig zurückzuweisen ist und die von der Kommission erhobenen Einreden der Unzulässigkeit im Übrigen zurückzuweisen sind. Zur Begründetheit 39 Zur Begründung ihres Antrags auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses bringen die Kläger, unterstützt von Ungarn, im Wesentlichen einen einzigen Klagegrund vor, mit dem sie mit der Begründung, dass die streitige Bürgerinitiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem die Kommission befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge vorzulegen, einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 geltend machen. Unter Berücksichtigung der Feststellungen oben in Rn. 38 ist davon auszugehen, dass dieser Klagegrund aus mehreren Rügen besteht: Erstens wird eine unzutreffende Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Buchst. c AEUV und von Art. 174 AEUV sowie von Art. 3 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1059/2003, ausgelegt im Licht des zehnten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie, geltend gemacht, zweitens eine unzutreffende Auslegung von Art. 167 AEUV, drittens eine unzutreffende Auslegung von Art. 19 Abs. 1 AEUV, viertens eine fälschliche Berücksichtigung von nicht in Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 211/2011 genannten Informationen und fünftens ein Ermessensmissbrauch sowie ein Verstoß gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung. 40 Im vorliegenden Fall ist mit der Prüfung der Rüge einer fälschlichen Berücksichtigung von nicht in Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 211/2011 genannten Informationen zu beginnen. Zur Rüge einer fälschlichen Berücksichtigung von nicht in Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 211/2011 genannten Informationen 41 Die Kläger, unterstützt von Ungarn, machen geltend, der Kommission sei ein Fehler unterlaufen, indem sie im angefochtenen Beschluss die in Rn. 4 des vorliegenden Urteils umschriebenen Zusatzinformationen berücksichtigt habe. 42 Die Kommission, unterstützt von Rumänien und der Slowakischen Republik, beantragt die Zurückweisung dieser Rüge. 43 Die vorliegende Rüge wirft die Frage auf, auf welche Informationen sich die Kommission für ihren Beschluss stützen kann, dass die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 festgelegten Registrierungsbedingungen für eine geplante Bürgerinitiative nicht erfüllt sind. 44 In Art. 4 der Verordnung Nr. 211/2011 heißt es u. a.: „(1)   Bevor sie mit der Sammlung von Unterstützungsbekundungen bei Unterzeichnern für eine geplante Bürgerinitiative beginnen, sind die Organisatoren verpflichtet, sie bei der Kommission anzumelden, wobei sie die in Anhang II genannten Informationen, insbesondere zum Gegenstand und zu den Zielen der geplanten Bürgerinitiative, bereitstellen. … (2)   Binnen zwei Monaten nach Eingang der in Anhang II genannten Informationen registriert die Kommission eine geplante Bürgerinitiative unter einer eindeutigen Identifikationsnummer und sendet eine entsprechende Bestätigung an die Organisatoren, sofern die folgenden Bedingungen erfüllt sind: … b) die geplante Bürgerinitiative liegt nicht offenkundig außerhalb des Rahmens, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen; … (3)   Die Kommission verweigert die Registrierung, wenn die in Absatz 2 festgelegten Bedingungen nicht erfüllt sind. …“ 45 Da Art. 4 der Verordnung Nr. 211/2011 insoweit unmittelbar auf deren Anhang II verweist, ist davon auszugehen, dass dieser Anhang ebenso verbindlich ist wie die genannte Verordnung (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 24. April 1996, Industrias Pesqueras Campos u. a./Kommission, T‑551/93 und T‑231/94 bis T‑234/94, Slg, EU:T:1996:54, Rn. 84). 46 Anhang II („Erforderliche Informationen zur Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative“) der Verordnung Nr. 211/2011 bestimmt: „Die folgenden Informationen sind zwecks Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative im Online-Register der Kommission bereitzustellen: 1. Bezeichnung der geplanten Bürgerinitiative in höchstens 100 Zeichen; 2. Gegenstand in höchstens 200 Zeichen; 3. eine Beschreibung der Ziele der geplanten Bürgerinitiative, in deren Zusammenhang die Kommission zum Tätigwerden aufgefordert wird, in höchstens 500 Zeichen; 4. die Vertragsvorschriften, die von den Organisatoren als für die geplante Initiative relevant erachtet werden; … Organisatoren können genauere Informationen zum Gegenstand, zu den Zielen und dem Hintergrund der geplanten Bürgerinitiative in einem Anhang zur Verfügung stellen. Sie können ebenfalls einen Entwurf für einen Rechtsakt unterbreiten.“ 47 Aus Art. 4 der Verordnung Nr. 211/2011 und deren Anhang II geht hervor, dass die Kommission die von den Organisatoren übermittelten Informationen prüft, um beurteilen zu können, ob die geplante Bürgerinitiative die u. a. in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b dieser Verordnung festgelegten Registrierungsbedingungen erfüllt. 48 Entgegen den Ausführungen der Kläger beschränken sich die „in Anhang II [der Verordnung Nr. 211/2011] genannten Informationen“, auf die Art. 4 dieser Verordnung verweist, nicht auf die Mindestinformationen, die nach diesem Anhang im Register bereitgestellt werden müssen. 49 Dem den Organisatoren der geplanten Bürgerinitiative in Anhang II der Verordnung Nr. 211/2011 zuerkannten Recht, Zusatzinformationen oder sogar einen Entwurf für einen Rechtsakt der Union bereitzustellen, entspricht nämlich die Verpflichtung der Kommission, diese Informationen ebenso wie alle anderen nach diesem Anhang bereitgestellten Informationen gemäß dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung zu prüfen, der die Verpflichtung des zuständigen Organs umfasst, alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls sorgfältig und unparteiisch zu untersuchen (vgl. Urteile vom 29. März 2012, Kommission/Estland, C‑505/09 P, Slg, EU:C:2012:179, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 23. September 2009, Estland/Kommission, T‑263/07, Slg, EU:T:2009:351, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung). 50 Folglich musste die Kommission sogar unabhängig von der Frage, ob die im Register bereitgestellten erforderlichen Informationen ausreichend waren, die Zusatzinformationen prüfen, um beurteilen zu können, ob die geplante Bürgerinitiative die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 festgelegten Registrierungsbedingungen erfüllte. 51 Diese Feststellung wird nicht durch das Vorbringen der Kläger in Frage gestellt, die im Wesentlichen geltend machen, die Kommission hätte im angefochtenen Beschluss die Zusatzinformationen nicht berücksichtigen dürfen, die nur zur Veranschaulichung von Vorschlägen für Rechtsakte gedient hätten, die eventuell von der Kommission vorgelegt werden könnten, die jedoch dem vorgeschlagenen Rechtsakt nicht entsprochen hätten. 52 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in dem angefochtenen Beschluss auf der Grundlage der Zusatzinformationen festgestellt hat, die Kläger hätten sie mit der streitigen Bürgerinitiative aufgefordert, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, der „die Gleichstellung der Regionen und die Erhaltung der regionalen Kulturen“ gewährleisten solle, was nach Ansicht der Kläger zwangsläufig beinhalte, dass zum einen sichergestellt werde, dass die Mitgliedstaaten ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber nationalen Minderheiten nachkämen, und dass zum anderen „den Regionen [mit einer nationalen Minderheit] im Kontext der Kohäsionspolitik der Union besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird“, indem eine Definition der „Region mit nationaler Minderheit“ festgelegt werde, die den Kriterien in den in der streitigen Bürgerinitiative angeführten völkerrechtlichen Verträgen und dem von den betroffenen Gemeinschaften zum Ausdruck gebrachten Willen Rechnung trage, und indem diese Regionen namentlich bezeichnet würden. 53 Die Kläger können nicht fundiert behaupten, die in dem angefochtenen Beschluss auf diese Weise beschriebenen Maßnahmen seien in den Zusatzinformationen als bloße Beispiele für Vorschläge für Maßnahmen angeführt worden, die von der Kommission eventuell hätten vorgelegt werden können. In ihren Zusatzinformationen weisen sie zunächst ausdrücklich darauf hin, dass „in den Rechtsvorschriften … erklärt werden müsste, dass die Mitgliedstaaten unverzüglich ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber nationalen Minderheiten nachkommen müssen“. Ferner tragen sie vor, wobei sie eine bereits in den erforderlichen Informationen vorgebrachte Forderung wiederholen, dass den Regionen mit einer nationalen Minderheit, um den Zielen der streitigen Bürgerinitiative zu entsprechen, „die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu den Strukturfonds und den anderen Fonds der Union, zu den Mitteln und den Programmen [der Kohäsionspolitik] gewährt werden [und] die Erhaltung ihrer Besonderheiten sowie eine angemessene wirtschaftliche Entwicklung garantiert werden müssen“. Schließlich beziehen sie sich klar auf ein Konzept [der Regionen mit einer nationalen Minderheit] und machen geltend, dass „[d]er von der Kommission vorbereitete Rechtsakt der Union über die Definition des Konzepts der Regionen mit einer nationalen Minderheit hinaus diese Regionen in einem Anhang auch namentlich bezeichnen muss, wobei die Kriterien, die in den [in den Zusatzinformationen] aufgeführten völkerrechtlichen Verträgen niedergelegt sind, und der Wille der betroffenen Gemeinschaften zu berücksichtigen sind“. Den vorstehenden Passagen der Zusatzinformationen ist zu entnehmen, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen, die die Kommission in dem angefochtenen Beschluss berücksichtigt hat, in diesen Informationen von den Klägern eindeutig als Maßnahmen angeführt wurden, die unbedingt im vorgeschlagenen Rechtsakt enthalten sein mussten. 54 Folglich hat die Kommission diese Maßnahmen in dem angefochtenen Beschluss zu Recht bei der Prüfung berücksichtigt, ob die geplante Bürgerinitiative die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 festgelegten Registrierungsbedingungen erfüllte. 55 Ferner ändert auch das Vorbringen der Verfahrensbeteiligten zu der Frage, ob im vorliegenden Fall die Berücksichtigung der Zusatzinformationen in dem angefochtenen Beschluss im Interesse der Kläger lag, nichts an der Feststellung oben in Rn. 50. 56 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es Sache der Organisatoren einer geplanten Bürgerinitiative ist, im konkreten Fall zu beurteilen, ob es in ihrem Interesse liegt, von dem ihnen in Anhang II der Verordnung Nr. 211/2011 eingeräumten Recht Gebrauch zu machen, zusätzliche Informationen zum Gegenstand, zu den Zielen und dem Hintergrund ihrer Initiative zur Verfügung zu stellen, denn es ist die diesem Recht entsprechende Verpflichtung der Kommission im Auge zu behalten, diese Informationen zu prüfen, um insbesondere beurteilen zu können, ob die geplante Bürgerinitiative registriert werden muss. Haben sich die Organisatoren einer geplanten Bürgerinitiative jedoch dafür entschieden, ihr Recht auszuüben und solche zusätzlichen Informationen zur Verfügung zu stellen, müssen diese von der Kommission berücksichtigt werden, ohne dass sich diese die Frage stellen kann oder muss, ob die Berücksichtigung dieser Informationen im Interesse der Organisatoren liegt. 57 Im vorliegenden Fall haben die Kläger der Kommission zusätzliche Informationen zur Verfügung gestellt, die diese somit unabhängig davon prüfen musste, ob dies im Interesse der Kläger lag. 58 Da das Vorbringen der Kläger somit in vollem Umfang widerlegt ist, ist die Rüge einer fälschlichen Berücksichtigung von nicht in Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 211/2011 genannten Informationen zurückzuweisen. Einleitende Bemerkungen zu den übrigen Rügen der Kläger 59 Da alle übrigen Rügen der Kläger im Wesentlichen mit einem Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 in Zusammenhang stehen (oben, Rn. 39), ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 5 EUV für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gilt, dass nach Art. 13 Abs. 2 EUV jedes Organ nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse handelt und dass Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 in diesem Zusammenhang die Bedingung vorsieht, dass die geplante Bürgerinitiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens liegen darf, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen, um die Verträge umzusetzen. 60 Aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 geht hervor, dass die Kommission eine erste Prüfung der Informationen, über die sie verfügt, vornehmen muss, um zu beurteilen, ob die geplante Bürgerinitiative nicht offenkundig außerhalb des Rahmens ihrer Befugnisse liegt, wobei im Fall der Registrierung der geplanten Initiative eine eingehendere Prüfung vorgesehen ist. Art. 10 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 211/2011 bestimmt nämlich, dass die Kommission nach Eingang einer europäischen Bürgerinitiative innerhalb von drei Monaten in einer Mitteilung ihre rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen zu der Initiative sowie ihr weiteres Vorgehen bzw. den Verzicht auf ein weiteres Vorgehen und die Gründe hierfür darlegt. 61 Um festzustellen, ob die Kommission im vorliegenden Fall die Bedingung des Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 zutreffend angewandt hat, ist zu untersuchen, ob sie im Hinblick auf die streitige Bürgerinitiative im Rahmen einer ersten Prüfung der Informationen, über die sie verfügte, offenkundig nicht die Annahme eines Rechtsakts der Union auf der Grundlage der Vertragsbestimmungen – insbesondere der von den Klägern in der streitigen Bürgerinitiative angeführten Vertragsbestimmungen – vorschlagen konnte. Zu den Rügen einer unzutreffenden Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Buchst. c AEUV und von Art. 174 AEUV sowie von Art. 3 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1059/2003, ausgelegt im Licht des zehnten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie 62 Die Kläger, unterstützt von Ungarn, machen geltend, die Kommission habe in dem angefochtenen Beschluss einen Auslegungsfehler begangen, indem sie dort verneint habe, dass Art. 4 Abs. 2 Buchst. c AEUV und Art. 174 AEUV sowie Art. 3 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1059/2003, ausgelegt im Licht des zehnten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie, eine Rechtsgrundlage darstellen könnten, die es ihr erlaube, einen der streitigen Bürgerinitiative entsprechenden Vorschlag für einen Rechtsakt der Union vorzulegen. 63 Die Kommission, unterstützt von Rumänien und der Slowakischen Republik, beantragt die Zurückweisung dieser Rügen. 64 Die Kommission hat in dem angefochtenen Beschluss zunächst, wie oben in Rn. 52 ausgeführt, den Inhalt des vorgeschlagenen Rechtsakts beschrieben und anschließend Folgendes festgestellt: „Gemäß [dem] Antrag sind [bestimmte Maßnahmen] erforderlich, damit den Regionen [mit einer nationalen Minderheit] im Kontext der Kohäsionspolitik der Union besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Jede auf der Grundlage der Artikel 177 und 178 AEUV über die Kohäsionspolitik [der Union] erlassene Maßnahme beschränkt sich jedoch darauf, die Ziele einer Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, wie in Artikel 174 AEUV vorgesehen, zu verfolgen. Die Förderung der Bedingungen für die nationalen Minderheiten kann nicht als Beitrag zur Verringerung der ‚Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen‘ und des Rückstands der am stärksten benachteiligten Gebiete – wie es in Artikel 174 Absatz 2 AEUV heißt – angesehen werden. Die in Artikel 174 Absatz 3 AEUV enthaltene Liste der ‚Nachteile‘, die die Verpflichtung beinhaltet, den betroffenen Gebieten ‚besondere Aufmerksamkeit‘ zu widmen, ist insoweit abschließend. Folglich können die Artikel 174, 176, 177 und 178 AEUV keine Rechtsgrundlage für den Erlass des vorgeschlagenen Rechtsakts … darstellen.“ 65 Ferner hat die Kommission nach dem Hinweis, dass sich ihre Prüfung nicht nur auf die in der streitigen Bürgerinitiative angeführten Vertragsbestimmungen, sondern auch auf „alle anderen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen“ bezogen habe, Folgendes festgestellt: „[I]n den Verträgen findet sich keine Rechtsgrundlage, die es erlaubte, einen Vorschlag für einen Rechtsakt mit dem [von den Organisatoren der streitigen Bürgerinitiative beabsichtigten] Inhalt vorzulegen.“ 66 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass sich die Wahl der Rechtsgrundlage eines Unionsrechtsakts auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände gründen muss, zu denen insbesondere das Ziel und der Inhalt dieses Rechtsakts gehören (vgl. Urteile vom 11. Juni 2014, Kommission/Rat, C‑377/12, Slg, EU:C:2014:1903, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 18. Dezember 2014, Vereinigtes Königreich/Rat, C‑81/13, Slg, EU:C:2014:2449, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). 67 Die vorliegenden Rügen werfen die Frage auf, ob der vorgeschlagene Rechtsakt insbesondere in Anbetracht seines Ziels und Inhalts auf der Grundlage der von den Klägern in der streitigen Bürgerinitiative angeführten Vorschriften über die Kohäsionspolitik der Union erlassen werden konnte. 68 Neben anderen von der Union verfolgten Zielen erwähnt Art. 3 EUV die Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts. Dieser Zusammenhalt gehört zu den in Art. 4 Abs. 2 AEUV aufgeführten Bereichen, in denen geteilte Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten bestehen. Wie die Kommission zu Recht bemerkt, findet sich die Rechtsgrundlage für den Erlass von Rechtsakten zur Konsolidierung und Weiterentwicklung der Unionstätigkeit im Bereich des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, insbesondere mit Hilfe der Strukturfonds, im gesamten Dritten Teil Titel XVIII des AEU-Vertrags, nämlich in den Art. 174 bis 178 AEUV. Dies ergibt sich ebenfalls aus dem Protokoll (Nr. 28) über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt im Anhang zum EU-Vertrag und zum AEU-Vertrag. 69 Aus den Art. 174 bis 178 AEUV ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber befugt ist, Maßnahmen zu ergreifen, um eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern und insbesondere die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen sowie den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern, indem den ländlichen Gebieten, den vom industriellen Wandel betroffenen Gebieten und den Regionen mit schweren und dauerhaften natürlichen oder demografischen Nachteilen, wie den nördlichsten Regionen mit sehr geringer Bevölkerungsdichte sowie den Insel-, Grenz- und Bergregionen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. 70 In Übereinstimmung mit Art. 4 Abs. 2 EUV, der insbesondere bestimmt, dass die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten achtet, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt, muss der Begriff des „Gebiets“ im Sinne der Art. 174 bis 178 AEUV unter Berücksichtigung der politischen, administrativen und institutionellen Gegebenheiten definiert werden. Zwischen den in den verschiedenen Mitgliedstaaten bestehenden Verwaltungseinheiten gibt es aber sowohl in demografischer und geografischer Hinsicht als auch im Hinblick auf ihre Kompetenzen wesentliche Unterschiede. Der Erlass von Rechtsakten der Union im Bereich der Kohäsionspolitik verlangt jedoch, dass der Unionsgesetzgeber über vergleichbare Daten im Hinblick auf den Entwicklungsstand jeder dieser Verwaltungseinheiten verfügt. Wie sich aus ihrem neunten Erwägungsgrund ergibt, hat die Richtlinie Nr. 1059/2003 daher eine NUTS aufgestellt, die es ermöglicht, durch die Festlegung von „Gebietseinheiten“ oder „NUTS-Regionen“, deren hierarchische Ebene von ihrer Bevölkerungszahl abhängt, die Statistiken über den Entwicklungsstand der verschiedenen in den Mitgliedstaaten bestehenden Verwaltungseinheiten vergleichbar zu machen und die somit als Grundlage für die Umsetzung der Kohäsionspolitik der Union dient. 71 Insoweit heißt es in Art. 3 der Verordnung Nr. 1059/2003 zur Festlegung der Kriterien für die Klassifizierung der Gebietseinheiten für die Statistik in ihrer zur Zeit des Sachverhalts geltenden Fassung: „(1)   Die in den Mitgliedstaaten bestehenden Verwaltungseinheiten bilden das erste Kriterium zur Festlegung der Gebietseinheiten. ‚Verwaltungseinheit‘ bezeichnet dabei ein geografisches Gebiet mit einer Verwaltungsbehörde, die befugt ist, innerhalb des gesetzlichen und institutionellen Rahmens des Mitgliedstaats Verwaltungsentscheidungen oder politische Entscheidungen für dieses Gebiet zu treffen. (2)   Um die relevante NUTS-Ebene zu bestimmen, auf der eine bestimmte Klasse von Verwaltungseinheiten in einem Mitgliedstaat einzuordnen ist, muss die durchschnittliche Größe dieser Klasse von Verwaltungseinheiten in dem Mitgliedstaat innerhalb folgender Bevölkerungsgrenzen liegen: … Falls die Bevölkerung eines Mitgliedstaats unter der Mindestgrenze einer bestimmten NUTS-Ebene liegt, bildet der gesamte Mitgliedstaat eine NUTS-Gebietseinheit auf dieser Ebene. (3)   Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet ‚Bevölkerung einer Gebietseinheit‘ diejenigen Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Gebiet haben. (4)   Die für die NUTS-Klassifikation verwendeten bestehenden Verwaltungseinheiten sind in Anhang II aufgeführt. Die Maßnahmen zur Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen dieser Verordnung und zur Anpassung des Anhangs II werden nach dem in Artikel 7 Absatz 2 genannten Regelungsverfahren mit Kontrolle erlassen. (5)   Wenn in einem Mitgliedstaat für eine bestimmte NUTS-Ebene keine den Kriterien des Absatzes 2 entsprechenden Verwaltungseinheiten angemessener Größe bestehen, wird diese NUTS-Ebene durch Aggregation einer angemessenen Zahl bestehender kleinerer benachbarter Verwaltungseinheiten gebildet. Bei dieser Aggregation sind relevante Kriterien wie geografische, sozioökonomische, historische, kulturelle oder Umweltkriterien zu berücksichtigen. Die so aggregierten Einheiten werden im Folgenden ‚nichtadministrative Einheiten‘ genannt. Die Größe der nichtadministrativen Einheiten in einem Mitgliedstaat muss für eine bestimmte NUTS-Ebene innerhalb der Bevölkerungsgrenzen des Absatzes 2 liegen. Bei einzelnen nichtadministrativen Einheiten kann jedoch aufgrund besonderer geografischer, sozioökonomischer, historischer, kultureller oder Umweltkriterien, insbesondere bei Inseln und Gebieten in äußerster Randlage, von diesen Grenzen abgewichen werden. Diese Maßnahmen zur Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen dieser Verordnung durch Ergänzung werden nach dem in Artikel 7 Absatz 2 genannten Regelungsverfahren mit Kontrolle erlassen.“ 72 Angesichts des oben in den Rn. 68 bis 71 dargelegten rechtlichen Rahmens hat die Kommission in dem angefochtenen Beschluss zu Recht festgestellt, dass „die Artikel 174, 176, 177 und 178 AEUV keine Rechtsgrundlage für den Erlass des vorgeschlagenen Rechtsakts … darstellen“. 73 Der oben in den Rn. 3 und 5 bis 8 beschriebenen streitigen Bürgerinitiative ist nämlich zu entnehmen, dass der vorgeschlagene Rechtsakt ermöglichen sollte, die Regionen mit einer nationalen Minderheit unter den Begriff des „Gebiets“ im Sinne der Art. 174 bis 178 AEUV einzuordnen und ihnen im Rahmen der Kohäsionspolitik der Union besondere Aufmerksamkeit zu widmen, damit ihre ethnischen, kulturellen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten erhalten bleiben können. Der vorgeschlagene Rechtsakt sollte u. a. den Mitgliedstaaten aufgeben, ihren Verpflichtungen gegenüber nationalen Minderheiten, auch bei der Umsetzung der Kohäsionspolitik der Union, nachzukommen, den Begriff der „Region mit einer nationalen Minderheit“, die zugleich auch ein „Gebiet“ im Sinne der Art. 174 bis 178 AEUV darstelle, zu definieren, und eine namentliche Liste der Regionen mit einer nationalen Minderheit zu erstellen, die im Rahmen der Kohäsionspolitik der Union zur Erhaltung ihrer Besonderheiten besondere Aufmerksamkeit verdienen. 74 Ferner ergibt sich aus der streitigen Bürgerinitiative, dass die Regionen mit einer nationalen Minderheit auf der Grundlage eigenständiger Kriterien und demnach unabhängig von in den Mitgliedstaaten bestehenden Verwaltungseinheiten festgelegt werden sollten. In der streitigen Bürgerinitiative heißt es nämlich, dass „alle wesentlichen Bestandteile des in einem Rechtsakt der Union festzulegenden Konzepts [der Regionen mit einer nationalen Minderheit] bereits in unzähligen, von vielen Mitgliedstaaten angenommenen völkerrechtlichen Verträgen vorhanden sind“, und die Initiative bezieht sich hierbei auf die „Regionen mit nationalen, ethnischen, kulturellen, religiösen, sprachlichen Besonderheiten, die von denjenigen der angrenzenden Regionen abweichen“. Nach der streitigen Bürgerinitiative schließen die so umschriebenen Regionen „geografische Gebiete ohne Verwaltungskompetenzen“ ein. Demzufolge seien für die Schaffung von der NUTS entsprechenden Regionen die sprachlichen, ethnischen und kulturellen Grenzen sowie der in einem vorherigen Referendum zum Ausdruck gebrachte Wille der autochthonen Gemeinschaften, die die Bevölkerungsmehrheit der Region bildeten, zu berücksichtigen. So könnten die „[sich aus dem vorgeschlagenen Rechtsakt ergebenden] Garantien in Übereinstimmung mit der … Entschließung [des Europäischen Parlaments zum Schutz von Minderheiten und den Maßnahmen gegen Diskriminierung in einem erweiterten Europa] und der Wille der fraglichen Gemeinschaften auch die Errichtung autonomer regionaler Institutionen umfassen, die mit ausreichenden Befugnissen ausgestattet sind, um die Erhaltung [der] nationalen, sprachlichen und kulturellen Besonderheiten und [der] Identität [der Regionen mit einer nationalen Minderheit] zu unterstützen“. Aus der streitigen Bürgerinitiative ergibt sich daher, dass der vorgeschlagene Rechtsakt zu einer Neudefinition des Begriffs des „Gebiets“ im Sinne der Art. 174 bis 178 AEUV führen sollte, indem den Regionen mit einer nationalen Minderheit ohne Rücksicht auf die politischen, administrativen und institutionellen Gegebenheiten in den betroffenen Mitgliedstaaten ein echter Status eingeräumt wird. 75 Wie oben in Rn. 70 dargelegt, muss die Union aber gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV im Rahmen der Kohäsionspolitik die politischen, administrativen und institutionellen Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten berücksichtigen. Wenn daher Art. 3 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1059/2003 allein zu dem Zweck, die Vergleichbarkeit der regionalen statistischen Daten sicherzustellen, vorsieht, dass Kriterien wie geografische, sozioökonomische, historische, kulturelle oder Umweltkriterien zu berücksichtigen sind, so geschieht dies nur, um in den betroffenen Mitgliedstaaten bestehende Verwaltungseinheiten zu einer nicht administrativen Einheit mit ausreichender Bevölkerungszahl zusammenzufassen und dient ausschließlich dazu, die Vergleichbarkeit der Statistiken über den Entwicklungsstand dieser verschiedenen Verwaltungseinheiten sicherzustellen. Wenn diese Bestimmung ferner vorsieht, dass von diesen Bevölkerungsgrenzen aufgrund besonderer geografischer, sozioökonomischer, historischer, kultureller oder Umweltkriterien abgewichen werden kann, so gilt dies nur für nicht administrative Einheiten, die selbst einer Zusammenfassung von in den betroffenen Mitgliedstaaten bestehenden Verwaltungseinheiten zu rein statistischen Zwecken entsprechen, ohne dass dies, in welcher Weise auch immer, zu einer Änderung des politischen, administrativen und institutionellen Rahmens in den betroffenen Mitgliedstaaten führen könnte. 76 Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber nicht ohne Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 EUV einen Rechtsakt erlassen könnte, der – wie der vorgeschlagene Rechtsakt – auf der Grundlage eigenständiger Kriterien und somit ohne Rücksicht auf die politischen, administrativen und institutionellen Gegebenheiten in den betroffenen Mitgliedstaaten Regionen mit einer nationalen Minderheit festlegt, die im Rahmen der Kohäsionspolitik der Union besondere Aufmerksamkeit verdienen. 77 Selbst wenn die Regionen mit einer nationalen Minderheit Verwaltungseinheiten, die in den betroffenen Mitgliedstaaten bestehen, oder Zusammenfassungen solcher Einheiten entsprechen könnten, handelt es sich bei der Erhaltung der ethnischen, kulturellen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten dieser Regionen jedenfalls nicht um ein Ziel, das den Erlass eines Rechtsakts der Union auf der Grundlage der Art. 174, 176, 177 und 178 AEUV rechtfertigen könnte. 78 Die letztgenannten Vorschriften geben dem Unionsgesetzgeber nämlich nur die Befugnis, Maßnahmen zu ergreifen, um eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern und insbesondere die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete zu verringern, indem den ländlichen Gebieten, den vom industriellen Wandel betroffenen Gebieten und den Gebieten mit schweren und dauerhaften natürlichen oder demografischen Nachteilen, wie den nördlichsten Regionen mit sehr geringer Bevölkerungsdichte sowie den Insel-, Grenz- und Bergregionen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. 79 Die Kläger machen zwar im Wesentlichen geltend, dass zum einen die europäische Integration und insbesondere die Umsetzung der Kohäsionspolitik der Union derzeit keine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes fördere, da sie die Besonderheiten der Regionen mit einer nationalen Minderheit bedrohten, die daher zunehmend „verschwänden“, und dass zum anderen die Regionen mit einer nationalen Minderheit aufgrund der Minderheitsposition ihrer Bevölkerung auf nationaler Ebene unter einem schweren und dauerhaften demografischen Nachteil litten, der ihre wirtschaftliche Entwicklung im Vergleich zu den angrenzenden Regionen beeinträchtige. 80 Wie die Kommission jedoch zu Recht bemerkt, beruht das Vorbringen der Kläger hierzu auf Behauptungen, die durch nichts gestützt werden oder gar bewiesen sind. 81 Zum einen haben die Kläger nicht nachgewiesen, dass die Umsetzung der Kohäsionspolitik der Union, sowohl durch die Union als auch durch die Mitgliedsstaaten, die Besonderheiten der Regionen mit einer nationalen Minderheit bedroht. 82 Gemäß Art. 2 EUV ist die Union auf die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, gegründet. Ferner verbietet Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union jede Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit. Nach Art. 6 Abs. 1 EUV erkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte niedergelegt sind, wobei die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind. Art. 51 Abs. 1 dieser Charta stellt klar, dass sie für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. Daraus folgt, dass die Union und die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer geteilten Zuständigkeiten im Bereich des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts keine Personen oder Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit diskriminieren dürfen. 83 Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Ziel der streitigen Bürgerinitiative nicht in der Bekämpfung der Diskriminierungen bestand, denen die in Regionen mit einer nationalen Minderheit angesiedelten Personen oder Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer solchen Minderheit ausgesetzt seien, sondern in der Vermeidung jeden Unterschieds oder Rückstands in der wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen mit einer nationalen Minderheit im Vergleich zu den angrenzenden Regionen aufgrund des Nachteils, den ihre ethnischen, kulturellen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten für die erstgenannten Regionen darstellten. In Rn. 5 der Klageschrift haben die Kläger im Übrigen selbst zugestanden, dass die streitige Bürgerinitiative nicht zum „Gegenstand“ habe, „Diskriminierungen zu verhindern“, auch wenn sie nicht ausschlossen, dass dies die „Folge“ des vorgeschlagenen Rechtsakts sein könne. 84 So konnte die Kommission entgegen den Ausführungen der Kläger weder auf der Grundlage von Art. 2 EUV noch von Art. 21 Abs. 1 der Grundrechtecharta noch von irgendeiner anderen unionsrechtlichen Bestimmung zur Bekämpfung von Diskriminierungen, insbesondere der auf der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit basierenden Bestimmungen, im Rahmen der Kohäsionspolitik der Union einen Rechtsakt der Union vorschlagen, dessen Gegenstand und Inhalt denen des vorgeschlagenen Rechtsakts entsprochen hätte. 85 Zum anderen haben die Kläger nicht nachgewiesen, dass die ethnischen, kulturellen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten der Regionen mit einer nationalen Minderheit als schwerer und dauerhafter demografischer Nachteil im Sinne von Art. 174 Abs. 3 AEUV angesehen werden können. 86 Während Art. 174 Abs. 3 AEUV hierzu feststellt, dass die nördlichsten Regionen mit sehr geringer Bevölkerungsdichte sowie die Insel-, Grenz- und Bergregionen unter natürlichen oder geografischen Nachteilen leiden, die auf ihrer Insellage, ihrem grenzüberschreitenden Charakter, ihren topografischen Gegebenheiten, ihrer Abgelegenheit, ihrer geringen oder sehr geringen Bevölkerungsdichte beruhen, finden die Regionen, deren ethnische, kulturelle, religiöse oder sprachliche Besonderheiten von denjenigen der angrenzenden Regionen abweichen, keine Erwähnung. Der von den Klägern angeführte Art. 121 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates (ABl. L 347, S. 320) erweitert in diesem Zusammenhang keineswegs den Geltungsbereich von Art. 174 AEUV, da er sich nur auf Inselgebiete, Berggebiete, Gebiete mit geringer und sehr geringer Bevölkerungsdichte sowie auf Gebiete in äußerster Randlage bezieht. Daher lässt sich aus diesem Art. 121 Abs. 4 nicht ableiten, dass der Begriff „schwerer und dauerhafter demografischer Nachteil“ im Sinne von Art. 174 Abs. 3 AEUV die ethnischen, kulturellen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten von Regionen mit einer nationalen Minderheit einschließen kann. 87 Selbst wenn diese Besonderheiten als spezifische demografische Gegebenheiten der betroffenen Regionen gewertet werden könnten, ist nicht erwiesen, dass sie für die wirtschaftliche Entwicklung dieser Regionen im Vergleich zu den angrenzenden Regionen zwingend einen Nachteil darstellen. Zwar können, wie die Kläger hervorheben, die – insbesondere sprachlichen – Unterschiede zwischen diesen und den angrenzenden Regionen zu bestimmten Mehrkosten im Handelsverkehr oder zu bestimmten Schwierigkeiten bei der Einstellung von Arbeitskräften führen. Wie die Kommission jedoch zu Recht bemerkt, können die Besonderheiten dieser Regionen ihnen ebenso im Vergleich bestimmte Vorteile verschaffen, wie etwa eine gewisse touristische Anziehungskraft oder die Mehrsprachigkeit. 88 Was die Rechtsakte der Union anbelangt, die wie die Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen vom 24. Juli 2003 mit dem Titel „Förderung des Sprachenlernens und der Sprachenvielfalt: Aktionsplan 2004–2006“ (KOM[2003] 449 endg.) Regional- und Minderheitensprachen fördern sollen, ist darauf hinzuweisen, dass diese nicht davon ausgehen, dass es sich bei diesen Sprachen um einen Nachteil für die wirtschaftliche Entwicklung der Regionen, in denen sie gesprochen werden, handelt, sondern davon, dass diese Sprachen zur Sprachenvielfalt in der Union und zur Mehrsprachigkeit – die als ein Vorteil wahrgenommen wird – beitragen. 89 Da von den Klägern keinerlei Beweise vorgelegt wurden, besteht also kein Grund zu der Annahme, dass die ethnischen, kulturellen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten der Regionen mit einer nationalen Minderheit zwingend deren wirtschaftliche Entwicklung im Vergleich zu den angrenzenden Regionen benachteiligen, so dass diese Besonderheiten als „schwerer und dauerhafter demografischer Nachteil“ im Sinne von Art. 174 Abs. 3 AEUV eingestuft werden könnten. 90 Nach alledem sind die Rügen einer unzutreffenden Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Buchst. c AEUV und von Art. 174 AEUV sowie von Art. 3 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1059/2003, ausgelegt im Licht des zehnten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie, in vollem Umfang zurückzuweisen. Zur Rüge einer unzutreffenden Auslegung von Art. 167 AEUV 91 Die Kläger, unterstützt von Ungarn, machen geltend, die Kommission habe im angefochtenen Beschluss einen Auslegungsfehler begangen, indem sie davon ausgegangen sei, dass die geplante Bürgerinitiative offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem sie befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der in Art. 167 AEUV genannten Kulturpolitik vorzulegen. 92 Die Kommission, unterstützt von Rumänien und der Slowakischen Republik, beantragt die Zurückweisung dieser Rüge. 93 Die Kommission hat im angefochtenen Beschluss zunächst, wie oben in Rn. 52 ausgeführt, den Inhalt des vorgeschlagenen Rechtsakts festgestellt und anschließend Folgendes ausgeführt: „Auch … Artikel 167 … AEUV [kann] keine Rechtsgrundlage für die vorgeschlagenen Rechtsvorschriften darstellen, da [diese Rechtsvorschriften] nicht zur Verwirklichung eines der Ziele der in diese[r] Bestimmung aufgeführten Politiken beitragen würden.“ 94 Die vorliegende Rüge wirft die Frage auf, ob der vorgeschlagene Rechtsakt, insbesondere in Anbetracht seines Ziels und Inhalts, zur Verwirklichung eines der Ziele der in Art. 167 AEUV aufgeführten Kulturpolitik der Union beitragen sollte. 95 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Union gemäß Art. 22 der Grundrechtecharta und Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 4 EUV den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt wahrt und für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas sorgt. 96 Art. 6 Buchst. c AEUV führt die Kultur als einen der Bereiche an, in denen die Union für die Durchführung von Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten zuständig ist. Wie auch aus Art. 2 Abs. 5 Unterabs. 1 AEUV hervorgeht, tritt die Zuständigkeit der Union nicht an die Stelle der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und ist dieser gegenüber subsidiär. 97 Art. 167 AEUV bestimmt: „(1)   Die Union leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes. (2)   Die Union fördert durch ihre Tätigkeit die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und unterstützt und ergänzt erforderlichenfalls deren Tätigkeit in folgenden Bereichen: — Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker, — Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung, — nichtkommerzieller Kulturaustausch, — künstlerisches und literarisches Schaffen, einschließlich im audiovisuellen Bereich. (3)   Die Union und die Mitgliedstaaten fördern die Zusammenarbeit mit dritten Ländern und den für den Kulturbereich zuständigen internationalen Organisationen, insbesondere mit dem Europarat. (4)   Die Union trägt bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen der Verträge den kulturellen Aspekten Rechnung, insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen. (5)   Als Beitrag zur Verwirklichung der Ziele dieses Artikels — erlassen das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Ausschusses der Regionen Fördermaßnahmen unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten[;] — erlässt der Rat auf Vorschlag der Kommission Empfehlungen.“ 98 Art. 167 AEUV, insbesondere seinen Abs. 2 und 5, ist zu entnehmen, dass der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Kulturpolitik der Union, um einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes zu leisten, Fördermaßnahmen unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten oder Empfehlungen erlassen kann, mit denen klar bestimmte Ziele verfolgt werden, nämlich erstens die Verbesserung der Kenntnis und die Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker, zweitens die Erhaltung und der Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung, drittens der nicht kommerzielle Kulturaustausch und viertens das künstlerische und literarische Schaffen, einschließlich im audiovisuellen Bereich. 99 Die Kommission hat daher im angefochtenen Beschluss zu Recht festgestellt, dass „die vorgeschlagenen Rechtsvorschriften nicht zur Verwirklichung eines der Ziele [der in Art. 167 AEUV aufgeführten Kulturpolitik der Union] beitragen würden“. 100 Der oben in den Rn. 3 und 5 bis 8 beschriebenen streitigen Bürgerinitiative ist nämlich zu entnehmen, dass mit dem vorgeschlagenen Rechtsakt im Rahmen der Kohäsionspolitik der Union im Wesentlichen bestimmte Garantien geboten werden sollten, damit die ethnischen, kulturellen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten der Regionen mit einer nationalen Minderheit erhalten bleiben können. Diese Garantien sollten im Wesentlichen darin bestehen, dass den Regionen mit einer nationalen Minderheit Zugang zu den Fonds, Mitteln und Programmen der Kohäsionspolitik der Union gewährt wird, um jeden Unterschied oder Rückstand in der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Regionen im Vergleich zu den angrenzenden Regionen zu vermeiden oder sogar den Regionen mit einer nationalen Minderheit in Übereinstimmung mit dem von ihrer Bevölkerung (im Wege eines Referendums) zum Ausdruck gebrachten Willen einen Autonomiestatus zu verleihen, ohne dabei die politischen, administrativen und institutionellen Gegebenheiten in den betroffenen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. 101 Art. 167 AEUV kann jedoch nicht als Grundlage für den Erlass eines Rechtsakts der Union mit einem solchen Ziel und mit einem solchen Inhalt dienen. Die Erhaltung von Regionen mit einer nationalen Minderheit durch die Bewahrung ihrer ethnischen, kulturellen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten oder gar die Verleihung eines Autonomiestatus für solche Regionen, um die Kohäsionspolitik der Union umzusetzen, sind nämlich Ziele, die zum einen weit über den bloßen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt oder die bloße Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes hinausgehen und die zum anderen nicht unmittelbar mit einem der in Art. 167 Abs. 2 AEUV klar bestimmten Ziele zusammenhängen. In Rn. 5 der Klageschrift haben die Kläger im Übrigen selbst zugestanden, dass die streitige Bürgerinitiative nicht zum „Gegenstand“ habe, „die kulturelle Vielfalt zu schützen“, auch wenn sie nicht ausschlossen, dass dies die „Folge“ des vorgeschlagenen Rechtsakts sein könne. 102 So konnte die Kommission im vorliegenden Fall entgegen den Ausführungen der Kläger weder auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 3 EUV noch von Art. 167 Abs. 1 AEUV noch von Art. 22 der Grundrechtecharta im Rahmen der Kohäsionspolitik der Union einen Rechtsakt zum Schutz der von den nationalen Minderheiten repräsentierten kulturellen Vielfalt der Union vorschlagen, wobei dieser Rechtsakt im Übrigen nicht dem Ziel und dem Inhalt des vorgeschlagenen Rechtsakts entsprochen hätte. 103 Jedenfalls ist festzustellen, dass der Erlass des vorgeschlagenen Rechtsakts, der zwangsläufig eine Definition des Begriffs der „Region mit nationaler Minderheit“ für die Umsetzung der Kohäsionspolitik verlangt hätte, keiner der Handlungsweisen entsprechen würde, die in Art. 167 Abs. 2 AEUV zur Verwirklichung der Ziele der Kulturpolitik der Union vorgesehen sind, nämlich dem Erlass von Fördermaßnahmen unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten oder von Empfehlungen. 104 Nach alledem ist die Rüge einer unzutreffenden Auslegung von Art. 167 AEUV zurückzuweisen. Zur Rüge einer unzutreffenden Auslegung von Art. 19 Abs. 1 AEUV 105 Die Kläger, unterstützt von Ungarn, machen geltend, die Kommission habe im angefochtenen Beschluss Art. 19 Abs. 1 AEUV falsch ausgelegt, indem sie davon ausgegangen sei, dass keine Bestimmung der Verträge eine Rechtsgrundlage für eine wie auch immer geartete Maßnahme der Organe zur Bekämpfung von Diskriminierungen wegen Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit biete. 106 Die Kommission, unterstützt von Rumänien und der Slowakischen Republik, beantragt die Zurückweisung dieser Rüge 107 Die Kommission hat im angefochtenen Beschluss zunächst, wie oben in Rn. 52 ausgeführt, den Inhalt des vorgeschlagenen Rechtsakts festgestellt und darauf hingewiesen, dass sich ihre Prüfung auf „die … vorgeschlagenen Vertragsbestimmungen sowie [alle] anderen möglichen Rechtsgrundlagen“ beziehen werde und anschließend Folgendes erklärt: „Somit [enthalten] die Verträge keine Rechtsgrundlage …, die es erlauben würde, einen Rechtsakt [der Union] mit dem [in der streitigen Bürgerinitiative] beabsichtigten Inhalt vorzuschlagen.“ 108 Die Kläger werfen der Kommission in diesem Zusammenhang eine unzutreffende Auslegung von Art. 19 Abs. 1 AEUV vor, der als Rechtsgrundlage für den vorgeschlagenen Rechtsakt hätte dienen können. 109 Die vorliegende Rüge wirft die Frage auf, ob der vorgeschlagene Rechtsakt, insbesondere in Anbetracht seines Ziels und Inhalts, auf der Grundlage von Art. 19 Abs. 1 AEUV hätte erlassen werden können. 110 Art. 19 AEUV bestimmt: „(1)   Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge kann der Rat im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. (2)   Abweichend von Absatz 1 können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Grundprinzipien für Fördermaßnahmen der Union unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Maßnahmen festlegen, die die Mitgliedstaaten treffen, um zur Verwirklichung der in Absatz 1 genannten Ziele beizutragen.“ 111 Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge und im Rahmen der durch die Verträge der Union übertragenen Zuständigkeiten ermächtigt Art. 19 Abs. 1 AEUV den Unionsgesetzgeber, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen. 112 Im vorliegenden Fall ist, ohne dass geprüft werden müsste, ob der Begriff der „Diskriminierung“ im Sinne dieser Bestimmung jede Diskriminierung wegen der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit erfasst, darauf hinzuweisen, dass das Ziel der streitigen Bürgerinitiative, wie bereits oben in Rn. 83 festgestellt, nicht in der Bekämpfung von Diskriminierungen bestand, denen die in Regionen mit einer nationalen Minderheit angesiedelten Personen oder Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer solchen Minderheit ausgesetzt seien, sondern in der Vermeidung jeden Unterschieds oder Rückstands in der wirtschaftlichen Entwicklung der Regionen mit einer nationalen Minderheit im Vergleich zu den angrenzenden Regionen aufgrund des Nachteils, den ihre ethnischen, kulturellen, religiösen oder sprachlichen Besonderheiten für die erstgenannten Regionen darstellten. 113 Wie die Kommission im angefochtenen Beschluss zu Recht festgestellt hat, konnte Art. 19 Abs. 1 AEUV daher keine geeignete Rechtsgrundlage bieten, um einen Rechtsakt der Union mit dem Ziel und dem Inhalt des in der streitigen Bürgerinitiative beschriebenen Rechtsakts vorzuschlagen. 114 Nach alledem ist die Rüge einer unzutreffenden Auslegung von Art. 19 Abs. 1 AEUV zurückzuweisen. Zu den Rügen eines Ermessensmissbrauchs und eines Verstoßes gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung 115 Die Kläger, unterstützt von Ungarn, machen geltend, die Kommission habe ermessensmissbräuchlich gehandelt, indem sie die Registrierung der streitigen Bürgerinitiative nicht aus dem in dem angefochtenen Beschluss angegebenen Grund nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011, wonach die Bürgerinitiative offenkundig außerhalb des Rahmens ihrer Befugnisse liege, verweigert habe, sondern deshalb, wie aus ihren Schriftsätzen im vorliegenden Verfahren hervorgehe, weil sie es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nicht für zweckmäßig gehalten habe, ihre Befugnisse in dem von den Klägern gewünschten Sinne wahrzunehmen. Dieser Grund sei in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 nicht vorgesehen. 116 Ferner machen sie geltend, die Kommission habe gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen, da sie im vorliegenden Fall in der Absicht gehandelt habe, Bürgerinitiativen zu entmutigen – auch wenn diese wie im vorliegenden Fall die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 festgelegten Registrierungsbedingungen erfüllten –, indem sie sich unrechtmäßiger Mittel, wie der Berücksichtigung von nicht in Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 211/2011 genannten Informationen, bedient habe. 117 Die Kommission, unterstützt von der Slowakischen Republik, beantragt die Zurückweisung dieser Rügen. 118 Was erstens die Rüge des Ermessensmissbrauchs betrifft, ist daran zu erinnern, dass der Begriff des Ermessensmissbrauchs nach ständiger Rechtsprechung im Unionsrecht eine präzise Bedeutung hat und sich auf eine Situation bezieht, in der eine Verwaltungsbehörde ihre Befugnisse zu einem anderen Zweck als demjenigen ausübt, zu dem sie ihr übertragen worden sind. Eine Entscheidung ist nur dann ermessensmissbräuchlich, wenn aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, dass sie getroffen wurde, um andere als die angegebenen Zwecke zu erreichen (vgl. Urteil vom 9. September 2008, Bayer CropScience u. a./Kommission, T‑75/06, Slg, EU:T:2008:317, Rn. 254 und die dort angeführte Rechtsprechung). 119 Im vorliegenden Fall stützen sich die Kläger für den Nachweis eines Ermessensmissbrauchs auf ein bestimmtes Verteidigungsvorbringen der Kommission, wonach diese es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts nicht für zweckmäßig gehalten habe, ihre Befugnisse in dem von den Klägern gewünschten Sinne wahrzunehmen. 120 Hierzu ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss eine ausreichende Begründung enthält, der zufolge die streitige Bürgerinitiative nicht die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 festgelegten Registrierungsbedingungen erfülle, da sie offenkundig außerhalb des Rahmens liege, in dem die Kommission befugt sei, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge vorzulegen. In den Rn. 10 und 11 ihrer Klagebeantwortung hat die Kommission erneut auf diese Begründung verwiesen und erklärt, dass sie „ihren Standpunkt“ aus den Gründen, die sie anschließend in der Klagebeantwortung als Entgegnung auf das Vorbringen in der Klageschrift im Einzelnen erläutert, „aufrechterh[ält]“. Ebenso hat die Kommission in den Rn. 2 und 97 ihrer Gegenerwiderung vorgetragen, dass sie „die in der Klagebeantwortung dargelegten Erwägungen und Schlussfolgerungen … in vollem Umfang aufrechterh[ält]“ und dass sie „den Antrag auf Registrierung der [streitigen Bürgerinitiative] in begründeter Form rechtmäßig auf der Grundlage von Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung … Nr. 211/2011 zurückgewiesen [hat]“. Daraus folgt, dass die Kommission in ihren Schriftsätzen die Stichhaltigkeit der im angefochtenen Beschluss enthaltenen Begründung verteidigt hat, die durch die Prüfung der vorliegenden Klage in Frage gestellt worden ist. 121 In diesem Kontext können die von den Klägern hervorgehobenen Passagen, nämlich Rn. 17 der Klagebeantwortung, wonach „die Politiken der Union nicht Instrumente minderheitenfeindlicher Politiken werden können“, und Rn. 58 der Klagebeantwortung, wonach „die Kommission davon ausgeht, dass den Besonderheiten nationaler Minderheiten bei der Schaffung der NUTS … auf der Ebene der Mitgliedstaaten angemessen Rechnung getragen werden kann“, weder als Beleg, dass der angefochtene Beschluss tatsächlich auf andere als die in ihm ausdrücklich angegebenen Gründe gestützt war – deren Stichhaltigkeit bei der Prüfung der vorliegenden Klage nicht in Frage gestellt werden konnte –, noch als Zeugnis für einen von der Kommission begangenen Missbrauch der ihr durch Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 übertragenen Befugnisse angesehen werden. 122 Daraus folgt, dass die Kläger im vorliegenden Fall keine objektiven, schlüssigen und übereinstimmenden Indizien beigebracht haben, die den Schluss zuließen, dass der angefochtene Beschluss aus anderen als den angegebenen Gründen erlassen wurde: Der Grund war nämlich, dass die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 festgelegten Registrierungsbedingungen nicht erfüllt waren, weil die streitige Bürgerinitiative offenkundig außerhalb des Rahmens lag, in dem die Kommission befugt ist, einen Vorschlag für einen Rechtsakt der Union zur Umsetzung der Verträge vorzulegen. 123 Die Rüge eines Ermessensmissbrauchs durch die Kommission ist daher als unbegründet zurückzuweisen. 124 Was zweitens die Rüge eines Verstoßes gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 41 Abs. 1 der Grundrechtecharta „[j]ede Person … ein Recht darauf [hat], dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“. Ferner ergibt sich aus dem zehnten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 211/2011, dass der allgemeine Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung insbesondere verlangt, dass die Kommission alle geplanten Bürgerinitiativen, die den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen entsprechen, innerhalb der in Art. 4 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehenen Frist, nämlich binnen zwei Monaten nach Eingang der in Anhang II genannten Informationen, registriert. 125 Wie die Prüfung der Rügen, dass die Kommission die Artikel der Verträge unzutreffend ausgelegt habe, gezeigt hat, waren die in Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 festgelegten Registrierungsbedingungen entgegen den Ausführungen der Kläger im vorliegenden Fall nicht erfüllt, so dass die Kommission die Registrierung der streitigen Bürgerinitiative zu Recht gemäß Art. 4 Abs. 3 dieser Verordnung verweigert hat. 126 Die Kommission konnte demnach den streitigen Beschluss erlassen, ohne gegen den allgemeinen Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung zu verstoßen. 127 Die Rüge eines Verstoßes gegen diesen Grundsatz ist daher ebenfalls als unbegründet zurückzuweisen. 128 Da somit alle Rügen, die die Kläger zur Untermauerung ihres einzigen, im Wesentlichen auf einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 211/2011 gestützten Klagegrundes geltend gemacht haben, zurückgewiesen worden sind, ist dieser Klagegrund zurückzuweisen und demzufolge die Klage in vollem Umfang abzuweisen. Kosten 129 Gemäß Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kläger unterlegen sind, tragen sie ihre eigenen Kosten und die Kosten der Kommission, ohne dass insoweit berücksichtigt werden muss, dass die Kläger durch die Veröffentlichung der Klagebeantwortung der Kommission auf der Website der streitigen Bürgerinitiative (oben, Rn. 22) den Schutz des Gerichtsverfahrens, insbesondere die Grundsätze der Waffengleichheit und der geordneten Rechtspflege, beeinträchtigt haben (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 21. September 2010, Schweden u. a./API und Kommission, C‑514/07 P, C‑528/07 P und C‑532/07 P, Slg, EU:C:2010:541, Rn. 85 und 93). 130 Außerdem tragen nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Diese Bestimmung ist auf Ungarn, die Hellenische Republik, Rumänien und die Slowakische Republik anzuwenden. Aus diesen Gründen hat DAS GERICHT (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Die Klage wird abgewiesen. 2. Herr Balázs-Árpád Izsák und Herr Attila Dabis tragen ihre eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission. 3. Ungarn, die Hellenische Republik, Rumänien und die Slowakische Republik tragen ihre eigenen Kosten. Kanninen Pelikánová Buttigieg Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 10. Mai 2016. Unterschriften Inhaltsverzeichnis Vorgeschichte des Rechtsstreits Verfahren und Anträge der Verfahrensbeteiligten Rechtliche Würdigung Zur Zulässigkeit einzelner Rügen Zur Begründetheit Zur Rüge einer fälschlichen Berücksichtigung von nicht in Art. 4 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 211/2011 genannten Informationen Einleitende Bemerkungen zu den übrigen Rügen der Kläger Zu den Rügen einer unzutreffenden Auslegung von Art. 4 Abs. 2 Buchst. c AEUV und von Art. 174 AEUV sowie von Art. 3 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1059/2003, ausgelegt im Licht des zehnten Erwägungsgrundes dieser Richtlinie Zur Rüge einer unzutreffenden Auslegung von Art. 167 AEUV Zur Rüge einer unzutreffenden Auslegung von Art. 19 Abs. 1 AEUV Zu den Rügen eines Ermessensmissbrauchs und eines Verstoßes gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung Kosten (*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.
Urteil des Gerichts (Erste Kammer) vom 15. Mai 2024.#Russian Direct Investment Fund gegen Rat der Europäischen Union.#Rechtssache T-235/22.
62022TJ0235
ECLI:EU:T:2024:311
2024-05-15T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62022TJ0235 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62022TJ0235 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62022TJ0235 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Neunte Kammer) vom 30. November 2022.#Trasta Komercbanka AS u. a. gegen Europäische Zentralbank.#Wirtschafts- und Währungspolitik – Beaufsichtigung von Kreditinstituten – Der EZB übertragene besondere Aufsichtsaufgaben – Beschluss, mit dem einem Kreditinstitut die Zulassung entzogen wird – Tod eines Klägers – Teilweise Erledigung der Hauptsache – Zuständigkeiten der nationalen Behörden teilnehmender Mitgliedstaaten und der EZB innerhalb des einheitlichen Aufsichtsmechanismus – Gleichbehandlung – Verhältnismäßigkeit – Berechtigtes Vertrauen – Rechtssicherheit – Befugnismissbrauch – Verteidigungsrechte – Begründungspflicht.#Rechtssache T-698/16.
62016TJ0698
ECLI:EU:T:2022:737
2022-11-30T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62016TJ0698 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62016TJ0698 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62016TJ0698 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichts (Achte Kammer) vom 11. Juli 2018.#Pegasus gegen Europäisches Parlament.#Institutionelles Recht – Europäisches Parlament – Beschluss, mit dem einer politischen Stiftung eine Finanzhilfe gewährt wird – Vorfinanzierung in Höhe von 33 % des Höchstbetrags der gewährten Finanzhilfe – Obliegenheit, eine Bankbürgschaft für die Vorfinanzierung zu stellen – Haushaltsordnung – Anwendungsbestimmungen für die Haushaltsordnung – Verordnung (EG) Nr. 2004/2003 über die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihre Finanzierung – Verhältnismäßigkeit – Gleichbehandlung.#Rechtssache T-57/17.
62017TJ0057
ECLI:EU:T:2018:425
2018-07-11T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62017TJ0057 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62017TJ0057 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62017TJ0057 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 30. April 2025.#Inspektorat kam Visshia sadeben savet.#Vorabentscheidungsersuchen des Sofiyski rayonen sad.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Richterliche Unabhängigkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Justizorgan, das dafür zuständig ist, die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger zwecks Verhängung von Disziplinarmaßnahmen vorzuschlagen – Fortführung der Amtsgeschäfte durch die Mitglieder des Justizorgans nach Ablauf ihrer Amtszeit – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Datensicherheit – Zugang eines Justizorgans zu den Daten betreffend die Bankkonten der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger und ihrer Familienangehörigen – Gerichtliche Genehmigung der Aufhebung des Bankgeheimnisses – Gericht, das die Aufhebung des Bankgeheimnisses genehmigt – Art. 4 Nr. 7 – Begriff ‚Verantwortlicher‘ – Art. 51 – Begriff ‚Aufsichtsbehörde‘.#Verbundene Rechtssachen C-313/23, C-316/23 und C-332/23.
62023CJ0313
ECLI:EU:C:2025:303
2025-04-30T00:00:00
Gerichtshof, Pikamäe
Vorläufige Fassung URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer) 30. April 2025(*) „ Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Richterliche Unabhängigkeit – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Justizorgan, das dafür zuständig ist, die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger zwecks Verhängung von Disziplinarmaßnahmen vorzuschlagen – Fortführung der Amtsgeschäfte durch die Mitglieder des Justizorgans nach Ablauf ihrer Amtszeit – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Datensicherheit – Zugang eines Justizorgans zu den Daten betreffend die Bankkonten der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger und ihrer Familienangehörigen – Gerichtliche Genehmigung der Aufhebung des Bankgeheimnisses – Gericht, das die Aufhebung des Bankgeheimnisses genehmigt – Art. 4 Nr. 7 – Begriff ‚Verantwortlicher‘ – Art. 51 – Begriff ‚Aufsichtsbehörde‘ “ In den verbundenen Rechtssachen C‑313/23, C‑316/23 und C‑332/23 betreffend drei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidungen vom 22. Mai 2023 (C‑313/23 und C‑332/23) und vom 23. Mai 2023 (C‑316/23), beim Gerichtshof eingegangen am 22. Mai 2023 (C‑313/23), 23. Mai 2023 (C‑316/23) und 25. Mai 2023 (C‑332/23), in den Verfahren, die eingeleitet wurden vom Inspektorat kam Visshia sadeben savet, erlässt DER GERICHTSHOF (Erste Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs T. von Danwitz (Berichterstatter), des Richters A. Kumin sowie der Richterinnen I. Ziemele und O. Spineanu‑Matei, Generalanwalt: P. Pikamäe, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen –        des Inspektorat kam Visshia sadeben savet, vertreten durch T. Tochkova als Bevollmächtigte, –        der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Mitova, S. Ruseva und R. Stoyanov als Bevollmächtigte, –        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, –        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, C. Georgieva, H. Kranenborg und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Oktober 2024, folgendes Urteil 1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a, Art. 4 Nr. 7, Art. 32 Abs. 1 Buchst. b, Art. 33 Abs. 3 Buchst. d, Art. 51, Art. 57 Abs. 1 Buchst. b und Art. 79 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO) in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2        Sie ergehen in Verfahren, die vom Inspektorat kam Visshia sadeben savet (Aufsichtsbehörde beim Obersten Justizrat, Bulgarien) (im Folgenden: Aufsichtsbehörde) angestrengt wurden, um zu erreichen, dass die Daten betreffend die Bankkonten mehrerer Richter, Staatsanwälte bzw. Rechtspfleger und ihrer Familienangehörigen ihm gegenüber offengelegt werden. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht 3        In den Erwägungsgründen 16 und 20 der DSGVO heißt es: „(16)      Diese Verordnung gilt nicht für Fragen des Schutzes von Grundrechten und Grundfreiheiten und des freien Verkehrs personenbezogener Daten im Zusammenhang mit Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, wie etwa die nationale Sicherheit betreffende Tätigkeiten. … … (20)      Diese Verordnung gilt zwar unter anderem für die Tätigkeiten der Gerichte und anderer Justizbehörden, doch könnte im Unionsrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten festgelegt werden, wie die Verarbeitungsvorgänge und Verarbeitungsverfahren bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte und andere Justizbehörden im Einzelnen auszusehen haben. Damit die Unabhängigkeit der Justiz bei der Ausübung ihrer gerichtlichen Aufgaben einschließlich ihrer Beschlussfassung unangetastet bleibt, sollten die Aufsichtsbehörden nicht für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch Gerichte im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit zuständig sein. Mit der Aufsicht über diese Datenverarbeitungsvorgänge sollten besondere Stellen im Justizsystem des Mitgliedstaats betraut werden können, die insbesondere die Einhaltung der Vorschriften dieser Verordnung sicherstellen, Richter und Staatsanwälte besser für ihre Pflichten aus dieser Verordnung sensibilisieren und Beschwerden in Bezug auf derartige Datenverarbeitungsvorgänge bearbeiten sollten.“ 4        Art. 2 („Sachlicher Anwendungsbereich“) DSGVO bestimmt in den Abs. 1 und 2: „(1)      Diese Verordnung gilt für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen. (2)      Diese Verordnung findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten a)      im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, …“ 5        Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) DSGVO bestimmt: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck: … 2.      ‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung; … 7.      ‚Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet; sind die Zwecke und Mittel dieser Verarbeitung durch das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten vorgegeben, so kann der Verantwortliche beziehungsweise können die bestimmten Kriterien seiner Benennung nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen werden; …“ 6        Art. 12 („Transparente Information, Kommunikation und Modalitäten für die Ausübung der Rechte der betroffenen Person“) DSGVO bestimmt in Abs. 1: „Der Verantwortliche trifft geeignete Maßnahmen, um der betroffenen Person alle Informationen gemäß den Artikeln 13 und 14 und alle Mitteilungen gemäß den Artikeln 15 bis 22 und Artikel 34, die sich auf die Verarbeitung beziehen, in präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache zu übermitteln; … Die Übermittlung der Informationen erfolgt schriftlich oder in anderer Form, gegebenenfalls auch elektronisch. …“ 7        Art. 14 („Informationspflicht, wenn die personenbezogenen Daten nicht bei der betroffenen Person erhoben wurden“) DSGVO bestimmt in den Abs. 1 und 2: „(1)      Werden personenbezogene Daten nicht bei der betroffenen Person erhoben, so teilt der Verantwortliche der betroffenen Person Folgendes mit: a)      den Namen und die Kontaktdaten des Verantwortlichen sowie gegebenenfalls seines Vertreters; b)      gegebenenfalls die Kontaktdaten des Datenschutzbeauftragten; c)      die Zwecke, für die die personenbezogenen Daten verarbeitet werden sollen, sowie die Rechtsgrundlage für die Verarbeitung; d)      die Kategorien personenbezogener Daten, die verarbeitet werden; e)      gegebenenfalls die Empfänger oder Kategorien von Empfängern der personenbezogenen Daten; f)      gegebenenfalls die Absicht des Verantwortlichen, die personenbezogenen Daten an einen Empfänger in einem Drittland oder einer internationalen Organisation zu übermitteln … (2)      Zusätzlich zu den Informationen gemäß Absatz 1 stellt der Verantwortliche der betroffenen Person die folgenden Informationen zur Verfügung, die erforderlich sind, um der betroffenen Person gegenüber eine faire und transparente Verarbeitung zu gewährleisten: a)      die Dauer, für die die personenbezogenen Daten gespeichert werden oder, falls dies nicht möglich ist, die Kriterien für die Festlegung dieser Dauer; b)      wenn die Verarbeitung auf Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe f beruht, die berechtigten Interessen, die von dem Verantwortlichen oder einem Dritten verfolgt werden; c)      das Bestehen eines Rechts auf Auskunft seitens des Verantwortlichen über die betreffenden personenbezogenen Daten sowie auf Berichtigung oder Löschung oder auf Einschränkung der Verarbeitung und eines Widerspruchsrechts gegen die Verarbeitung sowie des Rechts auf Datenübertragbarkeit; d)      wenn die Verarbeitung auf Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe a oder Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a beruht, das Bestehen eines Rechts, die Einwilligung jederzeit zu widerrufen, ohne dass die Rechtmäßigkeit der aufgrund der Einwilligung bis zum Widerruf erfolgten Verarbeitung berührt wird; e)      das Bestehen eines Beschwerderechts bei einer Aufsichtsbehörde; f)      aus welcher Quelle die personenbezogenen Daten stammen und gegebenenfalls ob sie aus öffentlich zugänglichen Quellen stammen; g)      das Bestehen einer automatisierten Entscheidungsfindung …“ 8        Art. 21 („Widerspruchsrecht“) DSGVO bestimmt in Abs. 1: „Die betroffene Person hat das Recht, aus Gründen, die sich aus ihrer besonderen Situation ergeben, jederzeit gegen die Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten, die aufgrund von Artikel 6 Absatz 1 Buchstaben e oder f erfolgt, Widerspruch einzulegen; dies gilt auch für ein auf diese Bestimmungen gestütztes Profiling. Der Verantwortliche verarbeitet die personenbezogenen Daten nicht mehr, es sei denn, er kann zwingende schutzwürdige Gründe für die Verarbeitung nachweisen, die die Interessen, Rechte und Freiheiten der betroffenen Person überwiegen, oder die Verarbeitung dient der Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung von Rechtsansprüchen.“ 9        Art. 32 („Sicherheit der Verarbeitung“) DSGVO bestimmt in Abs. 1: „Unter Berücksichtigung des Stands der Technik, der Implementierungskosten und der Art, des Umfangs, der Umstände und der Zwecke der Verarbeitung sowie der unterschiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere des Risikos für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen treffen der Verantwortliche und der Auftragsverarbeiter geeignete technische und organisatorische Maßnahmen, um ein dem Risiko angemessenes Schutzniveau zu gewährleisten; 1 diese Maßnahmen schließen gegebenenfalls unter anderem Folgendes ein: … b)      die Fähigkeit, die Vertraulichkeit, Integrität, Verfügbarkeit und Belastbarkeit der Systeme und Dienste im Zusammenhang mit der Verarbeitung auf Dauer sicherzustellen; …“ 10      Art. 33 („Meldung von Verletzungen des Schutzes personenbezogener Daten an die Aufsichtsbehörde“) DSGVO bestimmt in den Abs. 1 und 3: „(1)      Im Falle einer Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten meldet der Verantwortliche unverzüglich und möglichst binnen 72 Stunden, nachdem ihm die Verletzung bekannt wurde, diese der gemäß Artikel 55 zuständigen Aufsichtsbehörde, es sei denn, dass die Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten voraussichtlich nicht zu einem Risiko für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen führt. Erfolgt die Meldung an die Aufsichtsbehörde nicht binnen 72 Stunden, so ist ihr eine Begründung für die Verzögerung beizufügen. … (3)      Die Meldung gemäß Absatz 1 enthält zumindest folgende Informationen: … d)      eine Beschreibung der von dem Verantwortlichen ergriffenen oder vorgeschlagenen Maßnahmen zur Behebung der Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten und gegebenenfalls Maßnahmen zur Abmilderung ihrer möglichen nachteiligen Auswirkungen.“ 11      Kapitel VI („Unabhängige Aufsichtsbehörden“) der DSGVO enthält die Art. 51 bis 59. 12      Art. 51 („Aufsichtsbehörde“) DSGVO bestimmt: „(1)      Jeder Mitgliedstaat sieht vor, dass eine oder mehrere unabhängige Behörden für die Überwachung der Anwendung dieser Verordnung zuständig sind, damit die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung geschützt werden und der freie Verkehr personenbezogener Daten in der Union erleichtert wird (im Folgenden ‚Aufsichtsbehörde‘). … (3)      Gibt es in einem Mitgliedstaat mehr als eine Aufsichtsbehörde, so bestimmt dieser Mitgliedstaat die Aufsichtsbehörde, die diese Behörden im [Europäischen Datenschutzausschuss] vertritt, und führt ein Verfahren ein, mit dem sichergestellt wird, dass die anderen Behörden die Regeln für das Kohärenzverfahren nach Artikel 63 einhalten. (4)      Jeder Mitgliedstaat teilt der Kommission bis spätestens 25. Mai 2018 die Rechtsvorschriften, die er aufgrund dieses Kapitels erlässt, sowie unverzüglich alle folgenden Änderungen dieser Vorschriften mit.“ 13      Art. 55 („Zuständigkeit“) DSGVO bestimmt: „(1)      Jede Aufsichtsbehörde ist für die Erfüllung der Aufgaben und die Ausübung der Befugnisse, die ihr mit dieser Verordnung übertragen wurden, im Hoheitsgebiet ihres eigenen Mitgliedstaats zuständig. (2)      Erfolgt die Verarbeitung durch Behörden oder private Stellen auf der Grundlage von Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe c oder e, so ist die Aufsichtsbehörde des betroffenen Mitgliedstaats zuständig. In diesem Fall findet Artikel 56 keine Anwendung. (3)      Die Aufsichtsbehörden sind nicht zuständig für die Aufsicht über die von Gerichten im Rahmen ihrer justiziellen Tätigkeit vorgenommenen Verarbeitungen.“ 14      Art. 57 („Aufgaben“) DSGVO bestimmt in Abs. 1: „Unbeschadet anderer in dieser Verordnung dargelegter Aufgaben muss jede Aufsichtsbehörde in ihrem Hoheitsgebiet a)      die Anwendung dieser Verordnung überwachen und durchsetzen; … h)      Untersuchungen über die Anwendung dieser Verordnung durchführen, auch auf der Grundlage von Informationen einer anderen Aufsichtsbehörde oder einer anderen Behörde; …“ 15      In Art. 58 („Befugnisse“) DSGVO sind die Untersuchungsbefugnisse (Abs. 1) und die Abhilfebefugnisse (Abs. 2) genannt, über die jede Aufsichtsbehörde verfügt. 16      Kapitel VIII („Rechtsbehelfe, Haftung und Sanktionen“) der DSGVO enthält die Art. 77 bis 84. 17      Art. 77 („Recht auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde“) DSGVO bestimmt in Abs. 1: „Jede betroffene Person hat unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde, 1 insbesondere in dem Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthaltsorts, ihres Arbeitsplatzes oder des Orts des mutmaßlichen Verstoßes, wenn die betroffene Person der Ansicht ist, dass die Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten gegen diese Verordnung verstößt.“ 18      Art. 78 („Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen eine Aufsichtsbehörde“) DSGVO bestimmt in Abs. 1: „Jede natürliche oder juristische Person hat unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen einen sie betreffenden rechtsverbindlichen Beschluss einer Aufsichtsbehörde.“ 19      Art. 79 („Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter“) DSGVO bestimmt in Abs. 1: „Jede betroffene Person hat unbeschadet eines verfügbaren verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs einschließlich des Rechts auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde gemäß Artikel 77 das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf, wenn sie der Ansicht ist, dass die ihr aufgrund dieser Verordnung zustehenden Rechte infolge einer nicht im Einklang mit dieser Verordnung stehenden Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verletzt wurden.“ Bulgarisches Recht Bulgarische Verfassung 20      Art. 117 Abs. 2 der Konstitutsia na Republika Bulgaria (Verfassung der Republik Bulgarien) in der auf die Sachverhalte der Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgendem: bulgarische Verfassung) bestimmt: „Die rechtsprechende Gewalt ist unabhängig. Richter, Schöffen, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger sind bei der Ausübung ihres Amtes nur dem Gesetz unterworfen.“ 21      Art. 132a der bulgarischen Verfassung in der zum Zeitpunkt der Einreichung der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen geltenden Fassung bestimmt: „(1)      Beim Obersten Justizrat wird eine Aufsichtsbehörde eingerichtet, die mit einem Generalsinspektor und zehn Inspektoren besetzt ist. (2)      Der Generalinspektor wird von der Nationalversammlung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten für fünf Jahre gewählt. (3)      Die Inspektoren werden von der Nationalversammlung nach den in Abs. 2 genannten Modalitäten für vier Jahre gewählt. (4)      Der Generalinspekteur und die Inspektoren können wiedergewählt werden, jedoch nicht für zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten. … (6)      Die Aufsichtsbehörde überwacht die Tätigkeiten der rechtsprechenden Gewalt, ohne dass dabei die Unabhängigkeit, über die die Richter, Schöffen, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger bei der Ausübung ihres Amtes verfügen, beeinträchtigt wird. Die Aufsichtsbehörde führt Untersuchungen über die Integrität und die Interessenkonflikte der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger, über deren Erklärungen über ihre Vermögensverhältnisse und zur Aufdeckung von Handlungen, die dem Ansehen der Justiz schaden oder mit denen die Unabhängigkeit der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger beeinträchtigt wird, durch. Der Generalinspekteur und die Inspektoren sind bei der Ausübung ihres Amtes unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. (7)      Die Aufsichtsbehörde wird auf Betreiben von Bürgern, juristischen Personen oder Behörden, einschließlich Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern, von Amts wegen tätig. … (10)      Die Bedingungen und Modalitäten der Wahl und der Abberufung des Generalinspekteurs und der Inspektoren und die Organisation und die Arbeitsweise der Aufsichtsbehörde werden durch ein Gesetz geregelt.“ ZSV 22      Art. 46 des Zakon za sadebnata vlast (Gerichtsverfassungsgesetz) (DV Nr. 64 vom 7. August 2007) in der auf die Sachverhalte der Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZSV) bestimmt: „Die Nationalversammlung wählt den Generalinspekteur und die Inspektoren jeweils einzeln mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten.“ 23      Art. 54 ZSV bestimmt in den Abs. 1 und 2: „(1)      Die Aufsichtsbehörde … 2.      überwacht die Organisation der Einleitung und des Ablaufs der Gerichtsverfahren, der Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft und der Untersuchungen und die fristgerechte Erledigung der Rechtssachen; … 6.      schlägt Disziplinarmaßnahmen gegen Richter, Staatsanwälte, Strafrechtspfleger und Verwaltungsbedienstete der Justiz vor; 7.      weist andere Behörden, einschließlich der Behörden der Justiz, auf Missstände hin, macht ihnen gegenüber Vorschläge und erstellt für sie Berichte. 8.      führt Untersuchungen über die Integrität und die Interessenkonflikte der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger, über deren Erklärungen über ihre Vermögensverhältnisse und zur Aufdeckung von Handlungen, die dem Ansehen der Justiz schaden oder mit denen die Unabhängigkeit der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger beeinträchtigt wird, durch; … 15.      überwacht in den in Art. 17 Abs. 1 des Gesetzes über den Schutz personenbezogener Daten genannten Fällen die Verarbeitung personenbezogener Daten. (2)      Bei der Überwachung der Verarbeitung personenbezogener Daten gemäß Abs. 1 Nr. 15 nimmt die Aufsichtsbehörde die Aufgaben wahr und übt die Befugnisse aus, die in dem Gesetz über den Schutz personenbezogener Daten vorgesehen sind.“ 24      Art. 175a ZSV bestimmt in Abs. 1: „Die Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger geben gegenüber der [Aufsichtsbehörde] folgende Erklärungen ab: 1.      eine Erklärung in zwei Teilen betreffend die Vermögensverhältnisse und die Interessen des Erklärenden; 2.      eine Erklärung über eine Änderung der in der Erklärung gemäß Abs. 1 in dem Abschnitt über die in Art. 175b Abs. 1 Nrn. 11 bis 13 genannten Interessen angegebenen Umstände betreffend die Herkunft der Gelder bei vorzeitiger Rückzahlung von Schulden und Darlehen.“ 25      Art. 175b Abs. 4 ZSV bestimmt: „Die Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger geben eine Erklärung über die Vermögens- und Einkommensverhältnisse ihres Ehe- oder Lebenspartners und ihrer minderjährigen Kinder ab.“ 26      Art. 175d ZSV bestimmt: „(1)      Die [Aufsichtsbehörde] führt und speichert elektronische öffentliche Register, in die eingetragen werden: 1.      Erklärungen gemäß Art. 175a Abs. 1 Nrn. 1 und 2; 2.      rechtskräftige Entscheidungen über verwaltungsrechtliche Sanktionen. (2)      Die [Aufsichtsbehörde] trägt in das Register gemäß Abs. 1 Nr. 1 die Erklärungen über die Vermögensverhältnisse und Interessen und die Erklärung über eine Änderung der angegebenen Umstände ein. Die Eintragung wird ausschließlich von vom Generalsinspektor hierzu ermächtigten Bediensteten vorgenommen. … (4)      Jeder hat das Recht auf Auskunft aus dem öffentlichen Register. (5)      Die Auskunft wird unter Berücksichtigung der Anforderungen des Schutzes personenbezogener Daten über die Website der [Aufsichtsbehörde] erteilt.“ 27      Art. 175e ZSV bestimmt in den Abs. 1 und 6: „(1)      Die [Aufsichtsbehörde] prüft innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Frist zur Einreichung der Erklärung, ob die Angaben richtig sind. … … (6)      Die [Aufsichtsbehörde] kann Auskünfte aus den in den Art. 56 und 56a des Gesetzes über Kreditinstitute genannten Informationssystemen erlangen. Der Generalinspekteur und die Inspektoren der [Aufsichtsbehörde] können beim Rayonen sad [(Rayongericht)] des Bezirks, in dem die betreffende Person ihren Wohnsitz hat, die Aufhebung des Bankgeheimnisses beantragen, wenn keine Einwilligung gemäß Art. 62 Abs. 5 Nr. 1 des Gesetzes über die Kreditinstitute erteilt wurde. Die Einwilligung wird gegenüber der [Aufsichtsbehörde] schriftlich auf einem vom Generalinspekteur genehmigten Vordruck ohne notarielle Beglaubigung der Unterschrift erteilt.“ 28      Art. 307 Abs. 2 ZSV bestimmt: „Ein Dienstvergehen stellt einen schuldhaften Verstoß gegen die Dienstpflichten dar und schadet dem Ansehen der Justiz.“ 29      Art. 311 ZSV bestimmt: „Die Disziplinarmaßnahme wird verhängt 1.      bei der Disziplinarmaßnahme gemäß Art. 308 Abs. 1 Nr. 1 durch den Verantwortlichen der Verwaltung; 2.      bei den Disziplinarmaßnahmen gemäß Art. 308 Abs. 1 Nrn. 2, 3, 4 und 6 durch die betreffende Kammer des Obersten Justizrats (Kammer der Richter, Staatsanwälte oder Strafrechtspfleger); … 4.      bei den Disziplinarmaßnahmen gemäß Art. 308 Abs. 2, die gegen ein gewähltes Mitglied des Obersten Justizrats verhängt werden, durch das Plenum des Obersten Justizrat.“ 30      Art. 312 Abs. 1 ZSV bestimmt: „Die Einleitung eines Disziplinarverfahrens zwecks Verhängung einer Disziplinarmaßnahme gegen einen Richter, einen Staatsanwalt, einen Strafrechtspfleger, einen Bediensteten der Verwaltung oder einen beigeordneten Bediensteten der Verwaltung kann vorgeschlagen werden durch … 3.      die [Aufsichtsbehörde]; …“ 31      Art. 323 Abs. 1 ZSV bestimmt: „Die Entscheidung des Plenums oder der betreffenden Kammer des Obersten Justizrats kann von der Person, gegen die die Disziplinarmaßnahme verhängt ist, oder, wenn keine Disziplinarmaßnahme verhängt wurde oder eine weniger schwere als die vorgeschlagene, von der Person, die die Einleitung des Disziplinarverfahrens vorgeschlagen hat, beim Varhoven administrativen sad [(Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien)] innerhalb von 14 Tagen nach ihrer Mitteilung oder Zustellung angefochten werden.“ ZKI 32      Art. 62 des Zakon za kreditnite institutsii (Gesetz über die Kreditinstitute) (DV Nr. 59 vom 21. Juli 2006) in der auf die Sachverhalte der Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZKI) bestimmt: „(1)      Beschäftigte und Mitglieder von Geschäftsleitungsorganen und Kontrollgremien von Banken, Bedienstete der [Bulgarischen Nationalbank (BNB)], Beschäftigte und Mitglieder des Verwaltungsrats des Einlagensicherungsfonds, Liquidatoren, vorübergehende Geschäftsführer und Insolvenzverwalter sowie andere Personen, die für eine Bank tätig sind, dürfen Informationen, die unter das Bankgeheimnis fallen, nicht verbreiten oder zum eigenen Nutzen oder zum Nutzen von Familienangehörigen verwenden. (2)      Unter das Bankgeheimnis fallen die den Saldo und die Umsätze der Konten und Einlagen der Kunden betreffenden Tatsachen und Umstände. … (5)      Außer an die BNB für die Zwecke und unter den Voraussetzungen von Art. 56 darf die Bank die in Abs. 2 genannten Informationen über bestimmte Kunden nur erteilen, 1.      mit Einwilligung des Kunden, 2.      aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung gemäß den Abs. 6 und 7, 3.      aufgrund einer gerichtlichen Anordnung, wenn dies in einer Rechtssache, die bei dem betreffenden Gericht anhängig ist, zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlich ist, 4.      in den in Abs. 12 genannten Fällen, wenn eine Bank Gegenstand eines Insolvenzverfahrens ist, oder 5.      bei einem internationalen Schiedsverfahren, an dem die Republik Bulgarien beteiligt ist. (6)      Das Gericht kann die Offenlegung der Informationen gemäß Abs. 2 auch anordnen auf Antrag … 12.      des Generalinspekteurs oder eines Inspektors der [Aufsichtsbehörde]. (7)      Der Rayonen sad ([Rayongericht]) entscheidet über den Antrag gemäß Abs. 6 in der Besetzung als Kammer durch begründete Entscheidung innerhalb von 24 Stunden nach Eingang des Antrags, wobei der Zeitraum angegeben wird, auf den sich die in Abs. 1 genannten Informationen beziehen. Die Entscheidung des Gerichts ist unanfechtbar. …“ ZZLD 33      Art. 6 Abs. 1 des Zakon za zashtita na lichnite danni (Gesetz über den Schutz personenbezogener Daten) (DV Nr. 1 vom 4. Januar 2002) in der auf die Sachverhalte der Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZZLD) bestimmt in Abs. 1: „Die Komisia za zashtita na lichnite danni [(Datenschutzkommission, Bulgarien) (im Folgenden: KZLD)] ist eine auf Dauer eingerichtete, unabhängige Aufsichtsbehörde, die den Schutz der Personen bei der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten und beim Zugang zu diesen Daten und die Überwachung der Einhaltung der [DSGVO] und dieses Gesetzes gewährleistet.“ 34      Art. 17 KZLD bestimmt in den Abs. 1 und 2: „(1)      Die [Aufsichtsbehörde] überwacht und kontrolliert die Einhaltung der [DSGVO], dieses Gesetzes und der Handlungen im Bereich des Schutzes personenbezogener Daten, wenn diese verarbeitet werden von 1.      dem Gericht in Ausübung seiner Aufgaben als Organ der rechtsprechenden Gewalt oder 2.      der Staatsanwaltschaft und den Ermittlungsbehörden in Ausübung ihrer Aufgaben als Organe der rechtsprechenden Gewalt zum Zweck der Verhütung, Aufdeckung, Ermittlung und Verfolgung von Straftaten oder zum Zweck des Vollzugs von Strafen. (2)      Die Modalitäten der Durchführung der in Abs. 1 genannten Tätigkeit, insbesondere die Durchführung von Kontrollen und die Prüfung der Verfahren vor der Aufsichtsbehörde, werden in der in Art. 5 Abs. 8 [ZSV] genannten Verordnung festgelegt.“ 35      Art. 17a Abs. 1 ZZLD bestimmt: „Die Aufsichtsbehörde, wenn sie die Verarbeitung personenbezogener Daten durch ein Gericht in Ausübung seiner Aufgaben als Organ der rechtsprechenden Gewalt überwacht, außer in den Fällen der Verarbeitung personenbezogener Daten gemäß Art. 42 Abs. 1, 1.      nimmt die Aufgaben gemäß Art. 57 Abs. 1 Buchst. a bis i, l, u und v und Abs. 2 und 3 der [DSGVO] wahr; 2.      übt die Befugnisse gemäß Art. 58 Abs. 1 Buchst. a, b, d, e und f, Abs. 2 Buchst. a bis g, i und j und Abs. 3 Buchst. a, b und c [DSGVO] aus; 3.      wendet die Liste an, die die [KZLD] gemäß Art. 35 Abs. 4 der [DSGVO] in Verbindung mit dem Erfordernis einer Datenschutz-Folgenabschätzung erstellt hat; 4.      erhebt bei Verletzung der [DSGVO] Klage.“ 36      Art. 39 ZZLD bestimmt: „(1)      Bei einer Verletzung ihrer Rechte aus der [DSGVO] und diesem Gesetz kann die betroffene Person die Rechtsakte und Handlungen des Verantwortlichen und des Auftragsverarbeiters nach dem in dem Gesetzbuch über das Verwaltungsverfahren vorgesehenen Verfahren vor Gericht anfechten. … (4)      Die betroffene Person kann keine Klage erheben, wenn wegen desselben Verstoßes ein Verfahren bei der [KZLD] anhängig ist oder gegen eine Entscheidung der [KZLD], die denselben Verstoß betrifft, Klage erhoben worden ist und es keine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung gibt. Auf Antrag der betroffenen Person oder des Gerichts bestätigt die [KZLD], dass bei ihr in derselben Sache kein Verfahren anhängig ist. (5)      Abs. 4 gilt auch für Verfahren, die bei der Aufsichtsbehörde anhängig sind.“ Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 37      Nach Ablauf der Frist gemäß Art. 175a und 175b ZSV für die Abgabe der jährlichen Erklärung über die Vermögensverhältnisse der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger und ihrer Familienangehörigen für das Jahr 2022 beantragte die Aufsichtsbehörde am 15. Mai 2023 beim Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, gemäß Art. 62 Abs. 6 Nr. 12 ZKI, bezüglich der Bankkonten mehrerer Richter, Staatsanwälte bzw. Strafrechtspfleger und ihrer Familienangehörigen das Bankgeheimnis aufzuheben. 38      Das vorlegende Gericht weist als Erstes darauf hin, dass es zu prüfen habe, ob die Aufsichtsbehörde für die Einreichung eines solchen Antrags überhaupt zuständig sei. Die Aufsichtsbehörde, die durch eine Änderung der bulgarischen Verfassung von 2007 geschaffen worden sei, habe die Aufgabe, in Fällen einer unzulässigen Einflussnahme auf Richter, Staatsanwälte oder Strafrechtspfleger zu ermitteln, deren Erklärungen über die Vermögensverhältnisse zu überprüfen und etwaige Interessenkonflikte und Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz aufzudecken. 39      Die Aufsichtsbehörde bestehe aus einem Generalinspekteur und zehn Inspektoren, die von der Nationalversammlung für fünf bzw. vier Jahre gewählt würden. Bei sämtlichen Mitgliedern der Aufsichtsbehörde sei die Amtszeit aber im Laufe des Jahres 2020 abgelaufen, ohne dass die Nationalversammlung neue Mitglieder gewählt habe. 40      Zwar habe der Konstitutsionen sad (Verfassungsgericht, Bulgarien) mit einem Urteil vom 27. September 2022 entschieden, dass die bulgarische Verfassung dahin auszulegen sei, dass der Generalinspekteur und die Inspektoren, deren Amtszeit abgelaufen sei, ihre Amtsgeschäfte fortführen dürften, bis die Nationalversammlung neue Mitglieder der Aufsichtsbehörde gewählt habe, weil die Erfüllung der Aufgaben der Aufsichtsbehörde wichtiger sei als die Gefahr, dass deren Mitglieder, deren Amtszeit abgelaufen sei, ihre Befugnisse missbrauchten. Das Verfassungsgericht sei in diesem Urteil jedoch nicht auf die Frage eingegangen, ob die Mitglieder der Aufsichtsbehörde, die ihre Amtsgeschäfte nach Ablauf ihrer Amtszeit fortführten, einen unzulässigen Einfluss auf die rechtsprechende Gewalt ausüben oder selbst Druck seitens der Abgeordneten ausgesetzt sein könnten. 41      Das vorlegende Gericht fragt sich deshalb, ob das Unionsrecht strengere Anforderungen stellt als die bulgarische Verfassung, wie sie vom Konstitutsionen sad (Verfassungsgericht, Bulgarien) ausgelegt worden sei. Im Hinblick auf das Urteil des Gerichtshofs vom 11. Mai 2023, Inspecția Judiciară (C‑817/21, EU:C:2023:391, Rn. 50 und 51), fragt es sich insbesondere, ob eine Verlängerung der Amtszeit der Mitglieder der Aufsichtsbehörde die Garantien für die Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörde als Behörde, die befugt sei, Disziplinarverfahren gegen Richter, Staatsanwälte oder Strafrechtspfleger vorzuschlagen, beeinträchtigen kann und, wenn Ja, anhand welcher Kriterien beurteilt werden kann, ob und für welche Dauer die Verlängerung der Amtszeit zulässig ist. 42      Als Zweites fragt sich das vorlegende Gericht, welche Rolle und welche Pflichten die nationalen Gerichte haben, wenn sie den Zugang der Aufsichtsbehörde zu den personenbezogenen Daten der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger zu genehmigen haben. 43      Im Laufe des Jahres 2019 habe in den bulgarischen Medien ein schwerwiegendes Problem betreffend die Sicherheit der Daten der Aufsichtsbehörde für Aufsehen gesorgt. Die KZLD habe nämlich festgestellt, dass die personenbezogenen Daten von rund 20 Richtern und Staatsanwälten, die bei der Aufsichtsbehörde gespeichert gewesen seien, rechtswidrig in vollem Umfang auf der Website der Aufsichtsbehörde veröffentlicht worden seien, und habe deshalb gegen die Aufsichtsbehörde eine Geldbuße verhängt. Es lägen ihm, dem vorlegenden Gericht, aber keinerlei Information darüber vor, ob seit diesem Vorfall Maßnahmen ergriffen worden seien, um die Datensicherheit zu gewährleisten. 44      Das vorlegende Gericht fragt sich, ob seine Tätigkeit, die darin bestehe, den Zugang der Aufsichtsbehörde zu personenbezogenen Daten, die unter das Bankgeheimnis fielen, zu genehmigen, in den Anwendungsbereich der DSGVO falle und, wenn Ja, was dies für die von ihm vorzunehmende Kontrolle bedeute. Die DSGVO sehe Verpflichtungen für die Personen, die personenbezogene Daten verarbeiteten, die Verantwortlichen und die Aufsichtsbehörden vor. 45      Hingegen seien die Pflichten eines Gerichts, das den Zugang einer Behörde zu solchen Daten genehmige, in der DSGVO nicht unmittelbar geregelt. Es sei daher zu klären, ob ein solches Gericht als „Verantwortlicher“ im Sinne von Art. 4 Nr. 7 DSGVO oder „Aufsichtsbehörde“ im Sinne von Art. 51 DSGVO anzusehen sei, da es der Aufsichtsbehörde eine Genehmigung erteile, ohne die der Zugang zu den betreffenden Daten nicht erfolgen könne. Die Aufsichtsbehörde erhebe und überprüfe Daten betreffend die Vermögensverhältnisse der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger für die in den Art. 175a und 175d ZSV genannten Zwecke, während die Gerichte diese Tätigkeit kontrollierten, indem sie den Zugang zu den betreffenden Daten gewährten oder verweigerten. 46      Seine Kontrolle habe nach der herrschenden Auslegung des nationalen Rechts in Bulgarien rein formal zu sein und sich auf die Prüfung der Frage zu beschränken, ob die Personen, in Bezug auf die die Aufhebung des Bankgeheimnisses beantragt werde, gemäß dem ZSV erklärungspflichtig seien, es sich bei ihnen also um Richter, Staatsanwälte oder Strafrechtspfleger oder Personen handele, die zu diesen in einer Verwandtschaftsbeziehung oder in einer anderen Beziehungen gemäß dem nationalen Recht stünden. Grundsätzlich gelte, dass die Gerichte die Aufhebung des Bankgeheimnisses, wenn diese Voraussetzungen erfüllt seien, stets gewähren müssten. Dies wäre hingegen nicht der Fall, wenn die Gerichte, die die vorherige Kontrolle durchführten, bei den personenbezogenen Daten, zu denen sie Zugang gewährten, als Verantwortliche anzusehen wären, so dass sie nach den Art. 32 bis 34 DSGVO deren Sicherheit zu gewährleisten hätten. 47      Die Gerichte hätten zwar keinen unmittelbaren Zugang zu den personenbezogenen Daten, die unter das Bankgeheimnis fielen, entschieden, indem sie den Zugang zu den Daten genehmigten oder verböten, aber in gewisser Weise über die Zwecke der Verarbeitung. Im Übrigen sei in den nationalen Bestimmungen, die in den Ausgangsverfahren anwendbar seien, nicht bestimmt, welche Behörde die Rechte und Pflichten eines Verantwortlichen habe, wenn die Zwecke der Verarbeitung personenbezogener Daten gesetzlich vorgegeben seien. 48      Außerdem fragt sich das vorlegende Gericht, ob es, bevor es den Zugang zu den Daten genehmige, um nicht lediglich als bloße Registrierungsstelle zu fungieren, prüfen könne, ob die Aufsichtsbehörde Maßnahmen getroffen habe, um eine den gesetzlichen Anforderungen entsprechende Verarbeitung der Daten zu gewährleisten. 49      Auch wenn das Gericht, das den Zugang der Aufsichtsbehörde zu den personenbezogenen Daten, die dem Bankgeheimnis unterlägen, zu genehmigen habe, nicht Verantwortlicher oder Aufsichtsbehörde sein sollte, stelle sich die Frage, ob es solche Kontrollen vornehmen müsse, um den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gemäß Art. 79 DSGVO zu gewährleisten. In dieser Bestimmung sei zwar der Fall geregelt, dass die betroffene Person Klage erhebe, um ihre Rechte zu schützen. Erfolge das Verfahren über die Offenlegung der Daten ohne Beteiligung der betroffenen Person und sehe das nationale Recht eine vorherige gerichtliche Kontrolle vor, müsse eine vergleichbare Verpflichtung aber von Amts wegen gelten. Dies ergebe sich auch aus dem Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, wie es in Art. 47 der Charta verbürgt sei. Ohne eine solche Verpflichtung würde sich das Gericht stets auf eine rein formale Prüfung und auf eine Bestätigung der Handlung der Verwaltung beschränken, was den Zielen von Art. 79 DSGVO zuwiderlaufen könnte. 50      Der Sofiyski rayonen sad (Rayongericht Sofia, Bulgarien) hat deshalb beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in den Rechtssachen C‑313/23, C‑316/23 und C‑332/23 gleichlautende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1.      Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass es an sich oder unter bestimmten Voraussetzungen eine Verletzung der Pflicht der Mitgliedstaaten, wirksame Rechtsbehelfe für eine unabhängige gerichtliche Überprüfung zu gewährleisten, darstellt, wenn die Funktionen einer Behörde, die Disziplinarstrafen gegen Richter verhängen kann und Befugnisse zur Erhebung von Daten in Bezug auf deren Vermögen hat, nach dem Ende der in der Verfassung festgelegten Amtszeit dieser Stelle auf unbestimmte Zeit verlängert werden? Wenn eine derartige Verlängerung dieser Befugnisse zulässig ist, dann unter welchen Voraussetzungen? 2.      Ist Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO dahin auszulegen, dass es sich bei der Offenlegung des Bankgeheimnisses zum Zweck der Überprüfung des Vermögens von Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern, welches anschließend öffentlich gemacht wird, um eine Tätigkeit handelt, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt? Ist die Antwort eine andere, wenn diese Tätigkeit auch die Offenlegung von Daten der Familienangehörigen von Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern umfasst, die selbst keine Richter, Staatsanwälte oder Strafrechtspfleger sind? 3.      Ist – falls Frage 2 dahin beantwortet wird, dass das Unionsrecht zur Anwendung kommt – Art. 4 Nr. 7 DSGVO dahin auszulegen, dass eine Gerichtsbehörde, die einer anderen staatlichen Behörde den Zugang zu Daten über die Kontoguthaben von Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern und deren Familienangehörigen gestattet, über die Zwecke oder Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet und deshalb „Verantwortlicher“ für die Verarbeitung von personenbezogenen Daten ist? 4.      Ist – falls Frage 2 dahin beantwortet wird, dass das Unionsrecht zur Anwendung kommt, und Frage 3 verneint wird – Art. 51 DSGVO dahin auszulegen, dass eine Gerichtsbehörde, die einer anderen staatlichen Behörde den Zugang zu Daten über die Kontoguthaben von Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern und deren Familienangehörigen gestattet, für die Überwachung der Anwendung der DSGVO verantwortlich ist und deshalb als „Aufsichtsbehörde“ in Bezug auf diese Daten zu qualifizieren ist? 5.      Ist – falls Frage 2 dahin beantwortet wird, dass das Unionsrecht zur Anwendung kommt, und Frage 3 oder 4 bejaht wird – Art. 32 Abs. 1 Buchst. b DSGVO bzw. Art. 57 Abs. 1 Buchst. a DSGVO dahin auszulegen, dass eine Gerichtsbehörde, die einer anderen staatlichen Behörde den Zugang zu Daten über die Kontoguthaben von Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern und deren Familienangehörigen gestattet, verpflichtet ist, wenn Angaben über eine von der Behörde, der dieser Zugang gewährt werden soll, in der Vergangenheit begangene Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten vorliegen, Informationen über die für den Schutz der Daten getroffenen Maßnahmen einzuholen und bei seiner Entscheidung über die Gestattung des Zugangs die Angemessenheit dieser Maßnahmen zu berücksichtigen? 6.      Ist – falls Frage 2 dahin beantwortet wird, dass das Unionsrecht zur Anwendung kommt, und unabhängig von den Antworten auf die Fragen 3 und 4 – Art. 79 Abs. 1 DSGVO in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass, wenn das nationale Recht eines Mitgliedstaats vorsieht, dass bestimmte Kategorien von Daten nur nach einer Gestattung durch ein Gericht offengelegt werden können, das hierfür zuständige Gericht den Personen, deren Daten offengelegt werden, von Amts wegen Rechtsschutz gewähren muss, indem es die Behörde, die den Zugang zu den Daten beantragt hat und von der allgemein bekannt ist, dass sie in der Vergangenheit Verletzungen des Schutzes personenbezogener Daten begangen hat, verpflichtet, Informationen zu den gemäß Art. 33 Abs. 3 Buchst. d DSGVO getroffenen Maßnahmen und deren wirksamer Anwendung zur Verfügung zu stellen? Verfahren vor dem Gerichtshof Zur Verbindung 51      Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 30. Juni 2023 sind die Rechtssachen C‑313/23, C‑316/23 und C‑332/23 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden. Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens 52      Mit Schriftsatz, der am 30. Oktober 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die Aufsichtsbehörde gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt, die Wiedereröffnung des schriftlichen Verfahrens zu beschließen. Da in Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens geregelt ist und das mündliche Verfahren im vorliegenden Fall nach der Stellung der Schlussanträge des Generalanwalts geschlossen worden ist, ist der Antrag dahin zu verstehen, dass die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens begehrt wird. 53      Die Aufsichtsbehörde begründet ihren Antrag mit zwei Aspekten, die beide Frage 1 betreffen. Erstens sei eine neue Tatsache eingetreten. Art. 132a Abs. 4 der bulgarischen Verfassung sei im Dezember 2023 dahin geändert worden, dass die Mitglieder der Aufsichtsbehörde nunmehr für zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten gewählt werden könnten. Zweitens habe der Generalanwalt den Sachverhalt, um den es in den Ausgangsverfahren gehe, in seinen Schlussanträgen nicht richtig gewürdigt. Es sei dort von einer nationalen Regelung und einer Stellungnahme der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (sogenannte Venedig-Kommission) die Rede, die für die vorliegenden Rechtssachen nicht relevant seien. 54      Es ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen. Zum anderen stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass ein Beteiligter nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 19. Dezember 2024, Ford Italia, C‑157/23, EU:C:2024:1045, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55      Zwar kann der Gerichtshof nach Art. 83 der Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Eröffnung oder Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist. 56      Im vorliegenden Fall verfügt der Gerichtshof aber über sämtliche Angaben, um über die Vorabentscheidungsersuchen entscheiden zu können, und es ist kein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich. In dem Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens wird auch keine neue Tatsache genannt, die von entscheidender Bedeutung für die vom Gerichtshof in den vorliegenden Rechtssachen zu erlassende Entscheidung sein könnte. 57      Nach Anhörung des Generalanwaltes hält der Gerichtshof es daher nicht für angebracht, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen. Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen 58      Die bulgarische Regierung hat Zweifel an der Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen. Sie meint, die Einrichtung, die die Vorabentscheidungsersuchen eingereicht habe, fungiere in den Ausgangsverfahren nicht als Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV. Zum einen seien die Verfahren vor dieser Einrichtung nicht kontradiktorisch. Sie würden ohne Beteiligung der betroffenen Personen durchgeführt. Zum anderen dienten sie nicht der Entscheidung eines Rechtsstreits. Es werde lediglich überprüft, ob die Voraussetzungen für die Aufhebung des Bankgeheimnisses erfüllt seien. 59      Bei der Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt, stellt der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung auf eine Reihe von Merkmalen ab, zu denen u. a. die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit gehören (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. März 2022, Getin Noble Bank, C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 66, und vom 7. Mai 2024, NADA u. a., C‑115/22, EU:C:2024:384, Rn. 35 die dort angeführte Rechtsprechung). 60      Es entspricht ebenfalls ständiger Rechtsprechung, dass die Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV nicht voraussetzt, dass es sich bei dem Verfahren, in dem das nationale Gericht eine Vorlagefrage stellt, um ein kontradiktorisches Verfahren handelt. Die nationalen Gerichte können den Gerichtshof aber nur anrufen, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt. Die Vorlageberechtigung einer Einrichtung ist also sowohl anhand struktureller als auch anhand funktioneller Kriterien zu prüfen. Eine nationale Einrichtung kann, wenn sie gerichtliche Funktionen ausübt, als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV qualifiziert werden, während dies bei Ausführung anderer Aufgaben, insbesondere administrativer Art, nicht möglich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Mai 2022, CityRail, C‑453/20, EU:C:2022:341, Rn. 42 und 43 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 61      Es ist unstreitig, dass das vorlegende Gericht als solches die oben in Rn. 59 genannten Anforderungen an die gesetzliche Grundlage, den ständigen Charakter, die Anwendung von Rechtsnormen und die Unabhängigkeit erfüllt. Die Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, enthalten keine gegenteiligen Anhaltspunkte. Fraglich ist nach Auffassung der bulgarischen Regierung, ob das vorlegende Gericht im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden hat, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt. Insoweit ist festzustellen, dass vorlegende Gericht über einen Antrag der Aufsichtsbehörde auf Aufhebung des Bankgeheimnisses gemäß Art. 62 Abs. 6 Nr. 12 ZKI zu entscheiden hat. Auch wenn die bulgarische Regierung geltend macht, dass die Prüfung, die das vorlegende Gericht vorzunehmen habe, rein formaler Natur sei, hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufhebung des Bankgeheimnisses erfüllt sind, mit einer begründeten Entscheidung zu entscheiden und den Zeitraum festzulegen, für den das Bankgeheimnis aufgehoben wird. 62      Insbesondere ersetzt die Genehmigung, die das vorlegende Gericht erteilen kann, nach Art. 62 Abs. 5 ZKI die Zustimmung der betreffenden Personen. Die Genehmigung ist für die Banken, bei denen die betreffenden Personen Konten haben, verbindlich und bewirkt, dass die Aufsichtsbehörde Zugang zu den diese Konten betreffenden personenbezogenen Daten erhält. Außerdem wird mit ihr in die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte der betreffenden Personen eingegriffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, État luxembourgeois [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 et C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 74). 63      Die Aufgaben, die das vorlegende Gericht gemäß Art. 62 Abs. 6 Nr. 12 ZKI wahrnimmt, sind mithin keine Handlungen verwaltungsrechtlicher Natur, die vor Gericht angefochten werden können. Sie sind vielmehr als Aufgaben mit Rechtsprechungscharakter einzustufen. Um zu gewährleisten, dass die Aufhebung des Bankgeheimnisses rechtmäßig ist, hat das Gericht nämlich unabhängig zu entscheiden (vgl. entsprechend Beschluss vom 15. Januar 2004, Saetti und Frediani, C‑235/02, EU:C:2004:26, Rn. 23). 64      Die Vorabentscheidungsersuchen sind mithin zulässig. Zu den Vorlagefragen Zu Frage 1 65      Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsia „Natsionalna politsia“ pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). 66      Im vorliegenden Fall ist in Frage 1 zwar von einem Justizorgan die Rede, „d[as] Disziplinarstrafen gegen Richter verhängen kann und Befugnisse zur Erhebung von Daten in Bezug auf deren Vermögen hat“. Es geht aber sowohl aus den Vorlageentscheidungen als auch aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass dieses Organ bei den Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern die Amtsausübung, die Integrität und das Fehlen von Interessenkonflikten überwacht und dabei befugt ist, personenbezogene Daten zu erheben, die solche Personen betreffen. Insbesondere ist es befugt, auf solche Kontrollen hin einem anderen Justizorgan die Einleitung eines Disziplinarverfahrens zwecks Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen solche Personen vorzuschlagen. 67      Wie sich aus den Vorlageentscheidungen ergibt, nimmt das vorlegende Gericht an, dass der Umstand, dass die Mitglieder der Aufsichtsbehörde, die mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten der Nationalversammlung gewählt werden, ihre Amtsgeschäfte trotz des Ablaufs ihrer Amtszeit fortführten, geeignet sei, Zweifel hinsichtlich des Erfordernisses der Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt zu begründen. Es fragt sich, ob unter solchen Umständen nicht die Gefahr besteht, dass die Mitglieder der Aufsichtsbehörde unzulässigen Einfluss auf die Richter, Staatsanwälte oder Strafrechtspfleger ausübten oder ihre Amtsgeschäfte unter dem Druck der Abgeordneten der Nationalversammlung fortführten. 68      Frage 1 betrifft die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta somit lediglich unter dem Gesichtspunkt der Verlängerung der abgelaufenen Amtszeiten der Mitglieder der Aufsichtsbehörde. Sie bezieht sich nicht auf die Reichweite der Befugnisse der Aufsichtsbehörde als solche. 69      Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht also im Wesentlichen wissen, ob – und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Mitglieder eines Justizorgans dieses Mitgliedstaats, die von dessen Parlament für eine bestimmter Amtszeit gewählt werden und dafür zuständig sind, bei Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern die Amtsausübung, die Integrität und das Fehlen von Interessenkonflikten zu überwachen und einem anderen Justizorgan die Einleitung eines Disziplinarverfahrens zwecks Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen solche Personen vorzuschlagen, ihre Amtsgeschäfte nach Ablauf der in der Verfassung des Mitgliedstaats festgelegten gesetzlichen Amtszeit fortführen, bis das Parlament neue Mitglieder gewählt hat. Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs 70      Die polnische Regierung meint, der Gerichtshof sei für die Beantwortung von Frage 1 nicht zuständig. Die Union verfüge im Bereich der Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten über keinerlei Zuständigkeiten. 71      Hierzu ist festzustellen, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Diese haben bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Januar 2024, G. u. a. [Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Polen], C‑181/21 und C‑269/21, EU:C:2024:1, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). 72      Dies gilt auch im Hinblick auf nationale Rechtsvorschriften über die disziplinarrechtliche Verantwortlichkeit der Richter (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 133, und vom 11. Mai 2023, Inspecţia Judiciară, C‑817/21, EU:C:2023:391, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung), und zwar auch im Hinblick auf Vorschriften über die Organisation und die Funktionsweise eines Justizorgans, das – wie die Aufsichtsbehörde – dafür zuständig ist, bei Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern die Amtsausübung, die Integrität und das eventuelle Vorliegen von Interessenkonflikten zu überwachen und einem anderen Justizorgan die Einleitung eines Disziplinarverfahrens zwecks Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen diese Personen vorzuschlagen. 73      Der Gerichtshof ist daher für die Beantwortung von Frage 1, die auch die Auslegung des Unionsrecht betrifft, zuständig. Zur Zulässigkeit 74      Die bulgarische Regierung und die Aufsichtsbehörde halten Frage 1 für unzulässig. Sie weisen darauf hin, dass die Aufsichtsbehörde nicht befugt sei, Disziplinarmaßnahmen zu verhängen. Frage 1 habe daher nichts mit dem Gegenstand der Ausgangsverfahren zu tun. 75      Die Aufsichtsbehörde meint weiter, Frage 1 sei rein hypothetischer Natur. Zum einen gehe es in den Ausgangsverfahren überhaupt nicht um Disziplinarverfahren. Zum anderen setze ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV einen strukturellen Verstoß gegen die Anforderungen an die Unabhängigkeit voraus. Das vorlegende Gericht habe aber nicht dargetan, dass der behauptete Verstoß in den Ausgangsverfahren struktureller Art wäre. 76      Nach ständiger Rechtsprechung ist es allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteile vom 16. Februar 2023, Rzecznik Praw Dziecka u. a. [Aussetzung der Rückgabeentscheidung], C‑638/22 PPU, EU:C:2023:103, Rn. 47, und vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 61). 77      Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Februar 2023, Rzecznik Praw Dziecka u. a. [Aussetzung der Rückgabeentscheidung], C‑638/22 PPU, EU:C:2023:103, Rn. 48, und vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 62). 78      Im vorliegenden Fall fragt sich das vorlegende Gericht, wie es mit Anträgen der Aufsichtsbehörde auf Genehmigung des Zugangs zu den Daten betreffend die Bankkonten mehrerer Richter, Staatsanwälte oder Strafrechtspfleger und von deren Familienangehörigen verfahren soll. Es möchte insbesondere wissen, ob das Unionsrecht dem entgegensteht, dass ein solches Justizorgan bei ihm solche Anträge stellen kann, obwohl die Amtszeit sämtlicher seiner Mitglieder bereits seit mehreren Jahren abgelaufen ist. Bevor es über die Anträge, die ihm vorliegen, entscheiden kann, hat das vorlegende Gericht also inzident über diese Frage zu entscheiden. Die Auslegung des Unionsrechts, um die es ersucht, ist für seine Entscheidung also objektiv erforderlich (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 et C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 118 und 119). 79      Das Vorbringen der Aufsichtsbehörde zu den Befugnissen, über die sie im Kontext der Ausgangsverfahren verfüge, und zum Fehlen eines strukturellen Verstoßes gegen die Anforderungen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV (siehe oben, Rn. 75) betrifft in Wirklichkeit nicht die Zulässigkeit von Frage 1, sondern die auf Frage 1 zu gebende Antwort. 80      Frage 1 ist mithin zulässig. Beantwortung der Frage 81      Nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV hat jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im unionsrechtlichen Sinne dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, u. a. dem Erfordernis der Unabhängigkeit, gerecht werden (Urteil vom 11. Juli 2024, Hann‑Invest u. a., C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21, EU:C:2024:594, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung). 82      Schon das Vorhandensein einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle, die der Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dient, ist einem Rechtsstaat inhärent. Insoweit ist es gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt. Er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 219 und die dort angeführte Rechtsprechung). 83      Die Wahrung der Unabhängigkeit der Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, ist von grundlegender Bedeutung, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 et C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 194 und die dort angeführte Rechtsprechung). 84      Dieses Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, gehört zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt. Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte u. a. gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 195 und die dort angeführte Rechtsprechung). 85      Nach ständiger Rechtsprechung setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 196). 86      Was insbesondere die Vorschriften über die Disziplinarregelung der Richter betrifft, so verlangt das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebende Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte nach ständiger Rechtsprechung, dass diese Regelung die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Insoweit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 198 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. Mai 2023, Inspecţia Judiciară, C‑817/21, EU:C:2023:391, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 87      Da die Aussicht auf die Einleitung einer Disziplinaruntersuchung als solche geeignet ist, Druck auf diejenigen auszuüben, deren Aufgabe es ist, zu entscheiden, hat der Gerichtshof entschieden, dass es wesentlich ist, dass eine für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständige Einrichtung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben objektiv und unparteiisch handelt und zu diesem Zweck frei von jeder äußeren Beeinflussung ist (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 199, und vom 11. Mai 2023, Inspecţia Judiciară, C‑817/21, EU:C:2023:391, Rn. 49). Das gilt insbesondere für ein Justizorgan, das – wie die Aufsichtsbehörde – über weitreichende Befugnisse verfügt, nämlich dafür zuständig ist, bei Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern die Amtsausübung, die Integrität und das Fehlen von Interessenkonflikten zu überwachen und einem anderen Justizorgan auf solche Kontrollen hin die Einleitung eines Disziplinarverfahrens zwecks Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen solche Personen vorzuschlagen. 88      Deshalb müssen sämtliche Vorschriften über die Organisation und Arbeitsweise einer solchen Einrichtung, u. a. die über das Verfahren der Ernennung seiner Mitglieder, so gestaltet sein, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen können, dass die Befugnisse und Aufgaben der Einrichtung als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2023, Inspecţia Judiciară, C‑817/21, EU:C:2023:391, Rn. 50 und 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 89      Solche Vorschriften sind nämlich im Allgemeinen geeignet, die Praxis der betreffenden Einrichtung direkt zu beeinflussen und somit zu verhindern oder sogar zu fördern, dass Disziplinarklagen erhoben werden, mit denen bezweckt oder bewirkt wird, Druck insbesondere auf diejenigen auszuüben, deren Aufgabe es ist, Recht zu sprechen, oder eine politische Kontrolle ihrer Tätigkeit sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2023, Inspecţia Judiciară, C‑817/21, EU:C:2023:391, Rn. 52). 90      Die Entscheidung über die Unempfänglichkeit der betreffenden Einrichtung für äußere Faktoren und über ihre Objektivität und Unparteilichkeit bei der Ausübung ihrer Aufgaben ist letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, nachdem es die dafür erforderliche Würdigung vorgenommen hat. Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Organe der Europäischen Union zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof das Unionsrecht im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten aber unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2023, Inspecţia Judiciară, C‑817/21, EU:C:2023:391, Rn. 58). 91      Im vorliegenden Fall besteht die Aufsichtsbehörde aus einem Generalinspekteur und zehn Inspektoren, die von der Nationalversammlung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten für eine Amtszeit von fünf bzw. vier Jahren gewählt werden. Nach den nationalen Rechtsvorschriften, wie sie zum Zeitpunkt der Einreichung der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen galten, konnten die Mitglieder der Aufsichtsbehörde nicht für eine unmittelbar folgende zweite Amtszeit wiedergewählt werden. 92      Für den Fall, um den es in den Ausgangsverfahren geht, nämlich, dass die Amtszeiten der Mitglieder der Aufsichtsbehörde abgelaufen sind, ohne dass die Nationalversammlung neue Mitglieder gewählt hat, enthält die nationale Regelung offenbar keine Vorschriften über eine mögliche Fortführung der Amtsgeschäfte durch die Mitglieder der Aufsichtsbehörde, deren Amtszeit abgelaufen ist. Den Vorlageentscheidungen zufolge führen die Mitglieder der Aufsichtsbehörde ihre Amtsgeschäfte in einem solchen Fall nach der Rechtsprechung des Konstitutsionen sad (Verfassungsgericht, Bulgarien) zwar fort, bis die Nationalversammlung neue Mitglieder gewählt hat. Das bulgarische Recht enthält aber nicht nur keine Regelung über eine solche Fortführung der Amtsgeschäfte, sondern auch keine Regelung, mit der eine etwaige Blockade bei dem Verfahren der Ernennung der neuen Mitglieder der Aufsichtsbehörde beendet werden kann. Für die Verlängerung der Amtszeit der ehemaligen Mitglieder gibt es deshalb praktisch keine zeitliche Beschränkung. 93      Auch wenn es allein Sache der Mitgliedstaaten ist, zu entscheiden, ob sie die Fortführung der Amtsgeschäfte von Mitgliedern eines Justizorgans, das dafür zuständig ist, die Tätigkeit der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger zu überwachen und die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen solche Personen vorzuschlagen, nach Ablauf der gesetzlichen Amtszeit vorsehen wollen, um die Kontinuität des Funktionierens des Organs zu gewährleisten, müssen sie, wenn sie sich für eine solche Verlängerung der Amtszeit entscheiden, dafür sorgen, dass es im innerstaatlichen Recht für die Fortführung der Amtsgeschäfte nach Ablauf der Amtszeit eine ausdrückliche Rechtsgrundlage mit klaren und präzisen Vorschriften gibt, mit denen eine solche Fortführung der Amtsgeschäfte geregelt wird. 94      Außerdem müssen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die Bedingungen und Modalitäten einer solchen Fortführung der Amtsgeschäfte so gestaltet sind, dass die betreffenden Mitglieder eines solchen Justizorgans bei der Erfüllung ihrer Aufgaben objektiv und unparteiisch handeln können und zu diesem Zweck frei von jeder äußeren Beeinflussung sind, wie es die oben in den Rn. 87 und 88 dargestellte Rechtsprechung verlangt. 95      Im Hinblick auf die Bedeutung der Aufgaben, die das Organ erfüllt, mag die Fortführung der Amtsgeschäfte unter bestimmten Umständen durchaus geboten sein. Das ändert aber nichts daran, dass das betreffende Justizorgan nach Ablauf der gesetzlichen Amtszeit ohne eine ausdrückliche Rechtsgrundlage im innerstaatlichen Recht mit klaren und präzisen Vorschriften, mit den die Ausübung der Amtsgeschäfte geregelt wird, handelt. Wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kommt eine solche Fortführung der Amtsgeschäfte deshalb nur ausnahmsweise unter der Voraussetzung in Betracht, dass sie durch klare und präzise Vorschriften geregelt ist, mit denen ausgeschlossen wird, dass sie in der Praxis unbegrenzt fortdauert. 96      Jedoch darf ein Mitgliedstaat, wenn er die Fortführung der Amtsgeschäfte nach Ablauf der gesetzlichen Amtszeit regelt, weder seine Rechtsvorschriften noch seine Verfassung dergestalt ändern, dass der Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit vermindert wird, eines Wertes, der namentlich durch Art. 19 EUV konkretisiert wird, insbesondere was die Garantien für die Unabhängigkeit der Richter gegenüber der gesetzgebenden und der rechtsprechenden Gewalt angeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 63 und 65). 97      Somit ist auf Frage 1 zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit der Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Mitglieder eines Justizorgans dieses Mitgliedstaats, die von dessen Parlament für eine bestimmter Amtszeit gewählt werden und dafür zuständig sind, bei Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern die Amtsausübung, die Integrität und das Fehlen von Interessenkonflikten zu überwachen und einem anderen Justizorgan die Einleitung eines Disziplinarverfahrens zwecks Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen solche Personen vorzuschlagen, ihre Amtsgeschäfte nach Ablauf der in der Verfassung des Mitgliedstaats festgelegten gesetzlichen Amtszeit fortführen, bis das Parlament neue Mitglieder gewählt hat, ohne dass es hierfür im nationalen Recht eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage mit klaren und präzisen Vorschriften gibt, mit denen eine solche Fortführung der Amtsgeschäfte geregelt wird, und ohne dass gewährleistet ist, dass die Fortführung der Amtsgeschäfte in der Praxis zeitlich beschränkt ist. Zu Frage 2 98      Mit Frage 2 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 DSGVO dahin auszulegen ist, dass die Offenlegung von personenbezogenen Daten gegenüber einem Justizorgan in den sachlichen Anwendungsbereich der DGSVO fällt, wenn diese Daten dem Bankgeheimnis unterliegen und Richter, Staatsanwälte, Strafrechtspfleger sowie ihre Familienangehörige betreffen, und die Offenlegung der Überprüfung der Erklärungen der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger über ihre Vermögensverhältnisse und die ihrer Familienangehörigen, die veröffentlicht werden, dient. 99      Nach ständiger Rechtsprechung definiert Art. 2 Abs. 1 DSGVO deren sachlichen Anwendungsbereich sehr weit. Die DSGVO gilt vorbehaltlich der in ihrem Art. 2 Abs. 2 und 3 genannten Fälle sowohl für Verarbeitungen, die durch Privatpersonen erfolgen, als auch für Verarbeitungen, die durch Behörden – einschließlich Justizbehörden (vgl. 20. Erwägungsgrund der Verordnung) – erfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. März 2022, Autoriteit Persoonsgegevens, C‑245/20, EU:C:2022:216, Rn. 25, und vom 16. Januar 2024, Österreichische Datenschutzbehörde, C‑33/22, EU:C:2024:46, Rn. 33 und 36). 100    Zudem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass weder der Umstand, dass nationalen Bestimmungen unterliegende Informationen Richter betreffen, noch die Tatsache, dass die Informationen einen gewissen Zusammenhang mit der Ausübung ihrer Ämter aufweisen können, als solche geeignet sind, die nationalen Bestimmungen aus dem Anwendungsbereich der DSGVO auszunehmen (Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 315). 101    Art. 2 DSGVO enthält in den Abs. 2 und 3 nämlich eine abschließende Aufzählung der Ausnahmen von der in Abs. 1 enthaltenen Regel, in der der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung definiert wird, und diese Ausnahmen, insbesondere die in Abs. 2 vorgesehenen, sind eng auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 62, vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 316, und vom 16. Januar 2024, Österreichische Datenschutzbehörde, C‑33/22, EU:C:2024:46, Rn. 37). 102    Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO, auf den sich Frage 2 bezieht, sieht vor, dass die Verordnung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten „im Rahmen einer Tätigkeit, die nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt“, keine Anwendung findet. 103    Nach ständiger Rechtsprechung sollen mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. a DSGVO, wie sich auch aus dem 16. Erwägungsgrund der Verordnung ergibt, von deren Anwendungsbereich allein Verarbeitungen personenbezogener Daten ausgenommen werden, die von staatlichen Stellen im Rahmen einer Tätigkeit, die der Wahrung der nationalen Sicherheit dient, oder einer Tätigkeit, die derselben Kategorie zugeordnet werden kann, vorgenommen werden. Die Tätigkeiten, die der Wahrung der nationalen Sicherheit dienen, umfassen insbesondere solche, die den Schutz der grundlegenden Funktionen des Staates und der grundlegenden Interessen der Gesellschaft bezwecken. Der bloße Umstand, dass eine Tätigkeit eine spezifische Tätigkeit des Staates oder einer Behörde ist, reicht deshalb nicht dafür aus, dass diese Ausnahme automatisch für sie gilt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima [Strafpunkte], C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 66 und 67, vom 8. Dezember 2022, Inspektor v Inspektorata kam Visshia sadeben savet [Zwecke der Verarbeitung personenbezogener Daten – Strafrechtliche Ermittlungen], C‑180/21, EU:C:2022:967, Rn. 79, und vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 317 und 318). 104    Zwar fällt die Sicherstellung einer geordneten Rechtspflege in den Mitgliedstaaten und insbesondere der Erlass von Vorschriften zum Status der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger, insbesondere zur Ausübung des Richteramts in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 319). Eine Datenverarbeitung wie die, um die es in den Ausgangsverfahren geht, die dazu dient, bei Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern die Integrität und das Bestehen etwaiger Interessenkonflikte zu überwachen, ist aber weder eine Tätigkeit, die der Wahrung der nationalen Sicherheit dient, noch eine Tätigkeit, die derselben Kategorie zugeordnet werden kann. 105    Im Übrigen ist festzustellen, dass es eine Verarbeitung im Sinne von Art. 4 Nr. 2 DSGVO darstellt, wenn zur Überprüfung der Erklärungen der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger über ihre Vermögensverhältnisse und die ihrer Familienangehörigen, die veröffentlicht werden, diese Personen und ihre Familienangehörigen betreffende personenbezogenen Daten, die dem Bankgeheimnis unterliegen, gegenüber einem Justizorgan offengelegt werden. Eine solche Offenlegung stellt nämlich eine Bereitstellung der betreffenden personenbezogenen Daten zugunsten dieses Organs dar. 106    Auf Frage 2 ist somit zu antworten, dass Art. 2 DSGVO dahin auszulegen ist, dass die Offenlegung von personenbezogenen Daten gegenüber einem Justizorgan in den sachlichen Anwendungsbereich der DGSVO fällt, wenn diese Daten dem Bankgeheimnis unterliegen und Richter, Staatsanwälte, Strafrechtspfleger sowie ihre Familienangehörige betreffen, und die Offenlegung der Überprüfung der Erklärungen der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger über ihre Vermögensverhältnisse und die ihrer Familienangehörigen, die veröffentlicht werden, dient. Zu Frage 3 107    Mit Frage 3 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Nr. 7 DSGVO dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, das dafür zuständig ist, auf Antrag eines anderen Justizorgans die Offenlegung von Daten über die Bankkonten der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger und ihrer Familienangehörigen durch eine Bank gegenüber diesem Justizorgan zu genehmigen, als Verantwortlicher im Sinne von Art. 4 Nr. 7 DSGVO eingestuft werden kann. 108    Nach Art. 4 Nr. 7 DSGVO fallen unter den Begriff des „Verantwortlichen“ die natürlichen oder juristischen Personen, Behörden, Einrichtungen oder anderen Stellen, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheiden, und kann der Verantwortliche beziehungsweise können die bestimmten Kriterien seiner Benennung, wenn die Zwecke und Mittel dieser Verarbeitung durch das Recht der Mitgliedstaaten vorgegeben sind, u. a. nach dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen werden. 109    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs soll durch diese Bestimmung im Einklang mit dem Ziel der DSGVO durch eine weite Definition des Begriffs „Verantwortlicher“ ein wirksamer und umfassender Schutz der Grundfreiheiten und Grundrechte natürlicher Personen und insbesondere ein hohes Schutzniveau für das Recht jeder Person auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten gewährleistet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Dezember 2023, Nacionalinis visuomenės sveikatos centras, C‑683/21, EU:C:2023:949, Rn. 28 und 29, und vom 7. März 2024, IAB Europe, C‑604/22, EU:C:2024:214, Rn. 53 bis 55 und die dort angeführte Rechtsprechung). 110    Um festzustellen, ob eine Person oder eine Einrichtung als Verantwortlicher im Sinne von Art. 4 Nr. 7 DSGVO einzustufen ist, ist zu prüfen, ob sie allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung entscheidet oder ob diese durch das nationale Recht vorgegeben werden. Erfolgt durch das nationale Recht eine solche Vorgabe, ist zu prüfen, ob dieses Recht den Verantwortlichen bzw. die bestimmten Kriterien seiner Benennung vorsieht (Urteil vom 27. Februar 2025, Amt der Tiroler Landesregierung, C‑638/23, EU:C:2025:127, Rn. 27). 111    Angesichts der weiten Definition des Ausdrucks „Verantwortlicher“ im Sinne von Art. 4 Nr. 7 DSGVO kann die Vorgabe der Zwecke und Mittel der Verarbeitung und gegebenenfalls die Benennung des Verantwortlichen durch das nationale Recht nicht nur explizit, sondern auch implizit erfolgen. Im letzteren Fall ist es jedoch erforderlich, dass sich diese Vorgabe der Zwecke und Mittel der Verarbeitung mit hinreichender Bestimmtheit aus der Rolle, dem Auftrag und den Aufgaben der betroffenen Person oder Einrichtung ergibt (Urteil vom 27. Februar 2025, Amt der Tiroler Landesregierung, C‑638/23, EU:C:2025:127, Rn. 28). 112    Der Schutz der betroffenen Personen würde nämlich gemindert, wenn Art. 4 Nr. 7 DSGVO eng ausgelegt wird, um lediglich die Fälle zu erfassen, in denen die Zwecke und Mittel einer Datenverarbeitung durch eine Person, Behörde, Einrichtung oder Stelle ausdrücklich durch das nationale Recht vorgegeben werden, selbst wenn sich diese Zwecke und Mittel im Wesentlichen aus den Rechtsvorschriften ergeben, die die Tätigkeit der betreffenden Einrichtung regeln (Urteil vom 11. Januar 2024, État belge [Von einem Amtsblatt verarbeitete Daten], C‑231/22, EU:C:2024:7, Rn. 30). 113    Im vorliegenden Fall fragt sich das vorlegende Gericht, ob es als Verantwortlicher der Datenverarbeitung, um die es in den Ausgangsverfahren geht, nämlich der Offenlegung dem Bankgeheimnis unterliegender personenbezogener Daten gegenüber der Aufsichtsbehörde, anzusehen ist, weil es nach dem Gesetz dafür zuständig ist, eine solche Offenlegung zu genehmigen. 114    Nach der nationalen Regelung, die in den Ausgangsverfahren anwendbar ist, ist die Aufsichtsbehörde insbesondere dafür zuständig, bei Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern die Integrität und das Fehlen von Interessenkonflikten zu überwachen und die Erklärung über die Vermögensverhältnisse zu überprüfen. Hierzu ist sie nach dieser Regelung befugt, Zugang zu den Daten über die Bankkonten der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger und ihrer Familienangehörigen zu beantragen. In den Fällen, in denen die betreffenden Personen dem Zugang zu den Daten nicht zugestimmt haben, ist die Aufsichtsbehörde nach der Regelung befugt, für den Zugang zu den Daten eine vorherige gerichtliche Genehmigung zu beantragen. 115    Der Kreis der Personen und die Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sein können, die Zwecke der Verarbeitung und das für deren Erreichung zuständige Organ, nämlich die Aufsichtsbehörde, werden also durch die in den Ausgangsverfahren anwendbare nationale Regelung bestimmt. Das Gericht, bei dem ein Antrag auf Genehmigung einer Offenlegung gestellt wird, wird nur auf Antrag der Aufsichtsbehörde tätig, die hierbei von den Befugnissen Gebrauch macht, die das nationale Recht ihr einräumt. Es prüft lediglich, ob die durch das nationale Recht festgelegten Voraussetzungen der Gesetzmäßigkeit erfüllt sind. Ebenso werden die Personen, zu deren Daten die Aufsichtsbehörde in Ausübung der Befugnisse, die das nationale Recht ihr einräumt, Zugang haben will und in Bezug auf die sie bei dem Gericht einen Antrag auf Genehmigung stellt, nicht durch das Gericht, sondern durch die Aufsichtsbehörde bestimmt, und zwar nach den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften. 116    Auch wenn das Gericht zu prüfen hat, ob und inwieweit die Voraussetzungen der Gesetzmäßigkeit der Verarbeitung in einem ganz bestimmten Fall erfüllt sind, bestimmt es selbst also weder den Zweck der Verarbeitung noch die betroffenen Personen und Daten. Verantwortlicher im Sinne von Art. 4 Nr. 7 DSGVO ist demnach nicht das Gericht, sondern das Organ, das für die Verwirklichung der verfolgten Zwecke zuständig ist. 117    Somit ist auf Frage 3 zu antworten, dass Art. 4 Nr. 7 DSGVO dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, das dafür zuständig ist, auf Antrag eines anderen Justizorgans die Offenlegung von Daten über die Bankkonten der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger und ihrer Familienangehörigen durch eine Bank gegenüber diesem Justizorgan zu genehmigen, nicht als Verantwortlicher im Sinne von Art. 4 Nr. 7 DSGVO eingestuft werden kann. Zu Frage 4 118    Mit Frage 4 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 51 DSGVO dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, das dafür zuständig ist, die Offenlegung personenbezogener Daten gegenüber einem anderen Justizorgan zu genehmigen, eine Aufsichtsbehörde im Sinne von Art. 51 DSGVO ist. 119    Nach Art. 51 Abs. 1 DSGVO sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, eine oder mehrere unabhängige Behörden vorzusehen, die für die Überwachung der Anwendung der Verordnung zuständig sind. Die Einrichtung solcher Behörden, die auch im Primärrecht der Union (Art. 8 Abs. 3 der Charta und Art. 16 Abs. 2 AEUV) vorgesehen ist, stellt ein wesentliches Element des Schutzes der Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. April 2014, Kommission/Ungarn, C‑288/12, EU:C:2014:237, Rn. 48, und Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada], vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 229). 120    Nach Art. 51 Abs. 1 und 2 und Art. 57 Abs. 1 Buchst. a und g DSGVO besteht die Hauptaufgabe der Aufsichtsbehörde darin, die Anwendung der Verordnung zu überwachen und durchzusetzen und gleichzeitig zu ihrer einheitlichen Anwendung in der Union beizutragen, und zwar mit dem Ziel, die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten zu schützen und den freien Verkehr solcher Daten in der Union zu erleichtern. Zu diesem Zweck verfügt die Aufsichtsbehörde über die verschiedenen Befugnisse, die ihr nach Art. 58 DSGVO übertragen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juli 2023, Meta Platforms u. a. [Allgemeine Nutzungsbedingungen eines sozialen Netzwerks], C‑252/21, EU:C:2023:537, Rn. 45). 121    Nach Art. 51 Abs. 4 DSGVO sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, der Kommission die Rechtsvorschriften – und deren folgende Änderungen – mitzuteilen, die sie aufgrund des Kapitels VI der Verordnung erlassen, insbesondere die, die die Aufsichtsbehörde oder die Aufsichtsbehörden, die sie mit der Überwachung der Anwendung der Verordnung betraut haben, betreffen. 122    Im vorliegenden Fall ist aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, nicht ersichtlich, dass das vorlegende Gericht nach bulgarischem Recht mit der Überwachung der Anwendung der DSGVO betraut wäre und insbesondere über die Befugnisse verfügte, über die eine Aufsichtsbehörde nach Art. 58 der Verordnung verfügen muss. 123    Somit ist auf Frage 4 zu antworten, dass Art. 51 DSGVO dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, das dafür zuständig ist, die Offenlegung personenbezogener Daten gegenüber einem anderen Justizorgan zu genehmigen, keine Aufsichtsbehörde im Sinne von Art. 51 DSGVO ist, wenn es von dem Mitgliedstaat, zu dem es gehört, nicht mit der Aufgabe betraut ist, die Anwendung der Verordnung zu überwachen, damit insbesondere die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten geschützt werden. Zu Frage 5 124    Frage 5 ist nur für den Fall gestellt, dass der Gerichtshof auf Frage 3 oder Frage 4 mit Ja antworten sollte. Die Fragen 3 und 4 sind aber mit Nein zu beantworten (siehe oben, Rn. 117 und 123). 125    Frage 5 ist daher nicht zu beantworten. Zu Frage 6 126    Mit Frage 6 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 79 Abs. 1 DSGVO in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, das dafür zuständig ist, die Offenlegung personenbezogener Daten gegenüber einem anderen Justizorgan zu genehmigen, wenn bei ihm kein Rechtsbehelf gemäß Art. 79 Abs. 1 DSGVO eingelegt worden ist, von Amts wegen den Schutz der Personen, deren Daten betroffen sind, hinsichtlich der Beachtung der Bestimmungen der DSGVO über die Sicherheit der personenbezogenen Daten zu gewährleisten hat, wenn allgemein bekannt ist, dass das betreffende Justizorgan in der Vergangenheit gegen diese Bestimmungen verstoßen hat. 127    Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Frage 6 gestellt werde, weil das bei ihm eingeleitete Verfahren ohne Beteiligung der Personen durchgeführt werde, deren personenbezogene Daten betroffen seien, und die gerichtliche Genehmigung der Offenlegung dieser Daten gegenüber der Aufsichtsbehörde die Zustimmung dieser Personen ersetze und nicht anfechtbar sei. Würde es sich auf eine rein formale Prüfung des Antrags der Aufsichtsbehörde auf Genehmigung beschränken, ohne sich zu vergewissern, dass diese die Sicherheit der betreffenden personenbezogenen Daten gewährleiste, sei deren gerichtlicher Rechtsschutz, wie er in Art. 79 DSGVO vorgesehen sei, praktisch nicht wirksam. Das vorlegende Gericht fragt sich deshalb, ob es von Amts wegen zu gewährleisten habe, dass die Aufsichtsbehörde die Vorschriften betreffend die Sicherheit personenbezogener Daten beachtet, indem es von dieser verlange, ihm Informationen über die gemäß Art. 33 Abs. 3 Buchst. d DSGVO ergriffenen Sicherheitsmaßnahmen zu erteilen. 128    Die DSGVO enthält eine Gesamtheit materieller und prozessualer Vorschriften über die Datensicherheit, die der Verantwortliche einzuhalten hat, und sieht in Kapitel VIII die Rechtsbehelfe vor, mit denen die Rechte der Personen geschützt werden sollen, deren personenbezogene Daten Gegenstand einer Verarbeitung gewesen sind, die gegen die Bestimmungen der DSGVO verstoßen soll. Diese Rechtsbehelfe können von diesen Personen nebeneinander und unabhängig voneinander eingelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2023, Nemzeti Adatvédelmi és Információszabadság Hatóság, C‑132/21, EU:C:2023:2, Rn. 35). 129    Da das von der DSGVO angestrebte Schutzniveau von den Sicherheitsmaßnahmen abhängt, die von den für die Verarbeitung dieser Daten Verantwortlichen getroffen werden, müssen diese – mittels der ihnen obliegenden Beweislast für die Geeignetheit dieser Maßnahmen – dazu angehalten werden, alles zu unternehmen, um Verarbeitungsvorgänge zu verhindern, die nicht im Einklang mit der DSGVO stehen (Urteil vom 14. Dezember 2023, Natsionalna agentsia za prihodite, C‑340/21, EU:C:2023:986, Rn. 55). 130    Die Kontrolle der Einhaltung der Anforderungen an die Sicherheit, die die DSGVO vorschreibt, obliegt zum einen den Aufsichtsbehörden und zum anderen den nationalen Gerichten, bei denen ein Rechtsbehelf gemäß Art. 78 Abs. 1 oder Art. 79 Abs. 1 DSGVO eingelegt wird. 131    Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 120), besteht die Hauptaufgabe der Aufsichtsbehörden darin, die Anwendung der DSGVO zu überwachen und durchsetzen. Insbesondere haben ihnen die Verantwortlichen Verletzungen des Schutzes personenbezogener Daten gemäß Art. 33 DSGVO zu melden. 132    Zudem verfügen die Aufsichtsbehörden nach Art. 58 Abs. 1 und 2 DSGVO über weitreichende Untersuchungs- und Abhilfebefugnisse. Sie sind zum Einschreiten verpflichtet, wenn das Ergreifen einer oder mehrerer der in Art. 58 Abs. 2 DSGVO vorgesehenen Abhilfemaßnahmen unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles geeignet, erforderlich und verhältnismäßig ist, um der festgestellten Unzulänglichkeit abzuhelfen und die umfassende Einhaltung der Verordnung zu gewährleisten (Urteil vom 26. September 2024, Land Hessen [Handlungspflicht der Datenschutzbehörde], C‑768/21, EU:C:2024:785, Rn. 42). 133    Es ist von besonderer Bedeutung, dass die Aufsichtsbehörden über wirksame Befugnisse verfügen, um effektiv gegen Verstöße gegen die DSGVO vorzugehen und insbesondere, um solche Verstöße zu beenden, und zwar auch in den Fällen, in denen die betroffenen Personen nicht über die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten informiert wurden, ihnen diese nicht bekannt ist oder sie jedenfalls keine Beschwerde gemäß Art. 77 Abs. 1 DSGVO eingelegt haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. März 2024, Újpesti Polgármesteri Hivatal, C‑46/23, EU:C:2024:239, Rn. 41). 134    Die Aufsichtsbehörden und die nationalen Gerichte, bei denen ein Rechtsbehelf gemäß Art. 78 Abs. 1 oder Art. 79 Abs. 1 DSGVO eingelegt wurde, haben sich zu vergewissern, dass die technischen und organisatorischen Maßnahmen, die der Verantwortliche getroffen hat, geeignet sind, um ein dem Risiko angemessenes Schutzniveau zu gewährleisten, wie es Art. 32 Abs. 1 DSGVO verlangt. In dem Zusammenhang haben sie die konkreten Maßnahmen im Hinblick auf die Umstände des Einzelfalls materiellrechtlich nach Maßgabe der in Art. 32 Abs. 1 DSGVO genannten Kriterien zu prüfen, und zwar anhand der Beweismittel, die ihnen insoweit zur Verfügung stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Dezember 2023, Natsionalna agentsia za prihodite, C‑340/21, EU:C:2023:986, Rn. 43 und 45 und vom 28. November 2024, Másdi, C‑169/23, EU:C:2024:988, Rn. 71). 135    Hingegen sind die nationalen Gerichte, wenn bei ihnen kein Rechtsbehelf gemäß Art. 78 Abs. 1 oder Art. 79 Abs. 1 DSGVO eingelegt wurde und es keine Vorschriften gibt, mit den ihnen ausdrücklich Kontrollbefugnisse eingeräumt werden, nicht verpflichtet, die Einhaltung der materiellen Vorschriften der DSGVO zu überwachen, um deren praktische Wirksamkeit zu gewährleisten. 136    Da die Frage des vorlegenden Gerichts insbesondere die Wirksamkeit des in Art. 79 Abs. 1 DSGVO vorgesehenen gerichtlichen Rechtsbehelfs betrifft, ist, um ihm eine nützliche Antwort zu geben, noch darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass die konkreten Modalitäten für die Ausübung der in Art. 77 Abs. 1, Art. 78 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfe tatsächlich den Anforderungen des in Art. 47 der Charta verbürgten Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2023, Nemzeti Adatvédelmi és Információszabadság Hatóság, C‑132/21, EU:C:2023:2, Rn. 51). 137    Hierzu muss der Verantwortliche – also das zuständige Justizorgan, dem der Zugang zu den personenbezogenen Daten genehmigt wurde – den Personen, deren Daten betroffen sind, nach den Modalitäten gemäß Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 3 DSGVO die in Art. 14 Abs. 1 und 2 DSGVO genannten Informationen erteilen. Dies ist erforderlich, um ihnen zu ermöglichen, gegebenenfalls die Rechte, die ihnen die DSGVO gewährt, insbesondere das Recht auf Widerspruch gegen die Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten (Art. 21 DSGVO) und das Recht, Klage auf Ersatz des erlittenen Schadens zu erheben (Art. 79 und 82 DSGVO), auszuüben (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Juni 2023, Pankki S, C‑579/21, EU:C:2023:501, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). 138    Somit ist auf Frage 6 zu antworten, dass Art. 79 Abs. 1 DSGVO in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein Gericht, das dafür zuständig ist, die Offenlegung personenbezogener Daten gegenüber einem anderen Justizorgan zu genehmigen, wenn bei ihm kein Rechtsbehelf gemäß Art. 79 Abs. 1 DSGVO eingelegt worden ist, nicht von Amts wegen den Schutz der Personen, deren Daten betroffen sind, hinsichtlich der Beachtung der Bestimmungen der DSGVO über die Sicherheit der personenbezogenen Daten zu gewährleisten hat, und zwar auch dann nicht, wenn allgemein bekannt ist, dass das betreffende Justizorgan in der Vergangenheit gegen diese Bestimmungen verstoßen hat. Kosten 139    Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt: 1.      Art. 19 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV ist in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wie folgt auszulegen: Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit steht der Praxis eines Mitgliedstaats entgegen, wonach die Mitglieder eines Justizorgans dieses Mitgliedstaats, die von dessen Parlament für eine bestimmter Amtszeit gewählt werden und dafür zuständig sind, bei Richtern, Staatsanwälten und Strafrechtspflegern die Amtsausübung, die Integrität und das Fehlen von Interessenkonflikten zu überwachen und einem anderen Justizorgan die Einleitung eines Disziplinarverfahrens zwecks Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen solche Personen vorzuschlagen, ihre Amtsgeschäfte nach Ablauf der in der Verfassung des Mitgliedstaats festgelegten gesetzlichen Amtszeit fortführen, bis das Parlament neue Mitglieder gewählt hat, ohne dass es hierfür im nationalen Recht eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage mit klaren und präzisen Vorschriften gibt, mit denen eine solche Fortführung der Amtsgeschäfte geregelt wird, und ohne dass gewährleistet ist, dass die Fortführung der Amtsgeschäfte in der Praxis zeitlich beschränkt ist. 2.      Art. 2 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ist wie folgt auszulegen: Die Offenlegung von personenbezogenen Daten gegenüber einem Justizorgan fällt in den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung 2016/679, wenn diese Daten dem Bankgeheimnis unterliegen und Richter, Staatsanwälte, Strafrechtspfleger sowie ihre Familienangehörige betreffen, und die Offenlegung der Überprüfung der Erklärungen der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger über ihre Vermögensverhältnisse und die ihrer Familienangehörigen, die veröffentlicht werden, dient. 3.      Art. 4 Nr. 7 der Verordnung 2016/679 ist wie folgt auszulegen: Ein Gericht, das dafür zuständig ist, auf Antrag eines anderen Justizorgans die Offenlegung von Daten über die Bankkonten der Richter, Staatsanwälte und Strafrechtspfleger und ihrer Familienangehörigen durch eine Bank gegenüber diesem Justizorgan zu genehmigen, kann nicht als Verantwortlicher im Sinne von Art. 4 Nr. 7 der Verordnung 2016/679 eingestuft werden. 4.      Art. 51 der Verordnung 2016/679 ist wie folgt auszulegen: Ein Gericht, das dafür zuständig ist, die Offenlegung personenbezogener Daten gegenüber einem anderen Justizorgan zu genehmigen, ist keine Aufsichtsbehörde im Sinne von Art. 51 der Verordnung 2016/679, wenn es von dem Mitgliedstaat, zu dem es gehört, nicht mit der Aufgabe betraut ist, die Anwendung der Verordnung zu überwachen, damit insbesondere die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten geschützt werden. 5.      Art. 79 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 ist in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte wie folgt auszulegen: Ein Gericht, das dafür zuständig ist, die Offenlegung personenbezogener Daten gegenüber einem anderen Justizorgan zu genehmigen, hat, wenn bei ihm kein Rechtsbehelf gemäß Art. 79 Abs. 1 der Verordnung 2016/679 eingelegt worden ist, nicht von Amts wegen den Schutz der Personen, deren Daten betroffen sind, hinsichtlich der Beachtung der Bestimmungen der Verordnung 2016/679 über die Sicherheit der personenbezogenen Daten zu gewährleisten, und zwar auch dann nicht, wenn allgemein bekannt ist, dass das betreffende Justizorgan in der Vergangenheit gegen diese Bestimmungen verstoßen hat. Unterschriften *      Verfahrenssprache: Bulgarisch.
Urteil des Gerichts (Vierte Kammer) vom 11. Dezember 2024.#Carmeuse Holding SRL gegen Europäische Kommission.#Rechtssache T-554/22.
62022TJ0554
ECLI:EU:T:2024:895
2024-12-11T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62022TJ0554 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62022TJ0554 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62022TJ0554 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 19. September 2024.#Giacomo Santini u. a. gegen Europäisches Parlament.#Rechtsmittel – Institutionelles Recht – Einheitliches Statut des Europaabgeordneten – In italienischen Wahlkreisen gewählte Europaabgeordnete – Erlass eines Ruhegehälter betreffenden Beschlusses durch die italienische Abgeordnetenkammer – Änderung der Höhe der Ruhegehälter der nationalen italienischen Abgeordneten – Entsprechende Änderung der Höhe der Ruhegehälter bestimmter ehemaliger, in Italien gewählter Europaabgeordneter durch das Europäische Parlament – Austausch der Beschlüsse des Parlaments – Fortbestand des Rechtsschutzinteresses an der Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union.#Rechtssache C-198/21 P.
62021CJ0198
ECLI:EU:C:2024:768
2024-09-19T00:00:00
Gerichtshof, Kokott
62021CJ0198 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer) 19. September 2024 (*1) „Rechtsmittel – Institutionelles Recht – Einheitliches Statut des Europaabgeordneten – In italienischen Wahlkreisen gewählte Europaabgeordnete – Erlass eines Ruhegehälter betreffenden Beschlusses durch die italienische Abgeordnetenkammer – Änderung der Höhe der Ruhegehälter der nationalen italienischen Abgeordneten – Entsprechende Änderung der Höhe der Ruhegehälter bestimmter ehemaliger, in Italien gewählter Europaabgeordneter durch das Europäische Parlament – Austausch der Beschlüsse des Parlaments – Fortbestand des Rechtsschutzinteresses an der Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union“ In der Rechtssache C‑198/21 P betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 29. März 2021, Giacomo Santini, wohnhaft in Trient (Italien), Marco Cellai, wohnhaft in Florenz (Italien), Domenico Ceravolo, wohnhaft in Noventa Padovana (Italien), Natalino Gatti, wohnhaft in Nonantola (Italien), Rosa Maria Avitabile als Erbin von Herrn Antonio Mazzone, wohnhaft in Neapel (Italien), Luigi Moretti, wohnhaft in Nembro (Italien), Gabriele Sboarina, wohnhaft in Verona (Italien), Lina Wuhrer, wohnhaft in Brescia (Italien), Patrizia Capraro, wohnhaft in Rom (Italien), Luciana Meneghini als Erbin von Herrn Ferruccio Pisoni, wohnhaft in Trient, vertreten durch M. Paniz, Avvocato, Rechtsmittelführer, andere Partei des Verfahrens: Europäisches Parlament, vertreten durch S. Alves und S. Seyr als Bevollmächtigte, Beklagter im ersten Rechtszug, erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J. C. Bonichot und S. Rodin (Berichterstatter) sowie der Richterin L. S. Rossi, Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Januar 2024 folgendes Urteil 1 Mit ihrem Rechtsmittel beantragen Herr Giacomo Santini, Herr Marco Cellai, Herr Domenico Ceravolo, Herr Natalino Gatti, Frau Rosa Maria Avitabile als Erbin von Herrn Antonio Mazzone, Herr Luigi Moretti, Herr Gabriele Sboarina, Frau Lina Wuhrer, Frau Patrizia Capraro und Frau Luciana Meneghini als Erbin von Herrn Ferruccio Pisoni die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 10. Februar 2021, Santini u. a./Parlament (T‑345/19, T‑346/19, T‑364/19 bis T‑366/19, T‑372/19 bis T‑375/19 und T‑385/19, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2021:78), mit dem das Gericht ihre Klagen auf Nichtigerklärung der Mitteilungen vom 11. April 2019 sowie, was Frau Meneghini als Erbin von Herrn Pisoni betrifft, vom 8. Mai 2019, die das Europäische Parlament für jeden einzelnen Rechtsmittelführer erstellt hat (im Folgenden zusammen: streitige Beschlüsse) und die die Anpassung der Höhe der Ruhegehälter betreffen, die sie nach dem Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 14/2018 vom 12. Juli 2018 des Ufficio di Presidenza della Camera dei deputati (Präsidium der Abgeordnetenkammer, Italien) (im Folgenden: Beschluss Nr. 14/2018) am 1. Januar 2019 beziehen, und auf Ersatz des Schadens, der den Rechtsmittelführern infolge dieser Handlungen entstanden sein soll, abgewiesen hat. I. Rechtlicher Rahmen A. Unionsrecht 1. KVR 2 Art. 1 der Anlage III der Kostenerstattungs- und Vergütungsregelung für die Mitglieder des Europäischen Parlaments sah in seiner bis zum 14. Juli 2009 geltenden Fassung (im Folgenden: KVR) vor: „1.   Alle Mitglieder des Parlaments haben Anspruch auf ein Altersruhegehalt. 2.   Bis zur Einführung eines endgültigen gemeinschaftlichen Altersversorgungssystems für alle Mitglieder des Europäischen Parlaments wird – sofern das nationale System keine Altersversorgung vorsieht oder die Höhe und/oder die Modalitäten der vorgesehenen Versorgung nicht mit denen übereinstimmen, die für die Mitglieder des nationalen Parlaments des Mitgliedstaates gelten, in dem das betreffende Mitglied des Parlaments gewählt wurde – aus dem Haushaltsplan der Europäischen Union, Einzelplan Parlament, auf Antrag des betreffenden Mitglieds ein vorläufiges Altersruhegehalt gezahlt.“ 3 Art. 2 der Anlage III der KVR bestimmte: „1.   Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts sind identisch mit Höhe und Bedingungen des Altersruhegehalts für Mitglieder der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaates, in dem das Mitglied des Parlaments gewählt wurde. 2.   Ein gemäß Artikel 1 Absatz 2 anspruchsberechtigtes Mitglied hat beim Beitritt zu dieser Regelung einen Beitrag zugunsten des Haushalts der Europäischen Union zu leisten, der so berechnet ist, dass seine Zahlungen insgesamt dem Beitrag entsprechen, den ein Mitglied der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaates, in dem das Mitglied gewählt wurde, nach den nationalen Bestimmungen zu entrichten hat.“ 4 In Art. 3 Abs. 1 und 2 der Anlage III der KVR hieß es: „1.   Der Antrag auf Beitritt zu dieser vorläufigen Ruhegehaltsregelung muss binnen zwölf Monaten nach Beginn des Mandats des Betroffenen gestellt werden. Nach Ablauf dieser Frist wird der Beitritt zur Ruhegehaltsregelung am ersten Kalendertag des Monats wirksam, in dem der Antrag eingegangen ist. 2.   Der Antrag auf Auszahlung des Ruhegehalts muss binnen sechs Monaten nach Entstehen des Anspruchs gestellt werden. Nach Ablauf dieser Frist wird der Ruhegehaltsanspruch am ersten Kalendertag des Monats wirksam, in dem der Antrag eingegangen ist.“ 2. Abgeordnetenstatut 5 In Art. 25 Abs. 1 und 2 des Beschlusses 2005/684/EG, Euratom des Europäischen Parlaments vom 28. September 2005 zur Annahme des Abgeordnetenstatuts des Europäischen Parlaments (ABl. 2005, L 262, S. 1, im Folgenden: Abgeordnetenstatut), das am 14. Juli 2009 in Kraft getreten ist, heißt es: „(1)   Die Abgeordneten, die vor Inkrafttreten des Statuts dem Parlament bereits angehörten und wiedergewählt wurden, können sich hinsichtlich der Entschädigung, des Übergangsgeldes, des Ruhegehaltes und der Hinterbliebenenversorgung für die gesamte Dauer ihrer Tätigkeit für das bisherige nationale System entscheiden. (2)   Diese Zahlungen werden aus dem Haushalt des Mitgliedstaates geleistet.“ 6 Art. 28 Abs. 1 des Abgeordnetenstatuts sieht vor: „Ein Anspruch auf Ruhegehalt, den ein Abgeordneter zum Zeitpunkt der Anwendung dieses Statuts nach einzelstaatlichen Regelungen erworben hat, bleibt in vollem Umfang erhalten.“ 3. Durchführungsbestimmungen 7 Im siebten Erwägungsgrund des Beschlusses 2009/C 159/01 des Präsidiums des Europäischen Parlaments vom 19. Mai und 9. Juli 2008 mit Durchführungsbestimmungen zum Abgeordnetenstatut des Europäischen Parlaments (ABl. 2009, C 159, S. 1) in der durch den Beschluss 2010/C 340/06 des Präsidiums des Europäischen Parlaments vom 13. Dezember 2010 (ABl. 2010, C 340, S. 6) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsbestimmungen) heißt es: „[I]n den Übergangsbestimmungen [soll] gewährleistet werden, dass die Personen, die auf der Grundlage der KVR bestimmte Leistungen erhalten, diese auch nach der Aufhebung dieser Regelung gemäß dem Grundsatz des Vertrauensschutzes weiterhin in Anspruch nehmen können. Ferner soll die Einhaltung der Ruhegehaltsansprüche gewährleistet sein, die auf der Grundlage der KVR vor Inkrafttreten des [Abgeordnetens]tatuts erworben wurden.“ 8 Art. 49 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen bestimmt: „Die Abgeordneten, die ihr Mandat mindestens ein volles Jahr ausgeübt haben, haben nach Ende des Mandats Anspruch auf ein lebenslanges Ruhegehalt, das ab dem ersten Tag des Monats zahlbar ist, nach dem sie das 63. Lebensjahr vollenden. Außer in Fällen höherer Gewalt stellt der ehemalige Abgeordnete oder sein gesetzlicher Vertreter den Antrag auf Auszahlung des Ruhegehalts innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt der Anspruchsberechtigung. Nach Ablauf dieser Frist wird der Ruhegehaltsanspruch am ersten Tag des Monats wirksam, in dem der Antrag eingegangen ist.“ 9 Gemäß ihrem Art. 73 sind die Durchführungsbestimmungen am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts, nämlich am 14. Juli 2009, in Kraft getreten. 10 Art. 74 der Durchführungsbestimmungen sieht vor, dass die KVR vorbehaltlich der in Titel IV der Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Übergangsbestimmungen, zu denen Art. 75 der Durchführungsbestimmungen gehört, am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts ungültig wird. 11 Art. 75 der Durchführungsbestimmungen lautet: „(1)   Die Hinterbliebenenversorgung, das Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit, das für die unterhaltsberechtigten Kinder gewährte zusätzliche Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit und das Ruhegehalt gemäß den Anlagen I, II und III der KVR für die Mitglieder werden gemäß diesen Anlagen auch weiterhin den Personen gezahlt, die diese Leistungen bereits vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des [Abgeordnetens]tatuts erhalten haben. Falls ein ehemaliger Abgeordneter, der das Ruhegehalt wegen Dienstunfähigkeit bezieht, nach dem 14. Juli 2009 verstirbt, werden die Hinterbliebenenbezüge nach den Bedingungen gemäß Anlage I der KVR an seinen Ehegatten, seinen festen Lebenspartner oder seine unterhaltsberechtigten Kinder gezahlt. (2)   Die bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des [Abgeordnetens]tatuts gemäß Anlage III erworbenen Ruhegehaltsansprüche bleiben bestehen. Die Personen, die im Rahmen dieser Ruhegehaltsregelung Ansprüche erworben haben, erhalten ein Ruhegehalt, das auf der Grundlage ihrer gemäß der oben genannten Anlage III erworbenen Ansprüche berechnet wird, sofern sie die in den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates vorgesehenen Bedingungen erfüllen und den Antrag im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 der genannten Anlage III gestellt haben.“ B. Italienisches Recht 12 Art. 1 Abs. 1 bis 3 des Beschlusses Nr. 14/2018 sieht vor: „(1)   Mit Wirkung vom 1. Januar 2019 wird die Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen) sowie des den Versorgungsbezügen entsprechenden Teils der Vorsorgeleistungen (Direkt- und Hinterbliebenenleistungen), deren Ansprüche auf der Grundlage der am 31. Dezember 2011 geltenden Regelung erworben worden sind, nach den in diesem Beschluss vorgesehenen Modalitäten neu berechnet. (2)   Die Neuberechnung im Sinne des vorstehenden Absatzes erfolgt durch Multiplikation der Höhe des individuellen Beitrags mit dem Verarbeitungskoeffizienten, der sich auf das Alter des Abgeordneten zum Zeitpunkt des Erwerbs des Anspruchs auf lebenslange Versorgungsbezüge oder auf die anteilige Vorsorgeleistung bezieht. (3)   es gelten die Verarbeitungskoeffizienten in der dem vorliegenden Beschluss als Anhang beigefügten Tabelle 1.“ II. Vorgeschichte des Rechtsstreits 13 Die Vorgeschichte des Rechtsstreits wird in den Rn. 14 bis 21 des angefochtenen Urteils geschildert. Sie lässt sich für die Zwecke des vorliegenden Urteils wie folgt zusammenfassen. 14 Jeder der Rechtsmittelführer ist entweder ein in Italien gewähltes ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments oder ein Hinterbliebener eines solchen ehemaligen Europaabgeordneten, der ein Altersruhegehalt oder eine Hinterbliebenenrente bezieht (im Folgenden: Ruhegehalt). 15 Durch Hinzufügung einer Anmerkung zu den Ruhegehaltsabrechnungen für den Monat Januar 2019 teilte das Parlament den Rechtsmittelführern mit, dass die Höhe ihres Ruhegehalts gemäß dem Beschluss Nr. 14/2018 überprüft werden und diese Neuberechnung gegebenenfalls zu einer Rückforderung der zu Unrecht geleisteten Zahlungen führen könnte. 16 Ab dem 1. Januar 2019 kürzte das Parlament die Ruhegehälter der Rechtsmittelführer, indem es diesen Beschluss gemäß Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR anwandte. 17 Mit undatierter Mitteilung des Leiters des Referats „Entschädigung und soziale Rechte der Mitglieder“ der Generaldirektion (GD) Finanzen des Parlaments (im Folgenden: Referatsleiter), die den Ruhegehaltsabrechnungen der Rechtsmittelführer für den Monat Februar 2019 als Anhang beigefügt war, setzte das Parlament die Rechtsmittelführer darüber in Kenntnis, dass sein Juristischer Dienst die automatische Anwendbarkeit des Beschlusses Nr. 14/2018 auf ihre Situation mit seinem Gutachten Nr. SJ-0836/18 vom 11. Januar 2019 (im Folgenden: Gutachten des Juristischen Diensts) bestätigt habe. Sobald es die erforderlichen Informationen seitens der Camera dei deputati (Abgeordnetenkammer, Italien) erhalten habe, werde es den Rechtsmittelführern den neuen Betrag ihres Ruhegehalts mitteilen und eine etwaige Differenz in den folgenden zwölf Monaten zurückfordern. Ferner informierte es die Rechtsmittelführer darüber, dass der endgültige Betrag ihres Ruhegehalts durch einen formalen Rechtsakt festgesetzt werde, gegen den Beschwerde eingelegt oder Nichtigkeitsklage erhoben werden könne. 18 Mit den streitigen Beschlüssen informierte der Referatsleiter die Rechtsmittelführer erstens darüber, dass die Höhe ihrer Ruhegehälter in Anwendung von Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR angepasst werde, und zwar in Höhe der Kürzung der entsprechenden Ruhegehälter, die die Abgeordnetenkammer ehemaligen nationalen Abgeordneten gemäß dem Beschluss Nr. 14/2018 zahle. Zweitens werde die Höhe der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer nach Maßgabe der im Anhang der Schreiben übermittelten Entwürfe zur Festsetzung der neuen Höhe der Ruhegehälter ab April 2019 rückwirkend zum 1. Januar 2019 angepasst. Drittens wurde den Rechtsmittelführern in den streitigen Beschlüssen eine Frist zur Stellungnahme von 30 Tagen ab Eingang gewährt. In Ermangelung einer solchen Stellungnahme würden die Wirkungen dieser Beschlüsse als endgültig betrachtet und u. a. zur Rückforderung der für die Monate Januar bis März 2019 rechtsgrundlos erhaltenen Beträge führen. 19 Da keiner der Rechtsmittelführer eine solche Stellungnahme innerhalb der gesetzten Frist abgegeben hatte, wurden die streitigen Beschlüsse nach Ablauf dieser Frist ihnen gegenüber bestandskräftig. III. Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil 20 Mit Klageschriften, die am 10. Juni (Rechtssachen T‑345/19 und T‑346/19), 17. Juni (Rechtssachen T‑364/19 und T‑365/19), 18. Juni (Rechtssache T‑366/19), 20. Juni (Rechtssachen T‑372/19 bis T‑375/19) und 25. Juni 2019 (Rechtssache T‑385/19) bei der Kanzlei des Gerichts eingingen, erhoben die Rechtsmittelführer Klage auf Nichtigerklärung der streitigen Beschlüsse. 21 Die Rechtsmittelführer stützten ihre Klagen auf acht Gründe. Mit dem ersten Klagegrund wurde die Unzuständigkeit des Urhebers der streitigen Beschlüsse und die Rechtswidrigkeit der automatischen Anwendung des Beschlusses Nr. 14/2018 geltend gemacht. Mit dem zweiten Klagegrund wurde ein Verstoß gegen die Bestimmungen der KVR, des Abgeordnetenstatuts und der Durchführungsbestimmungen gerügt. Mit dem dritten Klagegrund wurde ein Verstoß gegen Art. 28 des Abgeordnetenstatuts sowie gegen die Art. 75 und 76 der Durchführungsmaßnahmen geltend gemacht. Mit dem vierten Klagegrund wurde ein Verstoß gegen Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen sowie ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot und den Grundsatz der Gleichbehandlung gerügt. Mit dem fünften Klagegrund machten sie eine Verletzung des Eigentumsrechts geltend. Mit dem sechsten Klagegrund wurde ein Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit und des Schutzes erworbener Rechte geltend gemacht. Mit dem siebten Klagegrund wurde ein Verstoß gegen die Grundsätze der Angemessenheit, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung gerügt. Mit dem achten Klagegrund wurden weitere Verstöße gegen die Grundsätze der Angemessenheit, der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und gegen den Grundsatz der Solidarität geltend gemacht. 22 Mit dem angefochtenen Urteil wies das Gericht sämtliche Klagegründe zurück und infolgedessen die Klagen ab. IV. Verfahren und Anträge der Parteien vor dem Gerichtshof 23 Die Rechtsmittelführer beantragen, – das angefochtene Urteil aufzuheben, – die streitigen Beschlüsse für nichtig zu erklären und – dem Parlament die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und des Verfahrens vor dem Gericht aufzuerlegen. 24 Das Parlament beantragt, – das Rechtsmittel zurückzuweisen und – den Rechtsmittelführern die Kosten des Rechtsmittelverfahrens und des Verfahrens vor dem Gericht aufzuerlegen. 25 Am 12. Januar 2022 hat Herr Enrico Falqui im Rahmen des Verfahrens in der ihn betreffenden Rechtssache C‑391/21 P bei der Kanzlei des Gerichtshofs eine Kopie des Urteils Nr. 4/2021 des Consiglio di giurisdizione della Camera dei deputati (Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammer, Italien) vom 23. Dezember 2021 (im Folgenden: Urteil Nr. 4/2021) vorgelegt, mit dem der Beschluss Nr. 14/2018 aufgehoben wurde. Dieses Dokument wurde bislang nicht zu den Akten gereicht. 26 Am 9. März 2022 haben die Rechtsmittelführer dieses Urteil ebenfalls bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingereicht. 27 In der vorliegenden Rechtssache sowie in den Rechtssachen Falqui/Parlament (C‑391/21 P) und Coppo Gavazzi u. a./Parlament (C‑725/20 P) hat die Kanzlei den Parteien am 16. März 2022 eine vom Berichterstatter und der Generalanwältin gemäß Art. 62 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beschlossene prozessleitende Maßnahme übermittelt, mit der diese aufgefordert wurden, alle Dokumente vorzulegen, die eine Auswirkung auf den Gegenstand der sie betreffenden Rechtssache haben könnten, namentlich das Urteil Nr. 4/2021. 28 Am 23. März 2022 haben die Rechtsmittelführer in der vorliegenden Rechtssache mehrere Dokumente, u. a. das Urteil Nr. 4/2021, vorgelegt. Am 29. März 2022 hat auch das Parlament mehrere Dokumente, u. a. das Urteil Nr. 4/2021 und ein Dokument mit dem Titel „Von der italienischen Abgeordnetenkammer verabschiedete neue Regeln für die Berechnung der Ruhegehälter“ vorgelegt. Das Parlament hat den Gerichtshof auch darüber informiert, dass es ab Erhalt der zusätzlichen Klarstellungen zur konkreten Anwendung dieser Regeln, die es von der Abgeordnetenkammer angefordert habe, eine Neuberechnung der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer vornehmen werde und diesen einen neuen Beschlussentwurf über die Berechnung ihrer Ruhegehaltsansprüche zusenden werde, zu dem sie vor Erlass eines endgültigen Beschlusses Stellung nehmen könnten. 29 Am 12. Oktober und 29. November 2022 hat das Parlament bei der Kanzlei des Gerichtshofs die endgültigen Beschlüsse eingereicht, mit denen die Höhe der Ruhegehälter, die den Rechtsmittelführern ab November 2022 gezahlt werden sollten, neu festgesetzt und die geschuldeten Nachzahlungen festgelegt wurden (im Folgenden: neue Beschlüsse des Parlaments). 30 Mit Entscheidung vom 25. Oktober 2022 hat der Präsident des Gerichtshofs die Parteien aufgefordert, mitzuteilen, ob sie zum einen davon ausgingen, dass die neuen Beschlüsse des Parlaments die streitigen Beschlüsse ex tunc ersetzt hätten, und zum anderen davon, dass das Rechtsmittel nach dem Erlass dieser neuen Beschlüsse seinen Gegenstand behalte. 31 Am 29. November 2022 hat das Parlament erklärt, dass es davon ausgehe, dass die neuen Beschlüsse des Parlaments die streitigen Beschlüsse mit Ex-tunc-Wirkung ersetzt hätten, das Rechtsmittel seinen Gegenstand aber behalte. Es sei nämlich im Interesse der Parteien und der Rechtspflege, dass der Gerichtshof über die Begründetheit des Rechtsmittels entscheide, um die Frage zu klären, ob das angefochtene Urteil rechtsfehlerhaft sei und ob das Parlament im Fall einer Änderung der anwendbaren nationalen Vorschriften auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR eine Neuberechnung der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer vornehmen könne. 32 Mit am 29. November 2022 eingereichten Schreiben haben die Rechtsmittelführer erklärt, dass sie davon ausgingen, dass alle Rechtsmittelgründe ihr Interesse und ihre Aktualität behielten, da die neuen Beschlüsse des Parlaments die streitigen Beschlüsse, die weiterhin voll wirksam und gültig seien, nicht ersetzt hätten. Die neuen Beschlüsse des Parlaments führten ebenso wie die streitigen Beschlüsse zu einer Neuberechnung der Höhe ihrer Ruhegehälter und durch Änderung der Anspruchsvoraussetzungen zu einer rückwirkenden und dauerhaften Neudefinition dieses Anspruchs. Der Beschluss Nr. 14/2018 sei nämlich nur in dem Teil geändert worden, die den Verarbeitungskoeffizienten im Hinblick auf das Alter des Abgeordneten betreffe, der ein Ruhegehalt beziehe. V. Zum Rechtsmittel 33 Im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels machen die Rechtsmittelführer sechs Rechtsmittelgründe geltend, mit denen sie im Wesentlichen die Bestätigung des Gerichts in Frage stellen, die Auslegung von Art. 75 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR (im Folgenden: interne Vorschriften des Parlaments), die das Parlament dazu veranlasst habe, den Beschluss Nr. 14/2018 anzuwenden, um die Höhe ihrer Ruhegehälter zu ändern, sei zutreffend. Mit den Rechtsmittelgründen 1 bis 4, die zusammen zu prüfen sind, wird eine fehlerhafte Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments und ein Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit sowie gegen das in Art. 17 der Charta verbürgte Eigentumsrecht geltend gemacht und die Untätigkeit des Parlaments gerügt. Mit dem fünften Rechtsmittelgrund wird eine fehlerhafte Auslegung von Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments geltend gemacht. Mit dem sechsten Rechtsmittelgrund wird ein Rechtsfehler gerügt, den das Gericht bei der Beurteilung der richtigen Begründung der streitigen Beschlüsse begangen habe. A. Vorbemerkungen zum Fortbestand des Rechtsschutzinteresses der Rechtsmittelführer 34 Aus Rn. 29 des vorliegenden Urteils geht hervor, dass mit den neuen Beschlüssen des Parlaments, die während des Verfahrens vor dem Gerichtshof erlassen wurden, die Höhe der Ruhegehälter, die den Rechtsmittelführern ab November 2022 gezahlt werden, neu festgesetzt und die geschuldeten Nachzahlungen festgelegt werden sollen. 35 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ebenso wie das Rechtsschutzinteresse auch der Streitgegenstand bis zum Erlass der gerichtlichen Entscheidung weiter vorliegen muss – andernfalls der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist –, was voraussetzt, dass das Rechtsmittel der Partei, die es eingelegt hat, im Ergebnis einen Vorteil verschaffen kann (Urteil vom 4. September 2018, ClientEarth/Kommission, C‑57/16 P, EU:C:2018:660, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung). 36 Allerdings entfällt das Rechtsschutzinteresse eines Klägers nicht zwangsläufig deshalb, weil der von ihm angefochtene Rechtsakt im Lauf des Verfahrens aufgehört hat, Wirkungen zu zeitigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Mai 2013, Abdulrahim/Rat und Kommission, C‑239/12 P, EU:C:2013:331, Rn. 62). 37 Ein Kläger kann unter bestimmten Umständen ein Interesse an der Aufhebung einer im Lauf des Verfahrens aufgehobenen Handlung behalten, um den Urheber der angefochtenen Handlung zu veranlassen, diese für die Zukunft in geeigneter Weise zu ändern, und um somit das Risiko zu vermeiden, dass sich die Rechtswidrigkeit, die der angefochtenen Handlung anhaften soll, wiederholt (Urteil vom 6. September 2018, Bank Mellat/Rat, C‑430/16 P, EU:C:2018:668, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 38 Im vorliegenden Fall geht aus der in Rn. 31 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Antwort des Parlaments vom 29. November 2022 eindeutig hervor, dass dieses auch für die Zukunft die Ruhegehälter ehemaliger Europaabgeordneter im Fall einer Änderung der in Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR genannten nationalen Regelung neu berechnen will (im Folgenden: dynamische Regelung). 39 Zwar hat das Parlament die streitigen Beschlüsse durch die neuen Beschlüsse ersetzt, alle diese Beschlüsse sind jedoch weiterhin auf eine Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments gestützt, nach der dieses verpflichtet ist, die dynamische Regelung auf ehemalige Europaabgeordnete, die ein Ruhegehalt beziehen, und auf Personen, die eine Hinterbliebenenversorgung beziehen, anzuwenden, die, wie die Rechtsmittelführer, in den Anwendungsbereich der Anlagen der KVR fallen (im Folgenden: betroffene ehemalige Europaabgeordnete). 40 Genau diese Auslegung wird von den Rechtsmittelführern im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels in Frage gestellt. Daraus folgt, dass die Rechtsmittelführer trotz der Ersetzung der streitigen Beschlüsse ex tunc weiterhin ein Interesse an der Feststellung haben, dass das Gericht dadurch einen Rechtsfehler begangen hat, dass es bestätigt hat, dass diese Auslegung zutreffend sei, denn sie könnte vom Parlament beim zukünftigen Erlass von Beschlüssen, die den streitigen Beschlüssen oder den neuen Beschlüssen des Parlaments ähnlich sind, angewandt werden, so dass nicht nur die Gefahr einer Wiederholung der behaupteten Rechtswidrigkeit im Sinne der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung besteht, sondern auch die Gefahr, dass das Gericht im Fall einer Nichtigkeitsklage gegen solche ähnlichen Beschlüsse erneut die angeblichen Rechtsfehler begeht, die es zu der Bestätigung veranlasst haben, dass diese Auslegung zutreffend sei. 41 Außerdem geht aus den neuen Beschlüssen hervor, dass das Parlament weiterhin der Ansicht ist, dass der Referatsleiter dazu befugt sei, im Fall einer Änderung der nationalen Vorschriften Beschlüsse über die Änderung der Höhe der Ruhegehälter zu erlassen, und dass diese Beschlüsse keine Begründung zu ihrer Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht enthalten müssten. 42 Infolgedessen ist davon auszugehen, dass die Rechtsmittelführer insofern ein Rechtsschutzinteresse vor dem Gerichtshof behalten, als das vorliegende Rechtsmittel gegen die Gründe des angefochtenen Urteils gerichtet ist, die die notwendige Stütze der Beurteilungen des Gerichts bilden, wonach sich erstens aus den internen Vorschriften des Parlaments ergebe, dass dieses verpflichtet sei, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden, zweitens der Referatsleiter für den Erlass der Beschlüsse über die Änderung der Höhe der Ruhegehälter dieser ehemaligen Abgeordneten zuständig sei und drittens das Parlament nicht verpflichtet sei, in solchen Beschlüssen die Gründe für ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht darzulegen. B. Zu den Rechtsmittelgründen 1 bis 4 1. Vorbringen der Parteien 43 Zwei verschiedene Rügen werden zur Stützung der Rechtsmittelgründe 1 bis 4 vorgetragen. 44 Mit der ersten Rüge werfen die Rechtsmittelführer dem Gericht vor, zum einen in Rn. 81 des angefochtenen Urteils festgestellt zu haben, dass die Anlage III der KVR nach dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts auf sie anwendbar geblieben sei, und zum anderen in Rn. 90 des angefochtenen Urteils festgestellt zu haben, dass die internen Vorschriften des Parlaments keinen Eingriff in die erworbenen Rechte der betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten darstellten. 45 Hierzu machen die Rechtsmittelführer geltend, dass durch Art. 74 der Durchführungsbestimmungen die Anlage III der KVR aufgehoben worden sei und nur die in Titel IV der Durchführungsbestimmungen enthaltenen Übergangsbestimmungen sowie Art. 75 der Durchführungsbestimmungen aufrechterhalten worden seien. Ab dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts sei der Inhalt dieser Anlage III zum Zeitpunkt seiner Aufhebung durch die Art. 74 und 75 der Durchführungsbestimmungen aufrechterhalten worden, wie u. a. aus dem siebten Erwägungsgrund der Durchführungsbestimmungen hervorgehe. 46 Der Verweis in Art. 75 der Durchführungsbestimmungen auf die Anlagen der KVR müsse nämlich als Verweis auf die Ruhegehaltsleistung aufgefasst werden, die anwendbar gewesen sei, als diese Anlagen in Kraft gewesen seien. Diese Bestimmung habe zum Ziel, die erworbenen Rechte der betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten zu wahren, was im Übrigen durch Art. 28 des Abgeordnetenstatuts bestätigt werde. 47 Die Feststellung, dass eine Kürzung des Ruhegehalts nicht das erworbene Recht beeinträchtige, ein Ruhegehalt zu beziehen, würde daher erfordern, die Umstände zu präzisieren, unter denen dies der Fall sei, und zwischen den Abs. 1 und 2 von Art. 75 der Durchführungsbestimmungen zu unterscheiden, was das Gericht nicht getan habe. 48 Im vorliegenden Fall sei die Höhe der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer mit Hilfe eines Multiplikators berechnet worden, der einseitig und rückwirkend vom Präsidium der Abgeordnetenkammer auf der Grundlage von Ereignissen festgelegt worden sei, die in der versicherungsmathematischen Logik als unsicher zu betrachten seien, da sie mit zukünftigen und unsicheren Ereignissen zusammenhingen wie der durchschnittlichen Überlebenswahrscheinlichkeit des Begünstigten zum Zeitpunkt der Zahlung des Ruhegehalts und der wahrscheinlichen Existenz eines Ehegatten oder Erben, die eine Hinterbliebenenversorgung erhielten. Zum Zeitpunkt der Änderung der Höhe der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer hätte jedoch mit Sicherheit festgestellt werden können, ob diese Ereignisse bereits stattgefunden hätten. 49 Selbst wenn Art. 2 der Anlage III der KVR im vorliegenden Fall nach Art. 75 der Durchführungsbestimmungen anwendbar wäre, beträfe diese Bestimmung nicht die Voraussetzungen für die Entstehung des Anspruchs auf Ruhegehalt. Mit den streitigen Beschlüssen sei jedoch nicht nur die Höhe der betreffenden Ruhegehälter geändert worden, sondern auch die Methode für die Berechnung ihrer Höhe, da mit ihnen die Methode, die sich auf die Vergütung gestützt habe, die die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten während ihres Mandats bezogen hätten, durch die Methode ersetzt worden sei, die sich auf die Beiträge gestützt habe, die diese Abgeordneten gezahlt hätten, und zwar so, als ob die Ruhegehälter immer gemäß einer von der Beitragsmethode inspirierten Methode berechnet worden seien. Die Rechtsmittelführer hätten, als sie noch tätig gewesen seien, weder die Möglichkeit gehabt, die von den streitigen Beschlüssen herbeigeführte Änderung vorherzusehen, noch die Möglichkeit, ihre Beiträge zu dieser Ruhegehaltsregelung zu erhöhen, um die negativen Folgen abzumildern. 50 Hilfsweise, d. h., falls die Unterscheidung zwischen Anspruch auf Ruhegehalt und Anspruch auf Ruhegehaltsleistung anwendbar sein sollte, machen die Rechtsmittelführer geltend, dass sie nicht nur Inhaber eines Ruhegehaltsanspruchs seien, sondern auch eines Anspruchs auf ein festes Ruhegehalt, wie aus Art. 75 der Durchführungsbestimmungen hervorgehe, weshalb sie einen Anspruch darauf hätten, Ruhegehalt in der Höhe zu beziehen, die sie bei der Zahlung ihrer Beiträge hätten erwarten können. Die streitigen Beschlüsse führten zu einem Ungleichgewicht zulasten der Rechtsmittelführer, da die gezahlten Beiträge damals keinen Einfluss auf den Erwerb des Ruhegehaltsanspruchs oder auf den Umfang dieses Anspruchs gehabt hätten und daher in den ersten Wahlperioden niedrig gewesen seien, was aktuell vor allem die ältesten betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten wie die Rechtsmittelführer benachteilige. 51 Mit der zweiten Rüge machen die Rechtsmittelführer geltend, dass das Gericht gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, den Grundsatz des Vertrauensschutzes, das in Art. 17 der Charta verbürgte Eigentumsrecht und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen habe. 52 Erstens verstoße die Berechnung der Ruhegehaltsansprüche auf der Grundlage der neuen Vorschriften insofern gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, als er gemäß der Ratio von Art. 28 des Abgeordnetenstatuts und Art. 75 der Durchführungsbestimmungen einem Eingriff in erworbene Rechte entgegenstehe. 53 Zweitens verstoße die neue Art der Berechnung der Höhe der Ruhegehälter gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes, da dieser jeder Änderung der Berechnungsmodalitäten entgegenstehe, mit denen sich die Rechtsmittelführer einverstanden erklärt hätten. Die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten hätten nämlich keine Kenntnis davon gehabt, dass ihre Ruhegehaltsregelung auf einem automatischen Verweis auf die Beträge der Ruhegehälter der ehemaligen Mitglieder des Parlaments des Mitgliedstaats, in dem sie gewählt worden seien, beruhe. 54 Außerdem habe das Gericht nicht die Tatsache berücksichtigt, dass das Parlament die Rechtsmittelführer über die mögliche Anwendung des Beschlusses Nr. 14/2018 auf sie erst im Lauf des Jahres 2019 informiert habe, d. h. nach dem Zeitpunkt, zu dem die Kürzung ihres Ruhegehalts hätte angewandt werden müssen, nämlich dem 1. Januar 2019, wodurch ihnen tatsächlich der Fortbestand des zuvor erworbenen Anspruchs versichert worden sei. 55 Im Übrigen würden die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten in dem Beschluss Nr. 14/2018 nicht erwähnt. 56 Jedenfalls hätten die Abgeordnetenkammer und der Senato (Senat, Italien) gemäß den Art. 27 und 28 des Abgeordnetenstatuts sowie Art. 75 der Durchführungsbestimmungen Zusicherungen hinsichtlich der Unveränderlichkeit des Ruhegehaltsanspruchs der Rechtsmittelführer abgegeben. 57 Was drittens das in Art. 17 der Charta verbürgte Eigentumsrecht betrifft, tragen die Rechtsmittelführer vor, dass das Gericht festgestellt habe, dass das Ziel, das vom Parlament geltend gemacht werde, um den Eingriff in dieses Recht durch die streitigen Beschlüsse zu rechtfertigen, ausdrücklich in der Präambel des Beschlusses Nr. 14/2018 genannt werde. In dem Beschluss werde allerdings nicht erwähnt, dass die Ruhegehälter neu berechnet werden sollten. Des Weiteren hätten weder das Parlament noch der Beschluss Nr. 14/2018 auf ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel Bezug genommen, das diesen Eingriff rechtfertige. 58 Das Gericht habe in Rn. 160 des angefochtenen Urteils zudem zwischen einem Eingriff in das Recht auf Ruhegehalt und einer bloßen Anpassung der Höhe des Ruhegehalts unterschieden. Es habe jedoch nicht erläutert, wo sich die Grenze befinde, oberhalb deren die Änderung der Höhe des Ruhegehalts nicht mehr den Wesensgehalt des Eigentumsrechts wahre und zu einer Verletzung des Rechts auf Ruhegehalt als solchem führe. 59 Ferner habe das Gericht in Rn. 172 des angefochtenen Urteils fehlerhaft festgestellt, dass die Kürzung der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer zum Ziel gehabt habe, die Höhe der allen Mitgliedern des Parlaments gezahlten Ruhegehälter der beitragsabhängigen Berechnungsmethode anzupassen, und sich dabei auf den Inhalt des Beschlusses Nr. 14/2018 gestützt. 60 Diese Argumentation des Gerichts ist nach Ansicht der Rechtsmittelführer ein Zirkelschluss. Sie stütze sich nämlich auf die Bestimmungen des italienischen Rechts und nicht auf eine von der Unionsrechtsordnung anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung, werde aber im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit der streitigen Beschlüsse mit dem von der Charta verbürgten Eigentumsrecht geprüft. 61 Diese Argumentation habe zudem die vom Beschluss Nr. 14/2018 vorgesehene Methode für die Berechnung der Höhe der Ruhegehälter verfälscht, die nicht als beitragsabhängig angesehen werden könne, da zum einen nach Art. 1 Abs. 4 dieses Beschlusses die Höhe der lebenslangen Versorgungsbezüge begrenzt sei. Zum anderen stütze sich die von dieser Bestimmung vorgesehene neue Berechnungsmethode nicht auf einen individuell festgelegten Beitragssatz, sondern auf einen für alle betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten identischen Satz. So verliere ein ehemaliger Europaabgeordneter, der während seines Mandats zu einem höheren als diesem identischen Satz berechnete Beiträge gezahlt habe, den Mehrwert des Teils der Beiträge, der über diesen Satz hinausgehe. 62 Viertens stelle die mit dem Beschluss Nr. 14/2018 eingeführte Methode für die Berechnung der Höhe der Ruhegehälter auch einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dar, da sie sich auf einen nicht individualisierten Beitragssatz stütze. 63 Mit den streitigen Beschlüssen sei eine übermäßig schwere individuelle Last auferlegt worden, insbesondere für die ältesten Rechtsmittelführer. Herr Gatti, der aktuell 80 Jahre alt sei, sei der am stärksten benachteiligte, da sein Ruhegehalt um 61 % gekürzt worden sei, obwohl er während zwei Wahlperioden im Parlament gewesen sei. Bei Herrn Ceravolo, der aktuell 91 Jahre alt sei, betrage die Kürzung 47 %. Bei Herrn Pisoni, der zum Zeitpunkt seines Todes 83 Jahre alt gewesen sei, habe die Kürzung 24 % betragen, obwohl er dasselbe Amt während desselben Zeitraums wie Herr Ceravolo ausgeübt habe, bei dem die Kürzung 47 % betragen habe. 64 Der Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinsichtlich der geltend gemachten Rechtfertigung sei umso offensichtlicher, wenn man bedenke, dass die beitragsabhängige Ruhegehaltsregelung in Italien erstmals am 1. Januar 1996 eingeführt worden sei und ab dem 1. Januar 2012 auf die Mehrzahl der Arbeitnehmer ausgeweitet worden sei. Mit den streitigen Beschlüssen werde den Rechtsmittelführern hingegen das Beitragssystem für einen Beitragszeitraum aufgezwungen, der weit vor dem Jahr 1995 liege, als dieses Beitragssystem für niemanden in Italien existiert habe. 65 Das Parlament trägt vor, die Rechtsmittelgründe 1 bis 4 seien als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet zurückzuweisen. 2. Würdigung durch den Gerichtshof a) Einleitende Bemerkungen 66 Mit der ersten Rüge beanstanden die Rechtsmittelführer die Beibehaltung der dynamischen Regelung nach dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts und machen geltend, dass diese Regelung einen Eingriff in die erworbenen Ansprüche auf Bezug eines Ruhegehalts darstelle. Sie stützen sich dabei auf die internen Vorschriften des Parlaments. 67 Mit dieser Rüge beanstanden sie daher im Wesentlichen die Stichhaltigkeit der Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wonach dieses verpflichtet sei, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. 68 Ebenso verhält es sich mit der zweiten Rüge, soweit die Rechtsmittelführer mit dieser geltend machen, dass die Anwendung der neuen Regeln für die Berechnung der Höhe ihres Ruhegehalts weder mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar sei, da diese neuen Regeln einen Eingriff in ihre erworbenen Ansprüche auf Bezug eines Ruhegehalts darstellten, noch mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes, da dieser jeder Kürzung des Ruhegehalts entgegenstehe, das die Rechtsmittelführer hätten erwarten können müssen, als sie der mit Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR eingeführten Regelung beigetreten seien. 69 Soweit die Rechtsmittelführer hingegen mit der zweiten Rüge dem Gericht vorwerfen, erstens nicht die Tatsache berücksichtigt zu haben, dass das Parlament sie verspätet über eine mögliche Anwendung des Beschlusses Nr. 14/2018 informiert habe, zweitens, dass in diesem Beschluss die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten nicht genannt würden, und drittens, dass die Abgeordnetenkammer sowie der Senat Zusicherungen hinsichtlich der Unveränderlichkeit des Ruhegehaltsanspruchs der Rechtsmittelführer gegeben hätten, beanstanden diese – selbst indirekt – keine Gründe des angefochtenen Urteils, die die Entscheidung des Gerichts tragen, mit der bestätigt wird, dass die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments zutreffend sei, nach der dieses verpflichtet sei, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. 70 Was die dritte Rüge betrifft, beanstanden die Rechtsmittelführer, soweit sie mit dieser dem Gericht vorwerfen, die Vereinbarkeit der streitigen Beschlüsse mit dem von der Charta verbürgten Eigentumsrecht nicht im Hinblick auf ein von der Unionsrechtsordnung anerkanntes Ziel, sondern das vom Beschluss Nr. 14/2018 verfolgte Ziel geprüft zu haben, im Wesentlichen die Vereinbarkeit der Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wonach dieses verpflichtet sei, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden, mit dem Unionsrecht. 71 Die Rechtsmittelführer beanstanden hingegen nicht die Stichhaltigkeit der Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wenn sie dem Gericht erstens vorwerfen, nicht die Grenze definiert zu haben, oberhalb der eine Änderung der Höhe des Ruhegehalts nicht mehr den Wesensgehalt des Eigentumsrechts wahre und zu einem Verstoß gegen das Recht auf Ruhegehalt als solches führe, zweitens, entschieden zu haben, dass das Ziel, das vom Gericht geltend gemacht worden sei, um den Eingriff in dieses Recht durch die streitigen Beschlüsse zu rechtfertigen, ausdrücklich in der Präambel des Beschlusses Nr. 14/2018 genannt werde, und drittens, die von diesem Beschluss vorgesehene Methode für die Berechnung der Ruhegehälter verfälscht zu haben. 72 In Bezug auf die vierte Rüge, die auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gestützt wird, ist festzustellen, dass die Rechtsmittelführer mit dieser Rüge geltend machen, dass der Beschluss Nr. 14/2018 erstens wegen der darin vorgesehenen Methode für die Berechnung der Ruhegehälter, zweitens wegen der Wirkung, die diese Methode auf die Situation der Rechtsmittelführer habe, und drittens wegen des historischen Kontexts, in den sich dieser Beschluss einfüge, nicht mit diesem Grundsatz vereinbar sei. Mit dieser Rüge beanstanden die Rechtsmittelführer daher – selbst indirekt – nicht die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wonach dieses verpflichtet sei, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. 73 Daraus folgt, dass die Rechtsmittelgründe 1 bis 4 nur insofern zu prüfen sind, als die Rechtsmittelführer mit diesen die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wonach dieses verpflichtet sei, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden, deshalb beanstanden, weil diese Auslegung erstens nicht aus diesen Vorschriften hervorgehe, zweitens nicht mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes und drittens nicht mit dem von Art. 17 der Charta verbürgten Eigentumsrecht vereinbar sei. b) Zur Begründetheit 1) Zum angeblichen Verstoß gegen die internen Vorschriften des Parlaments 74 Die Rechtsmittelführer werfen dem Gericht im Wesentlichen vor, in Rn. 99 des angefochtenen Urteils entschieden zu haben, dass sich das Parlament auf seine internen Vorschriften habe stützen dürfen, um die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. 75 Zunächst ist festzustellen, dass nach Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR „Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts identisch [sind] mit Höhe und Bedingungen des Altersruhegehalts für Mitglieder der Abgeordnetenkammer des Mitgliedstaates, in dem das Mitglied des Parlaments gewählt wurde“. 76 Wie das Gericht in Rn. 86 des angefochtenen Urteils im Wesentlichen ausgeführt hat, geht aus der Wendung „Höhe und Bedingungen des vorläufigen Altersruhegehalts sind identisch“ hervor, dass das Parlament verpflichtet ist, auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten die Regeln für die Berechnung der Ruhegehälter anzuwenden, wie sie auf die Mitglieder des Parlaments des Mitgliedstaats angewendet werden, in dem diese ehemaligen Europaabgeordneten gewählt wurden. Mit anderen Worten ist das Parlament verpflichtet, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. 77 Diese Auslegung von Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR ist mit dem Ziel vereinbar, das diese Bestimmung verfolgt und wie es sich aus Art. 1 Abs. 2 dieser Anlage ergibt. 78 Diese letztgenannte Bestimmung sieht nämlich vor, dass nur diejenigen ehemaligen Europaabgeordneten das in Art. 2 Abs. 1 dieser Anlage vorgesehene Altersruhegehalt beanspruchen können, bei denen die Ruhegehaltsregelung des Mitgliedstaats, in dem sie gewählt wurden, kein Ruhegehalt vorsieht oder einen Anspruch auf Ruhegehalt, dessen Höhe und/oder Methoden für seine Berechnung nicht identisch sind mit denjenigen, die für die Mitglieder des nationalen Parlaments gelten. 79 Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR hat damit im Wesentlichen zum Ziel, den ehemaligen Europaabgeordneten, die sich in der in Art. 1 Abs. 2 dieser Anlage genannten Situation befinden, zu ermöglichen, genauso behandelt zu werden wie die Europaabgeordneten, deren nationale Ruhegehaltsregelung einen Anspruch auf Ruhegehalt vorsah, dessen Höhe und/oder Berechnungsmethoden identisch waren mit denen, die für die Mitglieder ihres nationalen Parlaments galten. 80 Die Auslegung dieser Bestimmung dahin, dass sie dem Parlament aufgibt, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden, hat somit zur Folge, diese wie die anderen ehemaligen Europaabgeordneten den Änderungen zu unterwerfen, die an den Vorschriften über die Berechnung der Höhe der Ruhegehälter der Mitglieder ihres nationalen Parlaments vorgenommen wurden. 81 Zudem wurde die mit Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR eingerichtete Ruhegehaltsregelung gemäß den Durchführungsbestimmungen nach dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts für diejenigen betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten, die bereits vor diesem Inkrafttreten ein Ruhegehalt auf der Grundlage dieser Regelung bezogen, beibehalten. 82 Art. 74 der Durchführungsbestimmungen bestimmt zum einen, dass die KVR am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts ungültig wird, zum anderen aber auch, dass diese Aufhebung unbeschadet der in Titel IV der Durchführungsbestimmungen – namentlich Art. 75 – vorgesehenen Übergangsbestimmungen erfolgt. 83 Gemäß Art. 75 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen wird das Ruhegehalt gemäß der Anlage III der KVR auch weiterhin den Personen gezahlt, die diese Leistungen bereits vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts erhalten haben. 84 Wie das Gericht in Rn. 88 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, ist dem Wortlaut dieser Bestimmung und genauer gesagt dem imperativen Charakter der Formulierung „werden gemäß [Anlage III der KVR] auch weiterhin … gezahlt“ sowie der Verwendung des Indikativ Präsens in dieser Formulierung zu entnehmen, dass die dynamische Regelung nach dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts weiterhin auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anwendbar ist. 85 Daher hat das Gericht entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführer keinen Rechtsfehler begangen, als es in Rn. 81 des angefochtenen Urteils entschieden hat, dass die Bestimmungen der Anlage III der KVR nicht mit dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts ungültig geworden sind. 86 Die Auslegung von Art. 75 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen, wonach die dynamische Regelung nach dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anwendbar bleibt, wird entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführer weder durch Abs. 2 dieser Bestimmung noch durch den siebten Erwägungsgrund der Durchführungsbestimmungen noch durch Art. 28 des Abgeordnetenstatuts entkräftet. 87 Art. 75 Abs. 2 Satz 1 der Durchführungsbestimmungen sieht vor, dass „[d]ie bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des [Abgeordnetens]tatuts gemäß Anlage III [der KVR] erworbenen Ruhegehaltsansprüche … bestehen bleiben“. 88 Dieser Bestimmung kann jedoch entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführer weder eine Garantie in Bezug auf die Zahlung eines Ruhegehalts entnommen werden, das auf der Grundlage der am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts anwendbaren nationalen Regeln für die Berechnung von Ruhegehältern berechnet wird, noch eine Garantie auf Zahlung eines Ruhegehalts in einer zum Zeitpunkt des Beitritts zu der mit Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR eingerichteten Ruhegehaltsregelung festen und unveränderlichen Höhe. 89 Das Gericht hat in Rn. 146 des angefochtenen Urteils zutreffend festgestellt, dass das Abgeordnetenstatut und die Durchführungsbestimmungen zwei aufeinanderfolgende Ruhegehaltsregelungen eingeführt haben, die zu zwei Arten von Ruhegehaltsansprüchen führen, und zwar zum einen den bis zum 14. Juli 2009, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Statuts, auf der Grundlage der internen Vorschriften des Parlaments erworbenen Ruhegehaltsansprüchen und zum anderen den ab diesem Zeitpunkt auf der Grundlage von Art. 49 der Durchführungsbestimmungen erworbenen Ruhegehaltsansprüchen. 90 In diesem Kontext gilt Art. 75 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen, wie das Gericht in Rn. 92 des angefochtenen Urteils festgestellt hat, für diejenigen betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten, darunter manche Rechtsmittelführer, die Beiträge an den Haushalt der Union gemäß Art. 2 Abs. 2 der Anlage III der KVR gezahlt haben und bereits vor dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts ein Ruhegehalt im Sinne dieser Anlage bezogen, wohingegen Art. 75 Abs. 2 der Durchführungsbestimmungen für diejenigen ehemaligen Europaabgeordneten gilt, die zwar auch solche Beiträge gezahlt haben, aber am Tag des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatus noch kein Ruhegehalt bezogen. 91 Gemäß Art. 75 Abs. 2 Satz 2 der Durchführungsbestimmungen erhalten nämlich „die Personen, die im Rahmen [der Anlage III der KVR] Ansprüche erworben haben, … ein Ruhegehalt, das auf der Grundlage ihrer gemäß [dieser] Anlage III erworbenen Ansprüche berechnet wird, sofern sie die in den nationalen Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaates vorgesehenen Bedingungen erfüllen und den Antrag im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 der genannten Anlage III gestellt haben“. 92 Da Art. 75 Abs. 2 Satz 2 der Durchführungsbestimmungen Voraussetzungen vorsieht, die ehemalige Europaabgeordnete erfüllen müssen, um ein Ruhegehalt zu beziehen, das auf der Grundlage ihrer in Anwendung der Anlage III der KVR erworbenen Ansprüche berechnet wird, ist diese Bestimmung nicht auf ehemalige Europaabgeordnete anzuwenden, die – wie die Rechtsmittelführer – bereits vor dem Inkrafttreten des Abgeordnetenstatuts in Anwendung dieser Anlage III ein Ruhegehalt bezogen. 93 Des Weiteren ist, da Art. 75 Abs. 2 Satz 2 der Durchführungsbestimmungen vorsieht, dass die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten auf der Grundlage der erworbenen Ansprüche ein Ruhegehalt gemäß Anlage III der KVR erhalten, der Begriff „erworbene Ruhegehaltsansprüche“ im Sinne dieses Art. 75 Abs. 2, wie das Gericht in Rn. 91 des angefochtenen Urteils im Wesentlichen -zutreffend – hervorgehoben hat, so zu verstehen, dass damit die Ruhegehaltsansprüche gemeint sind, die sich aus den individuell von jedem der betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten gezahlten Beiträgen ergeben und die die Berechnungsgrundlage für das Ruhegehalt bilden, das ihnen gemäß Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR ausgezahlt wird. Dieser Begriff kann daher nicht so verstanden werden, dass er auf einen angeblichen Anspruch auf ein festes und unveränderliches Ruhegehalt Bezug nähme, das auf der Grundlage der nationalen Vorschriften berechnet wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Abgeordnetenstatuts oder beim Beitritt zu der mit dieser Bestimmung eingeführten Ruhegehaltsregelung in Kraft waren. 94 Was sodann den siebten Erwägungsgrund der Durchführungsbestimmungen betrifft, heißt es darin zum einen, dass „die Personen, die auf der Grundlage der KVR bestimmte Leistungen erhalten, diese auch nach der Aufhebung dieser Regelung gemäß dem Grundsatz des Vertrauensschutzes weiterhin in Anspruch nehmen können [sollen]“, und zum anderen, dass „die Einhaltung der Ruhegehaltsansprüche gewährleistet sein [soll], die auf der Grundlage der KVR vor Inkrafttreten des [Abgeordnetens]tatuts erworben wurden“. 95 Dieser Erwägungsgrund stellt klar, dass die nach dieser Regelung gewährten Leistungen weiterhin gezahlt werden, ohne dass ihm entnommen werden kann, dass diese Regelung nach diesem Zeitpunkt nicht mehr anwendbar wäre. 96 Der Begriff „erworbene Ruhegehaltsansprüche“ hat somit in diesem Erwägungsgrund dieselbe Tragweite wie in Art. 75 Abs. 2 der Durchführungsbestimmungen, wie sie in Rn. 93 des vorliegenden Urteils präzisiert wurde. 97 In diesem Kontext der Prüfung der internen Vorschriften des Parlaments hat das Gericht in Rn. 90 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei feststellen können, dass die internen Vorschriften des Parlaments keinen Eingriff in die erworbenen Ruhegehaltsansprüche darstellen. 98 Was schließlich Art. 28 des Abgeordnetenstatuts betrifft, gilt diese Bestimmung, wie das Gericht in Rn. 93 des angefochtenen Urteils zutreffend festgestellt hat, für die Ruhegehaltsansprüche, die ehemalige Europaabgeordnete nicht gemäß Anlage III der KVR, sondern nach nationalen Ruhegehaltsregelungen erworben haben. Als solche hat diese Bestimmung entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführer keinen Einfluss auf die Auslegung von Art. 75 Abs. 1 der Durchführungsbestimmungen. 99 Daher geht sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Zweck der internen Vorschriften des Parlaments hervor, dass das Gericht in Rn. 99 des angefochtenen Urteils keinen Rechtsfehler begangen hat, als es entschieden hat, dass sich das Parlament auf seine internen Vorschriften stützen konnte, um die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. 2) Zum angeblichen Verstoß gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sowie gegen das in Art. 17 der Charta verbürgte Eigentumsrecht 100 Die Rechtsmittelführer machen geltend, dass die vom Gericht zugrunde gelegte Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit sowie gegen das in Art. 17 der Charta verbürgte Eigentumsrecht verstoße. 101 Nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ist ein Rechtsakt der Union so weit wie möglich in einer seine Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht und insbesondere mit den Bestimmungen der Charta auszulegen. Lässt eine Vorschrift des abgeleiteten Unionsrechts mehr als eine Auslegung zu, ist daher die Auslegung, bei der die Bestimmung mit dem Primärrecht vereinbar ist, derjenigen vorzuziehen, die zur Feststellung ihrer Unvereinbarkeit mit dem Primärrecht führt (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung). 102 Was zunächst den Grundsatz des Vertrauensschutzes anbelangt, machen die Rechtsmittelführer geltend, dass die Tatsache, dass sie der mit Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR eingeführten Ruhegehaltsregelung beigetreten seien, ihnen gemäß diesem Grundsatz garantiere, dass die Höhe ihres Ruhegehalts gemäß den Modalitäten berechnet werde, die zum Zeitpunkt ihres Beitritts zu dieser Regelung gegolten hätten. 103 Nach ständiger Rechtsprechung kann niemand eine Verletzung dieses Grundsatzes geltend machen, dem die Verwaltung keine konkreten Zusicherungen gegeben hat. Die Möglichkeit, sich auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu berufen, steht jedem offen, bei dem ein Organ begründete Erwartungen geweckt hat. Zusicherungen, die solche Erwartungen wecken können, sind präzise, nicht an Bedingungen geknüpfte und übereinstimmende Auskünfte von zuständiger und zuverlässiger Seite, unabhängig von der Form ihrer Mitteilung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Januar 2019, Deza/ECHA, C‑419/17 P, EU:C:2019:52, Rn. 69 und 70 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 104 Ist dagegen eine umsichtige und besonnene Person in der Lage, den Erlass einer Unionsmaßnahme, die ihre Interessen berühren kann, vorherzusehen, so kann sie sich im Fall ihres Erlasses nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. Januar 2019, Deza/ECHA, C‑419/17 P, EU:C:2019:52, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). 105 Die Tatsache, dass die Rechtsmittelführer der mit Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR eingerichteten Ruhegehaltsregelung beigetreten sind, hat ihnen jedoch nicht den Anspruch verschafft, ein Ruhegehalt in einer vorhersehbaren, festen und unveränderlichen Höhe zu beziehen, als sie dieser Regelung beitraten. Wie das Gericht in den Rn. 211 und 212 des angefochtenen Urteils zutreffend entschieden hat, war die einzige konkrete und nicht an Bedingungen geknüpfte Zusicherung, die das Parlament ihnen geben konnte, nämlich die, dass sie ein Altersruhegehalt beziehen würden, dessen Höhe und Bedingungen gemäß der dynamischen Regelung mit denjenigen identisch sein würden, die für die Mitglieder des Parlaments des Mitgliedstaats gelten, in dem sie gewählt wurden. 106 Daraus folgt, dass die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wonach dieses verpflichtet ist, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden, mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes in Einklang steht. 107 Was sodann das Eigentumsrecht anbelangt, machen die Rechtsmittelführer geltend, dass das Gericht in Rn. 171 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen habe, als es entschieden habe, dass die Beurteilung der mit den streitigen Beschlüssen verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung nicht die Ziele außer Acht lassen dürfe, die dem Erlass des Beschlusses Nr. 14/2018 zugrunde gelegen hätten. 108 In Rn. 163 des angefochtenen Urteils hat das Gericht entschieden, dass die Ruhegehälter der Rechtsmittelführer, auch wenn sie ihnen durch die streitigen Beschlüsse nicht schlechthin vorenthalten würden, aufgrund dieser Beschlüsse gleichwohl niedriger ausfielen, wodurch ihr Eigentumsrecht beschränkt werde. 109 Des Weiteren hat das Gericht in den Rn. 164 bis 179 des angefochtenen Urteils geprüft, ob diese Beschränkung den in Rn. 157 dieses Urteils wiedergegebenen Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta genügt. In Rn. 171 dieses Urteils hat das Gericht hierzu entschieden, dass bei der Würdigung der mit den streitigen Beschlüssen verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung nicht die Ziele außer Acht gelassen werden dürften, die dem Erlass des Beschlusses Nr. 14/2018 zugrunde gelegen hätten. Insofern hat das Gericht am Ende der in den Rn. 172 bis 178 dieses Urteils vorgenommenen Prüfung der Vereinbarkeit dieser Beschlüsse mit dem Eigentumsrecht unter Berücksichtigung dieser Ziele in Rn. 180 dieses Urteils entschieden, dass die Rüge einer Verletzung des Eigentumsrechts zurückzuweisen sei. 110 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Umfang dieses Rechts gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta unter Berücksichtigung von Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zur am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu bestimmen, in dem dieses Recht verankert ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 49). 111 Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist zu entnehmen, dass die Rechte, die sich aus der Entrichtung von Beiträgen an ein Sozialversicherungssystem ergeben, Vermögensrechte im Sinne dieses Art. 1 darstellen (Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 50). 112 Außerdem stellt eine Kürzung eines Ruhegehalts, die sich auf die Lebensqualität des Betroffenen auswirken kann, eine Beschränkung seines Eigentumsrechts dar (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 1. September 2015, Da Silva Carvalho Rico/Portugal, CE:ECHR:2015:0901DEC001334114, § 33). 113 Da die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, wonach dieses verpflichtet ist, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden, zu einer solchen Kürzung des Ruhegehalts führen kann, kann diese Auslegung zu einer Beschränkung des in Art. 17 der Charta verankerten Eigentumsrechts führen. 114 Das Eigentumsrecht gilt jedoch nicht uneingeschränkt, und seine Ausübung kann daher Beschränkungen unterworfen werden, insbesondere sofern diese durch dem Gemeinwohl dienende Ziele der Union gerechtfertigt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juni 2017, Florescu u. a., C‑258/14, EU:C:2017:448, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 115 Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta ist nämlich jede Einschränkung des in Art. 17 der Charta verbürgten Eigentumsrechts mit dieser letztgenannten Bestimmung vereinbar, sofern sie gesetzlich vorgesehen ist, den Wesensgehalt des Eigentumsrechts achtet und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich ist und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielen oder dem Erfordernis des Schutzes der Rechte und der Freiheiten anderer tatsächlich entspricht. 116 In diesem Zusammenhang ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Einschränkung der Ausübung der Grundrechte bedeutet, dass der Rechtsakt, der den Eingriff in die Grundrechte ermöglicht, den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegen muss. Dieses Erfordernis schließt zum einen aber nicht aus, dass die fragliche Einschränkung hinreichend offen formuliert ist, um Anpassungen an verschiedene Fallgruppen und an Änderungen der Lage zu erlauben. Zum anderen kann der Gerichtshof gegebenenfalls die konkrete Tragweite der Einschränkung im Wege der Auslegung präzisieren, und zwar anhand sowohl des Wortlauts als auch der Systematik und der Ziele der fraglichen Unionsregelung, wie sie im Licht der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen sind (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 114). 117 Wie in Rn. 99 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, geht sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Kontext und dem Ziel der internen Vorschriften des Parlaments, die für Europaabgeordnete allgemein gelten und daher auf der internen Ebene des Parlaments als Äquivalent eines „Gesetzes“ im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta angesehen werden können (vgl. entsprechend Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU-Kanada] vom 26. Juli 2017, EU:C:2017:592, Rn. 145 und 146), hervor, dass das Parlament verpflichtet ist, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. 118 Als Zweites hat das Gericht in seiner Eigenschaft als Tatsachengericht in den Rn. 160 und 179 des angefochtenen Urteils rechtsfehlerfrei feststellen können, dass die Rechtsmittelführer keine konkreten Gesichtspunkte vorgetragen hätten, mit denen dargetan werden könne, dass die Kürzung ihrer Ruhegehälter den Wesensgehalt ihres Eigentumsrechts beeinträchtige oder als unverhältnismäßig eingestuft werden müsse. 119 Was als Drittes die Frage anbelangt, ob die dynamische Regelung und die Kürzungen der Ruhegehälter, die sich daraus ergeben können, erforderlich sind und einem oder mehreren von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielen tatsächlich entsprechen, ist festzustellen, dass das Gericht in Rn. 171 des angefochtenen Urteils einen Rechtsfehler begangen hat, als es entschieden hat, dass der Erlass der angefochtenen Beschlüsse unter Berücksichtigung von Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR zwangsläufig von den Vorgaben der zuständigen italienischen Behörden abhängig gewesen sei, so dass „bei der Würdigung der [mit den streitigen Beschlüssen verfolgten,] dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung nicht die Ziele außer Acht gelassen werden [können], die dem Erlass des Beschlusses Nr. 14/2018 zugrunde gelegen haben“. 120 Die Ziele, die mit dem auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten gemäß der dynamischen Regelung anwendbaren Beschluss Nr. 14/2018 verfolgt werden, sind nämlich rein nationaler Natur. Als solche können sie daher keine Kürzung der Ruhegehälter rechtfertigen, da diese aufgrund einer Ruhegehaltsregelung gezahlt werden, die nicht auf der Grundlage des nationalen Rechts, sondern des Unionsrechts eingerichtet wurde und zulasten des Unionshaushalts geht. 121 Deshalb hat das Gericht ebenfalls unzutreffend in den Rn. 172 bis 178 des angefochtenen Urteils die von diesem nationalen Beschluss verfolgten Ziele berücksichtigt, um zu prüfen, ob der durch die streitigen Beschlüsse herbeigeführte Eingriff in das Eigentumsrecht der Rechtsmittelführer gerechtfertigt war. 122 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass, wenn die Gründe des Urteils des Gerichts zwar eine Verletzung des Unionsrechts erkennen lassen, der Tenor des Urteils sich aber aus anderen Rechtsgründen als richtig erweist, ein solcher Verstoß nicht die Aufhebung des angefochtenen Urteils nach sich ziehen kann und eine Ersetzung von Gründen vorzunehmen sowie das Rechtsmittel zurückzuweisen ist (Urteil vom 14. Dezember 2023, Kommission/Amazon.com u. a., C‑457/21 P, EU:C:2023:985, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 123 Es ist also zu prüfen, ob sich die Zurückweisung der Rüge einer Verletzung des in Art. 17 der Charta verbürgten Eigentumsrechts aus anderen Gründen als denjenigen richtig erweist, die mit dem in den Rn. 119 und 121 des vorliegenden Urteils festgestellten Fehler behaftet sind. 124 Hierzu ist festzustellen, dass die Anwendung der dynamischen Regelung auf die ehemaligen Europaabgeordneten, die sich in der in Art. 1 Abs. 2 der Anlage III der KVR genannten Situation befinden, ein von der Union anerkanntes, dem Gemeinwohl dienendes Ziel verfolgt, da sie, wie aus Rn. 79 des vorliegenden Urteils hervorgeht, darauf abzielt, die Europaabgeordneten, die entweder in dem Mitgliedstaat, in dem sie gewählt worden waren, über keine Ruhegehaltsregelung verfügten oder unter eine Regelung fielen, bei der die Höhe des Ruhegehalts und/oder die Methoden für seine Berechnung nicht identisch waren mit denjenigen, die für die Mitglieder des nationalen Parlaments galten, und die Europaabgeordneten, deren nationale Ruhegehaltsregelung eine Höhe des Ruhegehalts und/oder Methoden für seine Berechnung vorsah, die mit denen vergleichbar waren, die für die Mitglieder des nationalen Parlaments galten, gleich zu behandeln. 125 Die Anwendung der dynamischen Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten entspricht tatsächlich diesem Ziel der Gleichbehandlung, da sie die Wirkung hat, dass die beiden in der vorstehenden Randnummer genannten Kategorien von Europaabgeordneten jederzeit den nationalen Vorschriften über die Berechnung der Ruhegehälter der Mitglieder des Parlaments des betreffenden Mitgliedstaats unterliegen. 126 Diese Anwendung war zudem erforderlich, um dieses Ziel zu erreichen, da nur eine Angleichung der Höhe und/oder der Methoden für die Berechnung des Ruhegehalts, wie sie in Art. 2 Abs. 1 der Anlage III der KVR in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 dieser Anlage vorgesehen ist, zur Gleichbehandlung zwischen diesen Kategorien von Europaabgeordneten führen konnte. 127 Es erweist sich damit, dass trotz des in den Rn. 119 und 121 des vorliegenden Urteils festgestellten Fehlers die Zurückweisung der Rüge einer Verletzung des in Art. 17 der Charta verbürgten Eigentumsrechts zutreffend ist, da die in Rede stehende Beschränkung des Eigentumsrechts sämtlichen in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Voraussetzungen entspricht. 128 Was schließlich den Grundsatz der Rechtssicherheit anbelangt, machen die Rechtsmittelführer geltend, dass die Unterscheidung zwischen „erworbenen Ruhegehaltsansprüchen“ und der „Höhe der Ruhegehälter“, wie sie vom Gericht vorgenommen worden sei, zu der fehlerhaften Schlussfolgerung führe, dass die dynamische Regelung mit diesem Grundsatz vereinbar sei. 129 Im Rahmen seiner Prüfung der Vereinbarkeit der streitigen Beschlüsse mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit hat das Gericht in Rn. 196 des angefochtenen Urteils darauf hingewiesen, dass bereits aus den Rn. 81 bis 97 dieses Urteils hervorgehe, dass die „erworbenen Ruhegehaltsansprüche“ von der „Höhe der Ruhegehälter“ zu unterscheiden seien. Das Gericht hat dazu ausgeführt, dass auch wenn die „Ruhegehaltsansprüche“ endgültig erworben worden seien und nicht abgeändert werden könnten und auch wenn die Ruhegehälter weiterhin gezahlt würden, nichts einer Anpassung der Höhe der Ruhegehälter nach oben oder unten entgegenstehe; hierzu sei das Parlament im vorliegenden Fall in Anbetracht seiner Pflicht zur Anwendung der dynamischen Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten verpflichtet gewesen. 130 In Rn. 206 des angefochtenen Urteils beendete das Gericht seine Prüfung mit der Entscheidung, dass die Rechtsmittelführer nicht dargetan hätten, dass im vorliegenden Fall gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen worden wäre. Gemäß den internen Vorschriften des Parlaments würden die neuen Beträge der Ruhegehälter der Rechtsmittelführer nämlich seit dem 1. Januar 2019 gelten. Das Gericht hat darauf hingewiesen, dass diese internen Vorschriften weit vor dem 1. Januar 2019 und nicht danach erlassen worden seien. Außerdem hätten die Rechtsmittelführer weder dargetan noch vorgetragen, dass das Parlament diese neuen Beträge vor dem 1. Januar 2019, d. h. vor dem im Beschluss Nr. 14/2018 genannten Zeitpunkt, angewandt hätte. Ferner habe das Parlament ab Januar 2019 die Rechtsmittelführer über die mögliche Anwendung der im Beschluss Nr. 14/2018 enthaltenen Regeln auf sie informiert, was das Parlament ihnen im Februar 2019 bestätigt habe. Das Gericht hat daraus geschlossen, dass die Rechtsmittelführer über die Änderung der für die Berechnung der Höhe ihres Ruhegehalts geltenden Regeln unterrichtet worden seien, bevor die streitigen Beschlüsse erlassen worden seien. 131 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt, dass eine unionsrechtliche Regelung den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können (Urteil vom 9. November 2023, Global Silicones Council u. a./Kommission, C‑558/21 P, EU:C:2023:839, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung). 132 Somit gelten neue Gesetze, mit denen das alte Gesetz geändert wird, von Ausnahmen abgesehen für die zukünftigen Wirkungen von Sachverhalten, die unter der Geltung des älteren Gesetzes entstanden sind. Etwas anderes gilt nur für unter der Geltung des älteren Gesetzes entstandene und abgeschlossene Sachverhalte, die wohlerworbene Rechte begründen. Ein Recht gilt als wohlerworben, wenn der Tatbestand, der dieses Recht begründet, vor der Gesetzesänderung erfüllt ist. Dies ist nicht der Fall bei einem Recht, dessen begründender Tatbestand sich nicht unter der Geltung der Rechtsvorschriften vor ihrer Änderung verwirklicht hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Grossetête/Parlament, C‑714/21 P, EU:C:2023:187, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung). 133 Was insbesondere das Recht auf Bezug eines Ruhegehalts betrifft, wird dieses grundsätzlich zu dem Zeitpunkt erworben, zu dem der begründende Tatbestand eintritt, d. h. zu dem Zeitpunkt, zu dem das Ruhegehalt fällig wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Grossetête/Parlament, C‑714/21 P, EU:C:2023:187, Rn. 85 bis 87). 134 Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede Änderung der Methoden für die Berechnung eines Ruhegehalts, die zu seiner Kürzung führt und auf der Grundlage einer Regelung angewandt wird, die erlassen wurde, nachdem dieses Ruhegehalt fällig geworden ist, einen Eingriff in diese wohlerworbenen Rechte darstellt. 135 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es keinen unionsrechtlichen Grundsatz gibt, nach dem wohlerworbene Rechte unter keinen Umständen geändert oder gekürzt werden könnten. Unter bestimmten Voraussetzungen ist es möglich, solche Rechte zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Grossetête/Parlament, C‑714/21 P, EU:C:2023:187, Rn. 88 und 89). 136 Im vorliegenden Fall konnte das Gericht auf der Grundlage der insbesondere in Rn. 206 des angefochtenen Urteils dargestellten Gesichtspunkte zutreffend zu dem Ergebnis kommen, dass die Anwendung der dynamischen Regelung, wie sie in der Anlage III der KVR und in Art. 75 der Durchführungsbestimmungen vorgesehen ist, mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar ist. 137 Nach alledem sind die Rechtsmittelgründe 1 bis 4 als teils unbegründet, teils in Leere gehend zurückzuweisen, soweit die Rechtsmittelführer damit die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments beanstanden, wonach dieses verpflichtet ist, die dynamische Regelung auf die betroffenen ehemaligen Europaabgeordneten anzuwenden. C. Zum fünften Rechtsmittelgrund: fehlerhafte Auslegung von Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments 1. Vorbringen der Parteien 138 Die Rechtsmittelführer tragen vor, das Gericht habe in den Rn. 70 bis 72 des angefochtenen Urteils fehlerhaft entschieden, dass der Referatsleiter dafür zuständig gewesen sei, die streitigen Beschlüsse zu erlassen, da die entsprechende Befugnis ordnungsgemäß an ihn weiterübertragen worden sei. 139 Zum einen gehe aus den in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht vorgelegten Informationen hervor, dass die streitigen Beschlüsse in Wirklichkeit vom Juristischen Dienst des Parlaments erlassen worden seien, da sich der Referatsleiter an die Beurteilung des Juristischen Diensts gehalten habe und selbst weder eine Prüfung vorgenommen noch eine eigene Begründung ausgearbeitet habe. Zum anderen hätten die streitigen Beschlüsse vom Präsidium des Parlaments erlassen werden müssen, da sie nicht im Rahmen der laufenden Verwaltung erlassen worden seien. Da nämlich diese Beschlüsse zu einem neuen, komplexen und unvorhergesehenen Sachverhalt gehörten, was im Übrigen durch die Einschaltung des Juristischen Diensts des Parlaments bestätigt werde, hätte vor ihrem Erlass ihre Vereinbarkeit mit den höherrangigen Vorschriften und Grundsätzen der Union geprüft werden müssen. Es handele sich daher nicht um rein technische Beschlüsse, die einem Referatsleiter übertragen werden könnten. 140 Das Parlament macht geltend, der fünfte Rechtsmittelgrund sei als unbegründet zurückzuweisen. 2. Würdigung durch den Gerichtshof a) Einleitende Bemerkungen 141 Mit dem fünften Rechtsmittelgrund beanstanden die Rechtsmittelführer insbesondere, der Referatsleiter sei für den Erlass der streitigen Beschlüsse nicht zuständig gewesen. In Anbetracht der in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die Stichhaltigkeit dieser Rüge insofern zu prüfen, als die Rechtsmittelführer mit ihr eine Rechtswidrigkeit geltend machen, die sich in Zukunft wiederholen könnte. 142 Die ebenfalls im Rahmen des fünften Rechtsmittelgrundes geltend gemachte Rüge, mit der die Rechtsmittelführer dem Referatsleiter vorwerfen, keine eigene Prüfung vorgenommen und keine andere Begründung gegeben zu haben als die im Gutachten des Juristischen Diensts enthaltene, läuft hingegen darauf hinaus, dem Gerichtshof eine Tatsachenbehauptung vorzulegen, die dieser im Rahmen eines Rechtsmittels nicht prüfen kann, wenn keine Verfälschung der Tatsachen oder ein vom Gericht begangener Rechtsfehler geltend gemacht wird. 143 Nach Art. 256 Abs. 1 AEUV und Art. 58 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Rechtsmittel nämlich auf Rechtsfragen beschränkt. Das Gericht ist ausschließlich zuständig, die relevanten Tatsachen festzustellen, einzuschätzen und die Beweise zu beurteilen. Somit ist die Würdigung der Tatsachen und Beweise, vorbehaltlich ihrer Verfälschung, keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs im Rahmen eines Rechtsmittels unterliegt (Urteil vom 28. September 2023, Changmao Biochemical Engineering/Kommission, C‑123/21 P, EU:C:2023:708, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung). 144 Infolgedessen ist der fünfte Rechtsmittelgrund in der Sache nur insofern zu prüfen, als mit ihm gerügt wird, der Referatsleiter sei für den Erlass der streitigen Beschlüsse nicht zuständig gewesen. Im Übrigen ist dieser Rechtsmittelgrund unzulässig. b) Zur Begründetheit 145 Das Gericht hat in Rn. 71 des angefochtenen Urteils festgestellt, dass der Referatsleiter durch die Entscheidung FINS/2019‑01 des Generaldirektors für Finanzen des Parlaments vom 23. November 2018 zum nachgeordnet bevollmächtigten Anweisungsbefugten für die Haushaltslinie 1030, die sich auf die in Anlage III der KVR aufgeführten Ruhegehälter bezieht, ernannt worden sei und dass in dieser Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen werde, dass der Referatsleiter u. a. berechtigt sei, rechtliche Verpflichtungen einzugehen, Mittelbindungen vorzunehmen, Ausgaben abzurechnen und Zahlungen anzuordnen, aber auch Forderungsvorausschätzungen zu erstellen, Forderungen festzustellen und Einziehungsanordnungen zu erteilen. 146 In Rn. 72 des angefochtenen Urteils hat das Gericht u. a. festgestellt, dass die in den Durchführungsbestimmungen und der KVR festgelegten Regeln, wie sie vom Präsidium des Parlaments erlassen worden seien, vom Referatsleiter nicht geändert, sondern lediglich umgesetzt worden seien. 147 Unter diesen Umständen hat das Gericht in Rn. 73 des angefochtenen Urteils entschieden, dass der Referatsleiter für den Erlass der streitigen Beschlüsse zuständig gewesen sei. 148 Soweit dem Referatsleiter mit der Entscheidung FINS/2019‑01 des Generaldirektors für Finanzen des Parlaments vom 23. November 2018 u. a. gestattet wird, rechtliche Verpflichtungen einzugehen, Mittelbindungen vorzunehmen, Ausgaben abzurechnen und Zahlungen anzuordnen, aber auch Forderungsvorausschätzungen zu erstellen, Forderungen festzustellen und Einziehungsanordnungen zu erteilen, ist sie hinreichend weit formuliert, um auch die von den Rechtsmittelführern geltend gemachten Sachverhalte zu erfassen, und zwar neue, komplexe und unvorhergesehene Sachverhalte in den delegierten Bereichen. 149 Außerdem tragen die Rechtsmittelführer nicht vor, dass diese Entscheidung einen Vorbehalt hinsichtlich der Zuständigkeit für die Anwendung des Primärrechts der Union und insbesondere der Bestimmungen der Charta im Rahmen des Erlasses von in diese Bereiche fallenden Beschlüssen enthalte. 150 Ferner enthält Art. 25 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments entgegen dem Vorbringen der Rechtsmittelführer keinen Befugnisvorbehalt in diesem Bereich zugunsten des Präsidiums des Parlaments. Nach dieser Vorschrift trifft nämlich „das Präsidium … auf Vorschlag des Generalsekretärs oder einer Fraktion finanzielle, organisatorische und administrative Entscheidungen in Angelegenheiten der Mitglieder“. Eine angebliche Unterscheidung zwischen Maßnahmen, die nicht im Rahmen der laufenden Verwaltung getroffen würden und deren Erlass dem Präsidium des Parlaments vorbehalten sei, und solchen, die im Rahmen der laufenden Verwaltung getroffen würden und an den Referatsleiter delegiert seien, kann dieser Bestimmung auch nicht entnommen werden. 151 Folglich ist die Rüge der Unzuständigkeit des Referatsleiters zurückzuweisen. 152 Infolgedessen ist der fünfte Rechtsmittelgrund als teilweise unzulässig und teilweise unbegründet zurückzuweisen. D. Zum sechsten Rechtsmittelgrund: Rechtsfehler des Parlaments im Rahmen seiner Prüfung der Begründung der streitigen Beschlüsse 1. Vorbringen der Parteien 153 Die Rechtsmittelführer werfen dem Parlament vor, bei der Prüfung der Begründung der streitigen Beschlüsse einen Rechtsfehler begangen zu haben. 154 Da das Parlament die Pflicht habe, die Vereinbarkeit mit höherrangigen unionsrechtlichen Vorschriften zu prüfen, hätte diese Prüfung eine Begründung hierzu enthalten müssen. Das Gutachten des Juristischen Diensts, auf das sich das Parlament berufe, genüge hierfür nicht, da es zum einen in den streitigen Beschlüssen weder erwähnt noch diesen beigefügt sei und es zum anderen nur eine sehr partielle und summarische Prüfung der Einhaltung höherrangiger Vorschriften und der tragenden Grundsätze des Unionsrechts enthalten. 155 Des Weiteren habe das Gericht in den Rn. 57 und 178 des angefochtenen Urteils dadurch einen Rechtsfehler begangen, dass es entschieden habe, dass Art. 1 Abs. 7 des Beschlusses Nr. 14/2018 die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs insgesamt gewährleiste, indem er es ermögliche, das Ruhegehalt von Personen zu erhöhen, die keine weiteren Jahreseinkommen bezögen und an einer schweren Krankheit litten. Diese Erhöhungen hätten eine begrenzte Tragweite und diese Bestimmung des Beschlusses Nr. 14/2018 könne keine Schutzklausel zugunsten anderer Personen darstellen, die nicht von ihr erfasst würden. Außerdem sei diese Bestimmung vom Schlichtungsrat der Abgeordnetenkammern für nichtig erklärt worden, so dass das Gericht seine Beurteilung der Verhältnismäßigkeit auf eine inexistente Bestimmung gestützt habe. 156 Das Parlament macht geltend, dass der sechste Rechtsmittelgrund als unzulässig und, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen sei. 2. Würdigung durch den Gerichtshof a) Einleitende Bemerkungen 157 Mit dem sechsten Rechtsmittelgrund werfen die Rechtsmittelführer dem Gericht vor, nicht festgestellt zu haben, dass das Parlament gegen seine Pflicht, die streitigen Beschlüsse zu begründen, verstoßen habe. Nach Ansicht der Rechtsmittelführer musste das Parlament nicht nur prüfen, ob die Anwendung des Beschlusses Nr. 14/2018 mit dem Unionsrecht vereinbar war, sondern auch ausdrücklich in den streitigen Beschlüssen die Gründe nennen, weshalb es der Ansicht war, dass dies der Fall gewesen sei. Das Gericht habe die Prüfung des Beschlusses Nr. 14/2018 im Gutachten des Juristischen Diensts u. a. zur Verhältnismäßigkeit dieses Beschlusses zu Unrecht als zutreffend eingestuft. 158 Dieser Rechtsmittelgrund betrifft die Auslegung der internen Vorschriften des Parlaments, da mit ihm in Abrede gestellt werden soll, dass nach diesen Vorschriften eine nationale Ruhegehaltsregelung automatisch auf ehemalige Europaabgeordnete angewendet werden kann, ohne eine mit Gründen versehene Prüfung vorzunehmen, ob eine solche Anwendung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. 159 Folglich ist der sechste Rechtsmittelgrund in der Sache zu prüfen. b) Zur Begründetheit 160 Wie sich aus der Prüfung der Rechtsmittelgründe 1 bis 4 ergibt, konnte das Parlament in den Rn. 86 und 89 des angefochtenen Urteils zutreffend feststellen, dass das Parlament verpflichtet war, auf die Rechtsmittelführer dieselben Vorschriften über die Höhe und die Berechnung der Ruhegehälter anzuwenden wie nach italienischem Recht. 161 Ebenfalls zutreffend hat das Gericht in diesen Randnummern ausgeführt, dass sich das Parlament über diese Pflicht hinwegsetzen kann, wenn diese Anwendung dazu führen würde, gegen eine höherrangige Vorschrift des Unionsrechts wie einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts oder eine Vorschrift der Charta zu verstoßen. 162 Zwar heben die Rechtsmittelführer somit zutreffend hervor, dass es Sache des Parlaments ist, sich zu vergewissern, dass die Anwendung seiner internen Vorschriften, in deren Folge die Ruhegehälter seiner ehemaligen Mitglieder an die Entwicklung der nationalen Regelungen angepasst werden, nicht gegen die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts oder die Charta verstößt. Das bedeutet jedoch nicht, dass in den streitigen Beschlüssen die Gründe dargelegt werden müssen, weshalb das Parlament der Ansicht war, dass die in Rede stehende Anpassung mit diesen Grundsätzen und der Charta vereinbar war. 163 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 296 Abs. 2 AEUV vorgesehene Pflicht zur Begründung von Unionsrechtsakten nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und dem Interesse zu beurteilen ist, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen daher nicht alle Gesichtspunkte genannt zu werden, die als tatsächlich oder rechtlich einschlägig betrachtet werden könnten (Urteil vom 30. Januar 2024, AgentsiaPlatna infrastruktura [Europäische Finanzierung der Straßeninfrastruktur], C‑471/22, EU:C:2024:99, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 164 In Anbetracht dieser Rechtsprechung ist zwar davon auszugehen, dass es dem Urheber der streitigen Beschlüsse oblag, darin die den internen Vorschriften des Parlaments zugrunde liegenden Gründe darzulegen, die das Parlament dazu veranlassten, die Ruhegehälter der Adressaten dieser Beschlüsse anzupassen. 165 Es konnte hingegen von diesem Urheber nicht verlangt werden, dass er darüber hinaus erläutert, aus welchen Gründen das Parlament der Auffassung war, dass weder die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts noch die Charta seiner Entscheidung entgegenstanden. Der Begründungspflicht eine solche Tragweite beizumessen, liefe darauf hinaus, den Urheber der Handlung zu verpflichten, nicht nur die Gründe seiner Entscheidung darzulegen, sondern auch die Gründe, weshalb er der Auffassung war, dass von deren Erlass kein Abstand zu nehmen war. Vorbehaltlich besonderer Situationen, die mit dem vorliegenden Fall nichts zu tun haben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es für das Verständnis der Begründung des Urhebers der Handlung erforderlich ist, dass dieser eine Analyse der Vereinbarkeit seiner Entscheidung mit den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts und der Charta vorlegt. 166 Folglich ist der sechste Rechtsmittelgrund unbegründet. 167 Da alle Rechtsmittelgründe der Rechtsmittelführer zur Stützung ihres Rechtsmittels zurückgewiesen werden, ist das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen. VI. Kosten 168 Nach Art. 184 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn das Rechtsmittel unbegründet ist. Gemäß Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung, der nach deren Art. 184 Abs. 1 auf das Rechtsmittelverfahren entsprechende Anwendung findet, ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. 169 Da die Rechtsmittelführer mit ihren Rechtsmittelgründen unterlegen sind und das Parlament ihre Verurteilung zur Tragung der Kosten beantragt hat, sind ihnen neben ihren eigenen Kosten die dem Parlament entstandenen Kosten aufzuerlegen. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden: 1. Das Rechtsmittel wird zurückgewiesen. 2. Herr Giacomo Santini, Herr Marco Cellai, Herr Domenico Ceravolo, Herr Natalino Gatti, Frau Rosa Maria Avitabile als Erbin von Herrn Antonio Mazzone, Herr Luigi Moretti, Herr Gabriele Sboarina, Frau Lina Wuhrer, Frau Patrizia Capraro und Frau Luciana Meneghini als Erbin von Herrn Ferruccio Pisoni tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten, die dem Europäischen Parlament entstanden sind. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Italienisch.
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 21. März 2024.#RL gegen Landeshauptstadt Wiesbaden.#Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Wiesbaden.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) 2019/1157 – Erhöhung der Sicherheit von Personalausweisen der Bürger der Europäischen Union – Gültigkeit – Rechtsgrundlage – Art. 21 Abs. 2 AEUV – Art. 77 Abs. 3 AEUV – Verordnung (EU) 2019/1157 – Art. 3 Abs. 5 – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, in das Speichermedium von Personalausweisen zwei Fingerabdrücke in interoperablen digitalen Formaten aufzunehmen – Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Achtung des Privat- und Familienlebens – Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Schutz personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 35 – Verpflichtung zur Durchführung einer Datenschutz-Folgenabschätzung – Aufrechterhaltung der zeitlichen Wirkungen einer für ungültig erklärten Verordnung.#Rechtssache C-61/22.
62022CJ0061
ECLI:EU:C:2024:251
2024-03-21T00:00:00
Medina, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62022CJ0061 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 21. März 2024 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) 2019/1157 – Erhöhung der Sicherheit von Personalausweisen der Bürger der Europäischen Union – Gültigkeit – Rechtsgrundlage – Art. 21 Abs. 2 AEUV – Art. 77 Abs. 3 AEUV – Verordnung (EU) 2019/1157 – Art. 3 Abs. 5 – Verpflichtung der Mitgliedstaaten, in das Speichermedium von Personalausweisen zwei Fingerabdrücke in interoperablen digitalen Formaten aufzunehmen – Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Achtung des Privat- und Familienlebens – Art. 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Schutz personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 35 – Verpflichtung zur Durchführung einer Datenschutz-Folgenabschätzung – Aufrechterhaltung der zeitlichen Wirkungen einer für ungültig erklärten Verordnung“ In der Rechtssache C‑61/22 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wiesbaden (Deutschland) mit Entscheidung vom 13. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Februar 2022, in dem Verfahren RL gegen Landeshauptstadt Wiesbaden erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter), T. von Danwitz, F. Biltgen und Z. Csehi sowie der Richter J.‑C. Bonichot, S. Rodin, D. Gratsias, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec, Generalanwältin: L. Medina, Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. März 2023, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von RL, vertreten durch Rechtsanwalt W. Achelpöhler, – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und P.‑L. Krüger als Bevollmächtigte, – der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin und A. Van Baelen als Bevollmächtigte im Beistand von P. Wytinck, Advocaat, – der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten, – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, – des Europäischen Parlaments, vertreten durch G. C. Bartram, P. López-Carceller und J. Rodrigues als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. França und Z. Šustr als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Kranenborg, E. Montaguti und I. Zaloguin als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 29. Juni 2023 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit der Verordnung (EU) 2019/1157 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern und der Aufenthaltsdokumente, die Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausgestellt werden, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben (ABl. 2019, L 188, S. 67), und insbesondere ihres Art. 3 Abs. 5. 2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen RL und der Landeshauptstadt Wiesbaden (Deutschland) (im Folgenden: Stadt Wiesbaden) über deren Ablehnung des Antrags von RL auf Ausstellung eines Personalausweises ohne Aufnahme seiner Fingerabdrücke. I. Rechtlicher Rahmen A. Unionsrecht 1. Verordnung 2019/1157 3 In den Erwägungsgründen 1, 2, 4, 5, 17 bis 21, 23, 26 bis 29, 32, 33, 36, 40 bis 42 und 46 der Verordnung 2019/1157 heißt es: „(1) Der [EU-Vertrag] sieht ausdrücklich vor, die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit der Unionsbürger durch den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach Maßgabe der Bestimmungen des [EU-Vertrags] und des [AEU-Vertrags] zu fördern. (2) Die Unionsbürgerschaft verleiht jedem Bürger der [Europäischen] Union das Recht auf Freizügigkeit vorbehaltlich bestimmter Beschränkungen und Bedingungen. Mit der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77)] wird dieses Recht konkret ausgestaltet. In Artikel 45 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden ‚Charta‘) sind die Freizügigkeit und die Aufenthaltsfreiheit ebenfalls verankert. Die Freizügigkeit schließt das Recht ein, mit einem gültigen Personalausweis oder Reisepass Mitgliedstaaten zu verlassen und in Mitgliedstaaten einzureisen. … (4) Die Richtlinie [2004/38] sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Maßnahmen erlassen können, die notwendig sind, um die durch diese Richtlinie verliehenen Rechte im Falle von Rechtsmissbrauch oder Betrug zu verweigern, aufzuheben oder zu widerrufen. Als typische Fälle von Betrug im Sinne dieser Richtlinie wurden die Fälschung von Dokumenten und die Vorspiegelung falscher Tatsachen in Bezug auf die an das Aufenthaltsrecht geknüpften Bedingungen ausgewiesen. (5) Die Sicherheitsstandards der von den Mitgliedstaaten ausgestellten nationalen Personalausweise und der Unionsbürger mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat und ihren Familienangehörigen ausgestellten Aufenthaltstitel unterscheiden sich erheblich. Diese Unterschiede führen zu einem höheren Fälschungs- und Dokumentenbetrugsrisiko und auch zu praktischen Schwierigkeiten für Bürger, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben möchten. Gemäß den Statistiken des Europäischen Netzwerks für Risikoanalyse des Dokumentenbetrugs (EDF‑RAN) gibt es inzwischen immer mehr gefälschte Personalausweise. … (17) Sicherheitsmerkmale sind erforderlich, um ein Dokument auf seine Echtheit zu überprüfen und die Identität einer Person festzustellen. Die Festlegung von Mindestsicherheitsstandards und die Aufnahme biometrischer Daten in Personalausweise und Aufenthaltskarten für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, ist ein wichtiger Schritt, um die Verwendung dieser Dokumente in der Union sicherer zu machen. Die Aufnahme solcher biometrischen Identifikatoren sollte gewährleisten, dass die Unionsbürger in vollem Umfang von ihren Freizügigkeitsrechten Gebrauch machen können. (18) Die Speicherung eines Gesichtsbilds und zweier Fingerabdrücke (im Folgenden ‚biometrische Daten‘) auf Personalausweisen und Aufenthaltskarten, die in Bezug auf biometrische Pässe und Aufenthaltstitel für Drittstaatsangehörige bereits vorgesehen ist, stellt eine geeignete Kombination einer zuverlässigen Identifizierung und Echtheitsprüfung im Hinblick auf eine Verringerung des Betrugsrisikos dar, um die Sicherheit von Personalausweisen und Aufenthaltskarten zu verbessern. (19) Als allgemeine Praxis sollten die Mitgliedstaaten zur Überprüfung der Echtheit des Dokuments und der Identität des Inhabers in der Regel vorrangig das Gesichtsbild überprüfen und nur darüber hinaus, falls zur zweifelsfreien Bestätigung der Echtheit des Dokuments und der Identität des Inhabers notwendig, auch die Fingerabdrücke. (20) Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass zwingend eine manuelle Kontrolle durch qualifizierte Mitarbeiter erfolgt, wenn sich die Echtheit des Dokuments oder die Identität des Inhabers nicht anhand der biometrischen Daten bestätigen lassen. (21) Diese Verordnung stellt keine Rechtsgrundlage für die Einrichtung oder Aufrechterhaltung von Datenbanken auf nationaler Ebene zur Speicherung biometrischer Daten in den Mitgliedstaaten dar, zumal es sich dabei um eine Frage des nationalen Rechts handelt, welches dem Unionsrecht im Bereich Datenschutz entsprechen muss. Diese Verordnung stellt ferner keine Rechtsgrundlage für die Einrichtung oder Aufrechterhaltung einer zentralen Datenbank auf der Ebene der Union dar. … (23) Für die Zwecke dieser Verordnung sollten die Spezifikationen des [Dokuments 9303 der Internationalen Zivilluftfahrt-Organisation (ICAO)] berücksichtigt werden, die die weltweite Interoperabilität – auch bei der Maschinenlesbarkeit und der Sichtprüfung – gewährleisten. … (26) Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass angemessene, wirksame Verfahren für die Erfassung biometrischer Identifikatoren bestehen, die den in der Charta, in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarats und den im [am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen] Übereinkommen über die Rechte des Kindes [(United Nations Treaty Series, Bd. 1577, S. 3), das am 2. September 1990 in Kraft getreten ist] verankerten Rechten und Grundsätzen entsprechen. Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass das Kindeswohl während des gesamten Verfahrens der Erfassung Vorrang hat. Zu diesem Zweck sollten die qualifizierten Mitarbeiter angemessene Schulungen über kinderfreundliche Verfahren zur Erfassung biometrischer Identifikatoren absolvieren. (27) Treten bei der Erfassung der biometrischen Identifikatoren Schwierigkeiten auf, sollten die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass geeignete Verfahren befolgt werden, so dass die Würde der betroffenen Person gewahrt bleibt. Daher sollte auf geschlechtergerechtes Vorgehen geachtet werden und den spezifischen Bedürfnissen von Kindern und schutzbedürftigen Personen Rechnung getragen werden. (28) Die Einführung von Mindeststandards für die Sicherheit und die Gestaltung von Personalausweisen sollte den Mitgliedstaaten ermöglichen, sich auf die Echtheit der Dokumente zu verlassen, wenn Unionsbürger ihre Freizügigkeitsrechte ausüben. Mit der Einführung höherer Sicherheitsstandards sollten den öffentlichen und privaten Stellen ausreichende Garantien geboten werden, so dass sie sich auf die Echtheit von Personalausweisen, die von den Unionsbürgern für die Zwecke der Identifizierung vorgelegt werden, verlassen können. (29) Das Unterscheidungszeichen in Form eines zwei Buchstaben umfassenden Ländercodes des das Dokument ausstellenden Mitgliedstaats im Negativdruck in einem blauen Rechteck, umgeben von zwölf gelben Sternen, erleichtert die Sichtprüfung des Dokumentes, wenn der Inhaber sein Recht auf Freizügigkeit ausübt. … (32) Die Mitgliedstaaten sollten alle Vorkehrungen treffen, die notwendig sind, damit der Inhaber eines Personalausweises anhand der biometrischen Daten korrekt identifiziert werden kann. Zu diesem Zweck könnten die Mitgliedstaaten erwägen, biometrische Identifikatoren, insbesondere das Gesichtsbild, durch die nationalen Behörden, die Personalausweise ausstellen, vor Ort erfassen zu lassen. (33) Die Mitgliedstaaten sollten untereinander die Informationen austauschen, die für den Zugriff auf die Daten, die auf dem sicheren Speichermedium enthalten sind, sowie für deren Authentifizierung und Überprüfung notwendig sind. Die für das sichere Speichermedium verwendeten Formate sollten interoperabel sein, und zwar auch mit Blick auf automatisierte Grenzübergangsstellen. … (36) Unionsbürgern ausgestellte Aufenthaltsdokumente sollten spezifische Informationen enthalten, die gewährleisten, dass sie in allen Mitgliedstaaten als Unionsbürger identifiziert werden. Dies soll die Anerkennung der Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts durch mobile Unionsbürger und der damit verbundenen Rechte erleichtern, die Harmonisierung sollte allerdings nicht über das zur Beseitigung der Schwachstellen der derzeitigen Dokumente angemessene Maß hinausgehen. Den Mitgliedstaaten steht es frei, in welchem Format diese Dokumente ausgestellt werden, sie könnten allerdings in einem Format ausgestellt werden, das den Spezifikationen des ICAO-Dokuments 9303 entspricht. … (40) In Bezug auf die im Rahmen der Anwendung dieser Verordnung zu verarbeitenden personenbezogenen Daten gilt die Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1) (im Folgenden: DSGVO)]. Es muss weiter präzisiert werden, welche Garantien für die verarbeiteten personenbezogenen Daten sowie insbesondere für sensible Daten wie beispielsweise biometrische Identifikatoren gelten. Die betroffenen Personen sollten darauf hingewiesen werden, dass ihre Dokumente mit einem den kontaktlosen Datenzugriff ermöglichenden Speichermedium, das die sie betreffenden biometrischen Daten enthält, versehen sind; außerdem sollten sie von allen Fällen in Kenntnis gesetzt werden, in denen die in ihren Personalausweisen und Aufenthaltsdokumenten erfassten Daten verwendet werden. In jedem Fall sollten die betroffenen Personen Zugang zu den personenbezogenen Daten haben, die in ihren Personalausweisen und Aufenthaltsdokumenten verarbeitet werden, und sie berichtigen lassen können, indem ein neues Dokument ausgestellt wird, wenn Daten falsch oder unvollständig sind. Das Speichermedium sollte hochsicher sein, und die auf ihm gespeicherten personenbezogenen Daten sollten wirksam vor unbefugtem Zugriff geschützt sein. (41) Die Mitgliedstaaten sollten gemäß der [DSGVO] für die ordnungsgemäße Verarbeitung biometrischer Daten verantwortlich sein, die von der Erfassung der Daten bis zu ihrer Aufnahme in das hochsichere Speichermedium reicht. (42) Die Mitgliedstaaten sollten besondere Vorsicht walten lassen, wenn eine Zusammenarbeit mit einem externen Dienstleistungsanbieter besteht. Im Rahmen der Zusammenarbeit sollte keine Befreiung der Mitgliedstaaten von der Haftung nach dem Unionsrecht oder dem nationalen Recht gewährt werden, was Verstöße gegen Pflichten im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten angeht. … (46) Da die Ziele dieser Verordnung, nämlich die Erhöhung der Sicherheit und die Erleichterung der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen[,] von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen des Umfangs und der Wirkungen der Maßnahmen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 [EUV] verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Verordnung nicht über das für die Verwirklichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus.“ 4 Art. 1 („Gegenstand“) der Verordnung 2019/1157 bestimmt: „Mit dieser Verordnung werden die Sicherheitsstandards für Personalausweise verschärft, die die Mitgliedstaaten ihren Staatsangehörigen ausstellen, und für Aufenthaltsdokumente, die die Mitgliedstaaten Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausstellen, die ihr Recht auf Freizügigkeit in der Union ausüben.“ 5 Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Verordnung 2019/1157 bestimmt: „Diese Verordnung gilt für a) Personalausweise, die die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie [2004/38] eigenen Staatsangehörigen ausstellen[.] Diese Verordnung gilt nicht für vorläufig ausgestellte Identitätsdokumente mit einem Gültigkeitszeitraum von weniger als sechs Monaten. b) Anmeldebescheinigungen, die sich länger als drei Monate in einem Aufnahmemitgliedstaat aufhaltenden Unionsbürgern gemäß Artikel 8 der Richtlinie [2004/38] ausgestellt werden, und Dokumente zur Bescheinigung des Daueraufenthalts, die Unionsbürgern gemäß Artikel 19 der Richtlinie [2004/38] auf Antrag ausgestellt werden; c) Aufenthaltskarten, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzenden Familienangehörigen von Unionsbürgern gemäß Artikel 10 der Richtlinie [2004/38] ausgestellt werden, und Daueraufenthaltskarten, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzenden Familienangehörigen von Unionsbürgern gemäß Artikel 20 der Richtlinie [2004/38] ausgestellt werden.“ 6 Art. 3 („Sicherheitsstandards/Gestaltung/Spezifikationen“) Abs. 5 bis 7 und 10 der Verordnung 2019/1157 sieht vor: „(5)   Die Personalausweise werden mit einem hochsicheren Speichermedium versehen, das ein Gesichtsbild des Personalausweisinhabers und zwei Fingerabdrücke in interoperablen digitalen Formaten enthält. Bei der Erfassung der biometrischen Identifikatoren wenden die Mitgliedstaaten die technischen Spezifikationen gemäß dem Durchführungsbeschluss der Kommission C(2018) 7767 [vom 30. November 2018 zur Festlegung der technischen Spezifikationen für die einheitliche Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatsangehörige und zur Aufhebung der Entscheidung K(2002) 3069] an. (6)   Das Speichermedium weist eine ausreichende Kapazität auf und ist geeignet, die Integrität, die Authentizität und die Vertraulichkeit der Daten sicherzustellen. Auf die gespeicherten Daten kann kontaktlos zugegriffen werden, und sie werden nach Maßgabe des Durchführungsbeschlusses C(2018) 7767 gesichert. Die Mitgliedstaaten tauschen untereinander die Informationen aus, die für die Authentifizierung des Speichermediums und den Zugriff auf und die Überprüfung der in Absatz 5 genannten biometrischen Daten notwendig sind. (7)   Kinder unter zwölf Jahren können von der Pflicht zur Abgabe von Fingerabdrücken befreit werden. Kinder unter sechs Jahren sind von der Pflicht zur Abgabe von Fingerabdrücken befreit. Personen, bei denen eine Abnahme von Fingerabdrücken physisch nicht möglich ist, sind von der Pflicht zur Abgabe von Fingerabdrücken befreit. … (10)   Speichern die Mitgliedstaaten im Personalausweis Daten für elektronische Dienste wie elektronische Behördendienste und den elektronischen Geschäftsverkehr, so müssen diese nationalen Daten von den in Absatz 5 genannten biometrischen Daten physisch oder logisch getrennt sein.“ 7 In Art. 5 („Auslaufregelung“) der Verordnung 2019/1157 heißt es: „(1)   Personalausweise, die den Anforderungen des Artikels 3 nicht entsprechen, verlieren ihre Gültigkeit mit Ablauf ihrer Gültigkeitsdauer oder am 3. August 2031, je nachdem, welcher Zeitpunkt früher eintritt. (2)   Abweichend von Absatz 1 gilt Folgendes: a) Personalausweise, die … keinen funktionalen maschinenlesbaren Bereich gemäß Absatz 3 enthalten, verlieren ihre Gültigkeit mit Ablauf ihrer Gültigkeitsdauer oder am 3. August 2026, je nachdem, welcher Zeitpunkt früher eintritt; … (3)   Für die Zwecke des Absatzes 2 bezeichnet der Begriff ‚funktionaler maschinenlesbarer Bereich‘ a) einen maschinenlesbaren Bereich gemäß Teil 3 des ICAO-Dokuments 9303; oder b) jeden anderen maschinenlesbaren Bereich, wobei der ausstellende Mitgliedstaat die Vorgaben für das Auslesen und die Anzeige der darin enthaltenen Informationen bekanntgibt, es sei denn, ein Mitgliedstaat teilt der [Europäischen] Kommission bis zum 2. August 2021 mit, dass er keine Möglichkeit hat, diese Informationen auszulesen und anzeigen zu lassen. …“ 8 Art. 6 („Mindestangaben“) Abs. 1 der Verordnung 2019/1157 bestimmt: „Wenn die Mitgliedstaaten an Unionsbürger Aufenthaltsdokumente ausstellen, enthalten diese mindestens folgende Angaben: … f) die Angaben, die in Anmeldebescheinigungen und Dokumenten zur Bescheinigung des Daueraufenthalts gemäß Artikel 8 bzw. Artikel 19 der Richtlinie [2004/38] aufgenommen werden; …“ 9 Art. 10 („Erfassung biometrischer Identifikatoren“) der Verordnung 2019/1157 sieht vor: „(1)   Biometrische Identifikatoren werden ausschließlich durch qualifiziertes und ordnungsgemäß befugtes Personal erfasst, das von den für die Ausstellung der Personalausweise oder Aufenthaltskarten zuständigen Behörden benannt wird; diese Erfassung erfolgt zum Zwecke der Aufnahme in ein hochsicheres Speichermedium gemäß Artikel 3 Absatz 5 bei Personalausweisen bzw. gemäß Artikel 7 Absatz 1 bei Aufenthaltskarten. Abweichend von Satz 1 werden Fingerabdrücke ausschließlich von qualifiziertem und ordnungsgemäß befugtem Personal dieser Behörden erfasst, es sei denn, es handelt sich um Anträge, die bei den diplomatischen und konsularischen Behörden des Mitgliedstaats eingereicht wurden. Um die Übereinstimmung der biometrischen Identifikatoren mit der Identität des Antragstellers zu gewährleisten, muss der Antragsteller während des Ausstellungsverfahrens für jeden Antrag mindestens einmal persönlich erscheinen. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass angemessene und wirksame Verfahren für die Erfassung biometrischer Identifikatoren bestehen, und dass diese Verfahren den in der Charta, in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes verankerten Rechten und Grundsätzen entsprechen. Treten bei der Erfassung der biometrischen Identifikatoren Schwierigkeiten auf, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass geeignete Verfahren zur Wahrung der Würde der betroffenen Person vorhanden sind. (3)   Vorbehaltlich anderer Verarbeitungszwecke nach Maßgabe des Unionsrechts und des nationalen Rechts werden biometrische Identifikatoren, die für die Zwecke der Personalisierung von Personalausweisen oder Aufenthaltsdokumenten gespeichert werden, auf hochsichere Weise sowie ausschließlich bis zu dem Tag der Abholung des Dokuments und keinesfalls länger als 90 Tage ab dem Tag der Ausstellung des Dokuments gespeichert[.] Nach diesem Zeitraum werden die biometrischen Identifikatoren umgehend gelöscht oder vernichtet.“ 10 Art. 11 („Schutz personenbezogener Daten und Haftung“) Abs. 4 und 6 der Verordnung 2019/1157 bestimmt: „(4)   Durch die Zusammenarbeit mit externen Dienstleistungsanbietern wird ein Mitgliedstaat nicht von der Haftung nach dem Unionsrecht oder dem nationalen Recht für Verstöße gegen Pflichten im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten befreit. … (6)   Auf dem Speichermedium von Personalausweisen und Aufenthaltsdokumenten gespeicherte biometrische Daten dürfen nur gemäß dem Unionsrecht und dem nationalen Recht von ordnungsgemäß befugten Mitarbeitern der zuständigen nationalen Behörden und Agenturen der Union verwendet werden, um a) den Personalausweis oder das Aufenthaltsdokument auf seine Echtheit zu überprüfen, b) die Identität des Inhabers anhand direkt verfügbarer abgleichbarer Merkmale zu überprüfen, wenn die Vorlage des Personalausweises oder Aufenthaltsdokuments gesetzlich vorgeschrieben ist.“ 11 Art. 14 („Zusätzliche technische Spezifikationen“) Abs. 1 und 2 der Verordnung 2019/1157 bestimmt: „(1)   Um gegebenenfalls die erforderliche Übereinstimmung der in Artikel 2 Buchstaben a und c genannten Personalausweise und Aufenthaltsdokumente mit künftigen Mindestsicherheitsstandards zu gewährleisten, legt die Kommission im Wege von Durchführungsrechtsakten zusätzliche technische Spezifikationen zu Folgendem fest: a) zusätzliche Sicherheitsmerkmale und ‑anforderungen, einschließlich höherer Standards zum Schutz vor Fälschung, Verfälschung und Nachahmung; b) technische Spezifikationen für das Speichermedium der biometrischen Daten gemäß Artikel 3 Absatz 5 und deren Sicherung, einschließlich der Verhinderung des unbefugten Zugriffs und einer Erleichterung der Validierung; c) Qualitätsanforderungen an und gemeinsame technische Standards für das Gesichtsbild und Fingerabdrücke. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 15 Absatz 2 genannten Prüfverfahren erlassen. (2)   Nach dem in Artikel 15 Absatz 2 genannten Verfahren kann beschlossen werden, dass die Spezifikationen gemäß diesem Artikel geheim und nicht zu veröffentlichen sind. …“ 2. DSGVO 12 Im 51. Erwägungsgrund der DSGVO heißt es: „Personenbezogene Daten, die ihrem Wesen nach hinsichtlich der Grundrechte und Grundfreiheiten besonders sensibel sind, verdienen einen besonderen Schutz, da im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung erhebliche Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten auftreten können. … Die Verarbeitung von Lichtbildern sollte nicht grundsätzlich als Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten angesehen werden, da Lichtbilder nur dann von der Definition des Begriffs ‚biometrische Daten‘ erfasst werden, wenn sie mit speziellen technischen Mitteln verarbeitet werden, die die eindeutige Identifizierung oder Authentifizierung einer natürlichen Person ermöglichen. Derartige personenbezogene Daten sollten nicht verarbeitet werden, es sei denn, die Verarbeitung ist in den in dieser Verordnung dargelegten besonderen Fällen zulässig, wobei zu berücksichtigen ist, dass im Recht der Mitgliedstaaten besondere Datenschutzbestimmungen festgelegt sein können, um die Anwendung der Bestimmungen dieser Verordnung anzupassen, damit die Einhaltung einer rechtlichen Verpflichtung oder die Wahrnehmung einer Aufgabe im öffentlichen Interesse oder die Ausübung öffentlicher Gewalt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, möglich ist. Zusätzlich zu den speziellen Anforderungen an eine derartige Verarbeitung sollten die allgemeinen Grundsätze und andere Bestimmungen dieser Verordnung, insbesondere hinsichtlich der Bedingungen für eine rechtmäßige Verarbeitung, gelten. Ausnahmen von dem allgemeinen Verbot der Verarbeitung dieser besonderen Kategorien personenbezogener Daten sollten ausdrücklich vorgesehen werden, unter anderem bei ausdrücklicher Einwilligung der betroffenen Person oder bei bestimmten Notwendigkeiten …“ 13 In Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) DSGVO heißt es: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck: … 2. ‚Verarbeitung‘ jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie das Erheben, das Erfassen, die Organisation, das Ordnen, die Speicherung, die Anpassung oder Veränderung, das Auslesen, das Abfragen, die Verwendung, die Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung, den Abgleich oder die Verknüpfung, die Einschränkung, das Löschen oder die Vernichtung; … 7. ‚Verantwortlicher‘ die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet; sind die Zwecke und Mittel dieser Verarbeitung durch das Unionsrecht oder das Recht der Mitgliedstaaten vorgegeben, so kann der Verantwortliche beziehungsweise können die bestimmten Kriterien seiner Benennung nach dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten vorgesehen werden; …“ 14 Art. 9 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) Abs. 1 DSGVO sieht vor: „Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person ist untersagt.“ 15 Art. 35 („Datenschutz-Folgenabschätzung“) Abs. 1, 3 und 10 DSGVO bestimmt: „(1)   Hat eine Form der Verarbeitung, insbesondere bei Verwendung neuer Technologien, aufgrund der Art, des Umfangs, der Umstände und der Zwecke der Verarbeitung voraussichtlich ein hohes Risiko für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen zur Folge, so führt der Verantwortliche vorab eine Abschätzung der Folgen der vorgesehenen Verarbeitungsvorgänge für den Schutz personenbezogener Daten durch. Für die Untersuchung mehrerer ähnlicher Verarbeitungsvorgänge mit ähnlich hohen Risiken kann eine einzige Abschätzung vorgenommen werden. … (3)   Eine Datenschutz-Folgenabschätzung gemäß Absatz 1 ist insbesondere in folgenden Fällen erforderlich: a) systematische und umfassende Bewertung persönlicher Aspekte natürlicher Personen, die sich auf automatisierte Verarbeitung einschließlich Profiling gründet und die ihrerseits als Grundlage für Entscheidungen dient, die Rechtswirkung gegenüber natürlichen Personen entfalten oder diese in ähnlich erheblicher Weise beeinträchtigen; b) umfangreiche Verarbeitung besonderer Kategorien von personenbezogenen Daten gemäß Artikel 9 Absatz 1 oder von personenbezogenen Daten über strafrechtliche Verurteilungen und Straftaten gemäß Artikel 10 oder c) systematische umfangreiche Überwachung öffentlich zugänglicher Bereiche. … (10)   Falls die Verarbeitung gemäß Artikel 6 Absatz 1 Buchstabe c oder e auf einer Rechtsgrundlage im Unionsrecht oder im Recht des Mitgliedstaats, dem der Verantwortliche unterliegt, beruht und falls diese Rechtsvorschriften den konkreten Verarbeitungsvorgang oder die konkreten Verarbeitungsvorgänge regeln und bereits im Rahmen der allgemeinen Folgenabschätzung im Zusammenhang mit dem Erlass dieser Rechtsgrundlage eine Datenschutz-Folgenabschätzung erfolgte, gelten die Absätze 1 bis 7 nur, wenn es nach dem Ermessen der Mitgliedstaaten erforderlich ist, vor den betreffenden Verarbeitungstätigkeiten eine solche Folgenabschätzung durchzuführen.“ 3. Verordnung (EU) 2016/399 16 Art. 8 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, und Berichtigung in ABl. 2018, L 272, S. 69), in der durch die Verordnung (EU) 2017/458 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2017 geänderten Fassung (ABl. 2017, L 74, S. 1) sieht vor: „(1)   Der grenzüberschreitende Verkehr an den Außengrenzen unterliegt den Kontrollen durch die Grenzschutzbeamten. Die Kontrollen erfolgen nach Maßgabe dieses Kapitels. … (2)   Personen, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr haben, werden bei der Ein- und Ausreise folgenden Kontrollen unterzogen: a) Überprüfung der Identität und der Staatsangehörigkeit der Person sowie der Echtheit des Reisedokuments und seiner Gültigkeit für den Grenzübertritt, unter anderem durch Abfrage der einschlägigen Datenbanken … b) Überprüfung, ob eine Person, die nach Unionsrecht Anspruch auf freien Personenverkehr hat, nicht als Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines der Mitgliedstaaten angesehen wird, … Bei Zweifeln an der Echtheit des Reisedokuments oder an der Identität des Inhabers soll mindestens einer der biometrischen Identifikatoren, die in die gemäß der Verordnung (EG) Nr. 2252/2004 [des Rates vom 13. Dezember 2004 über Normen für Sicherheitsmerkmale und biometrische Daten in von den Mitgliedstaaten ausgestellten Pässen und Reisedokumenten (ABl. 2004, L 385, S. 1)] ausgestellten Pässe und Reisedokumente integriert sind, überprüft werden. Nach Möglichkeit ist eine solche Überprüfung auch bei Reisedokumenten durchzuführen, die nicht unter jene Verordnung fallen. …“ 4. Richtlinie 2004/38 17 Art. 4 („Recht auf Ausreise“) Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38 bestimmt: „(1)   Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. … (3)   Die Mitgliedstaaten stellen ihren Staatsangehörigen gemäß ihren Rechtsvorschriften einen Personalausweis oder einen Reisepass aus, der ihre Staatsangehörigkeit angibt, und verlängern diese Dokumente.“ 18 Art. 5 („Recht auf Einreise“) Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sieht vor: „Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise. Für die Einreise von Unionsbürgern darf weder ein Visum noch eine gleichartige Formalität verlangt werden.“ 19 Art. 6 („Recht auf Aufenthalt bis zu drei Monaten“) der Richtlinie 2004/38 lautet: „(1)   Ein Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht. (2)   Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige im Besitz eines gültigen Reisepasses, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.“ 20 Art. 8 („Verwaltungsformalitäten für Unionsbürger“) Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2004/38 sieht vor: „(1)   Unbeschadet von Artikel 5 Absatz 5 kann der Aufnahmemitgliedstaat von Unionsbürgern für Aufenthalte von über drei Monaten verlangen, dass sie sich bei den zuständigen Behörden anmelden. … (3)   Für die Ausstellung der Anmeldebescheinigung dürfen die Mitgliedstaaten nur Folgendes verlangen: – von einem Unionsbürger, auf den Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a) Anwendung findet, nur die Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses, einer Einstellungsbestätigung des Arbeitgebers oder einer Beschäftigungsbescheinigung oder eines Nachweises der Selbstständigkeit; – von einem Unionsbürger, auf den Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b) Anwendung findet, nur die Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sowie einen Nachweis, dass er die dort genannten Voraussetzungen erfüllt; – von einem Unionsbürger, auf den Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c) Anwendung findet, nur die Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses, einer Bescheinigung über die Einschreibung bei einer anerkannten Einrichtung und über den umfassenden Krankenversicherungsschutz sowie einer Erklärung oder eines gleichwertigen Mittels nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe c). Die Mitgliedstaaten dürfen nicht verlangen, dass sich diese Erklärung auf einen bestimmten Existenzmittelbetrag bezieht.“ 5. Interinstitutionelle Vereinbarung 21 In den Nrn. 12 bis 14 der Interinstitutionellen Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission über bessere Rechtsetzung vom 13. April 2016 (ABl. 2016, L 123, S. 1, im Folgenden: Interinstitutionelle Vereinbarung) heißt es: „(12) … Folgenabschätzungen stellen ein Instrument dar, das den drei Organen dabei hilft, fundierte Entscheidungen zu treffen, und sind kein Ersatz für politische Entscheidungen im demokratischen Entscheidungsprozess. … Mit einer Folgenabschätzung sollten das Vorhandensein, der Umfang und die Auswirkungen eines Problems sowie die Frage geklärt werden, ob ein Tätigwerden der Union angezeigt ist oder nicht. Mit einer Folgenabschätzung sollten alternative Lösungswege und nach Möglichkeit die potenziellen kurz- und langfristigen Kosten und Vorteile aufgezeigt werden, beruhend auf einer integrierten und ausgewogenen Bewertung der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Auswirkungen sowie unter Vornahme einer qualitativen wie auch einer quantitativen Prüfung. Die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sollten uneingeschränkt geachtet werden, ebenso wie die Grundrechte. … Folgenabschätzungen sollten sich auf korrekte, objektive und vollständige Angaben stützen und im Hinblick auf Umfang und Schwerpunkt verhältnismäßig sein. (13) Die Kommission wird ihre Gesetzgebungsinitiativen …, bei denen mit erheblichen wirtschaftlichen, ökologischen oder sozialen Auswirkungen zu rechnen ist, einer Folgenabschätzung unterziehen. Die im Arbeitsprogramm der Kommission oder in der gemeinsamen Erklärung aufgeführten Initiativen werden generell von einer Folgenabschätzung begleitet. … Die Endergebnisse der Folgenabschätzungen werden dem Europäischen Parlament, dem Rat [der Europäischen Union] und den nationalen Parlamenten zur Verfügung gestellt und bei Annahme der Kommissionsinitiative zusammen mit der Stellungnahme bzw. den Stellungnahmen des Ausschusses für Regulierungskontrolle öffentlich bekannt gemacht. (14) Das … Parlament und der Rat werden bei der Prüfung der Gesetzgebungsvorschläge der Kommission in vollem Umfang die Folgenabschätzungen der Kommission berücksichtigen. Zu diesem Zweck werden die Folgenabschätzungen so dargelegt, dass das … Parlament und der Rat die Entscheidungen der Kommission leichter prüfen können.“ B. Deutsches Recht 22 § 5 („Ausweismuster; gespeicherte Daten“) Abs. 9 des Gesetzes über Personalausweise und den elektronischen Identitätsnachweis vom 18. Juni 2009 (BGBl. I S. 1346) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: PAuswG) bestimmt: „Die auf Grund der Verordnung [2019/1157] auf dem elektronischen Speichermedium zu speichernden zwei Fingerabdrücke der [einen Personalausweis beantragenden] Person werden in Form des flachen Abdrucks des linken und rechten Zeigefingers im elektronischen Speicher- und Verarbeitungsmedium des Personalausweises gespeichert. Bei Fehlen eines Zeigefingers, ungenügender Qualität des Fingerabdrucks oder Verletzungen der Fingerkuppe wird ersatzweise der flache Abdruck entweder des Daumens, des Mittelfingers oder des Ringfingers gespeichert. Fingerabdrücke sind nicht zu speichern, wenn die Abnahme der Fingerabdrücke aus medizinischen Gründen, die nicht nur vorübergehender Art sind, unmöglich ist.“ 23 § 6 Abs. 1 und 2 PAuswG lautet: „(1)   Personalausweise werden für eine Gültigkeitsdauer von zehn Jahren ausgestellt. (2)   Vor Ablauf der Gültigkeit eines Personalausweises kann ein neuer Personalausweis beantragt werden, wenn ein berechtigtes Interesse an der Neuausstellung dargelegt wird.“ 24 § 9 („Ausstellung des Ausweises“) Abs. 1 Satz 1 PAuswG bestimmt: „Personalausweise und vorläufige Personalausweise werden auf Antrag für Deutsche im Sinne des Artikels 116 Abs. 1 des Grundgesetzes ausgestellt.“ 25 § 28 („Ungültigkeit“) Abs. 3 PAuswG sieht vor: „Störungen der Funktionsfähigkeit des elektronischen Speicher- und Verarbeitungsmediums berühren nicht die Gültigkeit des Personalausweises.“ II. Ausgangsverfahren und Vorlagefrage 26 Am 30. November 2021 beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens bei der Stadt Wiesbaden die Ausstellung eines neuen Personalausweises mit der Begründung, dass der elektronische Chip seines alten Ausweises defekt sei. Er beantragte jedoch, in den neuen Ausweis nicht seine Fingerabdrücke aufzunehmen. 27 Die Stadt Wiesbaden lehnte diesen Antrag aus zwei Gründen ab. Zum einen habe der Kläger des Ausgangsverfahrens keinen Anspruch auf Ausstellung eines neuen Personalausweises, da er bereits im Besitz eines gültigen Ausweisdokuments sei. Ein Personalausweis bleibe nämlich trotz seines defekten elektronischen Chips gemäß § 28 Abs. 3 PAuswG gültig. Zum anderen sei jedenfalls seit dem 2. August 2021 die Aufnahme von zwei Fingerabdrücken in das Speichermedium von Personalausweisen nach § 5 Abs. 9 PAuswG, der Art. 3 Abs. 5 der Verordnung 2019/1157 umsetze, verpflichtend. 28 Am 21. Dezember 2021 erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens beim Verwaltungsgericht Wiesbaden (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Klage mit dem Ziel, die Stadt Wiesbaden zu verpflichten, ihm einen Personalausweis ohne Erfassung seiner Fingerabdrücke auszustellen. 29 Das vorlegende Gericht zweifelt an der Rechtmäßigkeit der beiden Gründe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bescheids. Insbesondere im Zusammenhang mit dem zweiten Grund hat es Bedenken, was die Gültigkeit der Verordnung 2019/1157 oder zumindest ihres Art. 3 Abs. 5 angeht. 30 Erstens fragt sich das vorlegende Gericht, ob diese Verordnung nicht auf der Grundlage von Art. 77 Abs. 3 AEUV und folglich nach Abschluss des in dieser Bestimmung vorgesehenen besonderen Gesetzgebungsverfahrens statt auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 2 AEUV und unter Anwendung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens hätte erlassen werden müssen. Denn zum einen beziehe sich Art. 77 Abs. 3 AEUV speziell auf die Zuständigkeit der Union, u. a. Regelungen zu Personalausweisen zu erlassen, und sei somit eine speziellere Vorschrift als Art. 21 Abs. 2 AEUV. Zum anderen habe der Gerichtshof im Urteil vom 17. Oktober 2013, Schwarz (C‑291/12, EU:C:2013:670), entschieden, dass die Verordnung Nr. 2252/2004, soweit sie Normen für biometrische Daten in Pässen festlege, wirksam auf Art. 62 Nr. 2 Buchst. a EG (nunmehr Art. 77 Abs. 3 AEUV) gestützt worden sei. 31 Zweitens führt das vorlegende Gericht das mögliche Vorliegen eines Verfahrensfehlers beim Erlass der Verordnung 2019/1157 an. Wie der Europäische Datenschutzbeauftragte (im Folgenden: EDSB) in seiner Stellungnahme 7/2018 vom 10. August 2018 zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern und anderer Dokumente (im Folgenden: Stellungnahme 7/2018) unterstrichen habe, stellten die Erfassung und Speicherung von Fingerabdrücken nämlich eine Verarbeitung personenbezogener Daten dar, die einer Folgenabschätzung nach Art. 35 Abs. 10 DSGVO unterzogen werden müsse. Im vorliegenden Fall sei eine solche Folgenabschätzung jedoch nicht durchgeführt worden. Insbesondere könne das dem genannten Verordnungsvorschlag beigefügte Dokument mit dem Titel „Impact assessment“ nicht als Folgenabschätzung im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden. 32 Drittens fragt das vorlegende Gericht im Besonderen nach der Vereinbarkeit von Art. 3 Abs. 5 der Verordnung 2019/1157 mit den Art. 7 und 8 der Charta betreffend die Achtung des Privat- und Familienlebens bzw. den Schutz personenbezogener Daten. Die den Mitgliedstaaten auferlegte Verpflichtung, Personalausweise auszustellen, bei denen das Speichermedium zwei Fingerabdrücke enthalte, stelle nämlich eine Einschränkung der Ausübung der in diesen beiden Bestimmungen der Charta anerkannten Rechte dar, die nur zu rechtfertigen sei, wenn sie die in Art. 52 Abs. 1 der Charta aufgestellten Voraussetzungen erfülle. 33 Zum einen könnte es sein, dass diese Einschränkung nicht einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspreche. Zwar habe der Gerichtshof im Urteil vom 17. Oktober 2013, Schwarz (C‑291/12, EU:C:2013:670), anerkannt, dass die Bekämpfung der illegalen Einreise von Drittstaatsangehörigen in das Gebiet der Union ein vom Unionsrecht anerkanntes Ziel sei. Allerdings sei der Personalausweis primär kein Reisedokument wie der Reisepass, und sein Zweck bestehe nur darin, die Überprüfung der Identität eines Unionsbürgers sowohl in seinen Interaktionen mit Verwaltungsbehörden als auch mit privaten Dritten zu ermöglichen. 34 Zum anderen bestünden, selbst wenn man annähme, dass diese Verordnung eine vom Unionsrecht anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolge, Zweifel an der Verhältnismäßigkeit dieser Einschränkung. Die vom Gerichtshof im Urteil vom 17. Oktober 2013, Schwarz (C‑291/12, EU:C:2013:670), getroffene Entscheidung lasse sich nämlich nicht auf die Verordnung 2019/1157 übertragen, da sie Reisepässe betroffen habe, deren Besitz im Gegensatz zu Personalausweisen in Deutschland freiwillig sei und deren Nutzung ein anderes Ziel verfolge. 35 Hingegen gehe aus der Stellungnahme 7/2018 hervor, dass die Aufnahme und die Speicherung von Fingerabdrücken weitreichende Auswirkungen hätten, die bis zu 370 Millionen Unionsbürger betreffen könnten und von möglicherweise 85 % der Bevölkerung der Union die obligatorische Abnahme von Fingerabdrücken verlangen würden. Diese weitreichenden Auswirkungen in Verbindung mit der hohen Sensibilität der verarbeiteten Daten (ein Gesichtsbild in Kombination mit zwei Fingerabdrücken) bedeuteten jedoch, dass die Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte, die sich aus der obligatorischen Erfassung von Fingerabdrücken zur Ausstellung von Personalausweisen ergebe, im Vergleich zu Reisepässen erheblicher sei, was im Gegenzug eine stärkere Rechtfertigung und eine sorgfältige Prüfung der in Rede stehenden Maßnahme auf der Grundlage eines strengen Maßstabs für die Notwendigkeit erfordere. 36 Jedenfalls ergebe sich die Notwendigkeit einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung auch aus Art. 9 Abs. 1 DSGVO, wonach die Verarbeitung solcher biometrischen Daten im Grundsatz untersagt und nur in eng gefassten Ausnahmefällen zulässig sei. 37 In diesem Zusammenhang ist das vorlegende Gericht zwar der Ansicht, dass die Verwendung biometrischer Daten das Risiko, dass ein Dokument gefälscht werden kann, verringere, es hat aber Zweifel daran, ob dieser Umstand allein das Ausmaß der Einschränkung des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten insbesondere unter Berücksichtigung folgender Gründe zu rechtfertigen vermag. 38 Zunächst habe der EDSB in seiner Stellungnahme 7/2018 betont, dass andere Techniken für den sicheren Druck von Ausweisdokumenten, wie Hologramme oder Wassermarken, eine deutlich geringere Eingriffsintensität hätten, jedoch auch dazu in der Lage wären, die Fälschung dieser Ausweisdokumente zu verhindern und ihre Authentizität zu verifizieren. Im Übrigen zeige der Umstand, dass nach deutschem Recht ein Personalausweis mit defektem elektronischen Chip weiterhin gültig bleibe, dass die physischen Merkmale, insbesondere Mikroschriften oder UV-Aufdrucke, ausreichten, um die Sicherheit dieser Ausweise zu gewährleisten. 39 Sodann ermächtige Art. 3 Abs. 7 der Verordnung 2019/1157 die Mitgliedstaaten, Kinder unter zwölf Jahren von der Pflicht zur Abgabe von Fingerabdrücken zu befreien, und verpflichte sie in jedem Fall dazu, Kinder unter sechs Jahren von dieser Pflicht zu befreien, was zeige, dass die Abnahme von zwei Fingerabdrücken nicht unbedingt erforderlich sei. 40 Im Übrigen entspreche Art. 3 Abs. 5 der Verordnung 2019/1157 nicht dem in Art. 5 der DSGVO verankerten Grundsatz der Datenminimierung, aus dem sich ergebe, dass die Erhebung und Nutzung von personenbezogenen Daten verhältnismäßig und erforderlich sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein müsse. Denn die Erfassung von zwei vollständigen Fingerabdrücken, und nicht nur charakteristischer Punkte dieser Abdrücke („Minuzien“), fördere zwar die Interoperabilität der verschiedenen Arten der Systeme, doch erhöhe sie auch die Anzahl der gespeicherten personenbezogenen Daten und damit das Risiko des Identitätsdiebstahls, falls es zu einem Datenleck komme. Dieses Risiko sei im Übrigen nicht zu vernachlässigen, da die in Personalausweisen verwendeten elektronischen Chips von nicht autorisierten Scannern ausgelesen werden könnten. 41 Schließlich und im Kern könne die Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte rechtswidrig sein, da der EDSB in seiner Stellungnahme 7/2018 ausgeführt habe, dass zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung 2019/1157 die Zahl der gefälschten Personalausweise im Verhältnis zur Zahl der ausgestellten Personalausweise (38870 festgestellte gefälschte Personalausweise zwischen 2013 und 2017) relativ gering gewesen sei und seit mehreren Jahren abnehme. 42 Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Verstößt die Verpflichtung zur Aufnahme und Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen gemäß Art. 3 Abs. 5 der Verordnung 2019/1157 gegen höherrangiges Unionsrecht, insbesondere a) gegen Art. 77 Abs. 3 AEUV, b) gegen die Art. 7 und 8 der Charta, c) gegen Art. 35 Abs. 10 DSGVO, und ist deshalb aus einem der Gründe ungültig? III. Zur Vorlagefrage 43 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Verordnung 2019/1157 ganz oder teilweise ungültig ist, weil sie erstens auf einer falschen Rechtsgrundlage erlassen worden sei, zweitens Art. 35 Abs. 10 DSGVO verletze und drittens gegen die Art. 7 und 8 der Charta verstoße. A. Zum ersten Ungültigkeitsgrund: Wahl einer falschen Rechtsgrundlage 44 Der erste vom vorlegenden Gericht angeführte Ungültigkeitsgrund betrifft die Frage, ob, insbesondere angesichts der ausdrücklichen Bezugnahme auf Personalausweise in Art. 77 Abs. 3 AEUV sowie der Entscheidung im Urteil vom 17. Oktober 2013, Schwarz (C‑291/12, EU:C:2013:670), die Verordnung 2019/1157 auf der Grundlage von Art. 77 Abs. 3 AEUV und gemäß dem darin vorgesehenen besonderen Gesetzgebungsverfahren und nicht, wie erfolgt, auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 2 AEUV hätte erlassen werden müssen. 1. Vorbemerkungen 45 Nach ständiger Rechtsprechung muss die Wahl der Rechtsgrundlage eines Unionsrechtsakts auf objektiven und gerichtlich nachprüfbaren Kriterien beruhen, zu denen das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören (Urteile vom 16. Februar 2022, Ungarn/Parlament und Rat, C‑156/21, EU:C:2022:97, Rn. 107, sowie vom 16. Februar 2022, Polen/Parlament und Rat, C‑157/21, EU:C:2022:98, Rn. 121). 46 Außerdem ist der betreffende Rechtsakt, wenn die Verträge eine spezifischere Bestimmung enthalten, die als Rechtsgrundlage für ihn dienen kann, auf diese Bestimmung zu stützen (Urteile vom 6. September 2012, Parlament/Rat, C‑490/10, EU:C:2012:525, Rn. 44, und vom 8. Dezember 2020, Polen/Parlament und Rat, C‑626/18, EU:C:2020:1000, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). 47 Ergibt schließlich die Prüfung eines Unionsrechtsakts, dass er mehrere Zielsetzungen verfolgt oder mehrere Komponenten umfasst, und lässt sich eine von ihnen als die hauptsächliche oder überwiegende ausmachen, während die anderen nur nebensächliche Bedeutung haben oder von äußerst begrenzter Tragweite sind, ist die Rechtsgrundlage für den Erlass dieses Rechtsakts anhand dieser hauptsächlichen Zielsetzung oder Komponente zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. November 2018, Kommission/Rat [Meeresschutzgebiet Antarktis], C‑626/15 und C‑659/16, EU:C:2018:925, Rn. 77, sowie Gutachten 1/19 [Übereinkommen von Istanbul] vom 6. Oktober 2021, EU:C:2021:832, Rn. 286). 2. Zum jeweiligen Anwendungsbereich von Art. 21 Abs. 2 AEUV und Art. 77 Abs. 3 AEUV 48 Nach Art. 21 Abs. 2 AEUV können, wenn ein Tätigwerden der Union erforderlich erscheint, um jedem Unionsbürger das Recht zu gewährleisten, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, und die Verträge hierfür anderweitig keine Befugnisse vorsehen, das Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Vorschriften erlassen, mit denen die Ausübung dieser Rechte erleichtert wird. 49 Daraus folgt, dass diese Bestimmung der Union eine allgemeine Zuständigkeit verleiht, die Bestimmungen zu erlassen, die erforderlich sind, um die Ausübung des in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV verankerten Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, vorbehaltlich der hierfür in den Verträgen vorgesehenen Befugnisse zu erleichtern. 50 Anders als Art. 21 Abs. 2 AEUV sieht Art. 77 Abs. 3 AEUV solche Befugnisse jedoch ausdrücklich für den Erlass von Maßnahmen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente vor, die den Unionsbürgern ausgestellt werden, um ihnen die Ausübung des in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV genannten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern. 51 Zwar befindet sich Art. 77 Abs. 3 AEUV in Titel V dieses Vertrags, der dem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gewidmet ist, genauer gesagt in Kapitel 2 („Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung“) dieses Titels. Nach Art. 77 Abs. 1 AEUV entwickelt die Union jedoch eine Politik, mit der sichergestellt werden soll, dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, mit der die Personenkontrolle und die wirksame Überwachung des Grenzübertritts an den Außengrenzen sichergestellt werden soll und mit der schrittweise ein integriertes Grenzschutzsystem an diesen Grenzen eingeführt werden soll. Die Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente, auf die sich die in Art. 77 Abs. 3 AEUV vorgesehene Zuständigkeit bezieht, sind integraler Bestandteil einer solchen Unionspolitik. Diese Dokumente ermöglichen den Unionsbürgern nämlich u. a., nachzuweisen, dass sie das Recht genießen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, und somit dieses Recht auszuüben. Daher ist Art. 77 Abs. 3 AEUV dann Grundlage für den Erlass von Maßnahmen betreffend diese Dokumente, wenn ein solches Tätigwerden erforderlich erscheint, um die Ausübung des in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV verankerten Rechts zu erleichtern. 52 Diese Auslegung der materiellen Tragweite von Art. 77 Abs. 3 AEUV kann weder durch die historische Entwicklung, die die Verträge mit Blick auf die Zuständigkeit der Union für den Erlass von Maßnahmen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente erfahren haben und auf die sich das Parlament, der Rat und die Kommission beziehen, noch durch den von der deutschen Regierung angeführten Umstand entkräftet werden, dass diese Bestimmung vorsehe, das sie anwendbar sei, „sofern die Verträge hierfür anderweitig keine Befugnisse vorsehen“. 53 Zwar wurde mit dem Vertrag von Lissabon die zuvor in Art. 18 Abs. 3 EG enthaltene Bestimmung gestrichen, die ausdrücklich die Möglichkeit des Unionsgesetzgebers ausschloss, auf Art. 18 Abs. 2 EG (jetzt Art. 21 Abs. 2 AEUV) als Rechtsgrundlage für den Erlass sowohl von „Vorschriften betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente“ als auch von „Vorschriften betreffend die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz“ zurückzugreifen. Zugleich hat dieser Vertrag jedoch der Union ausdrücklich eine Befugnis in diesen beiden Bereichen – nämlich zum einen in Art. 21 Abs. 3 AEUV in Bezug auf die soziale Sicherheit und den sozialen Schutz und zum anderen in Art. 77 Abs. 3 AEUV in Bezug auf die Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente – eingeräumt und den Erlass von Maßnahmen in diesen Bereichen einem besonderen Gesetzgebungsverfahren sowie insbesondere der Einstimmigkeit im Rat unterworfen. 54 Unter diesen Umständen kann aus der Streichung der zuvor in Art. 18 Abs. 3 EG enthaltenen Bestimmung nicht abgeleitet werden, dass es nunmehr möglich wäre, „Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente“ auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 2 AEUV zu erlassen. Vielmehr ergibt sich aus der historischen Entwicklung, dass die Verfasser der Verträge mit Art. 77 Abs. 3 AEUV der Union eine spezifischere Zuständigkeit für den Erlass solcher Bestimmungen zur Erleichterung der Ausübung des in Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV garantierten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, verleihen wollten als die in Art. 21 Abs. 2 AEUV vorgesehene allgemeinere Zuständigkeit. 55 Zudem ist der Hinweis in Art. 77 Abs. 3 AEUV, dass diese Bestimmung anwendbar ist, „sofern die Verträge hierfür anderweitig keine Befugnisse vorsehen“, in Anbetracht der allgemeinen Systematik des AEU-Vertrags dahin zu verstehen, dass es sich bei diesen Befugnissen um solche handelt, die nicht durch eine allgemeinere Bestimmung wie Art. 21 Abs. 2 AEUV, sondern durch eine noch spezifischere Bestimmung verliehen werden. 56 Daher konnte der Erlass der Verordnung 2019/1157 nur unter der Voraussetzung auf Art. 21 Abs. 2 AEUV gestützt werden, dass die hauptsächliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente dieser Verordnung außerhalb des spezifischen Anwendungsbereichs von Art. 77 Abs. 3 AEUV liegt, nämlich der Ausstellung von Pässen, Personalausweisen, Aufenthaltstiteln oder diesen gleichgestellten Dokumenten, um die Ausübung des Rechts aus Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV zu erleichtern. 3. Zur hauptsächlichen oder überwiegenden Zielsetzung oder Komponente der Verordnung 2019/1157 57 Was erstens die Zielsetzung der Verordnung 2019/1157 betrifft, heißt es in ihrem Art. 1, dass mit ihr die Sicherheitsstandards verschärft werden, und zwar für Personalausweise, die die Mitgliedstaaten ihren Staatsangehörigen ausstellen, und für Aufenthaltsdokumente, die die Mitgliedstaaten Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausstellen, die ihr Recht auf Freizügigkeit in der Union ausüben. 58 In diesem Sinne heißt es im 46. Erwägungsgrund der Verordnung, dass ihre Ziele in der „Erhöhung der Sicherheit“ dieser Reise- und Identitätsdokumente und der „Erleichterung der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen“ bestehen, was auch in den Erwägungsgründen 1, 2, 5, 17, 28, 29 und 36 der Verordnung bestätigt wird. 59 Was zweitens den Inhalt der Verordnung 2019/1157 anbelangt, ist festzustellen, dass sie 16 Artikel umfasst. Die Art. 1 und 2 der Verordnung legen ihren Gegenstand und Anwendungsbereich fest. Die Art. 3 und 4 sowie die Art. 6 und 7 der Verordnung, die ihre hauptsächlichen Komponenten sind, formulieren u. a. die Anforderungen in Bezug auf Sicherheit, Inhalt, Gestaltung bzw. Spezifikationen, die die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Personalausweise und Aufenthaltsdokumente erfüllen müssen, während die Art. 5 und 8 der Verordnung die Auslaufregelung für Personalausweise und Aufenthaltskarten vorsehen, die nicht den Anforderungen der Verordnung entsprechen. Schließlich wird in den Art. 9 bis 16 der Verordnung 2019/1157 festgelegt, wie die darin vorgesehenen Verpflichtungen, insbesondere in Bezug auf die Erfassung biometrischer Identifikatoren und den Schutz personenbezogener Daten, umzusetzen sind. 60 Zwar bestimmt Art. 2 der Verordnung 2019/1157, dass sie nicht nur für Personalausweise gilt, die die Mitgliedstaaten ihren eigenen Staatsangehörigen ausstellen, sondern auch für Anmeldebescheinigungen, die sich länger als drei Monate in einem Aufnahmemitgliedstaat aufhaltenden Unionsbürgern gemäß Art. 8 der Richtlinie 2004/38 ausgestellt werden, und für Dokumente zur Bescheinigung des Daueraufenthalts, die Unionsbürgern gemäß Art. 19 der Richtlinie 2004/38 ausgestellt werden, wobei diese Bescheinigungen und Dokumente Personalausweisen, Pässen oder Aufenthaltstiteln nicht gleichgestellt werden können. Die Verordnung 2019/1157 enthält jedoch keine diese Bescheinigungen regelnde Bestimmung und beschränkt sich in ihrem Art. 6 Abs. 1 Buchst. f auf den Hinweis, dass die Aufenthaltsdokumente, die die Mitgliedstaaten an Unionsbürger ausstellen, die Angaben enthalten müssen, die in Anmeldebescheinigungen und Dokumenten zur Bescheinigung des Daueraufenthalts gemäß Art. 8 bzw. Art. 19 der Richtlinie 2004/38 aufgenommen werden. Folglich hat die mit diesen Bescheinigungen verbundene Zielsetzung und Komponente dieser Verordnung eine äußerst begrenzte Tragweite, so dass die Rechtsgrundlage dieser Verordnung nicht anhand dieser Zielsetzung oder Komponente bestimmt werden kann. 61 Unter diesen Umständen ergibt sich aus der hauptsächlichen Zielsetzung und den hauptsächlichen Komponenten der Verordnung 2019/1157, dass diese zu den Rechtsakten gehört, die in den spezifischen Anwendungsbereich von Art. 77 Abs. 3 AEUV fallen, wie er in den Rn. 48 bis 51 des vorliegenden Urteils aufgezeigt worden ist. 62 Folglich hat der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er die Verordnung 2019/1157 auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 2 AEUV erlassen hat, gegen Art. 77 Abs. 3 AEUV verstoßen und ein ungeeignetes Gesetzgebungsverfahren angewandt. 63 Somit ist der erste vom vorlegenden Gericht angeführte Ungültigkeitsgrund, der darauf gestützt wird, dass die Verordnung 2019/1157 zu Unrecht auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 2 AEUV und in Anwendung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens erlassen wurde, geeignet, zur Ungültigkeit dieser Verordnung zu führen. B. Zum zweiten Ungültigkeitsgrund: Nichtbeachtung von Art. 35 Abs. 10 DSGVO 64 Der zweite vom vorlegenden Gericht angeführte Ungültigkeitsgrund stützt sich darauf, dass die Verordnung 2019/1157 unter Verstoß gegen Art. 35 Abs. 10 DSGVO ohne Durchführung einer Datenschutz-Folgenabschätzung erlassen worden sei. 65 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 35 Abs. 1 DSGVO der Verantwortliche, wenn eine Form der Verarbeitung, insbesondere bei Verwendung neuer Technologien, aufgrund der Art, des Umfangs, der Umstände und der Zwecke der Verarbeitung voraussichtlich ein hohes Risiko für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen zur Folge hat, vorab eine Abschätzung der Folgen der vorgesehenen Verarbeitungsvorgänge für den Schutz personenbezogener Daten durchführen muss. Art. 35 Abs. 3 DSGVO stellt klar, dass eine solche Folgenabschätzung im Fall umfangreicher Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten gemäß Art. 9 Abs. 1 DSGVO (wie biometrischer Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person) erforderlich ist. 66 Da im vorliegenden Fall die Verordnung 2019/1157 selbst keinen Vorgang im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten oder Sätzen von personenbezogenen Daten durchführt, sondern lediglich vorsieht, dass die Mitgliedstaaten im Fall der Beantragung eines Personalausweises bestimmte Verarbeitungen vornehmen, ist festzustellen, dass der Erlass dieser Verordnung nicht von der vorherigen Durchführung einer Abschätzung der Folgen der vorgesehenen Verarbeitungsvorgänge im Sinne von Art. 35 Abs. 1 DSGVO abhängig war. Art. 35 Abs. 10 DSGVO enthält insoweit eine Ausnahme von Art. 35 Abs. 1 DSGVO. 67 Da nach den vorstehenden Ausführungen Art. 35 Abs. 1 DSGVO beim Erlass der Verordnung 2019/1157 nicht anzuwenden war, konnte dieser Erlass folglich nicht gegen Art. 35 Abs. 10 der Verordnung 2016/679 verstoßen. 68 Nach alledem vermag der zweite Grund, der auf einen Verstoß gegen Art. 35 Abs. 10 DSGVO gestützt wird, nicht zur Ungültigkeit der Verordnung 2019/1157 zu führen. C. Zum dritten Ungültigkeitsgrund: Unvereinbarkeit von Art. 3 Abs. 5 der Verordnung 2019/1157 mit den Art. 7 und 8 der Charta 69 Der dritte vom vorlegenden Gericht angeführte Grund für die Ungültigkeit der Verordnung 2019/1157 betrifft die Frage, ob die in Art. 3 Abs. 5 der Verordnung vorgesehene Verpflichtung, zwei vollständige Fingerabdrücke in das Speichermedium der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Personalausweise aufzunehmen, eine nicht gerechtfertigte Einschränkung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte mit sich bringt. 1. Zum Vorliegen einer Einschränkung 70 Art. 7 der Charta bestimmt u. a., dass jede Person das Recht auf Achtung ihres Privatlebens hat. Nach Art. 8 Abs. 1 der Charta hat jede Person das Recht auf den Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich insgesamt, dass jede Verarbeitung personenbezogener Daten durch Dritte grundsätzlich einen Eingriff in diese Rechte darstellen kann (Urteil vom 17. Oktober 2013, Schwarz, C‑291/12, EU:C:2013:670, Rn. 25). 71 Vorliegend bestimmt Art. 3 Abs. 5 der Verordnung 2019/1157, dass das hochsichere Speichermedium, mit dem die von den Mitgliedstaaten ihren eigenen Staatsangehörigen ausgestellten Personalausweise versehen werden müssen, biometrische Daten enthalten muss, nämlich ein Gesichtsbild und zwei Fingerabdrücke in interoperablen digitalen Formaten. 72 Solche personenbezogenen Daten ermöglichen indes die genaue Identifizierung der betroffenen natürlichen Personen und sind aufgrund der erheblichen Risiken für die Grundrechte und Grundfreiheiten, die ihre Verwendung mit sich bringen kann, besonders sensibel, wie sich insbesondere aus dem 51. Erwägungsgrund der DSGVO ergibt; diese Verordnung ist auf die in Rede stehenden Daten anwendbar, worauf im 40. Erwägungsgrund der Verordnung 2019/1157 hingewiesen wird. 73 Folglich stellt die in Art. 3 Abs. 5 der Verordnung 2019/1157 vorgesehene Verpflichtung, zwei Fingerabdrücke in das Speichermedium von Personalausweisen aufzunehmen, eine Einschränkung sowohl des Rechts auf Achtung des Privatlebens als auch des Rechts auf Schutz personenbezogener Daten dar, die in Art. 7 bzw. Art. 8 der Charta verankert sind. 74 Darüber hinaus geht diese Verpflichtung mit der vorherigen Durchführung zweier aufeinander folgender Vorgänge der Verarbeitung personenbezogener Daten einher, nämlich der Erfassung dieser Fingerabdrücke bei der betroffenen Person und anschließend ihrer vorläufigen Speicherung für die Zwecke der Personalisierung von Personalausweisen, wobei diese Vorgänge in Art. 10 der Verordnung 2019/1157 geregelt sind. Diese Vorgänge stellen ebenfalls Einschränkungen der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte dar. 2. Zur Rechtfertigung der Einschränkung 75 Nach ständiger Rechtsprechung können die in Art. 7 bzw. Art. 8 der Charta garantierten Rechte auf Achtung des Privatlebens bzw. auf Schutz personenbezogener Daten keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. September 2022, SpaceNet und Telekom Deutschland, C‑793/19 und C‑794/19, EU:C:2022:702, Rn. 63). 76 Einschränkungen dieser Rechte sind daher zulässig, sofern sie gemäß Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sind und den Wesensgehalt dieser Rechte achten. Zudem dürfen nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit solche Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Insoweit stellt Art. 8 Abs. 2 der Charta klar, dass personenbezogene Daten insbesondere nur „für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage“ verarbeitet werden dürfen. a) Zur Achtung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit 77 Das in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta aufgestellte Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte bedeutet, dass der Rechtsakt, der den Eingriff in die Grundrechte ermöglicht, den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegen muss. Dieses Erfordernis schließt zum einen aber nicht aus, dass die fragliche Einschränkung hinreichend offen formuliert ist, um Anpassungen an verschiedene Fallgruppen und an Änderungen der Lage zu erlauben. Zum anderen kann der Gerichtshof gegebenenfalls die konkrete Tragweite der Einschränkung im Wege der Auslegung präzisieren, und zwar anhand sowohl des Wortlauts als auch der Systematik und der Ziele der fraglichen Unionsregelung, wie sie im Licht der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen sind (Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 114). 78 Im vorliegenden Fall sind die Einschränkungen der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte, die sich aus der Verpflichtung ergeben, zwei vollständige Fingerabdrücke in das Speichermedium der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Personalausweise aufzunehmen, sowie die Anwendungsvoraussetzungen und die Tragweite dieser Einschränkungen in Art. 3 Abs. 5 sowie Art. 10 Abs. 1 und 3 der Verordnung 2019/1157, die der Unionsgesetzgeber im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen hat und deren Wirkungen durch das vorliegende Urteil aufrechterhalten werden, klar und präzise bestimmt. 79 Folglich genügen diese Einschränkungen der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Sinne von Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta. b) Zur Achtung des Wesensgehalts der in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte 80 Die in Fingerabdrücken enthaltenen Informationen ermöglichen für sich genommen keinen Einblick in das Privat- und Familienleben der betroffenen Personen. 81 Unter diesen Umständen berührt die Einschränkung, die die in Art. 3 Abs. 5 der Verordnung 2019/1157 vorgesehene Verpflichtung, zwei Fingerabdrücke in das Speichermedium der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Personalausweise aufzunehmen, mit sich bringt, nicht den Wesensgehalt der in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juni 2022, Ligue des droits humains, C‑817/19, EU:C:2022:491, Rn. 120). c) Zur Achtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit 82 Wie aus Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta hervorgeht, müssen, damit Einschränkungen der Ausübung der durch die Charta garantierten Grundrechte unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorgenommen werden dürfen, diese Einschränkungen erforderlich sein und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. 83 Insbesondere müssen sich die Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten und deren Einschränkungen auf das absolut Notwendige beschränken, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Erreichung der verfolgten legitimen Ziele zur Verfügung stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist. Außerdem kann eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung nicht legitimerweise verfolgt werden, ohne dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie mit den von der Maßnahme betroffenen Grundrechten in Einklang gebracht werden muss, indem eine ausgewogene Gewichtung der dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung und der betroffenen Rechte vorgenommen wird, um sicherzustellen, dass die durch diese Maßnahme verursachten Unannehmlichkeiten nicht außer Verhältnis zu den verfolgten Zielsetzungen stehen. Daher ist die Möglichkeit, eine Einschränkung der durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte zu rechtfertigen, zu beurteilen, indem die Schwere des mit einer solchen Einschränkung verbundenen Eingriffs bestimmt und geprüft wird, ob die mit ihr verfolgte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in angemessenem Verhältnis zur Schwere des Eingriffs steht (Urteil vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). 84 Folglich ist, um zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die Eingriffe in die durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte, die sich aus der in Art. 3 Abs. 5 der Verordnung 2019/1157 vorgesehenen Verpflichtung zur Aufnahme von zwei Fingerabdrücken in das Speichermedium von Personalausweisen ergeben, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit achten, erstens zu prüfen, ob diese Maßnahme eine oder mehrere von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgt und tatsächlich geeignet ist, diese zu erreichen, zweitens, ob die sich daraus ergebenden Eingriffe in dem Sinne auf das absolut Notwendige beschränkt sind, dass diese Zielsetzungen vernünftigerweise nicht ebenso wirksam mit anderen Mitteln erreicht werden können, die diese Grundrechte der betroffenen Personen weniger beeinträchtigen, und drittens, ob diese Eingriffe nicht außer Verhältnis zu diesen Zielsetzungen stehen, was insbesondere eine Gewichtung der Zielsetzungen und der Schwere der Eingriffe impliziert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. November 2022, Luxembourg Business Registers, C‑37/20 und C‑601/20, EU:C:2022:912, Rn. 66, und vom 8. Dezember 2022, Orde van Vlaamse Balies u. a., C‑694/20, EU:C:2022:963, Rn. 42). 1) Zur Verfolgung einer oder mehrerer von der Union anerkannter dem Gemeinwohl dienender Zielsetzungen und zur Eignung der Maßnahme, diese zu erreichen i) Zum Gemeinwohlcharakter der mit der in Rede stehenden Maßnahme verfolgten Zielsetzungen 85 Nach ihrem Art. 1 sollen mit der Verordnung 2019/1157 die Sicherheitsstandards u. a. für Personalausweise verschärft werden, die die Mitgliedstaaten ihren Staatsangehörigen ausstellen, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben. 86 Insbesondere soll, wie aus den Erwägungsgründen 4, 5, 17 bis 20 und 32 der Verordnung 2019/1157 hervorgeht, die Aufnahme biometrischer Daten, einschließlich zweier vollständiger Fingerabdrücke, in das Speichermedium von Personalausweisen die Echtheit dieser Ausweise gewährleisten und die zuverlässige Identifizierung ihres Inhabers ermöglichen und dabei gemäß den Erwägungsgründen 23 und 33 sowie Art. 3 Abs. 5 dieser Verordnung zur Interoperabilität der Systeme zur Überprüfung von Identitätsdokumenten beitragen, um das Fälschungs- und Dokumentenbetrugsrisiko zu verringern. 87 Der Gerichtshof hat bereits zur Ausstellung von Pässen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Oktober 2013, Schwarz, C‑291/12, EU:C:2013:670, Rn. 36 bis 38) sowie zur Erstellung einer Datei zur Identifizierung von Drittstaatsangehörigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2019, A u. a., C‑70/18, EU:C:2019:823, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung) entschieden, dass die Bekämpfung von Dokumentenbetrug, die u. a. die Bekämpfung der Herstellung gefälschter Personalausweise und des Identitätsdiebstahls umfasst, eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung ist. 88 Was das Ziel der Interoperabilität der Systeme zur Überprüfung von Identitätsdokumenten anbelangt, hat auch dieses einen solchen Charakter, da, wie sich aus dem 17. Erwägungsgrund der Verordnung 2019/1157 ergibt, diese Verordnung dazu beiträgt, den Unionsbürgern die Ausübung des ihnen durch Art. 20 AEUV zuerkannten Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern. ii) Zur Eignung der in Rede stehenden Maßnahme, die verfolgten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich zu erreichen 89 Im vorliegenden Fall ist die Aufnahme zweier vollständiger Fingerabdrücke in das Speichermedium von Personalausweisen geeignet, die vom Unionsgesetzgeber zur Rechtfertigung dieser Maßnahme angeführten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen zum einen der Bekämpfung der Herstellung gefälschter Personalausweise und des Identitätsdiebstahls und zum anderen der Interoperabilität der Überprüfungssysteme zu erreichen. 90 Zunächst kann nämlich die Aufnahme biometrischer Daten wie Fingerabdrücke in Personalausweise die Herstellung gefälschter Personalausweise erschweren, da solche Daten u. a. nach Art. 3 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 und 2 der Verordnung 2019/1157 nach genauen technischen Spezifikationen gespeichert werden müssen, die geheim gehalten werden können. 91 Sodann ist die Aufnahme solcher biometrischen Daten ein Mittel, das es gemäß Art. 11 Abs. 6 und den Erwägungsgründen 18 und 19 der Verordnung 2019/1157 ermöglicht, die Echtheit des Personalausweises und die Identität des Ausweisinhabers zuverlässig zu überprüfen und so das Betrugsrisiko zu verringern. 92 Schließlich erscheint auch die Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die Aufnahme vollständiger Fingerabdrücke vorzusehen, geeignet, das Ziel der Interoperabilität der Systeme zur Überprüfung von Personalausweisen zu erreichen, da durch den Rückgriff auf vollständige Fingerabdrücke die Kompatibilität mit allen von den Mitgliedstaaten verwendeten automatisierten Systemen zur Identifizierung von Fingerabdrücken gewährleistet werden kann, auch wenn diese Systeme nicht notwendigerweise denselben Identifizierungsmechanismus anwenden. 93 Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 1 der Verordnung 2019/1157 die Mitgliedstaaten ermächtige, Kinder unter zwölf Jahren von der Erfassung ihrer Fingerabdrücke zu befreien, und sie in Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 sogar verpflichte, Kinder unter sechs Jahren von dieser Erfassung zu befreien. 94 Zwar sind Rechtsvorschriften nur dann geeignet, die Verwirklichung des geltend gemachten Ziels zu gewährleisten, wenn die von ihnen vorgesehenen Maßnahmen tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, es zu erreichen, und wenn sie in kohärenter und systematischer Weise durchgeführt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Dezember 2023, Nordic Info, C‑128/22, EU:C:2023:951, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung). 95 Die Verordnung 2019/1157 erfüllt dieses Erfordernis jedoch, auch wenn sie für Kinder Ausnahmen von der Verpflichtung zur Erfassung von Fingerabdrücken vorsieht, da diese Ausnahmen, wie aus ihrem 26. Erwägungsgrund hervorgeht, dem Kindeswohl Rechnung tragen sollen. 96 Das Gleiche gilt für die Regelung in Art. 5 der Verordnung 2019/1157, wonach Personalausweise, die den Anforderungen des Art. 3 nicht entsprechen, ihre Gültigkeit erst mit Ablauf ihrer Gültigkeitsdauer oder spätestens am 3. August 2031 verlieren. Der Unionsgesetzgeber durfte nämlich davon ausgehen, dass ein solcher Übergangszeitraum angemessen war, um zu vermeiden, dass die Mitgliedstaaten in einem sehr kurzen Zeitraum für alle betroffenen Personen neue Personalausweise auszustellen haben würden, ohne damit aber die langfristige Wirksamkeit der in dieser Verordnung vorgesehenen Maßnahmen in Frage zu stellen. 97 Was den Umstand angeht, dass einige Mitgliedstaaten in ihren Rechtsvorschriften vorsehen, dass die von ihnen ausgestellten Personalausweise trotz eines defekten elektronischen Speichermediums gültig bleiben, genügt der Hinweis, dass solche Rechtsvorschriften nur dann mit der Verordnung 2019/1157 vereinbar sind, sofern der in der vorstehenden Randnummer genannte Übergangszeitraum nicht abgelaufen ist. 2) Zur Erforderlichkeit des Rückgriffs auf die in Rede stehende Maßnahme, um die verfolgten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen zu erreichen 98 Was erstens den Grundsatz der Aufnahme von Fingerabdrücken in das Speichermedium von Personalausweisen betrifft, ist festzustellen, dass Fingerabdrücke zuverlässige und wirksame Mittel sind, um die Identität einer Person mit Sicherheit festzustellen, und dass das Verfahren zur Erfassung dieser Fingerabdrücke einfach durchzuführen ist. 99 Insbesondere wäre, wie die Generalanwältin in Nr. 90 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Aufnahme allein eines Gesichtsbilds ein weniger wirksames Identifizierungsmittel als die zusätzlich zu diesem Bild erfolgende Aufnahme von zwei Fingerabdrücken, da Alterung, Lebensweise, Erkrankung oder ein ästhetischer bzw. rekonstruktiver chirurgischer Eingriff die anatomischen Merkmale des Gesichts verändern können. 100 Es trifft zu, dass in der Folgenabschätzung der Kommission zu dem Verordnungsvorschlag, auf den die Verordnung 2019/1157 zurückgeht, festgestellt wurde, dass der Option, die Aufnahme von zwei Fingerabdrücken in das Speichermedium von Personalausweisen nicht zwingend vorzuschreiben, der Vorzug gegeben werden solle. 101 Jedoch ist, abgesehen davon, dass die Kommission selbst entschieden hat, diese Option nicht in ihren Gesetzgebungsvorschlag aufzunehmen, darauf hinzuweisen, dass die Interinstitutionelle Vereinbarung in Nr. 14 zwar vorsieht, dass das Parlament und der Rat bei der Prüfung der Gesetzgebungsvorschläge der Kommission die Folgenabschätzungen der Kommission in vollem Umfang berücksichtigen müssen, es in Nr. 12 dieser Vereinbarung jedoch heißt, dass diese „ein Instrument [darstellen], das den drei Organen dabei hilft, fundierte Entscheidungen zu treffen, und … kein Ersatz für politische Entscheidungen im demokratischen Entscheidungsprozess [sind]“. Somit sind das Parlament und der Rat, auch wenn sie verpflichtet sind, die Folgenabschätzungen der Kommission zu berücksichtigen, gleichwohl nicht an deren Inhalt gebunden, insbesondere was die darin enthaltenen Beurteilungen betrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2018, Polen/Parlament und Rat, C‑5/16, EU:C:2018:483, Rn. 159 und die dort angeführte Rechtsprechung). 102 Folglich ist der Umstand, dass der Unionsgesetzgeber eine andere, gegebenenfalls belastendere Maßnahme als die nach der Folgenabschätzung empfohlene getroffen hat, für sich genommen kein geeigneter Beweis dafür, dass er die Grenzen dessen überschritten hat, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich war (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Pillbox 38, C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 65). 103 Im vorliegenden Fall ergab die von der Kommission durchgeführte Folgenabschätzung, dass die Option, die Aufnahme von Fingerabdrücken in das Speichermedium von Personalausweisen zwingend vorzuschreiben, die wirksamste sei, um das spezifische Ziel zu erreichen, die Herstellung gefälschter Personalausweise zu bekämpfen und die Echtheitsprüfung des Dokuments zu verbessern. Unter diesen Umständen kann die Option, eine solche Aufnahme nicht zwingend vorzuschreiben, die Erforderlichkeit der vom Unionsgesetzgeber gewählten Maßnahme im Sinne der in Rn. 84 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung jedenfalls nicht in Frage stellen. 104 Was zweitens die Aufnahme zweier vollständiger Fingerabdrücke statt bestimmter charakteristischer Punkte dieser Abdrücke („Minuzien“) anbelangt, bieten, wie die Generalanwältin in Nr. 93 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Minuzien zum einen nicht dieselben Garantien wie ein vollständiger Abdruck. Zum anderen ist die Aufnahme eines vollständigen Abdrucks für die Interoperabilität der Systeme zur Überprüfung von Identitätsdokumenten, die eine der verfolgten wesentlichen Zielsetzungen ist, erforderlich. Denn wie aus Rn. 47 der Stellungnahme 7/2018 hervorgeht und wie auch das vorlegende Gericht ausführt, verwenden die Mitgliedstaaten unterschiedliche Technologien zur Fingerabdruck‑Identifizierung, so dass die Aufnahme nur bestimmter Merkmale eines Fingerabdrucks in das Speichermedium des Personalausweises die Verwirklichung des mit der Verordnung 2019/1157 verfolgten Ziels der Interoperabilität der Systeme zur Überprüfung von Identitätsdokumenten gefährden würde. 105 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Einschränkungen der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte, die die Verpflichtung, zwei vollständige Fingerabdrücke in das Speichermedium aufzunehmen, mit sich bringt, die Grenzen des absolut Notwendigen einhalten. 3) Zum Vorliegen einer Gewichtung zwischen einerseits der Schwere des Eingriffs in die betroffenen Grundrechte und andererseits den mit dieser Maßnahme verfolgten Zielsetzungen i) Zur Schwere des Eingriffs, der durch die Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte bewirkt wird 106 In die Beurteilung der Schwere des Eingriffs, den eine Einschränkung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte bewirkt, sind die Art der betroffenen personenbezogenen Daten, insbesondere der möglicherweise sensible Charakter dieser Daten, sowie die Art und die konkreten Modalitäten der Datenverarbeitung, u. a. die Zahl der Personen, die Zugang zu diesen Daten haben, und die Modalitäten des Zugangs zu diesen Daten, einzubeziehen. Gegebenenfalls ist auch zu berücksichtigen, ob diese Daten nicht Gegenstand missbräuchlicher Verarbeitungen sind. 107 Im vorliegenden Fall kann die sich aus der Verordnung 2019/1157 ergebende Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte zwar eine große Zahl von Personen betreffen, wobei diese Zahl von der Kommission in ihrer Folgenabschätzung auf 370 Millionen der damals 440 Millionen Einwohner der Union geschätzt wurde. Fingerabdrücke sind als biometrische Daten naturgemäß besonders sensibel und genießen, wie u. a. aus dem 51. Erwägungsgrund der DSGVO hervorgeht, im Unionsrecht einen besonderen Schutz. 108 Die Erfassung und Speicherung von zwei vollständigen Fingerabdrücken ist nach der Verordnung 2019/1157 jedoch nur im Hinblick auf die Aufnahme dieser Fingerabdrücke in das Speichermedium von Personalausweisen gestattet. 109 Des Weiteren ergibt sich aus Art. 3 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 der Verordnung, dass, sobald diese Aufnahme erfolgt und der Personalausweis der betroffenen Person ausgehändigt worden ist, die erfassten Fingerabdrücke ausschließlich auf dem Speichermedium dieses Ausweises gespeichert werden, der sich grundsätzlich im physischen Besitz der betroffenen Person befindet. 110 Schließlich sieht die Verordnung 2019/1157 eine Reihe von Garantien vor, die die Risiken begrenzen sollen, dass bei ihrer Durchführung personenbezogene Daten zu anderen Zwecken als zur Erreichung der mit ihr verfolgten Ziele erhoben oder verwendet werden, und zwar nicht nur in Bezug auf die Vorgänge der Verarbeitung personenbezogener Daten, die diese Verordnung zwingend vorschreibt, sondern auch im Hinblick auf die hauptsächlichen Verarbeitungen, denen die in das Speichermedium der Personalausweise aufgenommenen Fingerabdrücke unterzogen werden können. 111 Was erstens die Datenerfassung betrifft, sieht Art. 10 Abs. 1 und 2 der Verordnung 2019/1157 vor, dass biometrische Identifikatoren „ausschließlich durch qualifiziertes und ordnungsgemäß befugtes Personal erfasst“ werden und dass dieses Personal „angemessene und wirksame Verfahren für die Erfassung biometrischer Identifikatoren“ einhalten muss, wobei diese Verfahren den in der Charta, in der EMRK und im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes verankerten Rechten und Grundsätzen entsprechen müssen. Zudem enthält Art. 3 Abs. 7 der Verordnung, wie in Rn. 93 des vorliegenden Urteils ausgeführt, Sonderregelungen für Kinder unter zwölf Jahren (Unterabs. 1 und 2) sowie für Personen, bei denen eine Abnahme von Fingerabdrücken physisch nicht möglich ist (Unterabs. 3), wobei die letztgenannten Personen „von der Pflicht zur Abgabe von Fingerabdrücken befreit“ sind. 112 Was zweitens die Speicherung der Daten betrifft, verpflichtet die Verordnung 2019/1157 zum einen die Mitgliedstaaten, ein Gesichtsbild und zwei Fingerabdrücke als biometrische Daten zu speichern. Insoweit stellt der 21. Erwägungsgrund der Verordnung ausdrücklich klar, dass diese „keine Rechtsgrundlage für die Einrichtung oder Aufrechterhaltung von Datenbanken auf nationaler Ebene zur Speicherung biometrischer Daten in den Mitgliedstaaten [darstellt], zumal es sich dabei um eine Frage des nationalen Rechts handelt, welches dem Unionsrecht im Bereich Datenschutz entsprechen muss“ und sie auch „keine Rechtsgrundlage für die Einrichtung oder Aufrechterhaltung einer zentralen Datenbank auf der Ebene der Union“ darstellt. Zum anderen sieht Art. 10 Abs. 3 der Verordnung vor, dass diese „biometrischen Identifikatoren … ausschließlich bis zu dem Tag der Abholung des Dokuments und keinesfalls länger als 90 Tage ab dem Tag der Ausstellung des Dokuments gespeichert“ werden, und stellt klar, dass „die biometrischen Identifikatoren [nach diesem Zeitraum] umgehend gelöscht oder vernichtet“ werden. 113 Daraus ergibt sich insbesondere, dass Art. 10 Abs. 3 der Verordnung 2019/1157 es den Mitgliedstaaten nicht gestattet, biometrische Daten zu anderen als den in dieser Verordnung vorgesehenen Zwecken zu verarbeiten. Außerdem steht diese Bestimmung einer zentralen Speicherung von Fingerabdrücken entgegen, die über die vorläufige Speicherung dieser Abdrücke zum Zweck der Personalisierung von Personalausweisen hinausgeht. 114 Schließlich weist Art. 11 Abs. 6 der Verordnung 2019/1157 auf die Möglichkeit hin, dass die im sicheren Speichermedium enthaltenen biometrischen Daten gemäß dem Unionsrecht und dem nationalen Recht von ordnungsgemäß befugten Mitarbeitern der zuständigen nationalen Behörden und Agenturen der Union verwendet werden dürfen. 115 Was Art. 11 Abs. 6 Buchst. a der Verordnung betrifft, erlaubt diese Bestimmung die Verwendung von auf dem Speichermedium von Personalausweisen und Aufenthaltsdokumenten gespeicherten biometrischen Daten nur, um den Personalausweis oder das Aufenthaltsdokument auf seine Echtheit zu überprüfen. 116 Art. 11 Abs. 6 Buchst. b der Verordnung 2019/1157 sieht vor, dass die auf dem Speichermedium von Personalausweisen und Aufenthaltsdokumenten gespeicherten biometrischen Daten zur Überprüfung der Identität des Inhabers „anhand direkt verfügbarer abgleichbarer Merkmale …, wenn die Vorlage des Personalausweises oder Aufenthaltsdokuments gesetzlich vorgeschrieben ist“, verwendet werden können. Da eine solche Verarbeitung jedoch geeignet ist, zusätzliche Informationen über das Privatleben der betroffenen Personen zu liefern, kann sie nur zu Zwecken, die strikt auf die Identifizierung der betroffenen Person beschränkt sind, und unter durch gesetzliche Bestimmungen über die Vorlage des Personalausweises oder des Aufenthaltsdokuments genau abgegrenzten Voraussetzungen erfolgen. 117 Was drittens die Abfrage der auf dem Speichermedium von Personalausweisen gespeicherten biometrischen Daten anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass der 19. Erwägungsgrund der Verordnung 2019/1157 eine Rangfolge bei der Verwendung der Mittel zur Überprüfung der Echtheit des Dokuments und der Identität des Inhabers aufstellt, indem er vorsieht, dass die Mitgliedstaaten „vorrangig das Gesichtsbild überprüfen“ müssen und, falls zur zweifelsfreien Bestätigung der Echtheit des Dokuments und der Identität des Inhabers notwendig, „auch die Fingerabdrücke“. 118 Was viertens das Risiko des unbefugten Zugriffs auf die gespeicherten Daten betrifft, sieht Art. 3 Abs. 5 und 6 der Verordnung 2019/1157 zur Reduzierung dieses Risikos auf ein Minimum vor, dass die Fingerabdrücke auf einem „hochsicheren Speichermedium“ gespeichert werden, das „eine ausreichende Kapazität [aufweist] und geeignet [ist], die Integrität, die Authentizität und die Vertraulichkeit der Daten sicherzustellen“. Zudem geht aus Art. 3 Abs. 10 dieser Verordnung hervor, dass dann, wenn „die Mitgliedstaaten im Personalausweis Daten für elektronische Dienste wie elektronische Behördendienste und den elektronischen Geschäftsverkehr [speichern], … diese nationalen Daten physisch oder logisch getrennt sein [müssen]“, insbesondere von Fingerabdrücken, die auf der Grundlage der Verordnung erhoben und gespeichert wurden. Schließlich ergibt sich aus den Erwägungsgründen 41 und 42 sowie aus Art. 11 Abs. 4 dieser Verordnung, dass die Mitgliedstaaten für die ordnungsgemäße Verarbeitung biometrischer Daten verantwortlich bleiben, auch wenn sie mit externen Dienstleistungsanbietern zusammenarbeiten. ii) Zur Bedeutung der verfolgten Zielsetzungen 119 Wie in Rn. 86 des vorliegenden Urteils ausgeführt, zielt die Aufnahme von zwei Fingerabdrücken in das Speichermedium von Personalausweisen darauf ab, die Herstellung gefälschter Personalausweise und den Identitätsdiebstahl zu bekämpfen sowie die Interoperabilität der Systeme zur Überprüfung von Identitätsdokumenten zu gewährleisten. Insoweit ist sie geeignet, zum Schutz des Privatlebens der betroffenen Personen sowie im weiteren Sinne zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus beizutragen. 120 Des Weiteren ermöglicht es eine solche Maßnahme, sowohl dem Bedürfnis jedes Unionsbürgers nachzukommen, über ein Mittel zu verfügen, um sich zuverlässig zu identifizieren, als auch dem der Mitgliedstaaten, sich zu vergewissern, dass den Personen, die sich auf durch das Unionsrecht anerkannte Rechte berufen, diese Rechte auch tatsächlich zustehen. Sie trägt somit insbesondere dazu bei, den Unionsbürgern die Ausübung ihres Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht zu erleichtern, das ebenfalls ein in Art. 45 der Charta verbürgtes Grundrecht ist. Somit haben die mit der Verordnung 2019/1157, insbesondere durch die Aufnahme von zwei Fingerabdrücken in das Speichermedium von Personalausweisen, verfolgten Zielsetzungen nicht nur für die Union und die Mitgliedstaaten, sondern auch für die Unionsbürger besondere Bedeutung. 121 Im Übrigen werden die Legitimität und Bedeutung dieser Zielsetzungen nicht durch den vom vorlegenden Gericht angeführten Umstand in Frage gestellt, dass in den Rn. 24 bis 26 der Stellungnahme 7/2018 darauf hingewiesen wurde, dass zwischen 2013 und 2017 nur 38870 gefälschte Personalausweise festgestellt worden seien und dass diese Zahl seit mehreren Jahren abnehme. 122 Selbst wenn man nämlich von einer geringen Zahl der gefälschten Personalausweise ausginge, war der Unionsgesetzgeber nicht verpflichtet, bis zum Anstieg dieser Zahl zu warten, um Maßnahmen zur Vermeidung des Risikos der Verwendung solcher Ausweise zu erlassen, sondern konnte, insbesondere im Interesse der Risikokontrolle, eine solche Entwicklung vorwegnehmen, sofern die übrigen Voraussetzungen in Bezug auf die Achtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gewahrt wurden. iii) Abwägung 123 Nach alledem ist festzustellen, dass die Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte, die sich aus der Aufnahme von zwei Fingerabdrücken in das Speichermedium von Personalausweisen ergibt, angesichts der Art der in Rede stehenden Daten, der Art und der Modalitäten der Verarbeitungsvorgänge sowie der vorgesehenen Schutzmechanismen nicht so schwer erscheint, dass sie außer Verhältnis zur Bedeutung der verschiedenen mit dieser Maßnahme verfolgten Zielsetzungen stünde. Somit ist davon auszugehen, dass eine solche Maßnahme auf einer ausgewogenen Gewichtung zwischen diesen Zielsetzungen und den betroffenen Grundrechten beruht. 124 Folglich verstößt die Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta garantierten Rechte nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, so dass der dritte Ungültigkeitsgrund nicht zur Ungültigkeit der Verordnung 2019/1157 zu führen vermag. 125 Nach alledem ist die Verordnung 2019/1157, soweit sie auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 2 AEUV erlassen wurde, ungültig. IV. Zur Aufrechterhaltung der zeitlichen Wirkungen der Verordnung 2019/1157 126 Aus Gründen der Rechtssicherheit können die Wirkungen eines für ungültig erklärten Rechtsakts aufrechterhalten werden, insbesondere wenn die unmittelbaren Auswirkungen des Urteils, mit dem diese Ungültigkeit festgestellt wird, schwerwiegende negative Folgen für die Betroffenen hätten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2016, Parlament/Kommission, C‑286/14, EU:C:2016:183, Rn. 67). 127 Im vorliegenden Fall könnte die Ungültigerklärung der Verordnung 2019/1157 mit sofortiger Wirkung schwerwiegende negative Folgen für eine erhebliche Zahl von Unionsbürgern, insbesondere für ihre Sicherheit im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, haben. 128 Unter diesen Umständen entscheidet der Gerichtshof, dass die Wirkungen dieser Verordnung aufrechtzuerhalten sind, bis innerhalb einer angemessenen Frist, die zwei Jahre ab dem 1. Januar des auf die Verkündung des vorliegenden Urteils folgenden Jahres nicht überschreiten darf, eine neue, auf Art. 77 Abs. 3 AEUV gestützte Verordnung, die die Verordnung 2019/1157 ersetzt, in Kraft tritt. V. Kosten 129 Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Die Verordnung (EU) 2019/1157 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2019 zur Erhöhung der Sicherheit der Personalausweise von Unionsbürgern und der Aufenthaltsdokumente, die Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ausgestellt werden, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausüben, ist ungültig. 2. Die Wirkungen der Verordnung 2019/1157 werden aufrechterhalten, bis innerhalb einer angemessenen Frist, die zwei Jahre ab dem 1. Januar des auf die Verkündung des vorliegenden Urteils folgenden Jahres nicht überschreiten darf, eine neue, auf Art. 77 Abs. 3 AEUV gestützte Verordnung, die sie ersetzt, in Kraft tritt. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Deutsch.
Urteil des Gerichts (Siebte Kammer) vom 8. Dezember 2021.#Dyson Ltd u. a. gegen Europäische Kommission.#Außervertragliche Haftung – Energie – Richtlinie 2010/30/EU – Angabe des Verbrauchs an Energie und anderen Ressourcen durch energieverbrauchsrelevante Produkte mittels einheitlicher Etiketten und Produktinformationen – Delegierte Verordnung (EU) Nr. 665/2013 – Energieverbrauchskennzeichnung von Staubsaugern – Energieeffizienz – Messmethode – Nichtigerklärung durch das Gericht – Hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen.#Rechtssache T-127/19.
62019TJ0127
ECLI:EU:T:2021:870
2021-12-08T00:00:00
Gericht
EUR-Lex - CELEX:62019TJ0127 - EN - EUR-Lex × Skip to main content Log in My EUR-Lex My EUR-Lex Sign in Register My recent searches (0) English English Select your language Official EU languages: bg български es Español cs Čeština da Dansk de Deutsch et Eesti keel el Ελληνικά en English fr Français ga Gaeilge hr Hrvatski it Italiano lv Latviešu valoda lt Lietuvių kalba hu Magyar mt Malti nl Nederlands pl Polski pt Português ro Română sk Slovenčina sl Slovenščina fi Suomi sv Svenska EUR-Lex Access to European Union law <a href="https://eur-lex.europa.eu/content/help/eurlex-content/experimental-features.html" target="_blank">More about the experimental features corner</a> Experimental features × Choose the experimental features you want to try Do you want to help improving EUR-Lex ? This is a list of experimental features that you can enable. These features are still under development; they are not fully tested, and might reduce EUR-Lex stability. Don't forget to give your feedback! Warning! Experimental feature conflicts detected. Replacement of CELEX identifiers by short titles - experimental feature. It replaces clickable CELEX identifiers of treaties and case-law by short titles. Visualisation of document relationships. It displays a dynamic graph with relations between the act and related documents. It is currently only available for legal acts. Deep linking. It enables links to other legal acts referred to within the documents. It is currently only available for documents smaller than 900 KB. Apply EUR-Lex Access to European Union law This document is an excerpt from the EUR-Lex website You are here EUROPA EUR-Lex home EUR-Lex - CELEX:62019TJ0127 - EN Help Print Menu EU law Treaties Treaties currently in force Founding treaties Accession Treaties Other treaties and protocols Chronological overview Legal acts Consolidated texts International agreements Preparatory documents EFTA documents Lawmaking procedures Summaries of EU legislation Browse by EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union European Central Bank European Court of Auditors European Economic and Social Committee European Committee of the Regions Browse by EuroVoc EU case-law Case-law Reports of cases Directory of case-law Official Journal Access to the Official Journal Official Journal L series daily view Official Journal C series daily view Browse the Official Journal Legally binding printed editions Special edition National law and case-law National transposition National case-law JURE case-law Information Themes in focus EUR-Lex developments Statistics ELI register About ELI Technical information ELI implementation overview Resources for implementing ELI ELI highlights ELI testimonials Legislation in schema.org EU budget online Quick search Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (* ) to a search term to find variations of it (transp * , 32019R * ). Use a question mark (? ) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca ? e finds case, cane, care). Search tips Need more search options? Use the Advanced search Document 62019TJ0127 Help Print The requested document does not exist. This site is managed by the Publications Office of the European Union Need help? Help pages Contact Sitemap Follow us X Legal Legal notice Cookies policy Accessibility Privacy statement Information About EUR-Lex Newsletter Useful links Other services European Data EU tenders EU research results EU Whoiswho EU publications N-Lex EU Law in Force EU Law Tracker Discover more on europa.eu Contact the EU Call us 00 800 6 7 8 9 10 11 Use other telephone options Write to us via our contact form Meet us at one of the EU centres Social media Search for EU social media channels Legal Languages on our websites Privacy policy Legal notice Cookies EU institutions European Parliament European Council Council of the European Union European Commission Court of Justice of the European Union (CJEU) European Central Bank (ECB) European Court of Auditors European External Action Service (EEAS) European Economic and Social Committee European Committee of Regions (CoR) European Investment Bank European Ombudsman European Data Protection Supervisor (EDPS) European Data Protection Board European Personnel Selection Office Publications Office of the European Union Agencies Switch to mobile Switch to desktop
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 23. November 2021.#Strafverfahren gegen IS.#Vorabentscheidungsersuchen des Pesti Központi Kerületi Bíróság.#Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2010/64/EU – Art. 5 – Qualität der Dolmetschleistungen und Übersetzungen – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht – Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 267 AEUV – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Zulässigkeit – Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts gegen eine Entscheidung, mit der die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens beschlossen wird – Disziplinarverfahren – Befugnis des übergeordneten Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen für rechtswidrig zu erklären.#Rechtssache C-564/19.
62019CJ0564
ECLI:EU:C:2021:949
2021-11-23T00:00:00
Pikamäe, Gerichtshof
Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“
62019CJ0564 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer) 23. November 2021 (*1) „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2010/64/EU – Art. 5 – Qualität der Dolmetschleistungen und Übersetzungen – Richtlinie 2012/13/EU – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren- Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht – Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 267 AEUV – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Zulässigkeit – Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts gegen eine Entscheidung, mit der die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens beschlossen wird – Disziplinarverfahren – Befugnis des übergeordneten Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen für rechtswidrig zu erklären“ In der Rechtssache C‑564/19 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest, Ungarn) mit Entscheidung vom 11. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Juli 2019, ergänzt mit Entscheidung vom 18. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Strafverfahren gegen IS erlässt DER GERICHTSHOF (Große Kammer) unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, S. Rodin und I. Jarukaitis (Berichterstatter), der Richter J.‑C. Bonichot, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters A. Kumin, Generalanwalt: P. Pikamäe, Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat, aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2021, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von IS, vertreten durch A. Pintér und B. Csire, ügyvédek, – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte, – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, P. Huurnink und J. Langer als Bevollmächtigte, – der schwedischen Regierung, zunächst vertreten durch H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg und A. Falk, dann durch O. Simonsson, H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg, M. Salborn Hodgson, A. M. Runeskjöld und R. Shahsavan Eriksson als Bevollmächtigte, – der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch A. Tokár, H. Krämer und R. Troosters, dann durch A. Tokár, M. Wasmeier und P. J. O. Van Nuffel, als Bevollmächtigte, nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. April 2021 folgendes Urteil 1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1), Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1), Art. 6 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 267 AEUV sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). 2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen IS, einen schwedischen Staatsangehörigen türkischer Herkunft, wegen Verstoßes gegen die ungarischen Rechtsvorschriften über den Erwerb bzw. die Beförderung von Schusswaffen oder Munition. Rechtlicher Rahmen Unionsrecht Richtlinie 2010/64 3 In den Erwägungsgründen 5, 12 und 24 der Richtlinie 2010/64 heißt es: „(5) In Artikel 6 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten … und in Artikel 47 der Charta … ist das Recht auf ein faires Verfahren verankert. Artikel 48 Absatz 2 der Charta gewährleistet die Verteidigungsrechte. Diese Richtlinie achtet die genannten Rechte und sollte entsprechend umgesetzt werden. … (12) Diese Richtlinie … setzt gemeinsame Mindestvorschriften im Bereich von Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren fest, um das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten zu stärken. … (24) Die Mitgliedstaaten sollten sicherstellen, dass bei entsprechenden Hinweisen an die zuständigen Behörden in einem bestimmten Fall die Angemessenheit der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen und Übersetzungen kontrolliert werden kann.“ 4 In Art. 2 („Recht auf Dolmetschleistungen“) der Richtlinie heißt es: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtigen oder beschuldigten Personen, die die Sprache des betreffenden Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, unverzüglich Dolmetschleistungen während der Strafverfahren bei Ermittlungs- und Justizbehörden, einschließlich während polizeilicher Vernehmungen, sämtlicher Gerichtsverhandlungen sowie aller erforderlicher Zwischenverhandlungen, zur Verfügung gestellt werden. … (5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, eine Entscheidung, dass keine Dolmetschleistungen benötigt werden, im Einklang mit den nach einzelstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahren anzufechten, und, wenn Dolmetschleistungen zur Verfügung gestellt wurden, die Möglichkeit haben, zu beanstanden, dass die Qualität der Dolmetschleistungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens unzureichend sei. … (8)   Nach diesem Artikel zur Verfügung gestellte Dolmetschleistungen müssen eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen, wobei insbesondere sicherzustellen ist, dass verdächtige oder beschuldigte Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“ 5 Art. 3 („Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen“) der Richtlinie sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten. (2)   Zu den wesentlichen Unterlagen gehören jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil. … (5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen das Recht haben, eine Entscheidung, dass keine Übersetzung von Dokumenten oder Passagen derselben benötigt wird, im Einklang mit nach einzelstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahren anzufechten, und, wenn Übersetzungen zur Verfügung gestellt wurden, die Möglichkeit haben, zu beanstanden, dass die Qualität der Übersetzungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens unzureichend sei. … (9)   Nach diesem Artikel zur Verfügung gestellte Übersetzungen müssen eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen, insbesondere indem sichergestellt wird, dass verdächtige oder beschuldigte Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“ 6 Art. 5 („Qualität der Dolmetschleistungen und Übersetzungen“) der Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten ergreifen konkrete Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Dolmetschleistungen und Übersetzungen der Qualität entsprechen, die nach Artikel 2 Absatz 8 und Artikel 3 Absatz 9 erforderlich ist. (2)   Um die Angemessenheit von Dolmetschleistungen und Übersetzungen und einen effizienten Zugang dazu zu fördern, bemühen sich die Mitgliedstaaten darum, ein oder mehrere Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern einzurichten, die angemessen qualifiziert sind. Nach Einrichtung eines solchen Registers bzw. solcher Register wird es/werden sie gegebenenfalls Rechtsbeiständen und den betreffenden Behörden zur Verfügung gestellt werden. …“ Richtlinie 2012/13 7 In den Erwägungsgründen 5, 30 und 34 der Richtlinie 2012/13 heißt es: „(5) In Artikel 47 der Charta … und Artikel 6 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden ‚EMRK‘) ist das Recht auf ein faires Verfahren verankert. Artikel 48 Absatz 2 der Charta gewährleistet die Achtung der Verteidigungsrechte. … (30) Dokumente und gegebenenfalls Fotos, Audio- und Videoaufzeichnungen, die wesentlich sind, um die Rechtmäßigkeit einer Festnahme oder Inhaftierung von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen gemäß dem innerstaatlichen Recht wirksam anzufechten, sollten Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Rechtsanwälten spätestens bereitgestellt werden, bevor eine zuständige Justizbehörde über die Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Inhaftierung gemäß Artikel 5 Absatz 4 EMRK entscheidet, und zwar so rechtzeitig, dass die wirksame Ausübung des Rechts, die Rechtmäßigkeit der Festnahme oder Inhaftierung anzufechten, ermöglicht wird. … (34) Die in dieser Richtlinie vorgesehene Einsicht in die Verfahrensakte sollte unentgeltlich gewährt werden, unbeschadet der innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, nach denen Gebühren für von den Akten anzufertigende Kopien oder für die Übersendung von Unterlagen an die betreffende Person oder deren Rechtsanwalt zu entrichten sind.“ 8 Art. 1 dieser Richtlinie, der deren Gegenstand regelt, bestimmt: „Mit dieser Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. Mit dieser Richtlinie werden auch Bestimmungen über das Recht von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, auf Belehrung über ihre Rechte festgelegt.“ 9 Art. 3 („Recht auf Rechtsbelehrung“) der Richtlinie lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen: a) das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts; b) den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung; c) das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6; d) das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen; e) das Recht auf Aussageverweigerung. (2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden.“ 10 Art. 4 („Schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme“) der Richtlinie sieht vor: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, umgehend eine schriftliche Erklärung der Rechte erhalten. Sie erhalten Gelegenheit, die Erklärung der Rechte zu lesen, und dürfen diese Erklärung während der Dauer des Freiheitsentzugs in ihrem Besitz führen. … (5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen die schriftliche Erklärung der Rechte in einer Sprache erhalten, die sie verstehen. Ist die Erklärung der Rechte nicht in der entsprechenden Sprache verfügbar, so werden Verdächtige oder beschuldigte Personen in einer Sprache, die sie verstehen, mündlich über ihre Rechte belehrt. Ohne unnötige Verzögerung wird ihnen eine Erklärung der Rechte in einer Sprache, die sie verstehen, ausgehändigt.“ 11 Art. 6 („Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf“) der Richtlinie 2012/13 bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung, einschließlich über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden. (3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden. …“ 12 Art. 7 („Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte“) dieser Richtlinie sieht vor: „(1)   Wird eine Person in irgendeinem Stadium des Strafverfahrens festgenommen und inhaftiert, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass alle Unterlagen zu dem gegenständlichen Fall, die sich im Besitz der zuständigen Behörden befinden und für eine wirksame Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung gemäß dem innerstaatlichen Recht wesentlich sind, den festgenommenen Personen oder ihren Rechtsanwälten zur Verfügung gestellt werden. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Rechtsanwälten Einsicht in zumindest alle im Besitz der zuständigen Behörden befindlichen Beweismittel zugunsten oder zulasten der Verdächtigen oder beschuldigten Personen gewährt wird, um ein faires Verfahren zu gewährleisten und ihre Verteidigung vorzubereiten. …“ 13 Art. 8 („Überprüfung und Rechtsbehelfe“) der Richtlinie lautet: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jegliche Belehrung oder Unterrichtung der Verdächtigen oder beschuldigten Personen, die gemäß den Artikeln 3 bis 6 erfolgt, gemäß dem Verfahren für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten wird. (2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.“ Richtlinie (EU) 2016/343 14 In den Erwägungsgründen 1 und 9 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) heißt es: „(1) Die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren sind in den Artikeln 47 und 48 der Charta …, in Artikel 6 der [EMRK], in Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und in Artikel 11 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verankert. … (9) Mit dieser Richtlinie soll das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden.“ 15 Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) dieser Richtlinie bestimmt: „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein. (2)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine Verhandlung, die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person führen kann, in seiner bzw. ihrer Abwesenheit durchgeführt werden kann, sofern a) der Verdächtige oder die beschuldigte Person rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurde oder b) der Verdächtige oder die beschuldigte Person, nachdem er bzw. sie über die Verhandlung unterrichtet wurde, von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten wird, der entweder von dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person oder vom Staat bestellt wurde. … (4)   Wenn Mitgliedstaaten die Möglichkeit vorsehen, Verhandlungen in Abwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Person zu führen, es jedoch nicht möglich ist, die in Absatz 2 dieses Artikels genannten Voraussetzungen zu erfüllen, weil der Verdächtige oder die beschuldigte Person trotz angemessener Bemühungen nicht aufgefunden werden kann, so können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass gleichwohl eine Entscheidung ergehen und vollstreckt werden kann. In einem solchen Fall stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie über die Entscheidung unterrichtet werden, insbesondere wenn sie festgenommen werden, auch über die Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten, sowie über das Recht, gemäß Artikel 9 eine neue Verhandlung zu verlangen oder einen sonstigen Rechtsbehelf einzulegen, unterrichtet werden. …“ 16 Art. 9 („Recht auf eine neue Verhandlung“) der Richtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren und die in Artikel 8 Absatz 2 genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts, einschließlich neuer Beweismittel, ermöglicht und zur Aufhebung der ursprünglichen Entscheidung führen kann. In diesem Zusammenhang stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht haben, anwesend zu sein, im Einklang mit den Verfahren des nationalen Rechts effektiv mitzuwirken und ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“ Ungarisches Recht 17 § 78 Abs. 1 des A büntetőeljárásról szóló 2017. évi XC. törvény (Gesetz Nr. XC von 2017 über das Strafverfahren, Magyar Közlöny 2017/90, im Folgenden: Strafprozessordnung) sieht im Wesentlichen vor, dass an einem Strafverfahren Beteiligte, die für die Zwecke dieses Verfahrens eine andere Sprache als das Ungarische verwenden möchten, das Recht haben, ihre Muttersprache zu benutzen und einen Dolmetscher hinzuzuziehen. 18 Nach § 201 Abs. 1 der Strafprozessordnung kann in einem Strafverfahren nur ein Dolmetscher mit einer amtlichen Qualifikation als solcher bestellt werden; ist eine solche Bestellung jedoch nicht möglich, ist die Bestellung eines Dolmetschers mit hinreichender Kenntnis der betreffenden Sprache zulässig. 19 § 490 Abs. 1 und 2 der Strafprozessordnung sieht im Wesentlichen vor, dass ein nationales Gericht das Verfahren von Amts wegen oder auf Antrag der Beteiligten aussetzen und den Gerichtshof der Europäischen Union mit einem Vorabentscheidungsersuchen befassen kann. 20 Nach § 491 Abs. 1 Buchst. a der Strafprozessordnung muss ein Strafverfahren, dessen Aussetzung angeordnet wurde, fortgesetzt werden, wenn die Gründe für die Aussetzung nicht mehr vorliegen. 21 § 513 Abs. 1 Buchst. a der Strafprozessordnung bestimmt, dass gegen die Vorlageentscheidung kein ordentlicher Rechtsbehelf gegeben ist. 22 Nach § 667 Abs. 1 der Strafprozessordnung kann der legfőbb ügyész (Generalstaatsanwalt, Ungarn) bei der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) ein „Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts“ einlegen, um die Rechtswidrigkeit von Urteilen und Beschlüssen der untergeordneten Gerichte feststellen zu lassen. 23 § 669 der Strafprozessordnung sieht vor: „(1)   Hält die Kúria [(Oberster Gerichtshof)] ein zur Wahrung des Rechts eingelegtes Rechtsmittel für begründet, stellt sie in einem Urteil fest, dass die beanstandete Entscheidung rechtswidrig ist; andernfalls weist sie das Rechtsmittel durch Beschluss zurück. (2)   Stellt die Kúria [(Oberster Gerichtshof)] die Rechtswidrigkeit der betreffenden Entscheidung fest, kann sie den Angeklagten freisprechen, eine medizinische Zwangsbehandlung abbrechen, das Verfahren beenden, eine mildere Strafe verhängen oder eine mildere Maßnahme anwenden, die angefochtene Entscheidung aufheben und die Rechtssache zur Durchführung eines neuen Verfahrens gegebenenfalls an das zuständige Gericht zurückverweisen. (3)   Außer in den in Abs. 2 genannten Fällen beschränkt sich die Entscheidung der Kúria [(Oberster Gerichtshof)] auf die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit. …“ 24 Nach § 755 Abs. 1 Buchst. a Doppelbuchst. aa der Strafprozessordnung muss das Strafverfahren, falls die beschuldigte Person, die sich an einem bekannten Wohnsitz im Ausland aufhält, ordnungsgemäß geladen wird und zur Verhandlung nicht erscheint, in Abwesenheit fortgeführt werden, wenn kein Anlass besteht, einen Europäischen oder internationalen Haftbefehl auszustellen, oder wenn ein solcher Haftbefehl nicht ausgestellt wird, weil die Staatsanwaltschaft nicht die Verhängung einer Freiheitsstrafe oder die Unterbringung in einem überwachten Erziehungszentrum beantragt. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 25 Der vorlegende Richter, der als Einzelrichter des Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest, Ungarn) tagt, ist mit einem Strafverfahren gegen IS, schwedischer Staatsangehöriger türkischer Herkunft, wegen eines mutmaßlichen Verstoßes gegen die ungarischen Rechtsvorschriften über Erwerb, Besitz, Herstellung, Vermarktung, Einfuhr, Ausfuhr oder Beförderung von Schusswaffen oder Munition befasst. Die Gerichtssprache ist Ungarisch, die der Angeklagte nicht beherrscht. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass sich der Angeklagte nur mit Hilfe eines Dolmetschers verständigen kann. 26 IS wurde am 25. August 2015 in Ungarn festgenommen und am selben Tag als „Verdächtiger“ vernommen. Vor dieser Vernehmung beantragte IS den Beistand eines Rechtsanwalts und eines Dolmetschers; während der Vernehmung, bei der der Rechtsanwalt nicht zugegen sein konnte, wurde ihm der gegen ihn bestehende Tatverdacht eröffnet. IS verweigerte die Aussage, da er sich nicht mit seinem Verteidiger habe beraten können. 27 Bei dieser Vernehmung zog der Ermittlungsbeamte einen Dolmetscher für die schwedische Sprache hinzu. Allerdings gibt es den Angaben des vorlegenden Richters zufolge weder einen Hinweis darauf, in welcher Art und Weise der Dolmetscher ausgewählt und seine Fähigkeiten überprüft wurden, noch darauf, dass sich der Dolmetscher und IS verstanden. 28 IS wurde nach dieser Vernehmung wieder freigelassen. Er soll sich nicht in Ungarn aufhalten; an die zuvor mitgeteilte Adresse gerichtete Schreiben kamen mit dem Vermerk „nicht abgeholt“ zurück. Nach Angaben des vorlegenden Richters ist in der Phase des gerichtlichen Verfahrens die Anwesenheit des Angeklagten in der vorbereitenden Sitzung jedoch obligatorisch und die Ausstellung eines nationalen oder Europäischen Haftbefehls nur in den Fällen möglich, in denen gegen ihn eine Freiheitsstrafe verhängt werden könne. In der vorliegenden Sache habe der Staatsanwalt jedoch eine Geldstrafe beantragt, weshalb das vorlegende Gericht verpflichtet sei, das Verfahren in Abwesenheit fortzuführen, wenn der Angeklagte nicht zum angegebenen Termin erscheine. 29 Unter diesen Umständen stellt der vorlegende Richter als Erstes fest, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64 konkrete Maßnahmen ergreifen müssten, um sicherzustellen, dass Dolmetschleistungen und Übersetzungen der Qualität entsprächen, die nach Art. 2 Abs. 8 und Art. 3 Abs. 9 dieser Richtlinie erforderlich sei, was bedeute, dass Dolmetschleistungen eine ausreichende Qualität aufweisen müssten, um ein faires Verfahren zu gewährleisten, indem insbesondere dafür Sorge getragen werde, dass verdächtige oder beschuldigte Personen Kenntnis von den ihnen zur Last gelegten Taten hätten und ihre Verteidigungsrechte ausüben könnten. Zudem müssten sich nach Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie die Mitgliedstaaten, um die Angemessenheit von Dolmetschleistungen und Übersetzungen und einen effizienten Zugang dazu zu fördern, darum bemühen, ein oder mehrere Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern einzurichten, die angemessen qualifiziert seien. 30 Des Weiteren müssten verdächtige oder beschuldigte Personen gemäß Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 in einer Sprache, die sie verstünden, unverzüglich schriftlich über ihre Rechte belehrt und über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt würden, unterrichtet werden. 31 In Ungarn gebe es kein amtliches Register mit Übersetzern und Dolmetschern und die ungarischen Rechtsvorschriften stellten weder klar, wer im Strafverfahren als Ad-hoc-Übersetzer oder Ad-hoc-Dolmetscher bestellt werden könne, noch, nach welchen Kriterien, da nur die beglaubigte Übersetzung von Dokumenten geregelt sei. In Ermangelung entsprechender Rechtsvorschriften könnten weder Rechtsanwälte noch Richter die Qualität der Dolmetschleistung überprüfen. Verdächtige oder beschuldigte Personen, die der ungarischen Sprache nicht mächtig seien, würden bei ihrer ersten Vernehmung in dieser Eigenschaft mit Hilfe eines Dolmetschers über den gegen sie bestehenden Tatverdacht und ihre Verfahrensrechte unterrichtet. Verfüge aber der Dolmetscher nicht über die entsprechenden Fachkenntnisse, könnten das Recht der betroffenen Person auf Rechtsbelehrung und ihre Verteidigungsrechte verletzt werden. 32 Somit stelle sich die Frage, ob die ungarische Regelung und Praxis mit den Richtlinien 2012/13 und 2010/64 vereinbar seien und ob sich aus den Unionsrechtsvorschriften ergebe, dass der nationale Richter im Fall der Unvereinbarkeit das Strafverfahren nicht in Abwesenheit fortführen dürfe. 33 Als Zweites weist der vorlegende Richter darauf hin, dass die Verwaltung und die zentrale Steuerung des Justizsystems seit dem Inkrafttreten einer Justizreform am 1. Januar 2012 Sache der Präsidentin des Országos Bírósági Hivatal (Landesgerichtsamt, Ungarn, im Folgenden: Präsidentin des Landesgerichtsamts) sei, die von der ungarischen Nationalversammlung für eine Dauer von neun Jahren ernannt werde; die Präsidentin verfüge über weitreichende Befugnisse und könne u. a. über die Zuteilung der Richter, die Ernennung von Personen in Leitungsfunktionen an Gerichten und die Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Richter entscheiden. 34 Überdies sei der Országos Bírói Tanács (Landesrichterrat, im Folgenden: Landesrichterrat) – dessen Mitglieder von den Richtern gewählt würden – für die Aufsicht über die Tätigkeit der Präsidentin des Landesgerichtsamts und in einigen Fällen für die Genehmigung ihrer Entscheidungen zuständig. Am 2. Mai 2018 habe der Landesrichterrat einen Bericht verabschiedet, in dem festgestellt worden sei, dass die Präsidentin des Landesgerichtsamts mit ihrer Praxis, ohne angemessene Begründung festzustellen, dass das Verfahren zur Ernennung von Richtern und Gerichtspräsidenten auf freie Stellen ergebnislos geblieben sei, woraufhin sie in vielen Fällen Gerichtspräsidenten ihrer Wahl vorläufig ernannt habe, gegen das Gesetz verstoßen habe. Am 24. April 2018 habe die Präsidentin des Landesgerichtsamts erklärt, dass die Arbeitsweise des Landesrichterrats nicht rechtmäßig sei, und es seither abgelehnt, mit diesem Gremium und seinen Mitgliedern zusammenzuarbeiten. Der Landesrichterrat habe bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Präsidentin des Landesgerichtsamts und die von ihr ernannten Gerichtspräsidenten die Befugnisse dieses Gremiums verletzten. 35 Der vorlegende Richter weist ferner darauf hin, dass der Präsident des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem Rechtsmittelgericht des vorlegenden Gerichts, in dieser Weise von der Präsidentin des Landesgerichtsamts vorläufig ernannt worden sei. Um die Relevanz dieser Information hervorzuheben, erläutert der vorlegende Richter den Einfluss, den die Präsidentin des Landesgerichtsamts auf die Arbeit und die berufliche Entwicklung der Richter ausüben könne, einschließlich der Geschäftsverteilung, der Disziplinargewalt und des Arbeitsumfelds. 36 In diesem Zusammenhang sei zum einen auf eine Reihe internationaler Gutachten und Berichte, die eine übermäßige Konzentration von Befugnissen bei der Präsidentin des Landesgerichtsamts und das Fehlen von Gegengewichten zu ihr festgestellt hätten, und zum anderen auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verweisen und zu fragen, ob eine solche Situation mit dem in Art. 19 EUV und in Art. 47 der Charta verankerten Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz vereinbar sei. Fraglich sei auch, ob das bei ihm anhängige Verfahren in einem solchen Kontext als fair angesehen werden könne. 37 Als Drittes führt der vorlegende Richter aus, dass durch eine am 1. September 2018 in Kraft getretene Gesetzesänderung bestimmte zusätzliche Vergütungen der Staatsanwälte erhöht worden seien, während die Vorschriften über die Besoldung der Richter nicht geändert worden seien. Infolgedessen sei die Besoldung der Richter erstmals seit Jahrzehnten nunmehr geringer als die von Staatsanwälten der entsprechenden Ebene mit gleicher Einstufung und gleichem Dienstalter. Der Landesrichterrat habe die ungarische Regierung auf diese Situation hingewiesen, die eine Gehaltsreform bis spätestens 1. Januar 2020 versprochen habe; der entsprechende Gesetzesentwurf sei aber noch immer nicht vorgelegt worden, so dass die Bezüge der Richter im Richteramt seit 2003 unverändert geblieben seien. Der vorlegende Richter fragt sich daher, ob in Anbetracht insbesondere der Inflation und der Erhöhung des Durchschnittsgehalts in Ungarn im Lauf der Jahre die fehlende Anpassung der Besoldung dieser Richter langfristig nicht einer Herabsetzung der Besoldung gleichkomme und ob diese Folge nicht auf dem gezielten Bestreben der ungarischen Regierung beruhe, sie gegenüber den Staatsanwälten zu benachteiligen. Außerdem verstoße die Praxis der Präsidentin des Landesgerichtsamts und der Präsidenten der Gerichte, nach freiem Ermessen bestimmten Richtern im Verhältnis zum Grundgehalt der Richter teils sehr hohe Prämien und Gratifikationen zu gewähren, allgemein und systematisch gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz. 38 Unter diesen Umständen hat das Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest, Ungarn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1. a) Sind Art. 6 Abs. 1 EUV und Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen, dass der betreffende Mitgliedstaat, um Beschuldigten, die die Verfahrenssprache nicht beherrschen, das Recht auf ein faires Verfahren zu gewährleisten, ein Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern, die angemessen qualifiziert sind, einrichten muss oder – in Ermangelung dessen – auf andere Art sicherstellen muss, dass im gerichtlichen Verfahren die angemessene Qualität der Dolmetschleistungen überprüft werden kann? b) Falls die vorstehende Frage zu bejahen ist und sich mangels angemessener Qualität der Dolmetschleistung nicht feststellen lässt, dass der Beschuldigte über den Gegenstand des gegen ihn bestehenden Verdachts bzw. der gegen ihn erhobenen Beschuldigung unterrichtet worden ist, sind dann Art. 6 Abs. 1 EUV sowie Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen, dass in diesem Fall das Verfahren in Abwesenheit des Beschuldigten nicht fortgeführt werden kann? 2. a) Ist der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin auszulegen, dass es eine Verletzung dieses Grundsatzes darstellt, wenn die Präsidentin des Landesgerichtsamts, die zentrale Managementaufgaben bei den Gerichten wahrnimmt, von der Országgyűlés (Nationalversammlung) ernannt wird und die ausschließlich der Nationalversammlung gegenüber verantwortlich ist und von dieser abberufen werden kann, die Stelle des Präsidenten eines Gerichts – der u. a. befugt ist, die Geschäftsverteilung festzulegen, Disziplinarverfahren gegen Richter einzuleiten und diese zu beurteilen – unter Umgehung eines Bewerbungsverfahrens und unter beständiger Außerachtlassung der Auffassung der hierzu ermächtigten richterlichen Selbstverwaltungskörperschaften im Wege einer befristeten Beauftragung besetzt? b) Falls die vorstehende Frage zu bejahen ist und der mit der betreffenden Rechtssache befasste Richter Grund zu der Befürchtung haben kann, dass er wegen seiner richterlichen Tätigkeit und seiner Verwaltungstätigkeit rechtswidrig benachteiligt wird, ist dann der erwähnte Grundsatz dahin auszulegen, dass in dieser Rechtssache kein faires Verfahren gewährleistet ist? 3. a) Ist der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs dahin auszulegen, dass es mit diesem Grundsatz unvereinbar ist, dass die ungarischen Richter seit dem 1. September 2018 – abweichend von der früheren jahrzehntelangen Praxis – nach dem Gesetz eine geringere Vergütung erhalten als Staatsanwälte der entsprechenden Ebene mit gleicher Einstufung und gleicher Dienstzeit und ihre Besoldung unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage des Landes auch allgemein nicht der Bedeutung der von ihnen wahrgenommenen Aufgaben entspricht, insbesondere in Anbetracht der von Personen in leitenden Managementfunktionen geübten Praxis ermessensabhängiger Gratifikationen? b) Falls die vorstehende Frage zu bejahen ist, ist dann der erwähnte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dahin auszulegen, dass unter solchen Umständen das Recht auf ein faires Verfahren nicht gewährleistet werden kann? 39 Mit Entscheidung vom 18. November 2019 (im Folgenden: ergänzendes Vorabentscheidungsersuchen) hat der vorlegende Richter ein namentlich auf Ergänzung seines ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens gerichtetes Ersuchen eingereicht. 40 Aus dem ergänzenden Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass der Generalstaatsanwalt, gestützt auf § 667 der Strafprozessordnung, am 19. Juli 2019 bei der Kúria (Oberster Gerichtshof) ein gegen das ursprüngliche Vorabentscheidungsersuchen gerichtetes Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts eingelegt habe. Diese habe mit Entscheidung vom 10. September 2019 entschieden, dass dieses Vorabentscheidungsersuchen rechtswidrig sei, und zwar im Wesentlichen mit der Begründung, dass die gestellten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht relevant seien (im Folgenden: Entscheidung der Kúria). 41 Der vorlegende Richter führt aus, aus der Entscheidung der Kúria gehe hervor, dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene System der Vorabentscheidung dazu diene, den Gerichtshof zu ersuchen, über Fragen zu entscheiden, die nicht die verfassungsmäßige Ordnung eines Mitgliedstaats, sondern das Unionsrecht beträfen, um damit dessen einheitliche Auslegung in der Europäischen Union zu gewährleisten. Nach dieser Entscheidung sei die Aussetzung des Strafverfahrens ferner nur zulässig, um eine endgültige Entscheidung über die Schuld des Angeklagten zu treffen. Die Kúria (Oberster Gerichtshof) sei jedoch der Ansicht, dass die Vorlagefragen, wie sie vom vorlegenden Richter in seinem ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen formuliert worden seien, für die Beurteilung der Schuld von IS nicht relevant seien, so dass dieses Ersuchen rechtswidrig sei. In der Entscheidung der Kúria werde auch auf ihre eigenen vorangegangenen Grundsatzentscheidungen Bezug genommen, nach denen es nicht erforderlich sei, ein Vorabentscheidungsersuchen einzureichen, um feststellen zu lassen, dass das anwendbare ungarische Recht nicht mit den vom Unionsrecht geschützten Grundprinzipien vereinbar sei. 42 Nach Auffassung des vorlegenden Richters wird die Entscheidung der Kúria, die im Rahmen eines Rechtsmittels zur Wahrung des Rechts ergangen sei, auch wenn sie sich darauf beschränke, die Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens festzustellen, ohne die Vorlageentscheidung selbst aufzuheben, grundlegende Auswirkungen auf die spätere Rechtsprechung der untergeordneten Gerichte haben, da mit solchen Rechtsmitteln die nationale Rechtsprechung harmonisiert werden solle. Daher sei zu befürchten, dass die Entscheidung der Kúria künftig eine abschreckende Wirkung auf die Richter der Untergerichte habe, die beabsichtigten, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV zu befassen. 43 Ferner wirft der vorlegende Richter die Frage auf, wie mit dem bei ihm anhängigen, derzeit ausgesetzten Strafverfahren weiter zu verfahren ist, und vertritt die Auffassung, dass dies davon abhänge, ob die Entscheidung der Kúria rechtswidrig sei oder nicht. 44 Entweder stelle sich nämlich heraus, dass die Kúria (Oberster Gerichtshof) das Vorabentscheidungsersuchen zu Recht geprüft und für rechtswidrig erklärt habe. In diesem Fall müsste er in Erwägung ziehen, das Ausgangsverfahren fortzuführen, da nach § 491 Abs. 1 Buchst. a der Strafprozessordnung das Gericht das Verfahren fortsetzen müsse, wenn der Grund für dessen Aussetzung entfallen sei. Zwar sehe keine Bestimmung des ungarischen Rechts vor, was zu geschehen habe, wenn das Verfahren rechtswidrig ausgesetzt worden sei. Doch könnte diese Bestimmung der Strafprozessordnung im Wege eines Analogieschlusses dahin ausgelegt werden, dass das Gericht in einem solchen Fall verpflichtet sein müsste, das Verfahren fortzusetzen. 45 Stelle sich hingegen heraus, dass die Kúria (Oberster Gerichtshof) dieses Ersuchen zu Unrecht für rechtswidrig erklärt habe, müsste das untergeordnete Gericht in diesem Fall die Entscheidung dieses Höchstgerichts trotz dessen verfassungsrechtlicher Zuständigkeit für die Gewährleistung der Einheitlichkeit des nationalen Rechts als unionsrechtswidrig außer Acht lassen. 46 Außerdem stütze sich die Entscheidung der Kúria auf eine nationale Rechtsprechung, nach der die Vereinbarkeit des ungarischen Rechts mit dem Unionsrecht nicht Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens sein könne. Eine solche Rechtsprechung verstoße gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts und widerspreche der Rechtsprechung des Gerichtshofs. 47 Der vorlegende Richter weist ergänzend darauf hin, dass der Präsident des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) am 25. Oktober 2019 aus denselben Gründen, wie sie der Entscheidung der Kúria zugrunde lägen, ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet habe. 48 Auf eine von der ungarischen Regierung übermittelte Information hin, wonach dieses Verfahren beendet worden sei, hat der Gerichtshof den vorlegenden Richter dazu befragt. In seiner Antwort vom 10. Dezember 2019 hat dieser bestätigt, dass der Präsident des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) den Antrag auf Einleitung dieses Disziplinarverfahrens mit Schreiben vom 22. November 2019 zurückgenommen habe. 49 Der vorlegende Richter hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass er insoweit nicht beabsichtige, das ergänzende Vorabentscheidungsersuchen zu ändern, da seine Besorgnis nicht darauf beruhe, dass gegen ihn selbst ein Disziplinarverfahren durchgeführt werde, sondern vielmehr darauf, dass ein solches Verfahren unter solchen Umständen überhaupt eingeleitet werden könne. 50 Die Qualität seiner Arbeit als Richter sei nämlich weder von seiner unmittelbaren Vorgesetzten noch vom Leiter der Abteilung für Strafsachen des Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest) in Frage gestellt worden, so dass dieses Disziplinarverfahren allein auf dem Inhalt der ursprünglichen Vorlageentscheidung beruhe. 51 Unter diesen Umständen hat das Pesti Központi Kerületi Bíróság (Zentrales Stadtbezirksgericht Pest) beschlossen, dem Gerichtshof die beiden folgenden zusätzlichen Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 4. a) Ist Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der das höchste richterliche Gremium in einem Verfahren, das die Vereinheitlichung der Rechtsprechung des Mitgliedstaats bezweckt, den Beschluss des Untergerichts zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens – ohne dass die Rechtswirksamkeit dieses Beschlusses davon betroffen ist – als gesetzwidrig qualifiziert? b) Falls die vierte Frage Buchst. a zu bejahen ist: Ist Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass das um Vorabentscheidung ersuchende Gericht Entscheide eines höheren Gerichts und dessen der Rechtseinheit dienende Stellungnahmen zu Grundsatzfragen, die dem Ersuchen widersprechen, außer Acht lassen muss? c) Falls die vierte Frage Buchst. a zu verneinen ist: Kann das ausgesetzte Strafverfahren während des Vorabentscheidungsverfahrens fortgesetzt werden? 5. Ist der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und der Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung von Art. 267 AEUV dahin auszulegen, dass es mit diesem Grundsatz unvereinbar ist, gegen einen Richter wegen eines Vorabentscheidungsersuchens ein Disziplinarverfahren einzuleiten? Zum Antrag auf Durchführung eines beschleunigten Verfahrens 52 Zusammen mit seinem ergänzenden Vorabentscheidungsersuchen hat der vorlegende Richter auch den Antrag gestellt, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen. Er hält die Einleitung eines solchen Verfahrens insbesondere dadurch für gerechtfertigt, dass die Entscheidung der Kúria und das gegen ihn eingeleitete Disziplinarverfahren außerordentlich negative, abschreckende Wirkungen hätten, die Einfluss auf jede künftige Entscheidung über die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV in Ungarn haben könnten. 53 Gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert. 54 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein solches beschleunigtes Verfahren ein Verfahrensinstrument ist, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll. Außerdem geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass das beschleunigte Verfahren keine Anwendung finden kann, wenn die Sensibilität und die Komplexität der durch einen Fall aufgeworfenen rechtlichen Fragen kaum mit der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu vereinbaren sind, insbesondere, wenn es nicht angebracht erscheint, das schriftliche Verfahren vor dem Gerichtshof zu verkürzen (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung). 55 Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts mit Beschluss vom 19. Dezember 2019 den Antrag, die vorliegende Rechtssache einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, zurückgewiesen. Wie sich aus Rn. 48 des vorliegenden Urteils ergibt, wurde nämlich die Handlung, mit der das Disziplinarverfahren gegen den vorlegenden Richter eingeleitet wurde, zurückgenommen. Zudem betrifft das strafrechtliche Ausgangsverfahren keine Person, gegen die eine freiheitsentziehende Maßnahme ergangen ist. 56 Unter diesen Umständen ist auf der Grundlage dieser Angaben und Erläuterungen des vorlegenden Gerichts nicht ersichtlich, dass die vorliegende Rechtssache, die zudem, wie sich aus Rn. 52 des vorliegenden Urteils ergibt, hoch sensible und komplexe Fragen aufwirft, so dringlich wäre, dass es gerechtfertigt wäre, ausnahmsweise von den allgemeinen Vorschriften für Vorlagen zur Vorabentscheidung abzuweichen. Zu den Vorlagefragen Zur vierten Frage 57 Mit seiner vierten Frage, die an erster Stelle zu prüfen ist, möchte der vorlegende Richter wissen, ob Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein Höchstgericht eines Mitgliedstaats im Anschluss an ein Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts die Rechtswidrigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens, mit dem der Gerichtshof von einem untergeordneten Gericht nach dieser Bestimmung befasst worden ist, feststellt, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen der dieses Ersuchen enthaltenden Entscheidung betroffen sind, und, wenn dies der Fall ist, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass dieses untergeordnete Gericht verpflichtet ist, eine solche Entscheidung des Höchstgerichts außer Acht zu lassen. Zulässigkeit 58 Die ungarische Regierung hält die vierte Frage für unzulässig, da die im ergänzenden Vorabentscheidungsersuchen zur Erforderlichkeit einer Auslegung des Unionsrechts dargelegten Gründe für den Ausgang des Ausgangsverfahrens unerheblich seien, insbesondere weil die Entscheidung der Kúria keine Rechtswirkung auf die Vorlageentscheidung habe. Außerdem stützten sich die Annahmen des vorlegenden Richters zu den möglichen Auswirkungen dieser Entscheidung auf künftige Vorabentscheidungsverfahren auf zukünftige und hypothetische Ereignisse und seien als solche für die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit ebenfalls unerheblich. 59 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene Vorabentscheidungsverfahren eine enge Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof begründet, die auf einer Verteilung der Aufgaben zwischen ihnen beruht, und ein Verfahren darstellt, das dem Gerichtshof die Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften erlaubt, auf die es für die Entscheidung des bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits ankommt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 2007, Omni Metal Service, C‑259/05, EU:C:2007:363, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung). 60 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen dieser Zusammenarbeit allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). 61 Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). 62 Im vorliegenden Fall ist, da der vorlegende Richter nach dem weiteren Gang des Ausgangsstrafverfahrens für den Fall fragt, dass die Entscheidung der Kúria als unionsrechtswidrig anzusehen sei, festzustellen, dass deren Entscheidung, auch wenn sie die Vorlageentscheidung weder aufhebt noch ändert und den vorlegenden Richter auch nicht verpflichtet, diesen Antrag zurückzunehmen oder zu ändern, nicht ohne Folgen für den vorlegenden Richter und das Ausgangsstrafverfahren bleibt. 63 Stuft dieses Höchstgericht das Vorabentscheidungsersuchen eines untergeordneten Gerichts als rechtswidrig ein, hat diese Einstufung nämlich zwangsläufig Folgen für das letztgenannte Gericht, auch wenn sie sich nicht unmittelbar auf die Gültigkeit der Vorlageentscheidung auswirkt. So muss der vorlegende Richter im vorliegenden Fall insbesondere entscheiden, ob er seine Vorlagefragen aufrechterhält und demzufolge gleichzeitig entscheiden, ob er seinen Aussetzungsbeschluss aufrechterhält, den die Kúria (Oberster Gerichtshof) im Wesentlichen als rechtswidrig angesehen hat, oder ob er vielmehr seine Fragen im Licht dieser Entscheidung zurückzieht und das Ausgangsstrafverfahren fortführt. 64 Im Übrigen wurde, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, die Entscheidung der Kúria in einer Grundsatzentscheidungen vorbehaltenen Sammlung veröffentlicht, um die Einheitlichkeit des nationalen Rechts zu gewährleisten. 65 Darüber hinaus muss der vorlegende Richter unter diesen Umständen auch beurteilen, ob er durch sein Festhalten an seinem ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen nicht seine künftige Sachentscheidung des Ausgangsverfahrens mit einem Rechtsmittel anfechtbar macht, weil er im Lauf des Verfahrens einen Beschluss über die Vorlage eines Vorabentscheidungsersuchens erlassen hat, der von der Kúria (Oberster Gerichtshof) für rechtswidrig erklärt wurde. 66 Nach alledem ist festzustellen, dass die vierte Frage nicht als für den Ausgang des Ausgangsverfahrens unerheblich angesehen werden kann, so dass sie zulässig ist. Zur Beantwortung der Frage 67 Was als Erstes die Frage betrifft, ob Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass der Oberste Gerichtshof eines Mitgliedstaats im Anschluss an ein Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts die Rechtswidrigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens, mit dem der Gerichtshof von einem untergeordneten Gericht nach dieser Bestimmung befasst worden ist, feststellt, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen der dieses Ersuchen enthaltenden Entscheidung betroffen sind, ist darauf hinzuweisen, dass das Schlüsselelement des von den Verträgen geschaffenen Gerichtssystems in dem in Art. 267 AEUV vorgesehenen Vorabentscheidungsverfahren besteht; Ziel dieser Bestimmung ist es, durch die Einführung eines Dialogs von Gericht zu Gericht zwischen dem Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten und damit die Sicherstellung seiner Kohärenz, seiner vollen Geltung und seiner Autonomie sowie letztlich des eigenen Charakters des durch die Verträge geschaffenen Rechts zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung). 68 Insoweit hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass die nationalen Gerichte die umfassende Befugnis haben, ihn mit einer Frage nach der Auslegung der relevanten Bestimmungen des Unionsrechts zu befassen, wobei aus dieser Befugnis für letztinstanzlich entscheidende Gerichte, vorbehaltlich der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten Ausnahmen, eine Pflicht wird (Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). 69 Sowohl diese Befugnis als auch diese Pflicht sind nämlich dem durch Art. 267 AEUV errichteten System der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof und den mit dieser Bestimmung den nationalen Gerichten zugewiesenen Aufgaben des zur Anwendung des Unionsrechts berufenen Richters inhärent (Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 33). 70 Folglich ist ein mit einer Rechtssache befasstes nationales Gericht, wenn es der Auffassung ist, dass sich im Rahmen dieser Rechtssache eine Frage nach der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts stellt, befugt oder verpflichtet, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, ohne dass diese Befugnis oder diese Pflicht durch nationale gesetzliche oder von der Rechtsprechung aufgestellte Regeln eingeschränkt werden könnte (Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 34). 71 Zwar beschränkt sich die Entscheidung der Kúria im vorliegenden Fall auf die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit des ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens und hebt weder die dieses Ersuchen enthaltende Entscheidung auf, noch verpflichtet sie den vorlegenden Richter, das Ersuchen zurückzunehmen und das Ausgangsverfahren fortzusetzen, doch hat die Kúria (Oberster Gerichtshof) mit der Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieses Ersuchens gemäß § 490 der Strafprozessordnung, wie auch der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine Prüfung des ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens vorgenommen, die der vom Gerichtshof vorgenommenen Prüfung der Zulässigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens gleichkommt. 72 Auch wenn Art. 267 AEUV einem Rechtsmittel gegen ein Vorabentscheidungsersuchen nach innerstaatlichem Recht nicht entgegensteht, ist eine Entscheidung eines Höchstgerichts, mit der ein Vorabentscheidungsersuchen für rechtswidrig erklärt wird, weil die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich und erforderlich seien, mit diesem Artikel unvereinbar, da die Beurteilung dieser Gesichtspunkte in die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt, über die Zulässigkeit von Vorlagefragen zu entscheiden, wie sich aus der oben in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 2008, Cartesio, C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 93 bis 96). 73 Zudem wäre, wie auch der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Wirksamkeit des Unionsrechts gefährdet, wenn durch die Einlegung eines Rechtsbehelfs zum höchsten nationalen Gericht das innerstaatliche Gericht, bei dem ein nach Unionsrecht zu entscheidender Rechtsstreit anhängig ist, davon abgeschreckt wird, von der ihm durch Art. 267 AEUV eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen, die die Auslegung und die Gültigkeit des Unionsrechts betreffen, um darüber entscheiden zu können, ob eine innerstaatliche Vorschrift mit dem Unionsrecht vereinbar ist oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli, C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). 74 Auch wenn die Kúria (Oberster Gerichtshof) den vorlegenden Richter nicht verpflichtet hat, das ursprüngliche Vorabentscheidungsersuchen zurückzunehmen, bleibt nämlich festzuhalten, dass dieses Höchstgericht dieses Ersuchen mit seiner Entscheidung als rechtswidrig angesehen hat. Eine solche Feststellung der Rechtswidrigkeit ist jedoch geeignet, sowohl die Autorität der Antworten, die der Gerichtshof dem vorlegenden Richter geben wird, als auch die Entscheidung, die dieser im Licht dieser Antworten treffen wird, zu schwächen. 75 Im Übrigen kann diese Entscheidung der Kúria die ungarischen Gerichte veranlassen, davon abzusehen, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, um zu verhindern, dass ihre Vorabentscheidungsersuchen von einer der Parteien auf der Grundlage der Entscheidung der Kúria angefochten werden oder Gegenstand eines Rechtsmittels zur Wahrung des Rechts werden. 76 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Mechanismus der Vorabentscheidung „die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen eine wirksame Kontrolle [darstellt], welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln [258 und 259 AEUV] ausgeübte Kontrolle ergänzt“ (Urteil vom 5. Februar 1963, van Gend & Loos, 26/62, EU:C:1963:1, S. 25). Begrenzungen der Ausübung der ihnen durch Art. 267 AEUV übertragenen Zuständigkeit durch die nationalen Gerichte würden den wirksamen gerichtlichen Schutz der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte beschränken. 77 Daher beschneidet die Entscheidung der Kúria die den nationalen Gerichten nach Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse und hemmt als Folge die Effizienz der durch das Vorabentscheidungsverfahren eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 25). 78 Was als Zweites die Frage betrifft, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts den nationalen Richter, der den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst hat, dessen Rechtswidrigkeit vom Höchstgericht des betreffenden Mitgliedstaats festgestellt worden ist, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen seiner Vorlageentscheidung betroffen sind, verpflichtet, eine solche Entscheidung des Höchstgerichts außer Acht zu lassen, ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts besagt, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz verpflichtet daher alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen unionsrechtlichen Vorschriften volle Wirksamkeit zu verschaffen, wobei das Recht der Mitgliedstaaten die diesen verschiedenen Vorschriften zuerkannte Wirkung in ihrem Hoheitsgebiet nicht beeinträchtigen darf (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 244 und die dort angeführte Rechtsprechung). 79 Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts somit nicht dadurch beeinträchtigt werden kann, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Rechts beruft, auch wenn sie Verfassungsrang haben. Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wirkungen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts für alle Einrichtungen eines Mitgliedstaats verbindlich, ohne dass dem insbesondere die innerstaatlichen Bestimmungen über die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten, auch wenn sie Verfassungsrang haben, entgegenstehen könnten (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociația Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 245 und die dort angeführte Rechtsprechung). 80 Zweitens muss nach ständiger Rechtsprechung eine Bestimmung des nationalen Rechts, die der Durchführung des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens entgegensteht, unangewendet bleiben, ohne dass das betreffende Gericht die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 141 und die dort angeführte Rechtsprechung). 81 Daraus folgt, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ein untergeordnetes Gericht verpflichtet, eine Entscheidung des Höchstgerichts des betreffenden Mitgliedstaats außer Acht zu lassen, wenn es der Ansicht ist, dass diese Entscheidung die ihm durch Art. 267 AEUV zuerkannten Befugnisse beschneidet und als Folge die Effizienz der durch das Vorabentscheidungsverfahren eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten hemmt. Klarzustellen ist, dass sich angesichts des Umfangs dieser Befugnisse kein Grund für die Aufrechterhaltung dieser Entscheidung daraus ableiten lässt, dass der Gerichtshof in seiner Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen die vollständige oder teilweise Unzulässigkeit der ihm durch dieses untergeordnete Gericht gestellten Vorlagefragen feststellen könnte. 82 Nach alledem ist auf die vierte Frage zum einen zu antworten, dass Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass das Höchstgericht eines Mitgliedstaats im Anschluss an ein Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts die Rechtswidrigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens, mit dem der Gerichtshof von einem untergeordneten Gericht nach dieser Bestimmung befasst worden ist, feststellt, weil die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich und erforderlich seien, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen der dieses Ersuchen enthaltenden Entscheidung betroffen sind, und zum anderen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dieses untergeordnete Gericht verpflichtet, eine solche Entscheidung des nationalen Höchstgerichts außer Acht zu lassen. Zur fünften Frage 83 Mit seiner fünften Frage, die an zweiter Stelle zu prüfen ist, möchte der vorlegende Richter wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 47 der Charta und Art. 267 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen nationalen Richter entgegenstehen, weil er den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV ersucht hat. Zulässigkeit 84 Die ungarische Regierung und die Kommission halten die fünfte Frage für unzulässig. Die ungarische Regierung argumentiert im Wesentlichen, dass es auf das gegen den vorlegenden Richter eingeleitete, aber später zurückgezogene und eingestellte Disziplinarverfahren nicht ankomme, da seine Auswirkungen auf die Richtertätigkeit des vorlegenden Richters nicht festgestellt werden könnten. Die Kommission ist im Kern der Ansicht, dass diese Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich sei und der vorlegende Richter jedenfalls keine Angaben zu den Auswirkungen der Einleitung des Disziplinarverfahrens auf die Fortführung des bei ihm anhängigen Strafverfahrens gemacht habe. 85 Insoweit ist im Licht der bereits in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darauf hinzuweisen, dass der vorlegende Richter in seiner Antwort vom 10. Dezember 2019 auf das ihm vom Gerichtshof übermittelte Auskunftsersuchen erklärt hat, dass seine Frage trotz der Rücknahme des gegen ihn eingeleiteten Disziplinarverfahrens weiterhin erheblich sei, da sich seine Zweifel aus dem Faktum als solchem ergäben, dass ein Disziplinarverfahren unter solchen Umständen eingeleitet werden könne, und somit unabhängig von der Fortführung dieses Verfahrens seien. 86 Zudem ist festzustellen, dass die vierte und die fünfte Vorlagefrage eng miteinander verbunden sind. Aus dem ergänzenden Vorabentscheidungsersuchen geht nämlich hervor, dass der Präsident des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) aufgrund der Entscheidung der Kúria, mit der das ursprüngliche Vorabentscheidungsersuchen für rechtswidrig erklärt wurde, die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen den vorlegenden Richter beantragt hat. Mit seiner fünften Frage möchte der vorlegende Richter somit im Wesentlichen wissen, ob er die Entscheidung der Kúria außer Acht lassen kann, wenn er in der Sache über das Ausgangsverfahren entscheidet, ohne dabei befürchten zu müssen, dass das auf die Entscheidung der Kúria gestützte Disziplinarverfahren gegen ihn wieder aufgenommen wird. 87 Folglich ist der vorlegende Richter, wie im Rahmen der vierten Frage, mit einem verfahrensrechtlichen Hindernis konfrontiert, das sich aus der gegen ihn gerichteten Anwendung einer nationalen Regelung ergibt, das von ihm auszuräumen ist, bevor er den Ausgangsrechtsstreit ohne Beeinflussung von außen und damit gemäß Art. 47 der Charta in völliger Unabhängigkeit entscheiden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Governo della Repubblica italiana [Status der italienischen Friedensrichter], C‑658/18, EU:C:2020:572, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Er fragt sich nämlich, unter welchen Voraussetzungen das Ausgangsverfahren nach der Entscheidung der Kúria fortgeführt werden kann, mit der das ursprüngliche Vorabentscheidungsersuchen für rechtswidrig erklärt und auch die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen ihn begründet wurden. Insoweit unterscheidet sich die vorliegende Rechtssache von den Rechtssachen, in denen das Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234), ergangen ist, in denen die betreffenden vorlegenden Gerichte die Antworten auf die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zur Auslegung des Unionsrechts nicht benötigten, um über einer Sachentscheidung in den bei ihnen anhängigen Verfahren vorgelagerte Verfahrensfragen des nationalen Rechts zu entscheiden. 88 Folglich ist die fünfte Frage zulässig. Zur Beantwortung der Frage 89 Vorab ist festzustellen, dass die fünfte Frage die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, von Art. 47 der Charta und von Art. 267 AEUV betrifft. Aus der Begründung der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass sich diese Frage, wie bereits in den Rn. 86 und 87 des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Zusammenhang mit einer verfahrensrechtlichen Schwierigkeit stellt, die vor einer Sachentscheidung im Ausgangsrechtsstreit auszuräumen ist und die die Befugnisse des vorlegenden Richters im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV in Frage stellt. Daher ist die fünfte Frage nur im Hinblick auf Art. 267 AEUV zu prüfen. 90 Insoweit ist im Licht der in den Rn. 68 bis 70 und 72 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs darauf hinzuweisen, dass dieser bereits entschieden hat, dass nationale Bestimmungen, nach denen gegen nationale Richter ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden kann, weil sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet haben, nicht zulässig sind. Die bloße Aussicht, aufgrund der Einreichung eines Vorabentscheidungsersuchens oder der Entscheidung, dieses anschließend aufrechtzuerhalten, derartiger Verfolgung ausgesetzt zu sein, ist nämlich geeignet, die tatsächliche Wahrnehmung der Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs durch die betreffenden nationalen Richter und der Aufgaben des zur Anwendung des Unionsrechts berufenen Richters zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 227). 91 Der Umstand, dass die Richter keinen Disziplinarverfahren oder ‑strafen wegen der Ausübung einer solchen in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallenden Befugnis zur Anrufung des Gerichtshofs ausgesetzt sind, stellt zudem eine ihrer Unabhängigkeit inhärente Garantie dar, die insbesondere für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit von wesentlicher Bedeutung ist, das durch den in Art. 267 AEUV vorgesehenen Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens verkörpert wird (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). 92 Im Übrigen ist festzustellen, dass ein Disziplinarverfahren, das aus dem Grund eingeleitet wird, dass ein nationaler Richter beschlossen hat, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, geeignet ist, sämtliche mitgliedstaatlichen Gerichte davon abzuhalten, solche Ersuchen einzureichen, was die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährden könnte. 93 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 267 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen nationalen Richter entgegensteht, weil dieser den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV ersucht hat. Zur ersten Frage Zulässigkeit 94 Nach Ansicht der ungarischen Regierung ist das Ausgangsverfahren, wie die Kúria (Oberster Gerichtshof) festgestellt habe, eine Rechtssache, deren Beurteilung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach sei und die grundsätzlich keiner Auslegung des Unionsrechts bedürfe. Unter Bezugnahme auf die Entscheidung der Kúria macht die Regierung allgemein geltend, dass das Ausgangsstrafverfahren keine Tatsachen oder Umstände erkennen lasse, aus denen sich ein Verstoß gegen die Vorschriften über den Sprachengebrauch in diesem Verfahren oder ein Versäumnis der mit dem Verfahren betrauten Behörden schließen lasse, und aus denen der vorlegende Richter die Notwendigkeit einer Auslegung des Unionsrechts hätte ableiten können. Da sich im Ausgangsverfahren in Bezug auf die Qualität der Dolmetschleistung kein wirkliches Problem stelle, sei der erste Teil dieser Frage hypothetischer Natur, so dass ihre Beantwortung durch den Gerichtshof weder erforderlich noch möglich sei. Ebenso wenig sei angesichts des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens die Beantwortung des zweiten Teils dieser Frage erforderlich, da sich auf der Grundlage des von der Kúria (Oberster Gerichtshof) anhand der Ermittlungsakte festgestellten Sachverhalts feststellen lasse, dass der Angeklagte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe verstanden habe. 95 Insoweit ist in Anbetracht der in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs festzustellen, dass der vorlegende Richter im ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchen die Umstände, unter denen er beschlossen hat, diese Frage zu stellen, und die Gründe für seine Frage klar darlegt. Wie sich aus den Rn. 25 bis 28 des vorliegenden Urteils ergibt, betrifft das Ausgangsverfahren nämlich ein Strafverfahren in Abwesenheit gegen einen in der Türkei geborenen schwedischen Staatsangehörigen, der wegen eines Verstoßes gegen die ungarischen Rechtsvorschriften über Feuerwaffen und Munition nach Ermittlungen verfolgt wird, in deren Verlauf er von den Polizeibehörden im Beisein eines Dolmetschers für die schwedische Sprache, aber ohne Beistand eines Rechtsanwalts vernommen wurde, obwohl es sich dabei um eine Vernehmung handelte, bei der ihm mitgeteilt wurde, dass er verdächtigt werde, Straftaten im Sinne dieser ungarischen Rechtsvorschriften begangen zu haben. Somit weist der Ausgangsrechtsstreit einen offensichtlichen Bezug zu den Bestimmungen der Richtlinien 2010/64 und 2012/13 auf, auf die sich die erste Frage bezieht. 96 Was im Übrigen das Vorbringen der ungarischen Regierung betrifft, das Ausgangsverfahren sei eine Sache, deren Beurteilung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach sei und die daher keine Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof erfordere, so dass das Vorabentscheidungsersuchen nicht erforderlich gewesen sei, genügt zum einen der Hinweis, dass es, wie sich aus der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, ausschließlich Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, das die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung zu übernehmen hat, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls sowohl zu beurteilen, ob eine Vorabentscheidung erforderlich ist, damit es sein Urteil erlassen kann, als auch, ob die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen erheblich sind. Zum anderen kann ein solcher Umstand ein nationales Gericht nicht daran hindern, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, und führt nicht zur Unzulässigkeit dieser Frage (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Ubezpieczeniowy Fundusz Gwarancyjny, C‑383/19, EU:C:2021:337, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). 97 Folglich ist festzustellen, dass die erste Frage zulässig ist. Zur Beantwortung der Frage 98 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich die erste Frage auf Art. 6 Abs. 1 EUV bezieht. Abgesehen von einem allgemeinen Verweis auf die Anwendbarkeit der Charta stützt diese Bestimmung jedoch nicht die Argumentation des vorlegenden Richters, wie sich aus den Gründen des ursprünglichen Vorabentscheidungsersuchens ergibt. Im Übrigen handelt es sich um eine allgemeine Bestimmung, mit der die Union anerkennt, dass die Charta und die Verträge rechtlich gleichrangig sind, die klarstellt, dass die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union durch die Bestimmungen der Charta in keiner Weise erweitert werden, und in der die Methode zur Auslegung der in der Charta verankerten Rechte, Freiheiten und Grundsätze näher erläutert wird. Unter diesen Umständen ist diese Bestimmung für die Prüfung der ersten Frage unerheblich. 99 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann dieser jedoch veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 7. August 2018, Smith, C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). 100 Nach Art. 48 Abs. 1 der Charta gilt jeder Angeklagte bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig. Ferner bestimmt Art. 48 Abs. 2 der Charta, dass jedem Angeklagten die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet wird. 101 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta, soweit sie Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, diese Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in dieser Konvention verliehen werden. Wie aus den Erläuterungen zu Art. 48 der Charta hervorgeht, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta der Grundrechte bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind, entspricht Art. 48 der Charta Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung von Art. 48 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das nicht hinter dem in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierten Schutzniveau zurückbleibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C‑38/18, EU:C:2019:628, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). 102 Unter diesen Umständen möchte der vorlegende Richter mit dem ersten Teil seiner ersten Frage wissen, ob Art. 5 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, ein Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern einzurichten oder sicherzustellen, dass die Angemessenheit der Qualität der in Gerichtsverfahren erbrachten Dolmetschleistungen überprüft werden kann. 103 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass „die Mitgliedstaaten [sich] darum [bemühen], ein oder mehrere Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern einzurichten, die angemessen qualifiziert sind“ (Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64). 104 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind für die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 2. September 2015, Surmačs, C‑127/14, EU:C:2015:522, Rn. 28, und vom 16. November 2016, DHL Express [Austria], C‑2/15, EU:C:2016:880, Rn. 19). 105 Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2010/64, in dem das Verb „sich bemühen“ verwendet wird, ergibt, ist die Einrichtung eines Registers mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern, die angemessen qualifiziert sind, eher ein programmatisches Erfordernis als eine Ergebnispflicht, die im Übrigen als solche keine unmittelbare Wirkung hat. 106 Diese wörtliche Auslegung wird durch den Kontext, in den sich diese Bestimmung einfügt, und durch die mit der Richtlinie 2010/64 verfolgten Ziele bestätigt. 107 Nach ihrem zwölften Erwägungsgrund setzt die Richtlinie gemeinsame Mindestvorschriften im Bereich von Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren fest. 108 Solche Mindestvorschriften sollten nach dem 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie gewährleisten, dass es unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird. 109 Zur Qualität von Dolmetschleistungen und Übersetzungen heißt es im 24. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/64, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen sollten, dass diese bei entsprechenden Hinweisen an die zuständigen Behörden in einem bestimmten Fall kontrolliert werden kann. Außerdem bestimmt Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64, dass die Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass Dolmetschleistungen und Übersetzungen der in Art. 2 Abs. 8 der Richtlinie geforderten Qualität entsprechen, wobei die letztgenannte Bestimmung klarstellt, dass die Dolmetschleistungen „eine für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreichende Qualität aufweisen [müssen], wobei insbesondere sicherzustellen ist, dass verdächtige oder beschuldigte Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen.“ 110 Aus diesen Bestimmungen und Erwägungsgründen ergibt sich unabhängig von den konkreten Anwendungsmodalitäten von Art. 5 der Richtlinie 2010/64, dass diese den Mitgliedstaaten vorschreibt, „konkrete Maßnahmen“ zu ergreifen, die darauf abzielen, für die „ausreichende Qualität“ der Dolmetschleistungen Sorge zu tragen, um zum einen sicherzustellen, dass die betroffenen Personen wissen, was ihnen zur Last gelegt wird, und imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und zum anderen eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten. Insoweit stellt die Einrichtung eines Registers mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern eines der Mittel dar, die geeignet sind, zur Verwirklichung dieses Ziels beizutragen. Auch wenn die Erstellung eines solchen Registers somit nicht als den Mitgliedstaaten durch diese Richtlinie vorgeschrieben angesehen werden kann, ändert dies jedoch nichts daran, dass Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie hinreichend genau und unbedingt, um von einem Einzelnen in Anspruch genommen und vom nationalen Richter angewandt zu werden, vorsieht, dass die Mitgliedstaaten konkrete Maßnahmen ergreifen, um die Qualität der Dolmetschleistungen und Übersetzungen sicherzustellen, zu diesem Zweck über angemessene Dienste zu verfügen und einen effizienten Zugang zu diesen Diensten fördern. 111 Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2010/64 sieht hierzu unbedingt und genau vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass verdächtige oder beschuldigte Personen im Einklang mit nach einzelstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahren „die Möglichkeit haben, zu beanstanden, dass die Qualität der Dolmetschleistungen für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens unzureichend sei“. 112 Eine solche Möglichkeit entbindet die Mitgliedstaaten jedoch nicht von ihrer in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2010/64 in Verbindung mit u. a. deren Art. 2 Abs. 8 vorgesehenen Verpflichtung, „konkrete Maßnahmen“ zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Dolmetschleistungen „ausreichende Qualität“ aufweisen, insbesondere, wenn es kein Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern gibt. 113 Um die Anforderungen an ein faires Verfahren zu erfüllen, muss in diesem Zusammenhang sichergestellt werden, dass die beschuldigte Person verstehen kann, was ihr vorgeworfen wird, und sich verteidigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2015, Covaci, C‑216/14, EU:C:2015:686, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Verpflichtung der zuständigen Behörden beschränkt sich daher nicht auf die Bestellung eines Dolmetschers. Sie haben bei entsprechenden Hinweisen in einem bestimmten Fall außerdem die Qualität der Dolmetschleistung zu prüfen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 18. Oktober 2006, Hermi/Italien, CE:ECHR:2006:1018JUD001811402, § 70). 114 Das Versäumnis der nationalen Gerichte, Behauptungen über unzureichende Leistungen eines Dolmetschers zu prüfen, kann nämlich zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte führen (vgl. in diesem Sinne EGMR, 24. Juni 2019, Knox/Italien, CE:ECHR:2019:0124JUD007657713, §§ 182 und 186). 115 Um sicherzustellen, dass die verdächtige oder beschuldigte Person, die die Sprache des Strafverfahrens nicht spricht und nicht versteht, gleichwohl ordnungsgemäß darüber unterrichtet wurde, was ihr vorgeworfen wird, müssen die nationalen Gerichte somit prüfen, ob sie eine Dolmetschleistung „ausreichender Qualität“ erhalten hat, um den gegen sie erhobenen Tatvorwurf zu verstehen, damit ein faires Verfahren gewährleistet ist. Damit die nationalen Gerichte diese Prüfung durchführen können, müssen diese Gerichte insbesondere Zugang zu den Informationen über das Verfahren der Auswahl und der Bestellung unabhängiger Übersetzer und Dolmetscher haben. 116 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass es in Ungarn kein Register mit unabhängigen Übersetzern und Dolmetschern gibt. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es wegen der Lücken der nationalen Regelung praktisch unmöglich sei, die Qualität der den verdächtigen oder angeklagten Personen zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen zu gewährleisten. Die ungarische Regierung macht allerdings geltend, dass die nationalen Vorschriften über die Tätigkeit von Berufsdolmetschern und ‑übersetzern sowie die strafverfahrensrechtlichen Regelungen es jeder Person, die die ungarische Sprache nicht beherrsche, erlaubten, sprachliche Unterstützung zu erhalten, die den Anforderungen eines fairen Verfahrens genüge. Abgesehen von diesen Erwägungen zum nationalen Recht ist es Sache des vorlegenden Gerichts, den Sachverhalt des vorliegenden Falls konkret und genau zu beurteilen, um zu prüfen, ob die der betroffenen Person im Ausgangsverfahren zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen im Hinblick auf die sich aus der Richtlinie 2010/64 ergebenden Anforderungen von ausreichender Qualität waren, um es dieser Person zu ermöglichen, Kenntnis von den Gründen ihrer Festnahme oder der gegen sie erhobenen Tatvorwürfe zu erlangen, und um in die Lage versetzt zu werden, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen. 117 Folglich ist Art. 5 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen und Übersetzungen ausreicht, damit die verdächtige oder beschuldigte Person den gegen sie erhobenen Tatvorwurf verstehen kann und diese Dolmetschleistungen von den nationalen Gerichten überprüft werden können. 118 Mit dem zweiten Teil der ersten Vorlagefrage soll geklärt werden, ob in Ermangelung eines solchen Registers oder einer anderen Methode zur Überprüfung der Angemessenheit der Dolmetschleistungen und für den Fall, dass nicht festgestellt werden kann, ob die verdächtige oder beschuldigte Person über den Gegenstand des gegen sie bestehenden Verdachts bzw. des gegen sie erhobenen Tatvorwurfs unterrichtet worden ist, Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 in Verbindung mit Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie der Fortführung eines Verfahrens in Abwesenheit entgegenstehen. 119 Diese Frage beruht auf der Prämisse, dass das Fehlen nationaler Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität der Dolmetschleistungen dem vorlegenden Gericht die Möglichkeit nehmen würde, die Angemessenheit der Dolmetschleistungen zu prüfen. Unabhängig von der Frage des Bestehens allgemeiner nationaler Maßnahmen, die es ermöglichen, die Qualität der in Strafverfahren zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen sicherzustellen und zu überprüfen, ist es jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens konkret und genau zu beurteilen, um zu prüfen, ob die der betroffenen Person in diesem Verfahren zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen im Hinblick auf die sich aus der Richtlinie 2010/64 ergebenden Anforderungen von ausreichender Qualität waren. 120 Am Ende dieser Prüfung kann das vorlegende Gericht zu dem Schluss gelangen, dass es nicht feststellen kann, ob die betroffene Person in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde, sei es, weil die ihr zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen unzureichend waren, sei es, weil deren Qualität nicht ermittelt werden kann. Folglich ist der zweite Teil der ersten Vorlagefrage so zu verstehen, dass mit ihm geklärt werden soll, ob Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 im Licht von Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass es ihnen zuwiderläuft, dass eine Person in Abwesenheit verurteilt wird, obwohl sie aufgrund einer unzureichenden Dolmetschleistung nicht in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde, oder wenn die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen nicht ermittelt und somit nicht festgestellt werden kann, ob die Person in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde. 121 Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 6 Abs. 3 EMRK jede angeklagte Person das Recht hat, „innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden“. Die Garantien des Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK gelten für jede „angeklagte Person“ in der autonomen Bedeutung, die diesem Begriff im Rahmen der EMRK zukommt. Eine „strafrechtliche Anklage“ liegt ab dem Zeitpunkt vor, zu dem eine Person von der zuständigen Behörde offiziell von der ihr zur Last gelegten Begehung einer Straftat in Kenntnis gesetzt wird, oder ab dem Zeitpunkt, zu dem ihre Situation durch Handlungen, die von den Behörden infolge eines Verdachts gegen sie vorgenommen wurden, spürbar beeinträchtigt wurde. So kann insbesondere eine Person, die wegen des Verdachts, eine Straftat begangen zu haben, festgenommen wurde, als „einer Straftat angeklagt“ betrachtet werden und den Schutz von Art. 6 EMRK beanspruchen (EGMR, 12. Mai 2017, Simeonovi/Bulgarien, CE:ECHR:2017:0512JUD002198004, §§ 110 und 111). 122 Nach der Rechtsprechung des EGMR stellt in Strafsachen eine genaue und vollständige Unterrichtung über die gegen eine beschuldigte Person erhobenen Vorwürfe und folglich auch die von einem Gericht möglicherweise zu ihren Lasten vorzunehmende rechtliche Beurteilung eine wesentliche Voraussetzung für den fairen Charakter des Verfahrens dar. Das Recht auf Unterrichtung über Art und Gegenstand der Anklage ist im Licht des Rechts der beschuldigten Person auf Vorbereitung ihrer Verteidigung zu sehen (EGMR, 25. März 1999, Pélissier und Sassi/Frankreich, CE:ECHR:1999:0325JU002544494, §§ 52 und 54). Die Unterrichtung einer Person darüber, dass sie verfolgt werden soll, stellt einen Rechtsakt von solcher Bedeutung dar, dass seine Form und sein Inhalt geeignet sein müssen, die tatsächliche Ausübung der Rechte der beschuldigten Person zu gewährleisten, so dass eine vage und inoffizielle Kenntnis nicht ausreicht (EGMR, 1. März 2006, Sejdovic/Italien, CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 99). 123 Ein faires Verfahren setzt voraus, dass jede Person in der Lage sein muss, den gegen sie erhobenen Tatvorwurf zu verstehen, um sich verteidigen zu können. Bei einer Person, die die Sprache des gegen sie geführten Strafverfahrens nicht spricht oder nicht versteht und der keine sprachliche Unterstützung gewährt wurde, die es ihr ermöglicht hätte, die gegen sie erhobenen Tatvorwürfe zu verstehen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie in der Lage war, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen. 124 Diese grundlegende Garantie wird u. a. durch das in Art. 2 der Richtlinie 2010/64 vorgesehene Recht auf Dolmetschleistungen umgesetzt, das für jede Vernehmung oder Verhandlung während der Strafverfahren vorsieht, dass verdächtigen oder beschuldigten Personen, die die Sprache des betreffenden Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, unverzüglich Dolmetschleistungen zur Verfügung gestellt werden, sowie durch das Recht auf Übersetzung wesentlicher Unterlagen gemäß Art. 3 dieser Richtlinie. 125 Werden Verdächtige oder beschuldigte Personen festgenommen oder inhaftiert, erlegt Art. 4 der Richtlinie 2012/13 den Mitgliedstaaten eine Verpflichtung auf, ihnen eine schriftliche Erklärung der Rechte auszuhändigen, in der insbesondere die in Art. 3 der Richtlinie genannten Verfahrensrechte genau angegeben sind. 126 Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2012/13 bestimmt ferner, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen die schriftliche Erklärung ihrer Rechte in einer Sprache erhalten, die sie verstehen. Ist diese Erklärung nicht in der entsprechenden Sprache verfügbar, so werden Verdächtige oder beschuldigte Personen „in einer Sprache, die sie verstehen, mündlich über ihre Rechte belehrt“. 127 Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung hat „umgehend und so detailliert“ zu erfolgen, „dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden“. 128 Zwar regelt die Richtlinie 2012/13 nicht die Modalitäten der in ihrem Art. 6 vorgesehenen Unterrichtung der beschuldigten Person über den Tatvorwurf. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht das u. a. mit Art. 6 der Richtlinie angestrebte Ziel beeinträchtigen, das, wie sich auch aus deren 27. Erwägungsgrund ergibt, darin besteht, Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten (Urteil vom 13. Juni 2019, Moro, C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). 129 Folglich sind die Informationen, die jeder Person, die verdächtigt oder beschuldigt wird, eine strafbare Handlung begangen zu haben, gemäß Art. 6 der Richtlinie 2012/13 mitzuteilen sind, in einer Sprache zu erteilen, die diese Person versteht, gegebenenfalls mit sprachlicher Unterstützung durch einen Dolmetscher oder durch eine schriftliche Übersetzung. 130 Da für das gesamte Strafverfahren das Recht auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf entscheidend ist, genügt der Umstand, dass einer Person, die die Sprache dieses Verfahrens nicht spricht oder nicht versteht, keine sprachliche Unterstützung gewährt wurde, die es ihr ermöglicht hätte, den Inhalt des Verfahrens zu verstehen und sich zu verteidigen, dass kein faires Verfahren gegeben ist und die wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt wird. 131 Zwar sieht Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass spätestens dann, wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden. Daher kann nach dieser Bestimmung das Versäumnis, diese Informationen zu erteilen, insbesondere weil sie nicht in einer der beschuldigten Person verständlichen Sprache erteilt wurden, in der Strafverhandlung geheilt werden. 132 Jedoch ergibt sich daraus auch, dass das Strafgericht nicht ohne Verstoß gegen Art. 6 der Richtlinie 2012/13 und den Grundsatz des fairen Verfahrens bzw. Beeinträchtigung der wirksamen Ausübung der Verteidigungsrechte, die diese Vorschrift gewährleisten soll, in Abwesenheit der angeklagten Person über die Begründetheit der Anklage entscheiden kann, wenn diese Person nicht zuvor in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf informiert wurde. 133 Sollte sich auf der Grundlage der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen im vorliegenden Fall herausstellen, dass die zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen keine „ausreichende Qualität“ aufwiesen, um es dem Angeklagten zu ermöglichen, die Gründe für seine Festnahme und die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe zu verstehen, könnte dies der Fortführung des Strafverfahrens in Abwesenheit entgegenstehen. 134 Da zudem das Recht von verdächtigen und beschuldigten Personen, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein, in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankert ist, hängt die Möglichkeit, das Strafverfahren in Abwesenheit durchzuführen, nach Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie davon ab, dass sie rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet wurden. 135 Schließlich trifft es zu, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 9 der Richtlinie 2016/343 sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, wenn sie bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend waren, obwohl die in Art. 8 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen nicht erfüllt wurden, das Recht auf eine neue Verhandlung oder auf Einlegung eines sonstigen Rechtsbehelfs haben, die bzw. der eine neue Prüfung des Sachverhalts ermöglicht. Allerdings kann diese Bestimmung nicht rechtfertigen, dass eine Person in Abwesenheit verurteilt werden kann, obwohl sie nicht gemäß den Anforderungen von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf informiert wurde, wenn dieser Informationsmangel auf einer unzureichenden Dolmetschleistung beruht und folglich gegen andere Vorschriften des Unionsrechts verstößt. 136 Sollte sich auf der Grundlage der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Tatsachenfeststellungen im vorliegenden Fall herausstellen, dass die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistung nicht ermittelt werden kann, könnte dies im Übrigen ebenfalls der Fortführung des Strafverfahrens in Abwesenheit entgegenstehen. Kann die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistung nicht ermittelt werden, bedeutet dies nämlich, dass nicht festgestellt werden kann, ob die beschuldigte Person über den gegen sie bestehenden Verdacht oder den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde. Somit gelten alle Erwägungen zu der in den Rn. 121 bis 135 des vorliegenden Urteils geprüften Fallgestaltung aufgrund der für das gesamte Strafverfahren entscheidenden Bedeutung des Rechts auf Unterrichtung über den gegen eine Person erhobenen Tatvorwurf und des grundlegenden Charakters der Verteidigungsrechte für diese zweite Fallgestaltung entsprechend. 137 Folglich sind Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2010/64, Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 in Verbindung mit Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass es ihnen zuwiderläuft, dass eine Person in Abwesenheit verurteilt wird, obwohl sie aufgrund einer unzureichenden Dolmetschleistung nicht in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde, oder wenn die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen nicht ermittelt und somit nicht festgestellt werden kann, dass die Person in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde. 138 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass – Art. 5 der Richtlinie 2010/64 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen und Übersetzungen ausreicht, damit die verdächtige oder beschuldigte Person den gegen sie erhobenen Tatvorwurf verstehen kann und diese Dolmetschleistungen von den nationalen Gerichten überprüft werden können; – Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2010/64, Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 in Verbindung mit Art. 48 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass es ihnen zuwiderläuft, dass eine Person in Abwesenheit verurteilt wird, obwohl sie aufgrund einer unzureichenden Dolmetschleistung nicht in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde, oder wenn die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen nicht ermittelt und somit nicht festgestellt werden kann, dass die Person in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde. Zur zweiten und zur dritten Frage 139 Mit seiner zweiten Frage möchte der vorlegende Richter wissen, ob der in Art. 19 EUV und Art. 47 der Charta verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die Präsidentin des Landesgerichtsamts den Präsidenten eines Gerichts, der u. a. befugt ist, die Geschäftsverteilung festzulegen, Disziplinarverfahren gegen Richter einzuleiten und deren Leistung zu beurteilen, unter Umgehung eines Bewerbungsverfahrens für Richter im Wege einer befristeten Beauftragung ernennt, und, falls dies der Fall ist, ob das Verfahren vor einem so geleiteten Gericht ein faires Verfahren ist. Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit dahin auszulegen ist, dass er einem Besoldungssystem entgegensteht, das für Richter niedrigere Bezüge als für Staatsanwälte derselben Kategorie vorsieht sowie ermessensabhängige Gratifikationen für Richter ermöglicht, und, falls dies der Fall ist, ob dieser Grundsatz dahin auszulegen ist, dass unter solchen Umständen das Recht auf ein faires Verfahren nicht gewährleistet werden kann. 140 Da die ungarische Regierung und die Kommission die Zulässigkeit dieser Fragen im Wesentlichen mit der Begründung bestreiten, dass weder die Auslegung von Art. 19 EUV noch die von Art. 47 der Charta für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich sei, ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein muss, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 141 Der Gerichtshof hat daher wiederholt darauf hingewiesen, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV folgt, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren berücksichtigt werden kann (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 142 In einem solchen Verfahren muss daher ein Bezug zwischen dem fraglichen Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen, so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entspricht, die das nationale Gericht zu treffen hat (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 143 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht, dass zwischen den unionsrechtlichen Vorschriften, auf die sich die zweite und die dritte zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage beziehen, und dem Ausgangsverfahren ein Bezug bestünde, aufgrund dessen die Auslegung, um die ersucht wird, erforderlich werden könnte, damit der vorlegende Richter entsprechend den aus einer solchen Auslegung zu ziehenden Erkenntnissen eine Entscheidung treffen kann, deren es bedürfte, um über diese Rechtssache zu befinden (vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). 144 Wie nämlich erstens auch der Generalanwalt in den Nrn. 90 und 91 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat der Ausgangsrechtsstreit nichts mit dem ungarischen Justizsystem insgesamt zu tun, das in mancherlei Hinsicht durchaus geeignet wäre, die Unabhängigkeit der Justiz und insbesondere des vorlegenden Gerichts bei der Durchführung des Unionsrechts zu beeinträchtigen. Insoweit genügt der Umstand, dass ein sachlicher Bezug zwischen den materiell-rechtlichen Fragen des Ausgangsrechtsstreits und Art. 47 der Charta oder sogar umfassender Art. 19 EUV bestehen könnte, nicht, um das Kriterium der Erforderlichkeit im Sinne von Art. 267 AEUV zu erfüllen. Dafür müsste die Auslegung dieser Bestimmungen, um die im Rahmen der zweiten und der dritten Frage ersucht wird, noch einem objektiven Erfordernis für die Sachentscheidung des Ausgangsverfahrens entsprechen, was vorliegend nicht der Fall ist. 145 Zweitens hat der Gerichtshof zwar bereits zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen für zulässig erklärt, die sich auf die Auslegung von Verfahrensvorschriften des Unionsrechts beziehen, die das betreffende vorlegende Gericht zum Erlass seines Urteils anwenden muss (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 17. Februar 2011, Weryński, C‑283/09, EU:C:2011:85, Rn. 41 und 42), um dergleichen geht es jedoch in der zweiten und der dritten Frage, die im Rahmen der vorliegenden Rechtssache gestellt worden sind, nicht (vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 50). 146 Drittens erscheint eine Antwort des Gerichtshofs auf diese Fragen auch nicht geeignet, dem nationalen Gericht eine Auslegung des Unionsrechts an die Hand zu geben, die es ihm ermöglicht, über Verfahrensfragen des nationalen Rechts zu entscheiden, bevor es in dem bei ihm anhängigen Verfahren in der Sache entscheiden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 51). 147 Nach alledem sind die zweite und die dritte Frage unzulässig. Kosten 148 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: 1. Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass das Höchstgericht eines Mitgliedstaats im Anschluss an ein Rechtsmittel zur Wahrung des Rechts die Rechtswidrigkeit eines Vorabentscheidungsersuchens, mit dem der Gerichtshof von einem untergeordneten Gericht nach dieser Bestimmung befasst worden ist, feststellt, weil die vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erheblich und erforderlich seien, ohne dass allerdings die Rechtswirkungen der dieses Ersuchen enthaltenden Entscheidung betroffen sind. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet dieses untergeordnete Gericht, eine solche Entscheidung des nationalen Höchstgerichts außer Acht zu lassen. 2. Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen einen nationalen Richter entgegensteht, weil dieser den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV ersucht hat. 3. Art. 5 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen und Übersetzungen ausreicht, damit die verdächtige oder beschuldigte Person den gegen sie erhobenen Tatvorwurf verstehen kann und diese Dolmetschleistungen von den nationalen Gerichten überprüft werden können. Art. 2 Abs. 5 der Richtlinie 2010/64, Art. 4 Abs. 5 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren in Verbindung mit Art. 48 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass es ihnen zuwiderläuft, dass eine Person in Abwesenheit verurteilt wird, obwohl sie aufgrund einer unzureichenden Dolmetschleistung nicht in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde, oder wenn die Qualität der zur Verfügung gestellten Dolmetschleistungen nicht ermittelt und somit nicht festgestellt werden kann, dass die Person in einer ihr verständlichen Sprache über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf unterrichtet wurde. Unterschriften (*1) Verfahrenssprache: Ungarisch.